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Seite:Meyers Universum 10. Band 1843.djvu/155

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eine führt von Evian am Genfersee über Samoens dahin; der zweite geht von Martinach (Martigny) über den Col de Balme; der dritte, bequemste, ist von Genf über Sallenches und Servoz. Diesen schlagen auch wir ein.

An einem heitern Julimorgen brechen wir in aller Frühe von Evian auf. Rosengewölk glänzt am Himmel; der See taugt sich in Purpurgluth; die Sonne steigt wie blitzendes Gold über den großen Saleve herauf und belebend, Bergluft fächelt Kühlung. Rüstig traben unsere Thiere durch Chesne, das letzte, freundliche Dorf im Cantonsgebiet; auf der Anhöhe verläßt uns die freie Schweiz und wir sind im Gebiete eines absoluten Königs, wir sind in Savoyen. Auch ohne den Wappenpfahl am Wege, auch ohne Barrière und Mauthhaus hätten wir es sogleich bemerkt. Auf der Genfer Seite blickte uns Intelligenz, Heiterkeit der Seele und Menschenwürde aus jedem Gesichte an, der Fleiß und seine Tochter, die Wohlhabenheit, sahen aus jedem Bauernhause, über jeden Gartenzaun; hier glotzt uns Dummheit entgegen, Armuth und Elend mit Kröpfen und Kretinismus im Bunde grinzen aus jeder Hütte. Ueberall ist Verfall und Versunkenheit bemerklich, und an den Früchten, die der Boden pfäffischer und administrativer Despotie unter jedem Himmelsstriche trägt, ist hier nirgends Mangel.

Aber die Natur, wie wunderschön, wie groß, wie erhaben, wie herrlich ist sie! Man erblickt die savoischen Alpenriesen in den glänzend-weißen Gewändern, und unter ihnen liegt, wie an der Pforte einer Zauberwelt, der Flecken Faucigny, eingeklemmt zwischen die starren Mauern einer Felsschlucht. Hier rasten wir zum ersten Male. Der Gasthof ist gut und groß; er wimmelt zu jeder Tageszeit von den Wanderschaaren vieler Völker.

Weiter geht’s nach Sallenches durch ein Land der großartigsten und zugleich lieblichsten Scenerie. Wie traulich und ruhig alle Thäler! welche Majestät in diesen Höhen! Die wilde, rauschende Arve, welche der mächtigen Rhone zueilt, ist unsere stete Begleiterin auf diesem Wege, von dem aus man bald Gletscher, bald Eismeere, bald sammtartige Alpen mit Sennhütten, bald hohe Wasserfälle vor Augen hat, bald erschüttert wird durch das ferne Donnern der Lawinen. Die Wolken säumen sich schon golden, als wir Sallenches erreichen. Aus den Fenstern des Gasthofs, wo wir unser Nachtquartier nehmen, sehen wir den Montblanc gerade vor uns. Noch strahlt sein Haupt in Purpurglanz, während in der Tiefe schon Abendnebel ziehen. Erst gegen Mitternacht erbleicht sein Haupt.

In Sallenches miethen wir frische Thiere. Diesen darf man sich viel sicherer anvertrauen, denn sie kennen jeden Tritt und Stein auf dem Wege. Wir steigen bergan. Man behält die Arve, die in großen Sätzen von Thalstufe zu Thalstufe springt, zur Rechten, Bergwände zur Linken; vor uns thürmt sich das Hochgebirg zum Himmel auf. Von einem Punkte des Saumpfades fällt der Blick durch eine Schlucht auf den Lac de Chede, an