Zum Inhalt springen

Seite:Meyers Universum 10. Band 1843.djvu/154

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
CCCCLIII. Das Chamouni-Thal.




Tief im Schooße der Alpenwelt verborgen und fern von fahrbaren Straßen liegt, an der Grenze von Savoyen, das Chamouni-Thal, aus welchem der König der europäischen Berge, der Montblanc, emporsteigt. Es ist 4 bis 5 Stunden lang, ¼ bis ½ Stunde breit, und wird seiner ganzen Länge nach von einem mächtigen Gletscherstrom, der Arve, durchrauscht. Mehre hundert Hirtenfamilien bewohnen es, welche in der Prieuré von Chamouni eine kleine Kirche haben. Den Boden des Thals bilden liebliche Wiesengründe, die mit den von allen Seiten herabhängenden Gletschern und Eisfeldern, den Staub- und Sturzbächen, den grotesken Felsbildungen und den auf den grünen Matten umherliegenden Steinkolossen einen reizenden Contrast machen. Im Winter und Frühjahr ist das Thal ein Bild der Abgeschiedenheit und Ruhe; im Sommer aber ist es stets mit Fremden aller Nationen angefüllt, zu deren Aufnahme vier große Hotels öfters nicht ausreichen. Die weibliche Jugend des Thals verdingt sich dann als Aufwärterinnen zur Bedienung der Fremden, die männliche als Führer, und beide haben eine reiche Erntezeit. Das Erworbene wird gespart und auf Verbesserung des Hauswesens verwendet. Nirgends sieht man schönere Heerden, und das freundliche Bild der Wohlhabenheit spiegelt sich an der schmucken Kleidung der Aelpner, an ihren Wohnungen und der Tüchtigkeit ihres Hausgeräthes wieder. Die geschicktesten und kühnsten Gemsjäger sind in dem Thale zu Hause.

Bis vor einem Jahrhundert war dieser interessante Punkt der Alpen der Reisewelt gänzlich unbekannt. Im Jahre 1741 verirrten sich zwei Engländer, Pocock und Windham, die den Montblanc zu besteigen trachteten, dahin, und indem sie die Entdeckung ihren reiselustigen Landsleuten mit den reizendsten Farben schilderten, leiteten sie den Zug der Touristen in diesen stillen Bergwinkel. Seitdem hat sich seine Bevölkerung verzehnfacht, prachtvolle Hotels stiegen empor, Pfade und Wege wurden angebahnt und von dem industriösen Aelpner die Natur-schönheiten in den Umgebungen des Thals zugänglich gemacht. Noch erhält sich das Andenken an die Entdecker in dem Namen eines ungeheuern Granitblockes auf dem Montavert. Er heißt der Stein der beiden Engländer.

Drei Saumpfade werden am gewöhnlichsten benutzt, um in das Thal von Chamouni zu gelangen. Der