programmgemäßen einen erzwungenen Rückzug gemacht hat. Die historische Forschung aber zerstreut, was Legende war, und weist nach, wie die böhmische Armee mit ihrem Zuge nach Dresden unter schwierigen Verhältnissen eine bedeutsame Mission bestmöglichst erfüllt hat.“
Daß der Nachweis für solche Behauptungen in der Lüdtkeschen Schrift, die nicht frei von Widersprüchen ist, erbracht worden wäre, muß bestritten werden. Die Entgegnungen, die nur an der Hand der erlassenen Befehle und der schriftlich ausgesprochenen Anschauungen der leitenden bez. maßgebenden Persönlichkeiten im Hauptquartiere bearbeitet worden sind, widerlegen die bezüglichen Lüdtkeschen Behauptungen.
Die Widerlegung hat daran festzuhalten, daß der Oberleitung der böhmischen Armee beim Vormarsche nach Sachsen ein bestimmter strategischer Zweck fehlte, vor den Toren Dresdens aber ein kräftiger Wille und ein dementsprechender taktischer Plan mangelte. Man strebte nicht nach positiven Resultaten und blieb im unklaren über größere, mit der mächtigen Armee wenigstens anfänglich leicht zu verfolgende Ziele. Daher hauptsächlich die Unklarheit in den Befehlen, wogegen die Befehlsgebung Napoleons bestimmt und deutlich sich zeigte und sein Kriegsruhm hier von niemand verdunkelt werden kann.
Zu Behauptungen endlich, wie die zuletzt aus der Lüdtkeschen Schrift angeführten, haben sich bis jetzt selbst Fanatiker unter den Anhängern Schwarzenbergs in Österreichs Landen noch nicht aufzuschwingen vermocht.
Wenn in der Militär-Literatur-Zeitung (Beiblatt zum Militär-Wochenblatt Nr. 9, September 1904, S.316) im Hinblick auf die Lüdtkesche Schrift und eine noch andere die Frage aufgeworfen wird: „Wäre es nicht viel besser und für ihre zukünftige Tätigkeit nutzbringender, wenn unsere jungen Historiker die Beschäftigung mit strategischen Fragen denen überließen, deren Beruf es nun einmal ist und die durch praktische und theoretische Vorbildung, durch Alter und Erfahrung die Berechtigung erworben haben, über derart schwierige Fragen ein Urteil abzugeben?“ so will ich mich hier dem nicht anschließen. Ich gehe von der Ansicht aus, daß jedermann, selbst der Laie, berechtigt ist, auch kühne Aufgaben sich zu stellen und Materien zu bearbeiten, die ihm für gewöhnlich nicht nahe liegen; aber es muß die Aufgabe richtig behandelt, und wenn historische Forschung im Spiele ist, die Wahrheit der Tatsachen ermittelt werden; bloße Vermutungen sind zu meiden, nicht erweisbare Behauptungen müssen ausgeschlossen bleiben.
In der Lüdtkeschen Schrift ist auch versucht worden, das Reichenbacher Programm dann noch bei Einzelheiten zu verwerten, welche lediglich durch taktische Rücksichten bedingt waren. Dazu ist zu bemerken, daß es solche starre Programme für Operationen nicht gibt. Auf dem Kampfplatze wird Strategie Taktik, da entscheiden taktische Grundsätze.
Endlich soll nicht verfehlt werden, an den großen Kriegsphilosophen, den in der Lüdtkeschen Schrift mehrfach zitierten General von Clausewitz, anzuknüpfen – hier unter Bezugnahme auf dessen Auffassung vom Kriege, wobei er u. a. sagt: „Das Absolute findet in den Berechnungen der Kriegskunst nirgends einen festen Grund. Im Kriege, dem Konflikte der großen Interessen, der sich blutig löst, muß eine Theorie versagen, die sich in absoluten Schlüssen und Regeln selbstgefällig fortbewegen wollte“. Entsprechend ist es, wenn auch die Kritik von Operationen so betrieben wird und urteilt.
Ich schließe die Betrachtungen, nicht ohne, wie auch Dr. Lüdtke bei anderem Anlasse getan, zuletzt noch der Vorsehung zu gedenken. Die Vorsehung hat es gewollt, daß die böhmische Armee trotz ihres nachgewiesenen trostlosen Zustandes ohne große Fährlichkeiten entkam. Denn die Verfolgung wurde einesteils durch plötzliche Krankheit Napoleons, der seinen Marschällen nicht wie sonst durch persönliches Eingreifen Beine zu machen vermochte, eine verzögerte und lahme und durch Unschlüssigkeit eine energielose, andernteils eine verfehlte insofern, als beispielsweise Marschall St. Cyr die ihm aufgegebene Verfolgungsrichtung „über Maxen und sonst nach allen Richtungen, welche der Feind eingeschlagen haben sollte[1]“, nicht inne hielt und infolgedessen gänzlich außer Fühlung mit dem Korps Kleist kam, das dann Vandamme unbehelligt in den Rücken fallen konnte. Das sind Umstände, die nicht vorauszusehen waren; bei solchen gedenkt man dankbar eines gnädigen Geschickes.
Die darnach folgenden Schläge, welche die MachtNapoleons trafen, der nun bald an den Wendepunkt seiner Siegeslaufbahn in Deutschland kommen sollte, waren wohl geplante und überlegte. Zum nicht geringen Teil war es preußische und damit deutsche Führung, welche dabei glänzte. Möge es allezeit so sein, wenn unser großes Vaterland Feinde bedrohen, und wären deren noch so viele.
- ↑ Befehl Napoleons für Marschall St. Cyr vom 29. August morgens 61/2 Uhr, ab Dresden. Vgl. Friederich I. Band, S. 511.
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/59&oldid=- (Version vom 11.1.2025)