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ADB:Stahl, Friedrich Julius

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Artikel „Stahl, Friedrich Julius“ von Ernst Landsberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 392–400, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stahl,_Friedrich_Julius&oldid=- (Version vom 20. Dezember 2024, 01:11 Uhr UTC)
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Band 35 (1893), S. 392–400 (Quelle).
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Stahl: Friedrich Julius St., Rechtsphilosoph und Politiker, ist geboren zu München am 16. Januar 1802. Von seinem Vater, einem strenggläubigen Juden, wurde er in alter Orthodoxie erzogen, jedoch nicht auf hebräische Wissenschaft beschränkt, sondern dem Gymnasium zugeführt. Rasch durchlief er dies, Lyceum und philologisches Institut, und bestand bereits im 18. Jahre den Concurs für das Gymnasiallehreramt. Dann aber ging er zum Studium der Rechtswissenschaft und am 6. November 1819 zum Christenthum lutherischer Confession über, an deren Dogmen er mit starrer Consequenz und unbedingter Gläubigkeit auf Lebenszeit festgehalten hat. Deßhalb von der Philosophie seiner Zeit abgestoßen, aber von der positiven Jurisprudenz und namentlich der historischen Rechtsschule angezogen, habilitirte er sich in seiner Vaterstadt 1827 mit einer einflußlos gebliebenen Untersuchung „über das ältere und neuere Römische Klagerecht“. Jedoch kehrte er bald zu der Philosophie zurück, nicht um ihr zu folgen, sondern um sie vom theosophischen Boden aus zu überwinden. Mehr noch das Verfahren als das Material, mehr noch den Muth als das Verfahren dazu, erhielt er durch die Vorlesungen Schelling’s in dessen damaliger mystisch-theosophischer Epoche, namentlich lernte er von ihm, „von Ueberzeugungen, die man als in ein eigenes Gebiet gehörig im Innersten zu verschließen und nur gegen feindliche Angriffe zu schützen pflegt, auch positiv den vollständigsten wissenschaftlichen Gebrauch zu machen“ – und zwar ohne Beweis, lediglich auf Grund eben dieser Ueberzeugung hin, nachdem nur durch Widerlegung anderer Ansichten freier Raum geschaffen ist.

Daher zerfällt denn Stahl’s „Philosophie des Rechts“ in zwei Theile; ein erster, die „Geschichte der Rechtsphilosophie“ (zuerst 1829, letzte Auflage 1870 erschienen), ist bestimmt, die Unhaltbarkeit aller bisherigen Doctrinen nicht nur aus ihren Einzelheiten, sondern aus ihrer rationalistischen oder speculativen Grundrichtung und als Folge derselben zu beweisen; der zweite Theil (1838, dritte Aufl. 1856), führt dann die Rechts- und Staatslehre auf christlicher, das heißt hier supra-rationalistischer Anschauung auf. In diesen beiden, geschlossen sich folgenden Theilen hat St. dasjenige System in markigen Grundzügen und mit allseitiger Orientirung festgelegt, auf welches, als das Werk seines Lebens, er stets zurückkommt; auch hat er in den späteren Auflagen immer nur Einzelheiten, namentlich Uebertreibungen in der Analogie zwischen Göttlichem und Menschlichem, abgeändert, oder, den neueren Erscheinungen in [393] Wissenschaft und Politik nachfolgend, Ergänzungen zugefügt; der Geist des Ganzen und die wesentlichen Theile sind stets unverrückt geblieben.

Die Geschichte der Rechtsphilosophie ist demgemäß nicht eine objective Darstellung, sondern der glänzende, mit allen Mitteln der Dialektik und mit Wärme der Ueberzeugung durchgeführte Versuch, die Unfähigkeit des lediglich auf sich selbst gestellten menschlichen Geistes zur Beherrschung und zum Verständniß auch nur der irdischen Dinge an den Mängeln aller geschichtlich einander ablösenden Naturrechts-Systeme klarzulegen. St. beschäftigt sich daher wesentlich nur mit der Zeit seit Grotius, während er unter den classischen Philosophemen Plato’s objectiv herrschenden Ideen eine gewisse Sympathie entgegenbringt; daß dem gegenüber das Vordrängen des Subjectiven zur Auflösung aller festen Satzung, zur Souveränität des Individuums und damit zur Vernichtung von Staat und Recht führt, ist sein wesentliches thema probandum gegen die ganze Reihe von Hugo Grotius bis auf Kant und Fichte. Außerdem wirft er diesen Allen, wohl mit mehr Recht, ihre grenzenlose Abstraction vor, infolge deren ihnen der ganze Reichthum der realen Verhältnisse entgehe und schließlich nur noch die Erkenntniß von dem „Nichtnichtseinkönnenden“ bleibe. Aber auch die neuesten, in Schelling und Hegel culminirenden Versuche der objectiven Weltauffassung aus der menschlichen Speculation hervor können St. nicht befriedigen: sie führen haltlos zum Spinozismus und Atheismus mit seinem Untergang aller Freiheit, aller Individualität, aller Geschichte, damit aber auch allen Rechts und jeder Gerechtigkeit. So bleibt denn, von welcher Seite man auch ausgehen möge, eine absolute Leere übrig, welche auch die geschichtliche Rechtsauffassung, mag dieselbe sonst noch so berechtigt sein, mangels philosophischer Grundlage auszufüllen nicht im Stande ist. In diese Leere tritt der persönliche Gottes- und christliche Offenbarungsglaube ein. Im Centrum seiner ganzen „Philosophie“ sieht St. Gott als Persönlichkeit, als thätigen Schöpfer Himmels und der Erde, sowie namentlich des freien Menschen, dem sein Grundgesetz in den göttlich offenbarten heiligen Schriften gegeben ist. Gottes Fügung offenbart sich weiter in der Geschichte, Gottes Gebot weist dem Menschen seinen Stand und Platz auf Erden an, auf Gottes Gebot beruhen namentlich die zwei großen objectiven, um ihrer selbst willen, nicht nur nicht um des einzelnen Menschen, sondern nicht einmal um der gesammten Menschheit willen existirenden äußeren Ordnungen des Staats und der Kirche. So übt der Staat, in welcher Verfassung auch immer, sein Recht nicht aus menschlicher, sondern aus göttlicher Vollmacht; er hat aber auch dieses Recht nach den göttlichen Weisungen einzurichten, da, wo sich solche finden, z. B. in der Gesetzgebung über Ehewesen, über Sittlichkeitsdelicte und in der erbarmungslosen Durchführung der Strafjustiz. Alle staatlichen Einrichtungen, welche dazu dienen, dieses gottgewollte Fundament zur Geltung oder Anerkennung zu bringen, feste Ständeordnung, Autorität der Regierung (statt Majorität), Begründung der Verfassung statt auf ein Blatt Papier auf alte Ueberlieferung, Begründung des Rechts auf den Zusammenhang alter Rechte und Gewohnheiten statt auf Codification (hier zieht St. die Savigny’schen Vorstellungen in sein Interesse) – alles dies ist wünschenswerth, alles Gegentheil vom Uebel: so am meisten die Lehre von der Souveränität des Volkes und von einem Rechte der Empörung; vielmehr hat die bürgerliche Ordnung als sittliches gottgewolltes Reich den unbedingten Anspruch auf Erhaltung, ihr gegenüber das Gewissen des Einzelnen höchstens das letzte Hülfsmittel der passiven Gehorsamsverweigerung. Denn der einzelne Mensch ist schlecht, sündig und allem Bösen geneigt von Natur; deßhalb ist ihm der Fluch der Arbeit auferlegt und das Joch der höheren, äußerlich erziehenden Ordnungen in Staat und Kirche; nur indem er sich demselben beugt, findet er wahre Freiheit. Die große Leistung Stahl’s bei [394] der Vertretung und Durchführung dieser Theorien ist nun vor allem die, mit gewaltiger Consequenz und systematischer Strenge dennoch eine bedingte Anerkennung der Gegner, eine Vermeidung äußerster Extreme und eine philosophische Ueberlegenheit in der Gestaltung der Lehre zu verbinden, welche seinem Buche wissenschaftliche Bedeutung und praktische Anwendbarkeit sichern, indem sie die zu Grunde liegenden[WS 1] mittelalterlichen Anschauungen auf die Höhe moderner Bildung erheben. So weiß er schon in der Polemik nicht nur, wie für ihn naheliegend, bei Schelling und Hegel die durch sie wiederbegründete Anerkennung „der großen Objectivitäten“ zu rühmen, sondern auch an der Naturrechtsphilosophie die Durchbildung der Lehre von dem Recht und der Bedeutung der einzelnen menschlichen Persönlichkeit, ihrer Handlungs- und Gewissensfreiheit, als Fortschritt, natürlich nur bis zu einem gewissen eng begrenzten Grade, anzuerkennen; mit Stolz hebt er hervor, daß dieser Entwicklung die neue Zeit Großes verdanke, nämlich allgemeine Humanität, Abschaffung von Tortur und Leibeigenschaft, Freiheit der Bestrebungen im Höchsten wie im Geringsten, Sicherung des Austritts aus Staat und Kirche, Schutz wenigstens der Privatrechte bei jedem Glaubensbekenntniß. An Montesquieu tadelt er nicht bloß die mechanische Verfassungsconstruction, sondern auch die Folge, daß „für die mechanisch sichere Ausführung der Regierungsmaßregeln Ehre, Freiheit und Recht der Bürger durch geheime Polizei, Haussuchungen, Verletzung des Postgeheimnisses beeinträchtigt“ werden – wie denn Stahl immer, selbst in den schlimmsten Zeiten der Herrschaft der Reaction, Feind der Polizeiwillkür und Bureaukratie, Anhänger illiberaler Verfassung, aber liberaler Verwaltung geblieben ist. Bei Hegel erkennt er richtig, daß seine Staatslehre „ebensowenig ultraroyalistisch als ultraliberal, aber … ultragouvernemental“ ist; Hegel ist ihm deßhalb „ein Gegner der freien Bewegung und nicht minder der unantastbaren Rechte“. Und so ist denn auch Stahl’s positive Doctrin wohl unterschieden von der katholisch-theokratischen de Maistre’s oder der privatrechtlich-feudistischen Haller’s; nicht daß gerade diese, sondern daß überhaupt irgendwelche Obrigkeit von Gott verordnet ist, bildet seine Grundlage; in der Ausprägung des Staates und aller seiner Anstalten und Beziehungen als öffentlichrechtlicher Natur, in der Ueberwindung des mittelalterlichen Gesichtspunktes, der nur Privatrechte kennt, erblickt er einen bedeutenden Gewinn; auch erscheint ihm keineswegs als idealste Staatsform das absolute Königthum, sondern eine verfassungsmäßig temperirte Monarchie, sofern diese Verfassung nur eine historisch allmählich gewordene ist und vor allem Parlament oder Stände bloß als Beirath und Unterstützung der Regierung unter dem Herrscher, nicht als eigentliche Herrscher über dem Könige stehen. Namentlich den englischen Zuständen bringt St. unbegrenzte Hochachtung entgegen. Die einmal vorhandene Constitution festzuhalten ist, wenn schon nicht erzwingbare, so doch strenge Rechtspflicht des Fürsten, der ihre Aenderung, selbst wenn er sie in seinem Gewissen für ein Uebel hält, doch nur auf dem von ihr selbst als gesetzmäßig bezeichneten Wege anstreben darf. Und zwar sind alle diese Anschauungen nicht bloß etwa für St. Verbrämungen oder Milderungsversuche der eigentlichen Ansicht, sondern es ist ihm um sie gerade so ernst, wie um die reactionären Bestandtheile seiner Theorie. Das hat er in seinem ganzen späteren politischen Verhalten an den Tag gelegt, wie er denn z. B. nach 1848 nie gewaltsamer Verfassungsänderung zugesteuert, aber auch schon vor 1848 der Gewährung beschließender statt bloß berathender Stimme an die vereinigten Stände das Wort geredet hat. Auch hat er immer die sittliche Persönlichkeit der Gegner zu schonen und ihnen Moral ohne Glauben einzuräumen verstanden, wie er denn selbst soweit geht, seine Bedenken zu äußern gegen den Satz, daß die Tugenden der Heiden glänzende Laster seien; nur selten widerfährt es ihm, daß [395] er unerfreuliche Consequenzen seines Systems in compromittirender Weise ausspricht, dann aber meist in der Verbindung mit der Idee der Strafe, deren rücksichtslosen Vollzug als Gebot des Gottes der Rache anzusehen ihm so natürlich ist, daß er hier jeder Vorsicht vergessen muß. In diesem Zuge tritt der starr-doctrinäre Charakter des Mannes an die Oberfläche; ihm ist persönlich wie geschichtlich sein Christenglaube direct aus dem Judenthum, unvermittelt durch griechische Philosophie, hervorgegangen; daher durchdringen ihn ungleich mächtiger als die hellenistischen die judaischen Bestandtheile des Christenthums; das wörtliche Verständniß der Schrift, den confessionellen Dogmatismus vom Boden des Lutherthums verficht er gegen Schleiermacher; aber festzuhalten ist, daß, soweit es ihm von diesem Boden aus irgendwie möglich ist, er stets an der Anerkennung einer Freiheitssphäre für das Subject, an einer Beschränkung für Fürst und Staat und an einer fortschreitenden Entwicklung in der Geschichte mit eifrigem Streben festgehalten hat. Weitern Raum dafür gewinnt er, indem er die Ansicht verwirft, als ließen sich aus dem obersten Princip für Staat und Recht alle einzelnen Ordnungen in[WS 2] Staat und Recht abstract deduciren; vielmehr ist es ihm vollkommen klar, daß diese durchaus positiv den gegebenen Verhältnissen entnommen werden müssen, ein „Naturrecht“ in diesem Sinne gibt es nicht, sondern lediglich und ausschließlich positives Recht, scharf getrennt von der bloßen Rechtsphilosophie: Niemand hat diesen Satz energischer durchgeführt, als St., gestützt auf Savigny, im Kampfe gegen den Rationalismus. In der Philosophie des Privatrechts geht er denn auch über die obersten Sätze nicht hinaus und wo er im öffentlichen Recht auf die Einzelheiten übergreift, verhehlt er keineswegs, daß er dies thut im Anschlusse an die deutschen Staaten und an die gegenwärtigen Zeitläufte, nicht von der Höhe bloßer Abstraction aus.

In erste Linie tritt ihm dabei bald die Rücksicht auf preußische Verhältnisse, denn in diese, nach Berlin, sollte ihn der akademische Beruf führen, nachdem sein Werk ihm zunächst 1832 eine außerordentliche Professur in Erlangen, noch im Winter desselben Jahres den Ruf als Ordinarius des Römischen Rechts nach Würzburg und endlich 1834 die Zurückberufung nach Erlangen als ordentlicher Professor des Staats- und Kirchenrechts verschafft hatte. Im Jahre 1837 von der Universität Erlangen als ihr Vertreter nach München in die Ständeversammlung geschickt, war er dort mit dem damaligen bairischen Ministerium über Fragen der Finanzverwaltung und der finanziellen Rechte der Stände in Conflict gerathen und deßhalb durch Umwandlung seiner Professur in eine solche für Civilproceß gemaßregelt worden; noch in Erlangen war sein Buch über „die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten“ entstanden, welches in Ergänzung der Rechtsphilosophie die Lehre von der äußeren Kirchenanstalt als göttlicher Institution ebenso hinstellt, wie jenes Werk den Staat als solche hingestellt hatte, daneben aber namentlich, wohl nicht unbeeinflußt durch jene Stellung zur Regierung, die Tendenz verfolgt, das Kirchenregiment möglichst dem Staate zu entwinden und dem Lehrstande, zu dessen episkopaler Ausbildung St. auffordert, zu vindiciren. Unmittelbar nach der Veröffentlichung dieses Werkes erreichte ihn der Ruf nach Berlin, 1840, zu derselben Zeit, in welcher nach dem Sturz des (Hegelianers) Ministers v. Altenstein auch Schelling dorthin gezogen wurde, Berufungen, welche im nahen Zusammenhange standen, durchaus im Wunsche des Königs Friedrich Wilhelm IV. lagen und bisher nur durch den Minister verzögert worden waren, – von welchen die Schelling’s als die bedeutendere erscheinen mochte, sich aber die Stahl’s als die weit folgenreichere bewähren sollte. Denn während Schelling bekanntlich die durch den Glanz seiner Antrittsrede frisch erweckten Hoffnungen durch eine greisenhafte Unproductivität herb enttäuschte, begann Stahl sofort und mit rastloser Energie eine allseitige [396] Thätigkeit zu entfalten, welcher umfassende Wirkung auf diesem so günstigen Boden von vornherein gesichert war. Vorlesungen hielt er über Staatsrecht, Kirchenrecht und Rechtsphilosophie; sodann aber ging er nun dazu über, unmittelbar in die kirchliche und politische Bewegung einzugreifen.

Auf eine solche Bethätigung im Dienste der Reaction war sein ganzes System wie angelegt, und er ist in der Lage gewesen, der Entwicklung in allen ihren gerade damals so rasch und so vielfach wechselnden Phasen zu folgen, ohne je den Boden desselben verlassen oder mit seinen Principien sich abfinden zu müssen. In den Dienst der von ihm vertretenen Sache, der nicht blind wüthigen, ständisch-feudistisch zu stützenden Legitimität und der strengst confessionellen, unionsfeindlichen, selbstherrlichen lutherischen Kirche brachte er eben mit sein vorher fertig durchgebildetes, tragfähiges System, seine im Ringen mit Schelling und Hegel gestählte dialektische Kunst, seinen meisterhaften, klardurchsichtigen und lebhaft bewegten, jedoch nie rhetorisch gesteigerten Styl und über all dies die ganze Zähigkeit und Macht seiner Persönlichkeit. Daß er in den Kämpfen, in welche er so eintrat, nicht nur stets ohne Rücksicht auf eigenen Vortheil, sondern meist auch in geistig überlegener, vornehmer und unpersönlicher Weise gekämpft hat, wird selbst derjenige unbedingt zugeben müssen, der den von ihm geübten Einfluß sachlich bedauert, ja gerade den Umstand als den unheilvollsten empfindet, daß seine Sache durch ihn wissenschaftliche Erscheinung gefunden hat. Er begab sich in den Streit zunächst mit einer Reihe von Flugschriften (namentlich „über das monarchische Princip“ 1846) und von Artikeln in der Evangelischen Kirchen- sowie in der Kreuzzeitung (1848). Sodann wurde er von den Kreisen Barnim, Angermünde, Templin und Prenzlau in die damalige Erste Kammer gewählt und schloß sich dort der aus nur 13 Mitgliedern bestehenden Partei der äußersten Rechten an; glänzende und formvollendete Reden richtete er gegen das Steuerverweigerungsrecht der Kammer, in welchem er stets die verwerflichste der revolutionären Einrichtungen erblickt hat; gegen die Aufhebung der Fideicommisse; gegen den auf Trennung von Staat und Kirche gerichteten § 11 der Verfassung (von 1848); namentlich aber (am 14. März 1849) gegen die Annahme der Frankfurter deutschen Kaiserkrone: unverkennbar sind in diesen Reden, neben aller Engherzigkeit und allem Doctrinarismus, auch viele gesund-realistische und uns heute selbst als nicht unbedingt antiliberal erscheinende Sätze ausgesprochen. St. ist weiterhin 1850 Mitglied des Erfurter Parlamentes und in demselben heftiger Gegner der Herrichtung des Bundestages gewesen, wie v. Schulte mittheilt. Als nun die Epoche der Reaction einsetzte und zunächst ihre parlamentarische Stütze in der stark angeschwollenen Rechten der ersten Kammer, des späteren Herrenhauses, fand, da traten die Anschauungen Stahl’s, dem die Leitung der Partei fast selbstverständlich zufiel, in die mächtigste Wirksamkeit. Namentlich alle jene Schritte der Zeit, welche eine „Zurück-Revision“ der Verfassung bedeuten, sind unter seiner Mitthätigkeit zu Stande gekommen. Zu nennen wären etwa die Beseitigung der Gemeinde-, Kreis- und Provinzial-Ordnungen von 1850; der Entwurf eines Ehescheidungsgesetzes von 1855; die Aufhebung des Art. 40 der Verfassung, welcher die Errichtung von Fideicommissen untersagte; die Einführung der Städteordnung für die sechs östlichen Provinzen der Monarchie vom 30. Mai 1853; das Gesetz vom 7. Mai 1853, welches dem Könige die Befugniß ertheilte, eine neue erste Kammer aus lebenslänglichen und erblichen Mitgliedern zusammenzusetzen; namentlich dieses letztere geht ganz auf Stahl’s dem Könige so zusagende ständische Theorien und seit 1849 fortgesetzte Anregungen zurück; inhaltlich entspricht ihnen die das Herrenhaus schaffende königliche Verordnung vom 12. October 1854. Andererseits aber hat St. auch gegen den Anfangs 1853 gestellten Antrag Saurma-Jeltsch’s [397] auf Wiederaufhebung der Verfassung gesprochen und dabei hervorgehoben, die Verfassung habe bei allen ihren tiefen grundsätzlichen Gebrechen dennoch ihren positiven Werth, „und das ist der, daß sie überhaupt eine Verfassung ist, d. h. daß sie Rechtsgarantieen und eine Landesvertretung enthält“. Das sollte ihm nicht vergessen werden; ebensowenig, daß er, der allerdings 1850 durch die Olmützer Convention Preußen „auf den Weg des Rechts und der Bundverträge zurückzuleiten“ geholfen hatte und 1854 für Rußland gegen die Westmächte aufgetreten war, doch 1857 laut seine Stimme erhoben hat zu Gunsten der Gerechtsame von Holstein und Lauenburg.

Noch gar viel extremer freilich ist er in kirchlichen Angelegenheiten vorgegangen, namentlich war hier seine litterarische wie rednerische Thätigkeit gegen die Union gerichtet, schon seit seiner Theilnahme an dem Wittenberger Allgemeinen Kirchentag und der Berliner Missions- und Pastoralconferenz von 1849 (vgl. über diese Versammlungen und Stahl’s Rolle in ihnen besonders Ferd. Fischer, Preußen im J. 1849, S. 200, 212), erst recht nachdem er Mitglied des 1852 neubegründeten Oberkirchenraths geworden war, in welchem er in schroffe Gegnerschaft zu dem mehr versöhnlichen Richter trat und dabei auch persönliche Reibungen nicht ganz vermieden zu haben scheint. Den einseitigst lutherisch-dogmatischen Geist, welcher selbst in der Festhaltung lutherischen Rituals das einzige Heil sieht, geschweige denn, daß er in irgendwelchen theologischen Einzellehren den Reformirten entgegenkommen könnte, vertritt Stahl’s Buch „Die lutherische Kirche und die Union“, 1859; weit mehr Verbreitung als diese „wissenschaftliche Erörterung der Zeitfrage“ hat freilich gefunden und weit mehr Aufsehen hat erregt seine Streitschrift „gegen Bunsen“, gegen dessen „Zeichen der Zeit“ er mit schwersten Anklagen und schärfsten Worten vorging, obschon er nicht ohne Bunsen’s Vermittlung ehemals nach Berlin berufen worden war. Das Zusammentreffen zwischen St. und Bunsen zeigt die beiden Typen des religiösen Charakters in vollendetem Gegensatz: es ist der Kampf des starr theokratischen reinen Verstandesmenschen von felsenfester Ueberzeugung mit dem tiefreligiösen Gemüthe voll idealen Schwunges und humaner allseitiger Bildung; namentlich ein erheblicher Defect in dieser und im positiven Wissen kann bei St. nicht geleugnet werden und bildet eine Schwäche aller seiner Werke. Bekannt ist es, daß in diesem Kampf die Sympathie Friedrich Wilhelm IV., wenn dieser auch den älteren Freund nie ganz aufgab, sich für Stahl entschied, wie denn dieser neben einem Hengstenberg und Gerlach das Ohr des Königs nur gar zu sehr besessen zu haben scheint. Die unheilvolle Idee, welche in dem allmählich sich umnachtenden Geiste des unglücklichen Monarchen eine so verhängnißvolle Rolle gespielt hat, die Idee, daß er gesündigt habe, indem er gegen die Revolutionäre das ihm von Gott anvertraute Schwert der Gerechtigkeit erbarmungslos zu gebrauchen unterließ, und daß diese Unterlassung möglichst wieder einzuholen sei – diese dem milden großen Sinne des Monarchen so fremde Idee entspricht genau der Lehre und den Forderungen Stahl’s, wie dieser sie in schärfster Betonung vorzutragen nie müde wurde.

Mit dem Rücktritt Friedrich Wilhelm IV. und dem nun eintretenden neuen System geht Stahl’s directe Machtstellung zu Ende. Während er schon 1858 aus dem Oberkirchenrath ausgeschieden war, ist er allerdings dauernd Mitglied des Herrenhauses geblieben, die Umstände aber haben sich so verschoben, daß die von ihm geleitete Partei nun nicht mehr die regierungsfreundliche, sondern die oppositionelle ist. An ihrer Spitze findet er nur noch Gelegenheit, hemmend einzugreifen, bis zu Ende aber seine Rednergabe und politische Unerschütterlichkeit zu bethätigen. Er ist am 10. August 1861 im Bade Brückenau gestorben. Eben dadurch jedoch, daß er seine Partei und seine Grundsätze des unabhängig [398] strengen Conservatismus noch in das neue Zeitalter hinüberführte, hat er jener Continuität, diesen mittelbare Wirksamkeit weit über seinen Tod gesichert; zu diesem Behufe hatte er auch Sorge dafür getragen, seine letzten Lehren der Nachwelt zu überliefern in Gestalt von nach seinem Tode herauszugebenden Sammlungen seiner parlamentarischen Reden (1862) und seiner rednerischen Vorträge über „die Partheien in Staat und Kirche“ (1863). Dieselben sind das Programm der von ihm geführten Partei nicht nur, sondern der ganzen conservativen politischen Richtung in Preußen geblieben und die Gedanken, welche St. hier vertritt, tauchen fortwährend wieder als leitende und maßgebende im politischen Leben auf, namentlich so oft mit dem Plane, Staat und Kirche zu gegenseitiger Unterstützung zu verbinden, Ernst gemacht wird. (Volksschulgesetz, sociale Gesetzgebung, Rentengüter- und Heimstättengesetz, Innungswesen, Verfassungsinterpretation u. dgl. m.) Es ist daher unerläßlich, einen letzten Blick auf dieselben zu werfen; wir entnehmen ihre theoretische Entwicklung namentlich jener Reihe von Universitätsvorlesungen, welche außer von zahlreichen Studirenden von Generalen, Geheimräthen und Kammermitgliedern besucht zu werden pflegten, und welche die Summe alles dessen ziehen, was St. sonst in seinen vielfachen Streitschriften, Vorträgen, Ansprachen gelehrt und in seiner politischen Action vertreten hat.

Alle Parteien zerfallen für St. in zwei große Gruppen: diejenigen der Revolution und der Legitimität auf politischem, diejenigen des Unglaubens und des Glaubens auf kirchlichem Gebiete. Dabei faßt er „Revolution“ nicht identisch mit Empörung oder Staatsumwälzung schlechthin, sondern bloß mit einer solchen Empörung oder Staatsumwälzung, welche das Herrscherverhältniß selbst dahin ändern will, „daß Obrigkeit und Gesetz grundsätzlich und permanent unter den Menschen stehen, statt über ihnen“. Die hier zu Grunde liegende Gesinnung, welche die Staatsgewalt nicht als von Gott und nothwendig über den Einzelnen gesetzt, sondern als durch den Einzelnen und für den Einzelnen geschaffen ansieht, ist St. der eigentlich revolutionäre Geist. Dem gegenüber begreift er unter den Parteien der Legitimität diejenigen alle, „welche ein Höheres, unbedingt Bindendes, eine gottgesetzte Ordnung anerkennen über den Volkswillen und über den Zwecken der Herrscher – gegebene Autorität, geschichtliches Recht, natürliche Gliederungen, welche noch einen Grund und Maßstab der Staatsordnung gelten lassen außer dem Rechte und Nutzen des Menschen und der Freiheit des Volks oder der mechanischen Sicherung der Gesellschaft.“ Eine solche Gesinnung aber ist für St. nur denkbar auf Grund seines persönlichen christlichen Gottesglaubens, so daß dieser, nicht etwa der Theismus schlechthin, den einzigen Rettungsanker bietet. Bei dieser Auffassung ist es ihm natürlich Herzenssache, zunächst in einer geschichtlichen Einleitung darzuthun, daß die Revolution nicht die consequente Entwicklung der Reformation, sondern ihr Gegentheil und aus ganz andern Quellen entsprungen sei. Die Charakteristik der einzelnen revolutionären Parteien ist dann die folgende: Der Liberalismus, welchen die „Halbdurchführung der Principien der Revolution“ kennzeichnet, kämpft für die Herrschaft des Mittelstandes und für die unbeschränkte individuelle Freiheit, namentlich auch in Fragen der Religion; zu beidem muß ihm die Suprematie des Parlaments verhelfen, welches zu diesem Behufe mit den Mitteln der Budgetverweigerung und der politischen Ministeranklage ausgestattet wird, das Heer aber sich sichert durch Verfassungseid der regulären Armee und Errichtung einer Nationalgarde; unter diesen Bedingungen hat der Liberalismus übrigens gegen einen Monarchen als Zierstück nichts einzuwenden; am erfolgreichsten und raschesten führt er zu einer vollständigen Entgliederung der Gesellschaft; nur eine Unterart der liberalen ist die constitutionelle [399] Partei. Dagegen setzt an Stelle der Halbheiten jener Partei volle Durchführung der Revolution die Demokratie; sie hat nicht mehr zum Princip den einzelnen Menschen, sondern die „Apotheose der menschlichen Gattung, daher absolute Volksgewalt, absolute Volksverherrlichung, absolute Volksgleichheit“. Sie fordert unbedingt die Republik, statt der complicirten Mechanik des Constitutionalismus eine einfache unermäßigte Gewalt und schließlich statt der Toleranz eine Bestimmungsgewalt des Staates auch über den Glauben oder besser Unglauben des Einzelnen; sie ist selbst eine Art Religion, ein Fanatismus. Endlich, wenn sie bemerkt, daß, solange der Gegensatz von Arm und Reich nicht aufgehoben ist, sogar ihr die völlige Gleichheit undurchführbar bleibt, schlägt sie um in den Socialismus und Communismus, die St. jedoch nur in ihren ersten französischen Formen (Babeuf, St. Simon, Louis Blanc u. a. dgl.) kennt. Wahrheit in den Tendenzen dieser letzten Art findet er, soweit sie die unbeschränkte Concurrenz in ihrer Verwerflichkeit nachweisen, die Macht der Association zu Gunsten der Schwachen hervorheben und mit dem Politischen das Sociale verbinden. Diese Strebungen hat die richtig denkende Partei der Legitimität aufzugreifen und im Interesse der gottgewollten Ordnung zu verwerthen. Denn diese Ordnung besteht durchaus nicht etwa in der Gewalt eines absolut unbeschränkten, einzig auf sich gestellten Königs, sondern vielmehr, nach Stahl’s Richtung aufgefaßt, in einer natürlichen Gliederung des Volkes in Stände und Corporationen mit Autonomie und verfassungsmäßiger Sicherung, eine Richtung, für welche St. die Bezeichnung als „institutionelle Legitimität“ vorschlägt. Die Hauptrolle ist hier zwischen Productivständen und Herrscher zu spielen berufen der eigentlich staatserhaltende Stand der Grundherren mit seinen geschichtlichen Traditionen und seiner durch gesicherten Bodenbesitz gegebenen socialen Stellung. Durch die Anschauung, als besitze Preußen in seinem Junkerthum eine solche wahre, allseitig unabhängige, pflicht- und berufbewußte Aristokratie, wie Stahl ihrer für sein System bedurfte, hat er sich in seiner ganzen inneren Politik bestimmen lassen; er hat es aber auch nicht fehlen lassen an Bemühungen, auf die vorhandenen Elemente wirklich einen erzieherischen Einfluß in diesem Sinne zu üben, namentlich durch Warnungen gegen dünkelhafte Ueberhebung und gegen blinde Reaction; diese verwechsele die frevelhaften Forderungen der Revolution mit berechtigten Forderungen, deren Vorhandensein man nur aus der Revolution erkennt: so lebhaft jene zu bekämpfen seien, so ferne ein „Transigiren mit der Revolution“ bleiben müsse, so sehr seien diese anzuerkennen. „Keine Repräsentation nach Kopfzahl, auch nicht mit Census, aber ein Zusammenschließen der ständischen Repräsentanten zu Einer Nationalvertretung … Keine Theilung der Gewalten, … keine Unterwerfung des Königs unter die parlamentarischen Majoritäten, wohl aber eine Concurrenz der Landesvertretung für die Anordnung des öffentlichen Zustandes. Keine Nivellirung der Gesellschaft, keine égalité, wohl aber Anerkennung des Einen allgemeinen Staatsbürgerrechts, der Einen allgemeinen Staatsbürgerehre und darnach Beseitigung der eigentlichen Privilegien und Vorrechte, ohne Preisgebung der besonderen Rechte, der besonderen Berufsstellung. Kein Höherstellen der Nationalität über den gegebenen Rechts- und Staatenbestand, aber Anerkennung der Nationalität als eines mächtigen Motivs und wahren Maßstabs für neue völkerrechtliche Festsetzungen. Kein Neubau des Staats durch eine Verfassungsurkunde, aber Anerkennung einer mehr systematischen Verzeichnung des Staatsrechts nach tiefgreifender Erschütterung und Umwandlung. Das ist nicht eine Versöhnung mit der Revolution, sondern eine Versöhnung mit der Zeit, ein Eingehen auf die wirklichen Aufgaben der Gegenwart.“ Mit diesen Worten schließt St. seine Darstellung der Parteien im Staate ab; die weit kürzere Darstellung der kirchlichen Parteien beschränkt [400] sich im wesentlichen auf eine Gegenüberstellung des Katholicismus und des Protestantismus von geringerem Interesse.

Ueberblicken wir schriftstellerische und politische Thätigkeit Stahl’s, so steht er vor uns als Mann aus Einem Guß, dessen erstes Werk mit seinem letzten, dessen Theorie mit seiner Praxis einheitlich zusammenklingen. Als wesentlich hiermit übereinstimmend wird uns auch seine Lebensführung geschildert; bürgerlich einfach in seinen Sitten, peinlich höflich gegen Jedermann, fein und liebenswürdig im näheren Umgange, und von unermüdlichem Fleiß; in gewählter schwarzer Kleidung den Eindruck des vornehmen juristischen Professors demjenigen des Geistlichen annähernd; ohne Pathos, aber mit scharfer Stimme redend; so bildete der ein stilles und glückliches Familienleben führende, kleine, zarte, den Typus seine Abstammung in der äußeren Erscheinung deutlich aufweisende Mann gegen die Mitglieder der Partei, deren führender Geist er zu Lebzeiten gewesen und deren geistiger Heros er geblieben ist, einen Gegensatz von geradezu weltgeschichtlicher Ironie. Er selbst scheint nichts derart empfunden zu haben – in dieser unerschütterten Sicherheit lag ein gutes Theil seiner Kraft.

Biographie in „Unsere Zeit“ VI, 419–449, anonym, nach einer Bemerkung Bluntschli’s vielleicht von Gneist. – Pernice, Savigny, Stahl, Berlin 1862. – Bluntschli, in seinem und Brater’s Staatslexikon X, 154 bis 163, und in seiner Geschichte des allg. Staatsrechts, 630–644. – v. Schulte, Geschichte etc., b 204.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ligenden
  2. Vorlage: ni