Zum Inhalt springen

ADB:Westphal, Rudolf

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Westphal, Rudolf“ von August Roßbach in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 42 (1897), S. 205–216, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Westphal,_Rudolf&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 18:15 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Westphal, Karl
Band 42 (1897), S. 205–216 (Quelle).
Rudolf Westphal bei Wikisource
Rudolf Westphal in der Wikipedia
Rudolf Westphal in Wikidata
GND-Nummer 117327026
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|42|205|216|Westphal, Rudolf|August Roßbach|ADB:Westphal, Rudolf}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=117327026}}    

Westphal: Rudolf Georg Hermann W. wurde am 3. Juli 1826 zu Obernkirchen in dem damals kurhessischen, jetzt preußischen Antheil der Grafschaft Schaumburg geboren. Der Vater war Markscheider an dem schaumburgischen Kohlenbergwerke, Sohn des Pastors Westphal in Hattendorf, eines gelehrten Theologen und tüchtigen Kanzelredners, der eine Vocation als Hofprediger nach Kassel ausgeschlagen hatte, die Mutter die schöne und kluge Tochter des fürstlich bückeburgischen Erbpachtsmüllers Becker. Es war ein blühendes und ehrenfestes altniedersächsisches Geschlecht, dem Rudolf angehörte; von seinen sechs väterlichen Oheimen waren zwei hessische Pastoren, einer Musikdirector an der Universität Jena, dann in Weimar, wo er mit Goethe verkehrte, einer Arzt, Amtsrichter, Landwirth, ein mütterlicher Oheim bückeburgischer Pastor und Kirchenrath. Der lebhafte Verkehr der Verwandten unter einander brachte Rudolf frühzeitig vielseitige Anregung, vor allem aber war der Geist der elterlichen Familie für ihn überaus günstig. Der Vater war ein genialbegabter, sinnig-ruhiger Mann, ein ausgezeichneter Mathematiker und Mechaniker, der in der bergmännischen Technik wichtige Erfindungen gemacht hatte, allgemein verehrt wegen seines edlen Charakters und der unermüdlichen Fürsorge für das Wohl seiner Bergleute. In seinen freien Stunden widmete er sich der Musik, die er von frühester Jugend an mit stiller Leidenschaft liebte; sein ebenso technisch-vollendetes wie tief empfundenes und verständnißvolles Spiel auf seiner Bologneser Geige riß auch den Sachverständigen zur Bewunderung fort. Das Verhältniß der Ehegatten zu einander war das denkbar zarteste und innigste. „Niemals wurde in der Familie ein unziemliches oder heftiges Wort gehört, man schwamm in einem Ocean von Liebe, hohe Geistesbildung war mit der edelsten Herzensbildung und mit allen Tugenden vereinigt, die das Leben beglücken können“, sagte zu mir der Pastor B. in Obernkirchen bei dem Leichenbegängnisse des Vaters. In solcher Umgebung wuchs Rudolf unter der aufmerksamen Fürsorge und der innigsten Liebe der Eltern auf, – er erbte die geniale Begabung des Vaters und den liebenswürdigen Frohsinn der Mutter, zugleich die edle Gesittung und das warme sanfte Gefühlsleben beider. In der Elementarschule zeichnete er sich so aus, daß er von den Mitschülern „Professor“ genannt wurde, frühzeitig beschäftigte er sich mit der Bibel, namentlich mit dem A. T., in welchem er Stammbäume und chronologische Untersuchungen machte, in der „Kinderlehre“, die öffentlich in der Kirche gehalten wurde, riefen seine Kenntnisse das Staunen der Gemeinde hervor, als Kirchensänger hatte er wegen seiner schönen Stimme und seines frommen Vortrags den besten Ruf, besonders aber zeigte er in dem mathematischen Unterricht, den sein Vater jungen Bergleuten gab, eine außerordentliche Schärfe der Auffassung und selbständiges Nachdenken. Das Clavierspiel begann er frühzeitig zu treiben und bewährte hierbei in dem Verständniß bedeutender Compositionen einen so hohen Grad, daß einst der Oheim aus Weimar, der gerade zu Besuch war, in Rudolf’s Zimmer mit den Worten stürzte: „Junge, Du spielst ja wie Liszt“. Sein Gemüthsleben entwickelte sich hauptsächlich im Verkehr mit der [206] Mutter und den beiden Schwestern, welche den Bruder schwärmerisch liebten; auch die letzteren waren in musikalischer wie in anderer Beziehung hoch begabt, immer die ersten in der Schule und von wahrhaft seraphischem Charakter. Ein noch vorhandenes Gedicht, welches er der Ueberreichung einer Ouvertüre an die ältere Schwester beigelegt hatte, ist inhaltlich und formell entschieden anerkennenswerth.

Ostern 1841 wurde W. als Secundaner in das fürstliche Gymnasium zu Bückeburg aufgenommen. Hier fühlte er sich besonders durch den Mathematiker Breithaupt und den Director Burchard, einen vortrefflichen Pädagogen, Schüler Buttmann’s, angeregt. Dem letzteren widmete er die dritte Auflage der „Griechischen Rhythmik“ in Erinnerung an den Einfluß, welchen Burchard durch den Vortrag homerischer Hexameter „im frischen, freien Rhythmus und nach den rhythmischen Cäsuren“ auf sein rhythmisches Gefühl dauernd ausgeübt habe. Auch das lebhafte Interesse für Grammatik, das er schon in der Elementarschule bewährt hatte, wurde durch Burchard in ihm erhöht und befriedigt. Das mir vorliegende Zeugnißbuch sagt: „Er darf mit Recht zu den vorzüglichsten Schülern unsers Gymnasiums gerechnet werden und wird hoffentlich diesen Ruhm für die Folgezeit bewahren“; die Prädicate sind in den Hauptfächern meist ersten Ranges. Durch eine kurfürstliche Verordnung, welche den Maturitätszeugnissen nichthessischer Gymnasien die Geltung versagte, wurde W. genöthigt an das kurhessische Gymnasium in dem benachbarten Rinteln überzugehen. Die Abschiedscensur von Bückeburg schließt mit den Worten: „Recht schmerzlich ist uns die Trennung von einem so wohlgesitteten und fleißigen Schüler, wie Rudolf sich stets bei uns zeigte“. In Rinteln waren es besonders die deutschen Aufsätze (namentlich ein Aufsatz über Jean Paul, dem er sich innerlich verwandt fühlte) aber auch wiederum die Mathematik, welche die Aufmerksamkeit der Lehrer auf Westphal’s Talent lenkten. Unterdessen hatte seine Neigung zu musikalischer Beschäftigung so zugenommen, daß er öfters besonders in den Ferien Tag und Nacht auf seinem Spinett („Hauskater“ genannt) hindurchraste und in Gefahr gerieth manche seiner Schularbeiten zu versäumen. Das Uebermaß dieser schwärmerisch-leidenschaftlichen Beschäftigung hat wol zuerst das excentrische Wesen zum Durchbruch gebracht, das ihn unbewußt plötzlich dann und wann überraschen konnte und später zum Verhängniß seines Lebens wurde. Ostern 1845 bestand er das Maturitätsexamen und bezog die Universität Marburg, um Theologie zu studiren und nach dem Willen der Mutter dereinst bückeburgischer Pastor zu werden.

In Marburg hörte er pflichtgemäß zunächst theologische Vorlesungen bei dem damals in höchster Blüthe stehenden Professor Thiersch, der ihn durch sein tiefsinnig-mystisches und zugleich tief-frommes Wesen sehr anzog, und bei dem Kirchenhistoriker Henke, bald aber schloß er sich mehr und mehr an Professor Gildemeister an, der ihm zuerst durch alttestamentliche Vorlesungen bekannt wurde, und einen so nachhaltigen Einfluß auf ihn ausübte, daß sich W. kurzweg als „Schüler Gildemeister’s“ zu bezeichnen pflegte. Hier eröffnete sich ihm eine ungeahnte Welt, ex oriente lux! Mit höchstem Enthusiasmus und glühendem Eifer begann er Sanskrit und Arabisch zu lernen, in dem er solche Fortschritte machte, daß Gildemeister ihm allein einen besonderen Uebungscursus gab; mit ganz besonderem Interesse aber hörte er die Vorlesungen über vergleichende indogermanische und semitische Grammatik, die er mit selbständigem Nachdenken durchdrang und in der er sich schon eigene Ansichten zu bilden begann. Zum Zwecke der vergleichenden indogermanischen Grammatik lernte er Altnordisch, Angelsächsisch und Gothisch bei Professor Franz Dietrich und beschäftigte sich mit keltischen und slavischen Grammatiken und Lexika. Auch die Vorlesungen [207] Gildemeister’s über Encyklopädie der semitischen Philologie, indische Alterthumskunde, Einleitung in das N. T., Exegese der Apokalypse u. s. w. beschäftigten ihn lebhaft. Die Musik trat schon wegen des Mangels an einem Instrumente zurück, dagegen führte ihn seine alte Liebe zur Mathematik in die Vorlesungen des Prof. Hessel über Integral- und Differentialrechnung, in denen er sich als den „besten mathematischen Kopf“ zeigte.

Ein Wendepunkt trat 1846 infolge unserer Bekanntschaft ein. Da ich hierüber in der Vorrede zu der dritten Auflage der von mir bearbeiteten „Griechischen Metrik mit besonderer Rücksicht auf die Strophengattungen und die übrigen melischen Metra“ (Band 3 der „Theorie der musischen Künste der Hellenen“) ausführlich gehandelt habe, so begnüge ich mich mit einigen Andeutungen. Ich zog W. in die classische Philologie, er mich in die vergleichende Grammatik. Es war eine überaus glückliche Zeit gemeinsamen Strebens und geistigen Austausches in wissenschaftlichen Unterhaltungen und Studien, die sich häufig die ganze Nacht bis zum hellen Morgen ausdehnten. Ich theilte ihm hierbei meine Ansichten über die Neugestaltung der antiken Metrik gegenüber dem Systeme meines Lehrers G. Hermann mit, ohne daß wir aber damals an eine spätere gemeinsame Arbeit dachten. W. gab von da an den Gedanken an eine pastorale Zukunft um so mehr auf, als die Bekanntschaft mit der Hegelschen Philosophie und mit den Anschauungen von D. Fr. Strauß, L. A. Feuerbach u. A. ihm den Gedanken daran schon längst verleidet hatte, – er ließ sich nunmehr als Studiosus philologiae immatriculiren. Die Ruhe des Studiums war bisher schon bisweilen durch die lebhafte Theilnahme an dem Geschicke des unglücklichen Professors Sylvester Jordan, des patriotischen Kämpfers für verfassungsmäßige Freiheit, der oben auf der Burg im Gefängnisse saß und mit bleichem Gesichte bisweilen am Fenster erschien, sowie durch die allgemeine Entrüstung über die polizeiliche Willkürherrschaft und die Unterdrückung des freien Denkens getrübt worden. Da erscholl im Februar 1848 der Ruf: „Revolution in Paris!“ Die französischen Nachrichten durchzuckten Europa wie Blitze, denen die grollenden Donner über die schmachvollen Zustände in Deutschland folgten. In Marburg Volksversammlung auf dem Rathhause (vor wenigen Tagen ein noch fast todeswürdiges Verbrechen) mit Anwesenheit der angesehensten Professoren, Rede von Jordan, der unterdessen frei geworden war, unter ungeheurem Jubel, Läuten der Sturmglocken, allgemeine Bewaffnung u. s. w.! Fast alle Studenten, am meisten gerade die fähigsten und am idealsten gesinnten wurden von einem wilden Taumel fieberhafter politischer Aufregung und eines zeitweilig regellosen Lebens fortgerissen. Auch auf Westphal’s ohnehin leicht excentrisches Gemüth haben die damaligen Zustände einen ungünstigen Einfluß ausgeübt. Oft arbeitete er später viele Wochen Tag und Nacht in der angestrengtesten Weise und in weltentrückter Stille bedürfnißlos und selbstlos in seine Wissenschaft vertieft, dann aber suchte er plötzlich Erholung von der Abspannung mit seinen Commilitonen in rauschenden Symposien, denen er sich unbedacht mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Temperamentes hingab. Der Abschluß seiner akademischen Studien war insofern ungünstig, als er sie weder auf den zukünftigen Pastor noch den künftigen Gymnasiallehrer zugeschnitten hatte, – er hatte aber mehr erreicht als dies, er war in den Fächern, die er studirt hatte, ein Gelehrter und selbständiger Forscher geworden, – mithin war er auf die damals sehr unsichere und dornige Bahn als Universitätslehrer angewiesen.

Bei seinem Abschiede von Marburg schenkte ihm sein Lehrer Gildemeister in Anerkennung seiner fleißigen Studien und seines ungewöhnlichen Talentes Westergaard’s radices linguae Sanscriticae mit der Mahnung, den sprachvergleichenden Studien treu zu bleiben. Mißvergnügt über seine sehr unsichere [208] Zukunft und über die Aussichtslosigkeit auf die sehnlichst gewünschte Verlobung mit einer Cousine, zu der er eine schwärmerische Neigung tief im Herzen trug, begab sich W. in seine elterliche Familie, wohin ich, der Elternlose, ihm auf seine Einladung folgte. Wir lasen zusammen griechische Dichter und studirten für vergleichende Zwecke Burnouf’s commentaire sur le Yaçua; Zend war in Marburg nicht gelesen worden. In einigen Partien des Avesta-Textes, den wir lasen, glaubte ich Metren zu bemerken, W. ging sofort darauf ein und entdeckte noch an demselben Tage in ungemein scharfsinniger Weise den silbenzählenden Versbau des Avesta, der später in glänzender Weise bestätigt wurde. Von dieser Zeit an wurde er nicht müde, den ältesten metrischen Principien nachzuforschen, wie auch seine Habilitationsdissertation beweist, aber erst im J. 1860, zwölf Jahre nach der ersten Entdeckung veröffentlichte er die ersten Resultate: „Zur vergleichenden Metrik der indogermanischen Völker“ (Zeitschr. f. vergleichende Sprachforschung IX, 437 ff.) Es ist heutzutage allgemein anerkannt, daß W. nicht allein die Zendmetren in allen wesentlichen Punkten zuerst erkannte, sondern daß er auch das indogermanische Urmetrum entdeckte und daß er hiermit der Gründer einer neuen Wissenschaft, der vergleichenden Metrik, geworden ist. Leider ist er bei den Irrgängen seines Lebens nicht dazu gekommen, seine Entdeckungen zu der Reife zu führen, wie er unter anderen Umständen vermocht hätte; aber auch so bleibt seine letzte im einzelnen recht mangelhafte Publication, welche erst durch die Mühewaltung seines edlen Freundes, des Professors H. Gleditsch in Berlin, zum Abschluß gebracht werden konnte, doch ein Buch großer Gedanken, das die Nörgelei kleiner Leute nicht zu verdunkeln vermag: „Allgemeine Metrik der indogermanischen und semitischen Völker auf Grundlage der vergleichenden Sprachwissenschaft“ (Berlin 1892). In derselben Zeit seines Aufenthaltes in der elterlichen Familie fand er auch das Auslautsgesetz im Gothischen, das er erst 1852 in der Zeitschrift f. vgl. Sprachf. II, 161 publicirte. Es fand rasch die Anerkennung von J. Grimm, Keller und Stenzler und gab den Impuls zu ähnlichen Forschungen Anderer, die W. zum Theil schon selbst gemacht, aber noch nicht veröffentlicht hatte.

In Obernkirchen reifte der Entschluß zu unserer gemeinsamen Habilitation in Tübingen, wobei der Gedanke aus der dumpfen Atmosphäre Kurhessens in die frische Bergluft der schwäbischen Alpen und in das freie Geistesleben der schwäbischen Universität, die damals eine bedeutende Anzahl von Männern ersten Ranges enthielt, überzusiedeln, erheblich mitwirkte. Bei unserer Promotion als Doctoren der Philosophie (es war in Hessen keine Sitte so frühzeitig wie in Preußen zu promoviren) wurde uns unbeschränkte Anerkennung zu Theil, die Abhandlungen wurden aber nach damaliger Sitte nicht gedruckt. Zum Zwecke der Habilitation reichte W. eine kleine Abhandlung „Ueber die Form der ältesten lateinischen Poesie“ ein. Sie enthielt wiederum einen bedeutenden Gährungsstoff, der die Veranlassung zu einer ganzen Reihe von theils zustimmenden, theils widersprechenden Abhandlungen Anderer geworden ist: Die ältesten Saturnier seien accentuirende Verse gewesen wie die Verse der altskandinavischen Edda ohne Rücksicht auf Prosodie und die Zahl der thetischen Sylben, aber mit bestimmter Zahl der Hebungen und mit Neigung zur Alliteration. Auch diese Frage bildet einen wesentlichen Bestandtheil der vergleichenden Metrik, die schon damals W. vorschwebte, obwol er noch keine Specialstudien in der griechischen Metrik gemacht hatte, zu denen er erst durch meine Beschäftigung mit Pindar und den griechischen Tragikern, die ich als Schüler G. Hermann’s schon in Leipzig energisch begonnen hatte, bewogen wurde. Das Weitere erzählt W. selbst in der Vorrede seines mir gewidmeten Buches „Fragmente und Lehrsätze der griechischen Rhythmiker“. Ich übernahm das schwierige und wegen des [209] fragmentarischen Zustandes entsagungsvolle Studium der griechischen Rhythmiker, er das noch schwierigere und weiter greifende der griechischen Musiker. Nach strammer, harter Arbeit erschien von mir 1854 die „Griechische Rhythmik“ als erster Theil der „Metrik der griechischen Dramatiker und Lyriker nebst den begleitenden musischen Künsten.“ Nach unausgesetzter gemeinsamer Thätigkeit mit Aufwendung aller unserer Kräfte folgte 1856 als dritter Theil (vor dem zweiten, den W. erst später erscheinen ließ) die „Griechische Metrik nach den einzelnen Strophengattungen und metrischen Stilarten nebst den begleitenden musischen Künsten von A. Roßbach und R. Westphal“. Es würde zu weit führen die Unterschiede unserer Metrik von der Hermann’schen und Böckh’schen hervorzuheben, ich verweise hierüber auf die Vorrede zur ersten Auflage und namentlich der von mir neu bearbeiteten dritten Auflage der „Griechischen Metrik“ (dritter Band, zweite Abtheilung der „Theorie der musischen Künste der Hellenen“). Das Werk fand den ungetheilten Beifall der ersten Männer des Faches, wie Böckh, Bergk, Lehrs u. A. und galt als bahnbrechend. Ueber unser Verhältniß bei der Arbeit, das anfänglich zu Ungunsten Westphal’s, später eine lange Reihe von Jahren zu meinen Ungunsten aufgefaßt wurde, hat sich W. selbst in der Vorrede zu seinem „Aristoxenus von Tarent“ (Leipzig 1883, S. XVI, wieder abgedruckt in der Vorrede zur dritten Auflage der Griech. Metr. S. L) geäußert. Die Vorlesungen galten uns in Tübingen als Nebensache (obwol ich schon 1854 außerordentl. Professor, natürlich ohne Gehalt, geworden war) und wurden nur soweit von uns berücksichtigt, als es darauf ankam, unser Lehrtalent zu bewähren. W. hat von den angekündigten zu Stande gebracht Vorlesungen über griechische Grammatik vom sprachvergleichenden Standpunkte, griechische Staatsalterthümer, Plato, Tibull, Plautus.

Bei der Aussichtslosigkeit in Tübingen eine den Lebensbedürfnissen genügende Stellung zu gewinnen, folgte mir W. 1856 nach Breslau, wohin ich als ordentlicher Professor der classischen Philologie berufen worden war. Er führte sich in Breslau, wo 1857 die Philologenversammlung gehalten wurde, durch einen Vortrag „Ueber Terpander und die früheste Entwicklung der griechischen Lyrik. Verhandlungen der XVIII. Versammlung deutscher Philologen in Breslau“ ein, der wichtige Beiträge zu damals noch recht dunkeln Partien der ältesten Geschichte der griechischen Poesie enthält und die bisher in ihrer Wichtigkeit noch nicht erkannte Terpandreische Composition des griechischen Nomes wiedererweckte. Hier wurde W. Ende 1857 zum außerordentlichen Professor ernannt und nahm bis zu seinem Abgange Ostern 1862 eine allgemein anerkannte und bei seinen zahlreichen Zuhörern hoch angesehene Stellung als Lehrer und Schriftsteller ein. Bezüglich seiner ungewöhnlich erfolgreichen Thätigkeit als Lehrer haben ihm zwei seiner besten Schüler, selbst ausgezeichnete und schriftstellerisch verdiente Philologen, ein Denkmal bedeutungsvoller Pietät gesetzt. Der Gymnasialdirector Dr. Johannes Oberdick in Breslau urtheilt: „Ihn zu hören war ein Genuß, man wurde begeistert und hingerissen von dem Gegenstande, den er vortrug. Es war ein umfangreiches Wirken, das zu Tage trat, die Darstellung war scharf und bestimmt, der Vortrag klar und überzeugend, seine Beredsamkeit wirkte oft entzückend und geradezu fascinirend.“ Eben derselbe beschreibt in der Vorrede zu seiner Ausgabe der Supplices des Aeschylus den außerordentlich tiefgreifenden Einfluß, den W. in seinen philologischen Uebungen auf die Anregung der Studirenden zur Selbstthätigkeit hatte; Professor Hugo Gleditsch in Berlin in seiner Biographie Westphal’s hebt neben denselben Eigenschaften die Hingebung und Aufopferung von Geist und Kraft, die W. dem Einzelnen widmete, die außerordentliche Anhänglichkeit und Verehrung, die er bei den [210] Studirenden genoß, hervor und bezeichnet es als selbstverständlich, daß seine Collegien großen Beifall fanden und stark frequentirt wurden. Ein dritter Zuhörer berichtet: „Man war voll Staunen über die Vielseitigkeit des Wissens und ließ sich gerne erwärmen von dem Feuer des Vortrags.“ W. las griechische Grammatik, lateinische Etymologie, Geschichte der griechischen Poesie, griechisch-römische Metrik, Mythologie der alten Völker und interpretirte Homer’s Ilias, griechische Lyriker, die Wespen des Aristophanes, den Timäus des Plato, die Menächmen des Plautus und Catull’s Gedichte. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten war er ungemein thätig. Auf die Veranlassung des Professors Dr. Fr. Haase schrieb er zur Gedächtnißfeier für Fr. A. Wolf: „Emendationes Aeschyleae“ 1859, eine Abhandlung, in der er seine geniale Gewandtheit in der kritischen Behandlung schwieriger Chorlieder der griechischen Tragiker und seine eminente Sprachkenntniß documentirte. Sein Hauptaugenmerk war neben seinen zahlreichen Vorlesungen der griechischen Rhythmik und Musik zugewandt, für die er unablässig die Quellen studirte. 1861 erschienen „Die Fragmente und die Lehrsätze der griechischen Rhythmiker. Supplement zur griechischen Rhythmik“, wodurch mein erster zwar sehr beifällig aufgenommener, aber doch nur den Anfang der Forschung enthaltender Versuch nicht allein in wesentlichen Punkten ergänzt, sondern auch vielfach berichtigt und ein scharfsinnig emendirter Text der Rhythmiker gegeben wurde. In demselben Jahre veröffentlichte er einen Aufsatz über einen wichtigen Punkt der Metrik: „Vers und System“. (Fleckeisen’s Jahrb. f. Phil. u. Pädag. Bd. 81.) Mit besonders ausdauerndem, man möchte sagen, hartnäckigem Fleiße arbeitete W. in den griechischen Musikern, die so ungemein schwierige Probleme boten. Es ist mit Recht gesagt worden: „Das große schöpferische Talent des Verfassers bekundet sich hier noch augenscheinlicher als in seinen früheren Werken. Die spärlich vorhandenen Nachrichten über die Musik der Griechen sind mit so großer Umsicht und so allseitiger Combination benutzt, daß dieser Zweig der Wissenschaft, für den seit 1847 nichts erhebliches geleistet worden war, auf einmal einen ungeheuren Fortschritt gemacht hat.“ In derselben Weise untersuchte er die metrische Tradition der Alten systematisch, während sie bis dahin nur eklektisch und geringschätzig behandelt worden war, und erwarb sich das Verdienst sie zuerst durchgreifend in ihrem ganzen Zusammenhange verstanden zu haben. Er gab hiervon die erste Kunde in dem Aufsatz: „Die Tradition der alten Metriker“ (Philologus Jahrg. XX, 76–108 und 238–274). Die gesammten Resultate dieser mit der größten Anstrengung fortgesetzten und immer von neuem nachgeprüften Arbeiten waren die beiden starken Abtheilungen unserer „Metrik der griech. Dramatiker und Lyriker“; (Band II, 1: „Harmonik und Melopöie der Griechen“; Band II, 2: „Allgemeine Metrik der Griechen“ 1863 und 65). Im Zusammenhange mit seinen Studien über antike Musik hatte sich W. eine neue Ausgabe von Plutarch’s Schrift περὶ μουσιϰῆς, die er mit Glück emendirte und commentirte, angelegt und fruchtbare Untersuchungen über die alten Quellen dieser besonders für die Geschichte der ältesten griechischen Lyrik wichtigen Schrift gemacht, sie erschien 1865 als Theil einer unvollendet gebliebenen „Geschichte der alten und mittelalterlichen Musik“. In demselben Jahre veröffentlichte er auch noch eine zusammenfassende Darstellung: „System der antiken Rhythmik“, die aus einem an sich gerechtfertigten Bedürfnisse hervorging, die haltbaren Resultate meiner Rhythmik mit den seinigen zu verschmelzen, aber schon Spuren einer ihm später eigenen Eilfertigkeit zeigte. W. befand sich in seiner Breslauer Stellung sehr wohl und schien einer glänzenden Zukunft entgegen zu gehen. Da kam sein Verhängniß über ihn. Die lang gehegte Hoffnung, daß sich seine Excentricität im Laufe der Zeit mäßigen würde, war nicht in Erfüllung gegangen. Die [211] Folgen seiner unleugbaren Sorglosigkeit in der äußeren Lebensführung, namentlich in finanziellen Dingen, nöthigten ihn, seinen Abschied als Professor in Breslau zu nehmen und der bald darauf folgende Conflict mit jungen, gerade in der damaligen Zeit sehr aufgeregten Polen, welche sich durch eine harmlose, aber unbedachte Aeußerung von W. in seinen früheren Vorlesungen verletzt fühlten, wurde die Veranlassung, daß er Breslau verließ.

Seit seinem Austritte aus dem Breslauer Amte sah sich W. genöthigt, meist ein unstetes Wanderleben zu führen, er arbeitete aber in seiner Wissenschaft rüstig weiter, die ihm Eins und Alles war. Jener Umstand, der fast immer mit finanziellen Schwierigkeiten verbunden war, war der Grund, daß er seine schriftstellerischen Publicationen selten vollständig ausreifen lassen konnte, außerdem war es ihm bei der öfteren Entfernung von größeren Bibliotheken nicht immer möglich den Fortschritten der Wissenschaft besonders in der Grammatik zu folgen, – alle seine Arbeiten enthalten aber originelle mehr oder minder wichtige Gedanken, wie von einsichtigen Beurtheilern z. B. von Professor Dr. Otto Crusius in Tübingen und anderen nicht selten hervorgehoben wurde.

Nach dem Abgange von Breslau lebte W. zunächst bei seinen Eltern in Obernkirchen. Hier beschäftigte er sich besonders mit einer Ausgabe der griechischen Metriker. 1866 erschien ein erster Band, dem ein zweiter nicht gefolgt ist: „Scriptores metrici Graeci, Vol. I. Hephaestionis de metris enchiridion et de poemate libellus cum scholiis et Trichae epitomis. Adjecta est Procli Chrestomathia grammatica.“ Keiner der damaligen Philologen war durch seine Studien so sehr wie W. zu einer solchen Ausgabe berufen, aber es fehlte ihm die Vergleichung der zahlreichen, damals noch meist unbekannten Handschriften und das litterarische Material zur Emendation der zahlreichen Fragmente der griechischen Dichter, es kann daher die Ausgabe doch nur als eine einzelne brauchbare Bausteine enthaltende Vorarbeit zu einer neuen Ausgabe, die auch jetzt noch fehlt, angesehen werden.

Der Wunsch in der Nähe einer großen Bibliothek zu leben führte W. nach Halle an der Saale, wo damals Wilhelm Studemund († als ordentlicher Professor in Breslau) privatisirte. Er trat mit diesem sehr bald in ein intimes persönliches Verhältniß, das bis zum Tode beider in ungeschwächter Freundschaft seinen Ausdruck fand. W. theilte ihm unter anderen Resultaten seiner Forschung mit, daß die στοιχεῖα ἁρμονιϰά des Aristoxenus aus nachgeschriebenen Collegienheften verschiedener Jahre hervorgegangen seien, eine ungemein scharfsinnige und wohlbegründete Ansicht, die infolge von Studemund’s Mittheilung an P. Marquardt von dem letzteren publicirt wurde. Die Hauptarbeit Westphal’s war die lange vorbereitete zweite Auflage unseres metrischen Werkes, die ich ihm allein überließ: „Metrik der Griechen im Vereine mit den übrigen musischen Künsten von A. R. und R. W. Zweite Aufl. in zwei Bänden. Band 1: Rhythmik und Harmonik nebst der Geschichte der drei musischen Disciplinen von R. W. Supplement: Die Fragmente der Rhythmiker und die Musikreste der Griechen 1867. Band 2: Die allgemeine und specielle Metrik von R. W.“ Die Arbeit in den griechischen Dichtern, welche meinerseits immer die Hauptsache gewesen war, hatte W. nicht fortgesetzt, dagegen stellte er nunmehr seine umfassenden neuen Studien über die Rhythmiker, Musiker und Metriker in systematischem Zusammenhange ausführlich dar und brachte die antiken Theorien und Terminologien zur consequenten Anwendung für alle Metren. Eine genaue Charakteristik gibt Gleditsch in der ausführlichen Biographie, aus der wir folgendes herausheben: „Allenthalben zeigte sich in der neuen Bearbeitung die rührige Schaffenskraft des Verfassers; ein so lebhafter, ideenreicher Geist wie W. begnügte sich eben nicht mit einzelnen Zusätzen, Streichungen und Besserungen, sondern gab dem gesammten [212] Werke durch umfangreiche und eingreifende Umgestaltungen ein neues Gepräge.“ Eine bedeutende Anzahl von neuen Capiteln hat sich allgemeine Anerkennung erworben, dagegen hat die Anwendung antiker Theorien mit ihrer schleppenden Terminologie auch Gegner gefunden, sodaß z. B. Th. Bergk die specielle Metrik immer nur nach der ersten Auflage citirte. Nebenarbeiten, die aus früheren Studien namentlich für die Vorlesungen hervorgegangen waren, veröffentlichte W. sehr rasch: „Catull’s Gedichte in ihrem geschichtlichen Zusammenhange übersetzt und erläutert“ (1867); „Die Acharner des Aristophanes in deutscher Uebersetzung“ (1868); „Humoristische Lyrik des klassischen Alterthums. Uebersetzungen von R. W.“ (1868). Die erste Schrift gab ein geistreiches, aber hie und da auch phantastisch-romanhaftes Lebensbild des römischen Dichters, in allen drei Publicationen zeigte sich jedoch eine bewunderungswürdige und entzückende Gewandtheit in der Uebertragung antiker Dichterwerke in gereimte deutsche Verse, die ihm viele Freunde erwarb, besonders auch ein dauerndes Freundschaftsverhältniß zu Fritz Reuter, der in W. wie W. in ihm einen Geistesverwandten sah und ihn nach Eisenach zu sich einlud.

Die Unsicherheit einer Subsistenz in Halle bewog W. 1868 nach Jena überzusiedeln. Hier wurde er besonders mit Professor Dr. Moritz Schmidt befreundet, den er in seine neuen metrischen Ansichten einweihte und als einen seiner treuesten Anhänger bezeichnen durfte, wie Schmidt’s pindarische Arbeiten beweisen. Außer diesem nahmen sich Professor Dr. Conrad Bursian und andere Mitglieder der Universität Westphal’s in liebevoller Weise an. Freilich die Hoffnung auf eine akademische Anstellung ging nicht in Erfüllung und eine schwere Krankheit schien seinem Leben eine Grenze zu setzen. Das finanzielle Bedürfniß nöthigte zu übereilten Publicationen, in denen wesentlich nur das von Bedeutung war, was aus älterer Zeit stammte und auch dies konnte nicht sorgfältig genug begründet werden und mußte oft desultorisch und willkürlich erscheinen. Unbedingt bedeutungsvoll sind die etwa schon neun Jahre früher begonnenen und großentheils fertig nach Jena mitgebrachten „Prolegomena zu Aeschylus’ Tragödien“ (1869). Sie enthalten bahnbrechende Untersuchungen über die Oekonomie der griechischen Tragödie, namentlich des Aeschylus, die nach Terpandreischer Compositionsform gegliederten Chorika in Verbindung mit der Composition der pindarischen Epinikien, die amöbäischen Chorika, die dialogischen Partien und eine neue Ansicht über die Prometheus-Trilogie des Aeschylus und haben Veranlassung zu einer nicht unbedeutenden Litteratur über „chorische Technik“ und die pindarischen Compositionsgrundsätze gegeben. Die zahlreichen und umfassenden grammatischen Veröffentlichungen Westphal’s in dieser Zeit stehen und fallen zumeist mit der Anerkennung oder Nichtanerkennung des von W. aus Gildemeister’s Vorlesungen über vergleichende indogermanische und semitische Grammatik herübergenommenen, von Fr. v. Schlegel und Lassen herstammenden Princips, daß die Flexionen nicht aus ehemals selbständigen, dann verwitterten und angeschmolzenen Wurzeln, sondern aus „differenzirenden Lautelementen“, welche ϑέσει ihre flexivische Bedeutung erhalten haben, hervorgegangen seien. Bei dem damals fast noch unbedingten Glauben an die Theorien Bopp’s und seiner Schule wurden Westphal’s Ansichten um so mehr verworfen, als er nicht mit genügendem Material sorgfältig gearbeitet hatte; doch haben unbefangene Beurtheiler wie G. Curtius u. A. nicht allein die Selbständigkeit und Originalität der Westphal’schen Forschungen, welche anregend wirkten, sondern auch manche Ansichten als fruchtbare Entdeckungen anerkannt z. B. die Erklärung der kurzvocalischen Conjunctiv-Aoriste im Griechischen und den Hervorgang des Conjunctivs Imperfecti aus dem Optativ des sigmatischen Aorists im Lateinischen etc. Es sind folgende Publicationen: „Philosophisch-historische Grammatik der [213] deutschen Sprache“ (1869); „Methodische Grammatik der griechischen Sprache“. Theil I und II (1870–1872), nicht vollendet, in einigen Partien nahezu compilirt; „Verbalflexion der lateinischen Sprache“ (1873). Entschieden verdienstlich und den Meister der metrischen und rhythmischen Forschung bezeugend ist die „Theorie der neuhochdeutschen Metrik“ (1870). Eine Schrift „Aristoxenus, Original, Uebersetzung und Erläuterung“, von welcher ich die beiden ersten Bogen gedruckt gesehen habe, kam infolge des Concurses des Verlegers nicht zur Veröffentlichung, dagegen tritt zuerst Westphal’s Gedanke, daß die rhythmischen Grundgesetze des Aristoxenus auch in der modernen Musik enthalten seien, in der Schrift „Elemente des musikalischen Rhythmus mit besonderer Rücksicht auf unsere Opernmusik“ 1872 hervor, ein Gedanke, der ihn zu weiteren Pubicationen führte. Tief schmerzlich war für alle Freunde Westphal’s, welche seine eminenten sprachvergleichenden Studien und seinen ehrenhaften Charakter kannten, das Erscheinen der „Vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen“, Band I (1873), von der Kritik mit Recht als eine wüste Compilation gebrandmarkt, nach seinem eigenen Geständnisse „in der verzweifelten Lage seiner Familie (Frau und zwei Stiefsöhne) meist mit der Scheere aus eigenen und fremden Büchern zusammengestellt“.

In dieser traurigen Lage verschafften ihm seine Jenenser Freunde eine Lehrstelle an dem ritterschaftlichen Gymnasium zu Fellin in Livland, wo er am Aristoxenus weiter arbeitete; die dürftigen Verhältnisse des Gymnasiums bewogen ihn jedoch schon nach einem Jahre an das k. russische Gymnasium in Goldingen überzugehen. In beiden Lehrstellen wußte er, der Akademiker, den Unterricht in den classischen Sprachen und im Deutschen, auch in der Religion und privatim in der Musik mit bestem Erfolge zu geben und machte sich bei seinem anspruchslosen und treuen Charakter in hohem Grade beliebt. In dem Gymnasialprogramm von 1874 behandelte er „Die Formation des russischen Verbums“ vom sprachvergleichenden Standpunkte in Epoche machender Weise. Diese Abhandlung sowie seine entschiedenen Lehrerfolge und sein biederer Charakter, welche die Aufmerksamkeit des Professors Leontiew bei einem Besuche, bezw. einer Revision des Gymnasiums auf sich gezogen hatten, veranlaßten Westphal’s Berufung in die akademische Abtheilung des k. Lyceums zu Moskau, in welchem ihm griechische Philologie und vergleichende Sprachforschung als Fach zugewiesen wurden. Er gewann hierdurch vor allem ein sorgenfreies Dasein (die Familie war in Deutschland zurückgeblieben und erhielt von Moskau aus ihren Unterhalt) und wurde rasch der Mittelpunkt der philologischen Studien in Moskau, sodaß ihn die Universität zum „Ehrendoctor der griechischen Litteratur“ ernannte. Mit inniger Freude und Genugthuung erinnerte er sich an die große Zahl von Freunden, die ihm vertrauensvoll entgegen kamen, namentlich an Katkow, einen Mitbegründer des Lyceums, Professor Korsch u. A. Von besonderer Wichtigkeit war für ihn die Bekanntschaft mit dem Organisten der lutherischen Peter-Paulskirche Johannes Bartz, einem ausgezeichneten Kenner der Werke von J. S. Bach, mit dem jungen Musiker und Litteraten v. Melgunow und mit der musikalisch und litterarisch hoch gebildeten Wittwe des früheren Directors des Lyceums, Frau Dr. Gringmuth geb. v. Sokolowsky, welche später seine Gattin wurde und bei seinen Dictaten die Feder führte. Hatte W. schon 1872 die Einheit der rhythmischen Gesetze des Aristoxenus und der großen modernen Componisten im Grundriß dargestellt, so wurde nun neben dem Fortgange seiner Aristoxenusforschungen das Studium moderner Meister seine hauptsächliche Beschäftigung. Die Resultate faßte er zusammen in der „Allgemeinen Theorie der musikalischen Rhythmik seit J. S. Bach auf Grundlage der antiken und unter Bezugnahme auf ihren historischen Anschluß an die mittelalterliche mit besonderer Berücksichtigung [214] von Bachs Fugen und Beethovens Sonaten“ (1880). Vorher hatte er zusammen mit v. Melgunow erscheinen lassen: „J. S. Bach, Sieben Fugen für Piano“ (1878). Später erschien: „Die C-Takt-Fugen des wohltemperierten Klaviers“ (Fritzsch, Musikal. Wochenbl. XIV, Nr. 19–26) und „Wie will Beethoven seine Klaviersonate in Cis-moll (op. 27, Nr. 2) vorgetragen haben?“ (ebd. XIV, Nr. 44–52); „Klangfuß und Klangvers mit besonderer Beziehung auf Beethovens Klaviersonaten“ (ebd. XVI, Nr. 27–31); „Die rhythmische Gliederung in C. M. v. Webers Rondo brillante in Des-dur von R. W. und B. Sokolowsky“ (ebd. XVII, Nr. 42–47); „Der Rhythmus des gesungenen Verses“ (Allgem. Musikz. XV, Nr. 24–28). Wir fassen alle diese Publicationen der Kürze wegen schon hier zusammen, weil sie im engsten Zusammenhange mit der „Allgemeinen Theorie“ stehen und meist als Specimina oder Illustrationen zu dieser gelten können. Der Grundgedanke Westphal’s war, daß in den Werken der modernen Meister rhythmische Gesetze enthalten seien, die von den heutigen Musiktheoretikern und selbst den größten Virtuosen infolge mangelnder oder ungeeigneter Bezeichnung in den Partituren, in denen fast nur der Taktstrich gebraucht werde, unbeachtet blieben, Gesetze über die Gliederung der Taktmaße nach Kola, Perioden, Systemen, eurhythmischen Strophen meist im Zusammenhange mit der Phrasirung, ohne welche ein Verständniß dieser Compositionen sehr mangelhaft sei. Das Buch machte in der musikalischen Welt großes Aufsehen. Zwei der größten Virtuosen jener Zeit, freilich in ihrem rhythmischen Vortrage nach dem Urtheil nicht weniger Sachverständiger „arge Subjectivisten“ erklärten sich dagegen; Anton Rubinstein äußerte: „Häßliche Zwangsjacke“!“ Franz Liszt: „beschränkt alle Freiheit des Vortrags, in den Papierkorb!“, auf praktische Musiker machte schon die meist fremdartige Terminologie einen abstoßenden Eindruck. Andere Musiker und Musikgelehrte dagegen sahen in dem Buche eine hervorragende und bahnbrechende Leistung, so Professor Dr. Philipp Spitta in Berlin, einer der bedeutendsten Bachforscher, der das Manuscript las und ihm einen Verleger verschaffte, sodann die als Musiker und Musikschriftsteller allgemein hochgeachteten Dr. Hugo Riemann in Hamburg und Dr. Karl Fuchs in Berlin, die beide durch das Buch zu eigenen meist zustimmenden Publicationen über verwandte Gegenstände angeregt wurden. Der erstere schreibt im Lexikon 1882 s. v. Westphal: „Das Werk ist von epochemachender Bedeutung, es wird einen lebhaften Anstoß zur Behandlung der musikalischen Rhythmik von neuen Gesichtspunkten aus geben, vielleicht auch kleine Veränderungen unserer Notenschrift nach sich ziehen.“ Auch in Frankreich, Italien und England fand das Buch Beachtung, besonders durch François Auguste Gevaert, Musikdirector der großen Oper in Paris, dann Director des Conservatoriums in Brüssel, der auch Westphal’s Forschungen über antike Musik in seinem über denselben Gegenstand handelnden Werke würdigte, sowie durch Matthis Lussy in Paris. Beide waren durch ihre bisherige Thätigkeit ganz besonders zu einem Urtheil berufen, der letztere namentlich durch seine Schriften „Exercices de mécanisme“ und „Traité de l’expression musicale“. – Der Wunsch der Petersburger Akademie, daß W. zusammen mit v. Melgunow die russischen Volkslieder und ihre Melodien sammeln möchte, kam bei der Schwierigkeit der Ausführung nicht zur Verwirklichung, W. veröffentlichte nur einen Aufsatz „Ueber das russische Volkslied“ (Russkij Wjestnik, September 1879), ebd. „Ueber die Stamm- und Tempusbildung des russischen Verbums“ (1876) und „Ueber Kunst und Rhythmus“ (1880). – Infolge eines schweren Typhus sah sich W. genöthigt nach manchen Schwankungen seiner Gesundheit und bei der Ungunst des Klimas, welches einen dauernden Wechsel des Aufenthaltsortes unerläßlich machte, seinen Abschied zu nehmen, der ihm unter dem Ausdrucke der höchsten Anerkennung bewilligt wurde. [215] Da unterdessen seine Mutter, die eine wohlhabende Schwester beerbt hatte, in die Lage gekommen war dem Sohne eine Rente aussetzen zu können, so siedelte er im Anfang März 1881 nach Leipzig über mit Rücksicht auf die dortige Bibliothek und die dortigen Firmen, die seine Verleger waren. Mit ungeschwächter Geisteskraft setzte er seine Aristoxenusforschungen, die „Lieblingsaufgabe seines Lebens“ fort. Der erste Band erschien 1883 „Aristoxenus von Tarent, Melik und Rhythmik des klassischen Hellenismus“, dem der zweite erst nach seinem Tode folgen sollte, ein Werk des ausdauerndsten Fleißes und bewunderungswürdigen Scharfsinnes in der Durchdringung des Zusammenhangs und in der Emendation der Fragmente. Abgesehen von den oben schon erwähnten in diese Zeit fallenden Abhandlungen und von einer wenig neues enthaltenden Darstellung der „Musik des Alterthums“ (Leipzig 1883) publicirte er gegen Ende seines Leipziger Aufenthaltes einen mit viel Beifall aufgenommenen „Salon-Catull“: „Catulls Buch der Lieder, deutsch von R. Westphal“ und zwei Aufsätze in der Berliner philologischen Wochenschrift IX, Nr. 1–4 und 17–21, von denen der eine die „Mehrstimmigkeit oder Einstimmigkeit der griechischen Musik“, der andere „Platos Beziehung zur Musik“ behandelte. Die von andern wieder in Angriff genommene Controverse über den „Saturnius“ bewog ihn zu zwei Anzeigen der Schrift von Keller Göttinger Gel. Anzeigen 1884, Nr. 9 und von Ramorino Berliner philolog. Wochenschrift IV, Nr. 36. Unterdessen war W. im October 1883 von einem Schlaganfall betroffen worden, von dem er sich zwar bald erholte, der aber den Gedanken in ihm erweckte, in die Heimath zu Verwandten und vor allem in den Bereich seiner Mutter, die in Obernkirchen lebte, zurückzukehren. Im Anfang October 1884 siedelte er nach Bückeburg und einige Jahre später nach dem benachbarten Stadthagen über. Sein Leben wurde nach dem Tode seiner zweiten Gattin, die ihn treu gepflegt und bei seinen Arbeiten durch Schreiben und Corrigiren der Druckbogen thätig gewesen war, immer trüber. Pläne, für die er viel vorgearbeitet hatte, wie eine „russische Grammatik“ und „Neuhochdeutsche Sprach- und Verslehre“ kamen nicht mehr zur Verwirklichung. Seine Hauptarbeit war die dritte Auflage unseres früheren metrischen Werkes unter dem Titel: „Theorie der musischen Künste der Hellenen“. Er bearbeitete theils frühere Resultate zusammenfassend, theils einzelne neue Untersuchungen mittheilend, öfters auch in Polemik gegen Angriffe die „Griechische Rhythmik“, die „Griechische Harmonik und Melopöie“ in Gemeinschaft mit seinem Freunde Hugo Gleditsch, der wichtige Abschnitte vortrefflich durchführte (zwei Bände, Leipzig 1885–1887). Da W. die Studien in den griechischen Dichtern nicht fortgesetzt hatte, so beabsichtigte er in einem dritten Bande nur die Metren des Sophokles und Horaz zu behandeln. Hiermit wäre unser früheres Werk und zwar gerade in seinem wichtigsten und am meisten gebrauchten Theile, an welchem ich nächst der Rhythmik den vorwiegenden Antheil[WS 1] in der ersten Auflage gehabt hatte, verstümmelt worden. Infolge rascher Uebereinkunft übernahm ich die Umarbeitung des dritten Theiles, die ich unter dem Titel: „Griechische Metrik mit besonderer Rücksicht auf die Strophengattungen und die übrigen melischen Metra“ (1889, 870 S.) ohne Westphal’s Mitwirkung und, wie ich nicht in Abrede stellen darf, im Gegensatz zu der von W. besorgten zweiten Ausgabe, mit der ich mich wenig hatte befreunden können, vor allem unter dem Gesichtspunkte durchführte, daß die Metrik aus den Dichtern hergestellt werden müsse und die Tradition der antiken Metriker und Grammatiker ein durchaus untergeordnetes Moment sei. Unter dem Namen seiner Frau v. Sokolowsky publicirte W. wiederum eine Bearbeitung der griechischen Musik in der dritten Auflage von „Ambros’ Geschichte der Musik“ (1887, Band 1), wodurch die von Ambros selbst herrührende, Vielen lieb gewordene Darstellung nicht verbessert, sondern vollständig beseitigt wurde; außerdem [216] veröffentlichte er einige Abhandlungen und Recensionen, welche die Vertheidigung oder weitere Begründung einzelner Ansichten oder Anzeigen von Büchern enthielten. Zuletzt beschäftigte sich W. nur mit der Ausführung früherer Arbeiten, der schon oben erwähnten „Allgemeinen Metrik der indogermanischen und semitischen Völker“ und des zweiten Bandes seines „Aristoxenus von Tarent. Berichtigter Originaltext nebst Prolegomena. Herausgegeben von Saran“ (1893); beide erschienen als „opera postuma“ in nicht vollendetem Zustande. W. starb nach schwerem Leiden am 10. Juli 1892. Er hatte die Hoffnungen seiner Jugend nur theilweise erfüllt, war aber seiner Wissenschaft unentwegt bis zu seinem Lebensende treu geblieben, – ein genialer, in seinem uneigennützig hohen Streben unermüdlicher Idealist, der die richtigen Wege durch das praktische Leben nicht zu finden vermochte. Uns, seinen Nächststehenden, seinem einzigen überlebenden Geschwister, meiner Frau, und mir, seinem Jugendfreunde und Bruder, hat sein Andenken eine tiefe Wehmuth und eine nie ganz vernarbende Wunde zurückgelassen.

Ausführliche Biographie mit einer sehr sorgfältigen u. vollständigen Liste aller Publicationen von Hugo Gleditsch, Biographisches Jahrbuch für Alterthumswissenschaft 1895.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Antheit