hungernden, frierenden, jammererfüllten Stadt. Der Krieg wütete noch fort.
Inzwischen war der Winter hereingebrochen, eisigkalt. Jetzt erfuhr ich erst, was während meiner langen Bewußtlosigkeit alles vorgefallen. Die Hauptstadt des „Bruderlandes“, Straßburg, die „wunderschöne“, die „echt deutsche“, die „kerndeutsche Stadt“ ist beschossen worden; ihre Bibliothek zerstört, im Ganzen fielen 193 722 Schüsse – vier oder fünf in der Minute.
Straßburg ist genommen.
– Das Land gerät in wilde Verzweiflung – jene Verzweiflung, welche in Raserei und Wahnsinn ausartet. Man schlägt im Nostradamus nach, um darin Prophezeiungen der jetzigen Ereignisse zu finden, und neue Seher lassen sich mit Weissagungen vernehmen. Ärger noch: Besessene treten auf: es ist wie ein Rückfall in mittelalterliche, höllenfeuer-durchzuckte Geistesnacht …
„Könnte ich zu den Beduinen!“ rief Gustav Flaubert. „Könnte ich in das halbbewußte Traumland meiner Krankheit zurück!“ so klagte ich. Jetzt war ich wieder gesund und mußte all das erfahren und erfassen, was Grauenvolles um uns vorging. Da begannen wieder die Eintragungen in die roten Hefte und ich finde folgende Notizen vor:
1. Dezember. Trochu setzt sich auf den Höhen von Champigny fest.
2. Dezember. Hartnäckiges Gefecht um Brie und Champigny.
5. Dezember. Die Kälte wird immer strenger. Ach, die zitternden, blutenden, armen Wichte, die draußen im Schnee gebettet
Bertha von Suttner: Die Waffen nieder!. E. Pierson’s Verlag, Dresden/Leipzig 1899, Band 2, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bertha_von_Suttner_%E2%80%93_Die_Waffen_nieder!_(Band_2).djvu/288&oldid=- (Version vom 23.6.2018)