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Seite:Dresdner Geschichtsblätter Vierter Band.pdf/58

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Hierauf ist zu entgegnen, daß nachgewiesenermaßen vor Dresden ein Wille, ein fester, des Armee-Oberkommandos zu vermissen war und daß infolgedessen auch die erlassenen Befehle eine bestimmte Absicht nicht erkennen ließen. Man war bis zum letzten Momente unklar über das, was eigentlich geschehen und erreicht werden sollte und lebte nur der Hoffnung, Dresden leichter Hand ohne besondere Vorbereitungen in Besitz zu nehmen. Diese Hoffnung scheiterte, weil die Kräfte unzulänglich und zu spät eingesetzt wurden. Was das Erreichte anlangt, so kann nur wiederholt werden: Es bestand in dem Zwange zum Rückzuge. Daß damit aber „notwendige strategische Manöver“, die in Gefechtsrelationen meist nur als Phrase erscheinen, beendet worden seien, ist nicht nachzuweisen und deshalb auch nicht anzunehmen. Mit einer Armee von über 220 000 Mann schlägt man sich doch nicht, um in nachteilige Lage zu kommen. Nach der ausdrücklichen Schwarzenbergschen Erklärung darf man nicht sagen: „man konnte zurück“, sondern es ist zu behaupten: man mußte zurück, man war dazu genötigt. Der Zustand der Armee war ja auch darnach angetan[1].

Der Rückzug nach Böhmen.

Das nun folgende Kapitel VII behandelt den Rückzug der böhmischen Armee im wesentlichen in Übereinstimmung mit Friederich. Nur eine Erwiderung noch in bezug auf die Motivierung der von Barclay mit seinen Reserven (ohne Kleistsches Korps) und mit der Arrieregarde befehlswidrig eingeschlagenen Rückmarschrichtung. In der Lüdtkeschen Schrift wird dieses Verhalten Barclays S. 58 mit folgenden Worten gut geheißen und begründet: „Barclays Entschlüsse gingen folgerichtig aus einer einmal feststehenden Ansicht hervor – und diese war: das Reichenbacher Programm“.

Es bleibt unerfindlich, dieses Programm auch hier wieder bei einem Unterführer, dessen Truppen im Kontakt mit dem Gegner, also taktischen Rücksichten unterworfen waren, eine Rolle spielen zu lassen. Für den Entschluß Barclays, seine Rückzugslinie weiter südwestlich, als befohlen, über Dippoldiswalde auf Teplitz zu nehmen, war lediglich seine Besorgnis maßgebend gewesen, daß er bei Verfolg der ihm aufgegebenen Richtung über Dohna – Peterswalde auf Teplitz die Masse seiner Truppen aufs Spiel setze gegenüber den eventuell von Dresden aus verfolgenden Franzosen wie gegenüber Vandammes Truppen in der Königsteiner Gegend; nur in dieser Besorgnis handelte er, obgleich er wußte, daß gegen Vandamme der Herzog Eugen von Württemberg und russische Garden schon aufgeboten waren; deren Unterstützung aber schien durch Zuzug neuer Barclayscher Truppen weit eher geboten, als der letzteren Entfernung. Wiederum war es keinesfalls strategische Rücksicht, sondern lediglich ein taktischer Gesichtspunkt gewesen, der Barclays Anordnung beeinflußt hatte. Das Reichenbacher Programm kommt hier gar nicht in Frage. In Friederich Band I, S. 501 wird das Gefahrvolle und Nachteilige der Barclayschen Handlungsweise eingehend hervorgehoben.

Das Urteil am Kapitelende S. 59 der Lüdtkeschen Schrift: „Schwarzenberg hat das Reichenbachische Programm insoweit durchgeführt und durch diese Strategie das Seinige dazu beigetragen, die Siege der beiden andern Heere bei Groß-Beeren und an der Katzbach zu ermöglichen“, widerlegt die folgende Tatsache. Der Verlust beider Schlachten, der bei Groß-Beeren am 23. August, der an der Katzbach am 26. August, erfolgte lediglich durch Fehler der französischen Führung, nicht aber wurde er herbeigeführt, wie Seite 50 schon nachgewiesen, durch eine infolge Schwarzenbergs Offensivbewegung gegen Dresden vorausgegangene Schwächung der in Nord wie Ost aufgetretenen Heeresteile Napoleons.

Und nun zum Schluß der Lüdtkeschen Darstellungen S. 60/61, wo es heißt: „Ja – dieses Heer (die böhmische Armee) hat sogar Verluste erlitten in seinen Kämpfen mit Napoleon und ist zurückgegangen! Und hier beginnt die Legende ihr Werk, die nur die grobäußerlichen Züge sieht und nicht die Feinheiten des inneren Zusammenhangs begreift. Wir wollen keine Vorwürfe erheben. Das Reichenbacher Programm, das nicht in lauten Worten verkündet worden war, hatte selbst Nächstbeteiligte im unklaren gelassen. Die Wissenschaft ist neunzig Jahre lang verständnislos an dem Problem vorübergegangen. Hier aber konnten wir feststellen, daß die Legende aus den Rückzugskämpfen eine zweitägige große Schlacht,

aus den Verlusten eines Flügels eine Gesamtniederlage und aus einem wohlberechneten,


  1. Wie sorgenvoll Fürst Schwarzenberg selbst neben dem Menschen- und Materialverluste die trostlose Verfassung namentlich der österreichischen Armee betrachtete, als sie mit dem größeren Teile ihrer Kolonnen – von Dippoldiswalde und Umgebung und noch dazu fast unbelästigt vom Gegner kommend – am 29. August in das Böhmer Tal hinabgestiegen war, geht daraus hervor, daß Schwarzenberg nach dem Eintreffen der Nachricht über Blüchers Sieg an der Katzbach noch in der Frühe des 30. August seinen Adjutanten, Fürst Wenzel Liechtenstein, in das Hauptquartier Blüchers mit dem Auftrage entsandte, dort die Lage und die drohenden Gefahren der böhmischen Armee darzustellen. Damit zugleich wurde eine Instruktion an Blücher übergeben, die ihn zu Hilfe rief und in ihrem Eingange – nach Friederich I. Band, S. 529 – wörtlich lautete: „Der Rückzug aus Sachsen nach Böhmen, zu welchem die Hauptarmee sich genötigt sah und der den 27., 28., 29. und 30. d. vollzogen wurde, macht mehr als jemals notwendig nicht nur ihre genaue Verbindung, selbst ihre Vereinigung, wenigstens mit der Hälfte und mit mehr, wenn es möglich ist, der schlesischen Armee, welche unter dem Befehle Sr. Exzellenz des Generals von Blücher steht“ usw.
Empfohlene Zitierweise:
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/58&oldid=- (Version vom 1.2.2025)