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Ventimiglia – Ventimiglia oder Haben Sie nichts zu verzollen?

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Textdaten
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Autor: Hermann Harry Schmitz
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Titel: Ventimiglia – Ventimiglia oder Haben Sie nichts zu verzollen?
Untertitel:
aus: Der Säugling und andere Tragikomödien Seite 171-180
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Ernst Rowohlt Verlag
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Aus dem Zyklus:
Wenn man so reist.
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[171]
Ventimiglia – Ventimiglia oder Haben Sie nichts zu verzollen?

Ein Gepäckträger in Ventimiglia hat das Einkommen eines deutschen Amtsrichters. Er hat vor diesem nur voraus, daß er nicht satisfaktionsfähig ist.

Ich werde, wenn ich jemals in die Lage kommen sollte, für einen Jungen einen Beruf zu wählen, ihn Gepäckträger in Ventimiglia werden lassen. Wenn ich nur ein wenig herkulischer gebaut wäre und nicht fürchtete, bei dem Hantieren mit Gepäckstücken meinen wunderbar gepflegten, langen Nagel am kleinen Finger der rechten Hand abzubrechen, noch heute am Tage sattelte ich um und trüge Koffer in Ventimiglia.

Für den Transport einer Handtasche vom Zuge in den Zollrevisionsraum, etwa zehn Schritte weit, haben die Fakinos von Ventimiglia sich auf die Minimaltaxe von einem Franken geeinigt – wohlverstanden, man muß an eine nette, bescheidene Nummer geraten, die nur das Minimum beansprucht. Nummer sechzehn forderte von mir zwei Franken und überschüttete mich, als ich schüchterne Einwendungen zu machen versuchte, mit wirklich häßlichen Schmähungen

Nie hat mich ein verächtlicherer Blick getroffen, wie der der Numero 16, als ich ihr generös einen [172] Vergleich auf der Basis von siebzig Centimes vorschlug. Ein Gardeleutnant, den man Unter den Linden nach der Verkaufsstelle einer wirklich guten Fünfpfennigszigarre ansprechen würde, könnte kaum so viel absolut Zerschmetterndes in einen einzigen Blick hineinlegen.

Kenner der Verhältnisse zahlen einfach und rächen sich am Trinkgeld des nächsten Hotelportiers oder aber schleppen sich an ihrem Gepäck lieber sämtliche anatomisch möglichen Brüche, ehe sie die Dienste eines Trägers in Ventimiglia in Anspruch nehmen.

Überhaupt Ventimiglia. Zwiebäcke gelten dort als Halbedelsteine, wenigstens nach dem Preis zu schließen. Auch Kaffee muß dort ungemein schwierig zu beschaffen sein. Eine Tasse Kaffee nebst einem Zwieback kosten in der Bahnhofsrestauration drei Franken. Ich habe nie einen Zwieback so gründlich bis auf den letzten Brösel, der auf den Tisch und meinen Anzug gesprungen war, verzehrt.

Es gibt Leute, die bis Genua gekommen sind und an die französische Riviera möchten, die es jedoch vorziehen, nach Neapel weiter zu reisen, wo sie eigentlich nicht hinwollen, nur um von dort aus mit einem Dampfer nach Marseille zu fahren und auf diesem Umweg unter Vermeidung von Ventimiglia mit seinen Gepäckträgern, seinen kostbaren Zwiebäcken und seinen Zollscherereien an ihr Ziel zu gelangen.

Es ist ein satanisches Vergnügen, als Unbeteiligter einer Zollrevision zuzuschauen. Das angstvolle, verstörte Gehaste, die verzerrten, Goyaschen Grimassen der verhetzten Reisenden! Das verzweifelte Suchen nach den Koffern, das ohnmächtige Geschlepp hilfloser Greise und schwacher Frauen an ihrem Gepäck. [173] Das ruckweise Stoßen der Hände in alle Taschen und Falten nach dem Kofferschlüssel, in Pompadours, Handtäschchen, Beutel, Körbchen. Koffer, die erst nicht auf – und nachher nicht wieder zu gehen. An Reisekörben, wie sie Dienstmädchen und allein reisende ältere Damen aus Detmold oder Sangerhausen oder so woher gerne benutzen, reißen brutale Bahnknechte beim Herauszerren aus dem Güterwagen, beim Hineinzerren in das Zollamt die seitlichen Handgriffe wie Wurzeln aus.

Und nun erst, wenn die geöffneten Koffer der Welt ihren Inhalt darbieten, die Psyche des Besitzers schamlos bloßlegen. Ein Fressen für den Satanisten!

Es gibt seit kurzem in Paris und London ein zeitgemäßes Unternehmen einer ingeniösen Frau, die die Kunst des Kofferpackens als Beruf ausübt. Man wendet sich vor einer Reise an dieses Institut und es erscheint eine Angestellte, die die mitzunehmenden Gegenstände in kunstgerechter, schonender, praktischer Weise, unter äußerster Ausnutzung des Raumes in den Koffern verstaut. In diesen Städten hat die Idee bei dem Publikum begeisterten Anklang gefunden. Die Gründerin dieser Kunst-Packanstalt beschäftigt heute bereits über siebzig Damen als Packkünstlerinnen.

Ich persönlich packe meine Koffer nach der guten, alten Methode des Einstampfens. Gott ja, die Sachen werden ziemlich zerknüllt, zerbrechliche Dinge tun nicht mit und gehen kaput, man bekommt auch auf diese Weise sehr wenig in den Koffer, aber es geht schnell, ungemein schnell, und wenn man, wie ich morgens vor meiner Abreise nach der Riviera im Hotel in Mailand zwei Hausdiener, ein Zimmermädchen [174] und einen recht korpulenten Portier zur Verfügung hat, die sich auf den Deckel setzen, bis das Schloß einschnappt, dann ist einem ja geholfen.

Mit einigem Zagen zwar hatte ich an die Zollrevision gedacht und daran, wie sich hier der Koffer wieder schließen lassen würde.

In Genua waren drei Russinnen in mein Coupé gestiegen mit einer Unmenge von Koffern, Körben, Schachteln, einem braunen Steintopf und einem seltsamen Ballen in der Form und fast von der Größe eines unstarren Luftschiffes. Mit einer Selbstverständlichkeit hatte man mich gänzlich ignoriert und um mich, über mir und unter mir das Gepäck verteilt.

Ich wagte nicht, mich zu mucksen. Dafür bin ich zu wohl erzogen als ein echtes Kind meines Landes, dem die Ehrfurcht vor allem Fremden von Geburt an in den Knochen steckt.

Kluge Eltern glauben, wenn sie ihre Kinder zur Bescheidenheit, zum Maulhalten erziehen, unter fortgesetztem Voraugenstellen der Fähigkeiten und Qualitäten anderer Kinder im Gegensatz zur eigenen Minderwertigkeit, krampfhaft bestrebt sind, jede bei ihrem Sprößling hervortretende persönliche Note schleunigst mit allen Mitteln zu unterdrücken, sie so für das Leben in der richtigen Weise vorbereitet zu haben. Diese armen Würmer haben später ihre liebe Last, sich draußen in der Welt der Ellenbogen, die allenthalben auf sie eindringen, zu erwehren.

Ich habe außerdem speziell vor Russinnen einen enormen Respekt. Für mich ist jede Russin, die stark parfümiert ist, bei der tollsten Hitze einen langen, innen mit Pelz gefütterten Mantel trägt, eine hohe Frisur und furchtbar viel Brillanten hat, zum mindesten [175] eine Großfürstin, die in Romanen immer Anna Paulowna Fedorowna heißt und in ihrem eleganten Heim am Newski-Prospekt hinter dem Samowar sitzt, mit großen Augen in das Feuer träumt, in der wohlgepflegten Hand lässig eine Zigarette hält und leise jene schwermütige Weise vor sich hinsummt, wie sie an Sommerabenden die Mägde und Knechte auf den Gütern ihres Vaters zu singen pflegen…

Den mysteriösen Ballen hatte man zu meinem größten Leidwesen gerade über mir verstaut. Bedrohlich quoll er über das Gepäcknetz. Ich wäre gern aufgestanden und in den Seitengang des Zuges getreten, aber es ging nicht, ich war ganz eingebaut. Dann war ich auch zu bang. Richtig, wie ich befürchtet hatte, kam es auch. Bei der ersten energischen Kurve verlor der Ballen das Gleichgewicht und begrub mich unter sich. Ich kam mir vor, wie von einer Lawine verschüttet, und es dauerte eine geraume Zeit, bis ich mich wieder zum Tageslicht durchgekrabbelt hatte. Die Großfürstinnen feixten. Ich hielt das für sehr unangebracht, quälte mich aber trotzdem ab, bis ich die Lawine wieder im Netz hatte. Ja, so bin ich.

Noch viele Mal fiel der Ballen auf mich. Er tat es mit der starren Konsequenz eines unabänderlichen Prinzips, gegen welches es kein Auflehnen gibt. Von der schönen Fahrt am Mittelmeer hatte ich verflucht wenig.

Beim neunten Male grinsten die Russinnen nicht mehr, man beschaute mich mit einem gewissen menschlichen Interesse.

Als ich zum zwanzigsten Male unter der Lawine hervorkroch, frug mich eine der Damen mit dem den [176] Slaven eigenen Tonfall: „Est-ce que ça ne vous dérange pas?“

Ich lachte hysterisch und hob den Ballen mit starrer Geste wieder in das Netz. Ich kochte, aber ich sagte mir als Philosoph, erstens bist du auf einer Vergnügungsreise, zweitens: andere Länder, andere Sitten und drittens gibt es eine ausgleichende Gerechtigkeit. Ich dachte dabei an die Zollbeamten in Ventimiglia, die mir als Rächer erstehen würden. Ich frohlockte, wenn ich daran dachte, wie die dem Geköffer, dem Steinpott und dem Qualballen zu Leibe gehen würden.

Ich konnte mich nicht enthalten, diesen meinen Gedanken Ausdruck zu geben, und warf den dreien in meinem glänzendsten Französisch hin: „In Ventimiglia ist eine sehr strenge Zollrevision!“

Diejenige, die mich vorher angeredet hatte, und die einzige war, welche französisch sprach, übersetzte ihren Gefährtinnen meinen Einwurf. Ich hatte den Triumph, zu sehen, wie meine Bemerkung wirkte. Man wurde sichtbar unruhig. Man hatte scheinbar gar nicht daran gedacht, daß auf dieser Fahrt irgendwo eine Grenze zu passieren war. Man war mit der fatalistischen Unbekümmertheit, die reisenden Damen eigen, darauf losgefahren.

Man sprach erregt durcheinander, wies nervös auf die einzelnen Gepäckstücke, machte bedenkliche Gesichter, schüttelte den Kopf und schaute dann von der Seite mit gemilderter Arroganz hilfesuchend zu mir hinüber.

Wonach speziell gesucht würde, fragte beklommen die französisch sprechende Paulowna Fedorowna. Sie hätten in Italien eine Menge Seide gekauft.

[177] „Seide? Ja, gerade danach wird scharf gefahndet,“ beeilte ich mich zu versichern.

Hilfloses, verzweifeltes, gegenseitiges Anstarren.

Was da zu machen sei, flehte man mich an, als ob es nie einen Ballen gegeben hätte, unter welchem ich beinahe mein junges Leben gelassen, als ob man nie höhnisch gefeixt hätte. Mein Haß reckte sich.

„Verbergen,“ meinte ich lakonisch.

Längere, erregte Auseinandersetzung der drei.

„Es handelt sich um drei Dutzend neue, seidene Unterröcke,“ gestand man unter Erröten.

„Anziehen, einfach anziehen,“ war mein Rat.

Wieder längere Debatte mit dem Schlußresultat, daß man mich bat, auf einige Zeit das Coupé zu verlassen. Gern entsprach ich diesem Wunsche.

Nur infolge meiner eminenten turnerischen Fähigkeiten gelang es mir, nach mehrfachen vergeblichen Ansätzen durch das Kofferchaos vorzudringen und den Seitengang zu erreichen. Das Traversieren eines Gletscherfeldes war ein Kinderspiel gegen diese Leistung.

Hinter mir wurden die Vorhänge hermetisch geschlossen. Es war wie zu Weihnachten, wenn man vor der Bescherung draußen warten muß.

Nach einer guten Weile, in der man nach meiner Schätzung die zehnfache Anzahl Jupons, als hier in Frage kamen, hätte anziehen können, kehrte ich voller Spannung zu meinem Abteil zurück. Das Weihnachtszimmer war geöffnet. Drei Bückeburger Bäuerinnen saßen steif und pagodenhaft auf den Polstern und füllten mit dem Radius ihrer Röcke den ganzen Raum. Die Lawine war erheblich zusammengeschmolzen.

Ich erklärte mit dem Brustton der Überzeugung, daß ihre Kostüme absolut unverfänglich seien und daß [178] selbst der gewitzigste Zollbeamte keinen Argwohn fassen würde.

„Wir haben aber noch jenen Topf mit Honig,“ klagte man, auf den Steingutpott zeigend.

„Honig, da werden Sie Scherereien bekommen. Honig ist Konterbande!“ behauptete ich hart. –

Wieder folgte man voller Vertrauensseligkeit meinem Rat, indem sich eine der Damen in der Art eines Kaffeewärmers über dem Honiggefäß aufbauen ließ. Ich machte ein unendlich biederes Gesicht und betonte mehrmals, dort würde man ihn nicht vermuten und riet noch, die Dame solle zur absoluten Wahrung des Versteckes bis jenseits der Grenze einfach die Rolle einer Gelähmten spielen.

Ventimiglia. „Alles aussteigen zur Zollrevision,“ hieß es. Ich beeilte mich, dieser Aufforderung schleunigst nachzukommen und ließ, nicht ohne mich durch einen unterstrichen devoten Gruß verabschiedet zu haben, meine Opfer voller Zuversicht auf die Vortrefflichkeit meines Arrangements hilflos zurück.

Leider kam ich nicht dazu, die Entwickelung der Katastrophe mit anzuschauen und die Früchte meiner teuflischen Saat zu ernten, da ich bald mit mir selbst genug zu tun hatte. Erst erwarteten mich die bereits erzählten unerfreulichen Episoden mit Gepäckträger Nr. 16 und den Zwiebäcken, dann ging bei der Revision im entscheidenden Moment der Rohrplattenkoffer nicht auf, weil ich natürlich mit einem falschen Schlüssel an ihm herumstocherte. Als ich ihn endlich geöffnet hatte, ließ er sich nicht mehr schließen. An solchen Koffern sind an der Seite, wo das Schloß ist, am oberen Teil zwei Metallstifte, die in Ösen am unteren Teil des [179] Koffers eingreifen. Hatte ich den Stift an der einen Seite drin, war er an der anderen Seite wieder heraus und umgekehrt. Ein äußerst neckisches Spiel, welches mich in kurzer Zeit einem Gehirnschlag nahebrachte. Hatte man dann beide Stifte in den Ösen, war ein Nachthemd oder der Koffergurt oder eine Socke zwischen den Deckel geraten. Was nutzte es auch, wenn ich mich allein auf den Deckel setzte, ich wippte und mühte mich ab, erfolglos. Ich sehnte mich nach meinem dicken Portier aus Mailand. Verschiedenen Leuten tat ich leid. Es kamen gute Seelen und setzten sich mit auf den Deckel. Das Schloß schnappte nicht ein. Als ich mit der Kraft, die einem eine monumentale Wut verleiht, der Sache zu Leibe gehen wollte, kam ich mit der rechten Hand zwischen den Deckel und ratsch, flogen vier Finger klatschend auf den Steinboden. Wie rasend arbeitete ich an dem Koffer, ein toller Taumel hatte mich gepackt. Ein altes Mütterchen, welches interessiert meinem Beginnen zugeschaut hatte und zu nahe herangetreten war, geriet zwischen den Kofferdeckel. Die Unvorsichtige mußte ihre Neugierde mit einem abgequetschten Bein büßen. Laut kreischend hüpfte die Frau zum Stationsvorsteher, um sich zu beschweren.

Ich hielt eine Ohnmacht für den geschicktesten Ausweg aus dieser aufregenden Affäre und versank schleunigst in eine solche. Als ich nach geraumer Zeit wieder erwachte, war zu meiner größten Verwunderung der Koffer geschlossen. Auf dem Deckel lagen geordnet meine vier Finger und das Bein der Frau. Ich schenkte dieses einem Menschen, der einen ähnlichen Anzug trug, wie ich in meinem Koffer hatte, und verlegen fortschaute, als ich ihn musterte. Der [180] Koffer fühlte sich seltsam leicht an, war aber geschlossen, für mich das Wesentlichste.

Und die Russinnen? Die Genugtuung habe ich wenigstens, daß es diesen auch sehr schlecht gegangen ist. Als sie sich nach langem Sträuben auf das energische Ersuchen des Zollbeamten hin anschickten, das Coupé zu verlassen, mußten sie die furchtbare Entdeckung machen, daß sie infolge ihrer gehäuften Garderobe nicht durch die Coupétür kamen. Das fiel unbedingt auf. Auch die angeblich Gelähmte mußte sich trotz ihres Protestes erheben und hatte, um den Honigtopf den Augen der Zöllner zu entziehen, den Fuß hineingestellt und gedacht, ihn so als eine Art Klumpfuß durchzuschmuggeln. Alles kam heraus, alles. Es war eine Riesensache, wie sie die ältesten Zöllner in Ventimiglia noch nie erlebt hatten.

Ich werde in Zukunft, das habe ich mir geschworen, ebenfalls von Genua über Neapel, Marseille an die französische Riviera fahren.

Ich hasse Ventimiglia.