ein solcher Durchgang. Die Leute legten ihr Werkzeug nieder, und der junge Mann, sichtlich erfreut, forderte mich auf, da ich gute Ortskenntnisse zu besitzen scheine, sie in der angedeuteten Richtung zu führen. Sie nahmen ihre Brechstangen auf und verließen mein Haus, und aus der Verlegenheit, als ihr Führer bei einem von meinen Hausnachbarn zu erscheinen, konnte ich mir nur dadurch helfen, daß ich zwar bis auf die Straße mitging, aber dort unter den Gruppen der Barrikadenmannschaft verschwand. Unsere Häuser blieben von der beabsichtigten Durchbrechung verschont. Jene Fremden hatten Respekt bekommen vor den sandsteinernen Dresdner Mauern und zogen das Durchhaus des Hirsches vor.
Indessen dauerte das Sturmläuten wie das Schießen fort. Trotz der unzähligen Kugeln, die den drei Häusern hinter und neben den beiden Barrikaden, wie diesen selbst, galten, floß hier kein Blut, bis endlich ein Bergmann, der so unvorsichtig war, vom Posthofe nach der Scheffelgasse laufen zu wollen, nach wenig Schritten getroffen niedersank. Der Arme raffte sich auf und kroch nach dem eisernen Posthoftore zurück, wo er sich auf den Boden setzte und bald sein Leben aushauchte. Die gesamte Mannschaft eilte in die erste Etage und war durch die Fenster Zeuge dieses traurigen Falles. Erst nach Einbruch der Nacht wagten sie den Toten, der von der Kugel durchbohrt war, herüberzuschaffen. Einen am Fuße Verwundeten brachte man noch bei Tage in einem Korbe von der Schloßgasse her und transportierte ihn durch den Eckladen des Erkerhauses, welcher wegen seiner zwei Eingänge eine Verbindung zwischen der Wallstraße und der Scheffelgasse abgab, nach Hause. Es war der Dr. Munde, Hauptmann der Dresdner Turnerschar, welcher mit seiner Wunde nach Altenburg und dann nach Belgien flüchtete.
Endlich brach das nächtliche Dunkel ein und das Schießen hörte allmählich auf. Ein Sturmangriff war nicht erfolgt und unsere Lage seit heute früh dieselbe. Daß aber das Militär im Umkreise des Neumarkts Fortschritte gemacht hatte, erfuhren wir nicht. Bei der Betrachtung der beiden mir gegenüberliegenden Häuser war ich allerdings begierig zu erfahren, wie die Westfront meines Hauses beschaffen sei. Bei der inneren Untersuchung am Abende fand ich die schadhafteste Stelle an dem der Barrikade nächsten Mauerschafte im Parterre, welcher oben zur Hälfte fehlte. Wurde der bleibende stützende Teil auch noch fortgerissen, so konnte ein Bruch der darauf ruhenden Frontmauer nicht ausbleiben. Obgleich ich daran zweifelte, daß der Einsturz meines oder eines andern Hauses bei den Machthabern auf dem Rathause Teilnahme oder Sorge erregen würde, so beschloß ich dennoch einen Gang dorthin, wäre es auch nur, um einen Blick in dasselbe unter den bestehenden Verhältnissen zu tun.
Auf den Barrikaden lugter die Wachposten sorgsam ins Dunkel hinaus; denn es konnten sich die Soldaten zu einem Überfalle heranschleichen. In der Scheffelstraße war alles still; die Männer saßen meistens in den Schenkstuben. Am Deutschen Hause hatte ich eine Barrikade zu passieren, und auf dem Altmarkte herrschte Ruhe. Daß eine Ermüdung eingetreten, war unverkennbar. Im Rathause war die Hausflur und der Vorsaal mit Bewaffneten erfüllt, von denen sich ein Teil aufs Stroh gelagert hatte. Sensenmänner standen an den Eingängen. Die Türen in die Ratszimmer, sonst immer verschlossen, standen heute weit auf. Im großen Sessionszimmer saßen Männer an der grünen Tafel; andere gingen umher, allerhand Personen passierten die Türen wirr durcheinander. Ein Sensenmann wies mich in das kleine Ratszimmer, wo die laufenden Geschäfte betrieben, Bons und Passierscheine zum Verlassen der Stadt ausgestellt wurden und dergleichen mehr. Ich wendete mich an einen noch jungen Mann in Kommunalgardenuniform, der mit andern Beschäftigten an einem Tische saß, und stellte ihm den Umstand mit dem halbzerstörten Mauerschafte vor, der sofort wieder hergestellt werden müßte, weil bei einer völligen Zerstörung ein Herabstürzen der ganzen Hausecke auf die Barrikade zu befürchten sei. Ich fügte hinzu, daß ich hier im Rathause zunächst in Reserve gestellte Maurer und Zimmerleute für die in Verteidigungszustand übergegangene Stadt zu finden erwartet habe. Der Assessor fragte mich, ob ich keinen Hausmaurer habe. Auf meine Antwort, daß es mir unmöglich sei, denselben aufzutreiben, zuckte er mit den Achseln und entließ mich. Ihm mochten wohl ganz andere Sorgen den Kopf schwer machen, als die um meinen Schaft. Als ich auf dem Rückwege die Barrikade am Deutschen Hause passieren wollte, hielt mich ein da zur Wache stehender Volksgardist an. Auf meine Erklärung, daß ich der Besitzer des Eckhauses in der Gasse sei, erwiderte er in vogtländischem Dialekte: „Und wenn Sie der König von Sachsen wären, so dürften Sie hier nicht durch“. Man merkte es dem Manne an, wie er es fühlte, daß er in der Residenz auch einmal ein Wort zu sagen habe. Zufällig trat der alte Vater des Wirtes vom Deutschen Hause an die Haustüre und bewog den Wachposten, mich passieren zu lassen. Ich fürchtete einen Angriff in der Dunkelheit, jedoch die Ruhe der Nacht ward nicht unterbrochen. Nur halbentkleidet hatte ich mich niedergelegt.
Der nun folgende Dienstag verlief fast ganz so wie der vorige Tag. Kein Mensch ließ sich auf dem zwischen beiden gegnerischen Linien freien Raum blicken, aber das Schießen dauerte, wenn auch mit weniger Heftigkeit als den Tag vorher, ohne Unterbrechung fort. Man fing fast an, sich daran zu gewöhnen. Die Zahl
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/78&oldid=- (Version vom 12.2.2025)