ADB:Jürgens, Karl Heinrich
Karl von Braunschweig mehrfach Betrachtungen über das Recht zur Revolution mit Nutzanwendung zunächst auf die unbefriedigenden Verhältnisse des deutschen Bundes an. Der Oberappellationsrath F. K. v. Strombeck hatte in einer Schrift, betitelt „Was ist Rechtens, wenn die oberste Staatsgewalt dem Zwecke des Staatsverbandes entgegen handelt?“ die Lehre von der Beschränkung des Rechts der Unterthanen auf Widerstand gegen die Staatsgewalt aufgestellt. Hiergegen wandte sich J. in einer Schrift „Ueber die Nothwendigkeit durchgreifender Reformen bei der gegenwärtigen Lage Deutschlands“ (Braunschweig 1831). Er sagte darin: „Man mag über das Widerstandsrecht denken wie man will; es ist die Thatsache nicht abzuleugnen, daß überall, wo die Staatsgewalt dem Staatszwecke entgegen handelt, Revolutionen eintreten werden, wenn die Theorie sie auch unbedingt für unerlaubt erklärt“. Ohne ein Revolutionär zu sein, glaubte er in dem Umstande, daß die Verfassung Deutschlands und seiner Einzelstaaten den Bedürfnissen nicht entsprachen, den Keim zu einer Revolution zu erblicken. Diese sei überhaupt eine in solchen Fällen sich ganz natürlich entwickelnde Erscheinung. Der Jubel, mit welchem die Völker die französische Julirevolution begrüßt, bedeute nur „die Freude über den Sieg der Ideen und Ansprüche dieser Zeit über Vorurtheil, schädliche Gewohnheit und Mißbrauch“. J. tadelte heftig die Mißbräuche der Regierungsweise in Deutschland und sagte: „Man hat zu jedem Mittel der Gewalt und List, zu rechtmäßigen und unrechtmäßigen Mitteln gegriffen; nichs hat geholfen, den Mahnungen der Zeit sich zu entziehen. So gilt es denn, die alten Bande zwischen den Fürsten und Völkern zu befestigen und den edlen und richtigen Ideen der Revolution sich anzuschließen, die, ein riesenhafter Geist durch Europa geht“. Während v. Strombeck behauptete, der Staat erscheine nur dann als rechtlich begründet, wenn man ihn als durch Vertrag entstanden betrachte, führte J. aus, es stehe die rechtliche Natur der obersten Staatsgewalt auch dann fest, wenn sie ihre Entstehung aus einer natürlichen und moralischen Verkettung der Umstände herleite. Ihr stehe dann ein moralisch begründeter Anspruch auf Gehorsam der Staatsbürger zu, ohne daß für sie ein Recht entstehe, dem Staatszwecke entgegen zu handeln. Diese Schrift mit ihren freimüthigen Aeußerungen erregte bei den damaligen öffentlichen Zuständen Deutschlands großes Aufsehen und fand in liberalen Kreisen vielen Beifall, so daß der Verfasser eine gewisse politische Bedeutung über die Grenzen des Herzogthums Braunschweig hinaus erlangte. Infolge dessen wurde er im Herbst 1842 zum Stellvertreter des Abgeordneten Engelbrecht III. für Wolfenbüttel in den braunschweigischen Landtag gewählt, doch ist es zu seinem Eintritte nicht gekommen. [741] Im J. 1846 machte sich J. sehr bemerklich durch ein Werk über „Luther’s Leben“, auch unter dem Titel „Luther von seiner Geburt bis zum Ablaßstreit“ (3 Bde., Leipzig 1846–47). Es zerfällt in die vier Bücher: Kindheit und Jugend Luthers bis zum Eintritt in den Mönchsstand (1483–1505); Erfurter Mönchsjahre (1505–8); Wittenberger Anfänge und Fortschritte bis zu den Ursprüngen des Ablaßstreites (1508–16); von da bis zum Ausbruche (April 1516 bis October 1517). Die Aufgabe, welche J. sich dabei gestellt, besteht, nach der Vorrede, in der „Nachweisung, wie Luther ganz mit seiner Zeit sich bildete, mit ihr wurde, was er geworden ist und mit ihr that, was er gethan, fest in ihr stehen bleibend sie weiter führte, soweit sie zu folgen vermochte, ihre Richtungen in sich aufnahm, durchbildete, zur Reife brachte und eben dadurch neue Wege bahnte.“ Im „Neuen Repertorium für die theologische Litteratur und kirchliche Statistik“, herausgegeben von Th. Bruns und C. Häfner, Bd. X (Berlin 1847) heißt es über dieses Werk Jürgens’: „Jürgens hat das große Verdienst, die Gedanken, Thaten und Schicksale Luthers in ihrer organischen Verbindung mit dem Geiste und Leben seiner Zeit dargelegt und enthüllt zu haben. Fast nichts erscheint hier isolirt. Die Mannsfelder Schuljahre werden nicht beschrieben, ohne daß von der damaligen religiösen Unterweisung, von Kultus, Brauch und Aberglauben jener Zeit gesprochen würde. Auf die Schuljahre in Magdeburg wirft die Beschreibung der Stadt und der dortigen Franziskanerschule ihr erläuterndes Licht. Luther’s Klosterleben wird nicht ohne Entwickelung der damaligen klösterlichen Zustände beschrieben. Das Jürgens’sche Werk besitzt gerade den Vorzug in hohem Grade: nicht nur ist die ganze Auffassung eine neue, sondern auch die Quellen sind mit einer bewunderungswürdigen Genauigkeit und Sorgfalt studirt und verarbeitet, so daß selbst das historische Material reicher ist als in jeder anderen Lutherbiographie.“ (Ueber Bd. III des Werkes s. Neues Repertorium für die theologische Litteratur, Bd. XVI, Berlin 1849.) In politischer Beziehung schloß sich J. den Bestrebungen seines Freundes, des freisinnigen Advokaten Steinacker, langjährigen Präsidenten des braunschweigischen Landtags, an, so daß er beim Ausbruche der Bewegung vom März 1848 als einer der hervorragenderen Vertreter der liberalen und nationalen Sache im Herzogthum galt. Er wurde nunmehr zum Eintritt in den außerordentlichen Landtag aufgefordert, folgte jedoch nicht, weil sich ihm in Frankfurt a. M. eine Wirksamkeit eröffnete. Theilnehmer am dortigen Vorparlament, wurde er als einziger Braunschweiger in dessen 50-er Ausschuß gewählt. Hier gehörte er zu der conservativeren Seite und war von Anfang an eifrig bemüht, deren Mitglieder zum Zusammenhalten gegen die verschiedenen radikalen Pläne der anderen Seite zu bewegen. Er vereinigte sich mit den Gleichgesinnten (Buhl, Duckwitz, Hergenhahn, Mathy, Stedtmann etc.) zu wiederkehrenden Besprechungen, in welchen man entschlossen war, dem Treiben der Linken entschieden entgegen zu treten. Nachdem noch Andere hinzugetreten, war die eine Seite des Ausschusses so stark als die andere; durch die Berufung Mathy’s und Hergenhahn’s zu Ministern kam jedoch die rechte Seite um zwei Stimmen in die Minderheit. Nur der klugen Taktik der letzteren, deren Mitglieder sich bei J. zu versammeln pflegten, war es zu danken, daß nicht radikale Beschlüsse entstanden. Der Besorgniß der Radikalen vor Reaction trat J. im Ausschusse mit der Warnung entgegen, daß diese Furcht „nicht zu einem Narrenseil werde, an dem uns diejenigen tanzen lassen, welche Zwecke verfolgen, die wir nicht wollen.“ J. bildete mit Duckwitz und Lehne die Commission der 50-er, welche über deren Wirksamkeit einen Bericht an die Nationalversammlung erstatten sollte; sie stellte jedoch nur ein Verzeichniß der Beschlüsse zusammen. Als Vertreter des dritten braunschweigischen Wahlbezirks in die deutsche Nationalversammlung gewählt, gab sich [742] J. auch hier alsbald alle Mühe, eine ähnliche Vereinigung, wie bei den 50-ern, im größeren Maße zu bilden; er hatte jedoch hierin, sowie wiederholt hinsichtlich der Begründung eines politischen Blattes keinen Erfolg, bis ihm Anfang Juni 1848 gelang, in Verbindung mit den Abgg. Bernhardi von Kassel und C. Loew von Magdeburg die „Flugblätter aus der deutschen Nationalversammlung“ zu gründen. Dieselben wollten ein Organ der Casinopartei sein, zu welcher sich J. hielt, allein das Blatt verlor die Fühlung mit letzterer, seit es im October 1848 den Pfad der Mäßigung außer Acht ließ und mit radikalen Blättern in verläumderischer Entstellung der Thatsachen, in Schmähsucht und gehässigen Persönlichkeiten wetteiferte, so daß Bernhardi sich von der Redaction zurückzog. Biedermann in seinen „Erinnerungen aus der Paulskirche“ (Leipz. 1849) führt diese Wendung darauf zurück, daß J. „Hypochondrist im höchsten Grade, schwarzgallig und schwarzsichtig und darum ungerecht in seiner Beurtheilung der Personen, befangen in seiner Anschauung der Dinge, dazu voll Selbstüberhebung“ gewesen sei. „Keiner hat“, heißt es dort weiter, „so viel gewählt, d. h. die Schwankenden und Andersgesinnten im Stillen bearbeitet, keiner hat sich so viel mit geheimen Parteiungen und kleinen parlamentarischen Intriguen abgegeben als J., der als Redner ohne Bedeutung war.“ Laube (Das deutsche Parlament, Bd. III, Leipz. 1849, S. 339) nennt ihn „einen Braunschweiger von edler Bildung und hypochondrischer Furcht vor jedem energischen Plan“. Nachdem am 15. December 1848 Schmerling in der Leitung des Reichsministeriums durch Gagern ersetzt war, schied eine Anzahl von Abgeordneten, welche, um nur Oesterreich bei Deutschland zu erhalten, zu Zugeständnissen selbst auf Kosten der inneren Einheit und Festigkeit des deutschen Bundesstaats bereit waren, aus ihren Clubs und vereinigte sich zu einer Partei des „Pariser Hofs“ unter Leitung von Edel, Reichensperger, Welcker und J., welcher letztere bei dieser Gelegenheit von Biedermann (s. o.) nebst M. Mohl, Heckscher und Wuttke zu den „politischen Sonderlingen, Querköpfen und Partikularisten“ gerechnet wird. J. war Mitglied des Verfassungsausschusses, in welchem er bei Berathung der Oberhauptsfrage das Kaiserprojekt als todtgeborenes Kind bezeichnete, weil „die Nation keinen starken, klaren Willen, daher auch nicht die erforderliche Kraft hat, ein so schwieriges Unternehmen durchzusetzen.“ R. Haym (Die deutsche Nationalversammlung Bd. II, Berlin 1849) führt den Umstand, daß J. Alles durch die staatsmännische Brille seiner neuen Freunde ansehe, auf den Eindruck zurück, welchen das Auftreten der Anarchisten in den Septembertagen auf ihn gemacht; seitdem sei er ganz grämlich geworden, „keins Glaubens und Aufschwunges mehr fähig.“ Nach dem Mißlingen des Werkes der Nationalversammlung trat J. nur noch als Schriftsteller auf. Er schrieb: „Zur Geschichte des deutschen Verfassungswerks 1848–49“ (Braunschweig 1850). Die hier in zwei Bänden gegebene Darstellung reicht vom Frühjahr 1848 bis zum Schluß der ersten Verfassungsberathung. Nachdem am 26. October 1850 in Hannover das Ministerium v. Münchhausen-Lindemann ins Amt getreten war, welches im Geiste einer milden Reaction regierte, übernahm J. unter demselben die Redaction der amtlichen Hannoverschen Zeitung, gab sie aber mit dem beim Regierungsantritte König Georgs erfolgenden Rücktritte dieses Ministeriums wieder auf und siedelte nach Frankfurt a. M. über. In seinen „Studien zur deutschen Geschichte und Politik“ (Bremen 1856) wandte sich J. gegen Droysen und Häusser als Geschichtsschreiber mit preußischer Tendenz. Er ging davon aus, daß die deutsche Geschichte „von preußenthümlich Gesinnten und Strebenden nicht wenig gefälscht“ werde und bezeichnete Droysen’s „Geschichte der preußischen Politik“ als „ein kunstvoll verhüllendes und doch auch mehr dreistes Tendenzbuch“, während ihm Häusser’s deutsche Geschichte „weit freier nach demselben Ziel“ steuerte. In der preußischen [743] Spitze erblickte er „nur unabsehbares Unheil und Unsegen“ und sprach vom „Raubstaatsberufe“ Preußens. Eine Kritik dieses Buches brachten die „Grenzboten“ 1856, 2. Sem., Bd. II. Auch Jürgens’ letztes Werk: „Deutschland im französisch-sardinischen Kriege vom Pariser Congreß 1856 bis zum Frieden von Villafranca“ (Basel 1860) enthält hauptsächlich Anklagen gegen Preußen vom großdeutschen und mittelstaatlichen Standpunkte. 1860 in Frankfurt a. M. kränkelnd, begab sich J. zur klimatischen Kur nach Montreux und siedelte dann nach Wiesbaden über, wo er starb. Er war unverehelicht. Durch Sorglosigkeit des Dieners ging der litterarische Nachlaß verloren.
Jürgens: Karl Heinrich J., Dr. theol., politischer und theologischer Schriftsteller und braunschweigischer Abgeordneter, geb. am 3. Mai 1801 in Braunschweig, † am 2. December 1860 in Wiesbaden. Aeltester Sohn des Schatzeinnehmers Johann Heinrich Martin J. und der Johanna Henriette geb. Dieterichs zu Braunschweig, besuchte er das Martineum, dann das Collegium Carolinum seiner Vaterstadt, auch nachdem der Vater 1819 als Kreiseinnehmer nach Wolfenbüttel versetzt war. Nachdem er zu Göttingen Theologie studirt, erhielt er 1825 die Stelle als evangelischer Prediger zu Negenborn bei Stadt-Oldendorf, später die Predigerstelle an letzterem Orte. Trotz dieser bescheidenen Stellung erlangte J. zu zwei verschiedenen Malen, 1831 und 1848, politische Bedeutung. Im J. 1831 regte die Vertreibung des Herzogs- Grenzboten 1848, 1. Sem., Bd. II; Brustbilder aus der Paulskirche (Leipzig 1849); Unsere Zeit, 1861; Duckwitz, Denkwürdigkeiten aus meinem öffentlichen Leben von 1841–66 (Bremen 1877).