Zum Inhalt springen

Romanzen vom Rosenkranz/Romanze XV: Meliore und Biondetta – Biondettens hohes Lied

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Romanze XIV: Apo und Meliore Clemens Brentano
Romanzen vom Rosenkranz
Romanze XVI: Kosme krank – Pietros Garten brennt »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).


[260]

Meliore und Biondetta – Biondettens hohes Lied

Gieße, Mond, dein Silber milder
Durch die blauen Himmelsmeere;
Blicket fromm, ihr Heldenbilder,
Nieder aus dem Sternenheere.

5
Einsam kühle Nachtluft, stille

Grüße aus dem Himmel sende;
Blüten, Blumen, eure Fülle
Duftend sich der Nacht verschwende.

Philomela, süßer Stimme

10
Deines Traumes Wonn und Wehe,

Daß es zu den Sternen glimme
Und um Gottes Liebe flehe.

Klang der süßberauschten Zither
Unter Liebchens Fenster bebe;

15
Still eröffne sie das Gitter,

Daß sie Liebesworte gebe.

Jünglingen, die schlummernd liegen,
Komm ein Liebestraum entgegen;
Auf die Kindlein in den Wiegen

20
Senke sich ein Engelsegen.


Und die Wünschelrute sinke
Jedem auf des Schatzes Schwelle,

[261]

Und dem Durstgen, daß er trinke,
Sei der Schatz die kühle Quelle.

25
All ihr Bronnen, selig zielet

In die mondberauschten Becken;
Leis im West, ihr Blätter, spielet,
Um die Vöglein nicht zu wecken.

Nacht, in deines Zaubers Schlingen

30
Soll sich Liebesscham verketten,

Unter lustbetauten Schwingen
Bräutliches Entzücken betten.

Was die Seele, was die Sinne
Hoch begeistert, tief erreget,

35
Deines Glücksrads Lustgewinne

Seien alle ausgeleget.

Spinnet bei dem Mondenlichte
Eure feinsten Netze, Elfen,
Und die schlauen Zauberwichte,

40
Alle Zwerge sollen helfen.


Felsbewohnende Sibyllen,
Leichte Nymphen flüchtger Quellen,
Einet alle euren Willen,
Diese Netze aufzustellen.

45
Locket, locket, süßer singend,

In die Netze, ihr Sirenen,
Und den Tönen nicht gelingend,
Laßt gelingen es den Tränen.

Denn es will uns heut entfliehen

50
Der melodischste der Schwäne,

Will zu heilgerm Himmel ziehen,
Daß sein Herz sich nicht mehr sehne.

[262]

Königin der Sternenzinne,
Priesterin verklärter Herzen,

55
Lehrerin geheimer Minne,

Heldin, Trösterin der Schmerzen,

Nacht! durch deines Tempels Mitte
Sehe ich Biondetten gehen,
Scheu verhüllt in züchtger Sitte;

60
Du wirst sie nicht wiedersehen.


Auf dem Platze mondbeschienen
Bleibt sie ruhig schauend stehen,
In die düsteren Ruinen
Noch einmal zurück zu sehen.

65
Sie beginnet leis zu singen;

In der Nachtluft einsam Wehen
Ihre Töne sich verschlingen
Wie der Andacht schwankend Flehen.

„Herr, ich steh in deinem Frieden,

70
Ob ich lebe, ob ich sterbe;

Starb mein Heiland doch hienieden,
Daß ich sein Verdienst erwerbe.

Will der Schmetterling zum Lichte,
Muß die Larve er zerbrechen,

75
So hast du dies Haus vernichtet,

Meine Freiheit auszusprechen.

Laß die Flügel mich erquicken,
In der Andacht sie erstrecken,
Und zum Himmelsgarten zücken

80
Durch der Buße dornge Hecken!


O, wie hast du hoch gezieret
Diese Weltnacht, mir die letzte;

[263]

Eine Seele triumphieret,
Deren Tod mich hoch ergötzte.

85
Solchen Tod laß mich gewinnen,

Herr, nach einem solchen Leben,
Laß mich mit so klaren Sinnen
Dir die Seele wiedergeben!

Denn in deinen Händen liegen

90
Alle demutvollen Herzen,

Wie die Kindlein in den Wiegen,
Still entschlummert, ohne Schmerzen.“

Also sang sie, und geschwinde
Eilt sie auf verschlungnen Wegen,

95
Und schon höret sie die Linde

Nächtlich grüßend sich bewegen.

Rascher flügelt sie die Schritte
Ihres Hauses Tor entgegen,
Da begegnet ihrem Tritte

100
Klirrend ein entblößter Degen.


Ach, und weiter noch zwei Schritte
Liegt, vom Mantel leicht bedecket,
Der den bösen Mord erlitten,
Stumm ein Jüngling ausgestrecket!

105
Da sie zu ihm niederblicket,

Will er noch die Blicke heben;
Den der Tod schon fest umstricket,
Kann die Schönheit noch beleben.

Gleich dem frommen Samariter

110
Hebt die mutige Biondette

Mühsam nun den toten Ritter,
Trägt ihn hin nach ihrem Bette.

[264]

Lebend konnts ihm nie gelingen,
In ihr Kämmerlein zu sehen,

115
Und er mußte, einzudringen,

Durch des Todes Pforte gehen.

Schnell die Lampe angezündet
Unter bangen Herzensschlägen!
Ach, das Herz, das sie verbindet,

120
Schlägt noch liebend ihr entgegen!


Balsam macht sie aus den Giften,
Die sie sonst im Tanz umgeben,
Mit der Öle süßen Düften
Ruft sie wieder ihn zum Leben.

125
Und sie löset ihm geschwinde

Seinen Koller überm Herzen,
Sauget ihm sein Blut gelinde
Aus der Wunde mit den Schmerzen.

Ach! und ihren frommen Lippen

130
Strömt die Torheit frech entgegen;

Quelle böser Zauberklippen,
Liebesgift war an dem Degen!

Auf der Brust ihm eingeschnitten
Ihren Namen liest Biondette,

135
Und ihr Bild, nach Liebessitte,

Hängt darauf an goldner Kette.

Doppelt ihren Schleier windet
Sie, mit Tränen ihn benetzend,
Und die Wunde sie verbindet,

140
Sich der Blöße nicht entsetzend.


Und sie eilt und schmückt das Zimmer,
Zündet an wohl hundert Kerzen,

[265]

In der Spiegel Widerschimmer
Gold und Silber freudig scherzen.

145
Ihres Putzschranks Flügeltüren

Öffnet sie mit leichten Händen,
Daß ein eitles Triumphieren
Rings entstrahle allen Wänden.

Und die falschen Götterbilder

150
Schmücket sie mit Flitterkränzen,

Aus dem Schoße goldner Schilder
Läßt sie seidne Röslein glänzen.

Reiherbüsche pflanzt sie flitternd
Auf des Boden Purpurdecken,

155
Diamantne Nadeln zitternd

Zäumt sie ein mit Federhecken.

In der Torheit Garten glimmend
Rüstet sie ein Weihrauchbecken,
Daß die Weihrauchwolken schwimmend,

160
Lüstern halb den Glanz bedecken.


Weh! wer hat sie so verrücket?
Alle Blumen muß sie brechen;
Wie des Wahnsinns Braut geschmücket,
Muß ihr keusches Herz erfrechen.

165
Schamlos tritt sie vor den Spiegel,

Ihre Brust zu Tag zu legen,
Weh! da blicket Gottes Siegel,
Die Goldrose ihr entgegen.

Doch sie ist so tief verstricket,

170
Nichts kann ihre Glut erschrecken,

Ihre Blöße sie entzücket,
Und sie mag sich nicht bedecken.

[266]

Und mit süß vertrauten Blicken
Sitzt sie auf des Jünglings Bette;

175
Weltlicher nicht konnt sie blicken,

Wenn sie nie gebetet hätte.

Und sie fühlt in allen Sinnen
Ein unheiliges Ergötzen
Wild durch ihre Adern rinnen,

180
Und sie muß die Zucht verletzen.


Seine Lippen, seine Stirne,
Ihren Namen ihm am Herzen,
Küsset heiß die arme Dirne
Unter süß berauschten Schmerzen.

185
Und in seinen Locken spielen

Ihre zarten Hände bebend,
Doch umsonst die Küsse zielen,
Seine Lippen nicht belebend.

An den Busen ihn zu drücken,

190
Seinen Namen laut zu nennen,

Fühlet sie ein wild Entzücken,
Doch er will sie nicht erkennen.

„Meliore,“ spricht sie liebend,
„Deine Augen zu mir wende,

195
Süßen Dank der Huld ausübend,

Die ich zärtlich dir verschwende!

Sieh, es will der gütge Himmel
So dich an das Herz mir legen,
Wie ich in des Brands Getümmel

200
An dem deinen bin gelegen!


Wenn du auch nicht wiederküssest,
Winkend nur ein Zeichen gebe,

[267]

Mir zum Troste, daß du wissest,
Wie ich dich nicht überlebe!“

205
Und die Harfe nimmt die Süße,

Läßt die Saiten wild erbeben;
Ach, die heißen Liebesgrüße
Können nicht sein Aug erheben.

Keuscher Tod, du drückst sie nieder,

210
Solche Raserei zu sehen,

In dem Klang der giftgen Lieder
Soll er sie nicht wiedersehen.

„Ihn, den meine Seele liebet,“[1]
Singt sie, „sucht ich in dem Bette,

215
Sucht ihn durch die Straßen ziehend,

Fand ihn doch an keiner Stätte.

Und ich fragt die Wächter bittend,
Die da durch die Straße gehen:
Ihn, den meine Seele liebet,

220
Habet ihr ihn nicht gesehen?


Und vorübergehend finde
Ich den Liebsten meiner Seele,
Ihn mit Rosenketten binde,
Ihn auf ewig mir vermähle!

225
Und ich halt ihn, laß ihn nimmer,

Den ich fand auf meiner Schwelle,
Führ ihn in der Mutter Zimmer,
Führe ihn in meine Zelle.

Sieh, ich bin ein Rauch von Myrrhen,

230
Auf sich aus der Wüste hebend,

Und, wie Bienenschwärme irren,
Küsse meinem Mund entschweben.

[268]

Weiß und rot ist, den ich minne,
Golden sich sein Haupt erhebet;

235
Wenn ich seine Locken spinne,

Schwarz die Nacht den Mantel webet.

Seine Augen mich erquicken
Und die Seele mir erhellen,
Wie die Taubenaugen blicken

240
Zu den klaren Wasserquellen.


Wie Gewürze duftend, grüßen
Seiner Wangen Blumenzellen,
Süße Myrtenöle gießen
Seiner Lippen Rosenquellen.

245
Goldne Türkisringe zieren

Seine klaren Silberhände,
Elfenbeinern und saphieren
Trägt der Goldfuß seine Lende.

Und er stehet aufgerichtet,

250
Wie die Zedern auserwählet,

Wie der Libanon umlichtet,
Der dem Himmel sich vermählet.

Wie mein Saitenspiel, erklinget
Süß und lieblich seine Kehle,

255
Und zu seinen Lippen dringet

Lustberauschet meine Seele.

O, du Büschel süßer Myrrhen,
Zwischen meinen Brüsten hängend,
Sag, wo deine Schafe irren,

260
Sich im Mittagsstrahle drängend.


Töchter Zions, meine Bitte
Höret und den Freund mir wecket,

[269]

Schlummernd vor der Zederhütte
Unter Rosen ausgestrecket.

265
Daß er blühend aufgerichtet:

Süße Freundin, zu mir spreche,
Komme her, die Gott gedichtet,
All die Rosen mit mir breche!

Sieh, verschwunden ist der Winter,

270
Und dahin ist Sturm und Regen,

Und die Blumen, Frühlingskinder,
Spielen schon auf grünen Wegen.

Meine Wangen lieblich flimmern,
In den Spangen, in der Kette

275
Sehe meinen Hals erschimmern,

Und es grünet unser Bette!

Wie die Traube Copher schwillet
Zu Engeddi in den Gärten,
Und der Lippen Kelch erfüllet,

280
Küß ich meinen Lustgefährten!


Zedern fest das Haus uns stützen,
Unsre Latten sind Zypressen,
In dem Schatten will ich sitzen
Und der Schmerzen all vergessen.

285
Unterm Schatten will ich sitzen;

Des die Seele mir begehret,
Wie der Apfelbaum bei wilden
Bäumen, ist mein Freund verehret.

Deiner Lieb Paniere schwinge

290
Über mir, du Hoch und Heller,

Und du Freundlicher, mich bringe
In des süßen Weines Keller!

[270]

Und mit Blumen mich erquicke,
Mich zu laben Äpfel gebe;

295
Krank bin ich vor Liebe; blicke,

Blicke auf, mich zu beleben!

Unter deinem Haupt die Linke,
Muß dich meine Rechte herzen,
Wenn ich deinen Kuß nicht trinke,

300
Muß verdürsten ich in Schmerzen!


Sieh, die Honigbienen irren
In dem honigsüßen Lenze,
Und die Turteltauben girren;
Komme, mein Freund, daß ich dich kränze!

305
Sieh, dem Feigenbaum entspringen

Knospen; aus dem Aug der Reben
Süße Wollusttränen dringen;
Also weint mein junges Leben!

Wie in dunklen Felsenritzen

310
Turteltauben auf dem Neste,

Also will ich bei dir sitzen
In dem Glanz der Blütenäste.

Und es tönet meine Stimme
Süß, o süß ist meine Kehle,

315
Bis wetteifernd süß ergrimme

und verglimme Philomele.

Und ich singe zu dir nieder:
Mein bist du und mir gegeben,
Und es sehn dich meine Lieder

320
Unter Rosen weidend schweben!“


Wie sie also töricht singet,
Spricht Meliore: „Meine Schwester,[2]

[271]

Fromme Taube, ach, es schlinget
Sich des Todes Band nur fester!

325
Nachttau mir vom Haupte fließet,

Und es wecket mir im Herzen,
Wenn sich gleich mein Auge schließet,
Deine Liebe bittre Schmerzen!

Mein Gewand, ich legt es nieder,

330
Soll ich wieder an es legen?

Nach dem Bad die Füße wieder
Mir besudeln auf den Wegen?

Deine Augen gleichen Blitzen,
Deine Augen von mir wende!

335
Meinem Herzen Degenspitzen

Scheinen deine zarten Hände!“

Aber wehe! nicht vernimmet
Sie den schweren Namen Schwester,
Glühender ihr Wahn entglimmet,

340
Sie umklammert ihn noch fester.


Und sie spricht: „Der Kelch der Lilien
Unserm Bett das Rauchfaß schwenket,
Unser Dursten zu vertilgen
Sich der Traube Becher senket.

345
Unsre Tür umgeben Früchte,

Ich bewahrte dir, mein Leben,
Heurige und fernge Früchte,
Beide kann ich dir nun geben!

O, du Liebe in Wollüsten!

350
O, du schön und lieblich Schweben!

Trauben gleichen meine Brüste,
Trauben wundersüßer Reben!

[272]

Einer Palme aufwärts dringend
Gleichet meines Leibes Länge,

355
Wie der Wein hinan sich schlinget:

O, wer sich hinan so schwänge!

Laß uns durch die Felder ziehen,
Ob uns sieht das Aug der Reben,
Ich will, wenn Granaten blühen,

360
Dort dir meine Brüste geben.


Dich, der meiner Mutter Brüste
Saugte, Bruder, dich den Schönen,
Wenn ich dort dich brünstig küßte,
Ach, wer wollte mich verhöhnen!“

365
Als sie diesen Frevel singet,

Springt sein Blut ihr neu entgegen;
Der Verband, der Hilfe bringet,
Kann die Raserei nicht legen.

Und von ihrem Nonnenbilde

370
Reißt sie in der Angst die Decke,

Daß damit das Blut sich stillte,
Und es dienet ihrem Zwecke.

Als sie zu dem Bilde blicket,
Fühlet sie ein tief Erschrecken,

375
Scham sie wie ein Schwert durchzücket,

Und sie eilt, sich zu bedecken.

Von des Bildes Augen fließen,
Wunder Gottes! bittre Tränen,
In die Arme muß sies schließen,

380
Ach, sie möchte es versöhnen!


Und dem Bilde gegenüber
Sitzt zur Harfe sie am Bette,

[273]

Und die Augen strömen über
Der verlorenen Biondette.

385
„Wo ist die, die aus der Wüste

Aufgeht, auf den Freund gelehnet?“
Spricht Meliore nun, und grüßte
Sie, nach der sein Herz sich sehnet.

„Auf dein Herz gleich einem Siegel

390
War sie wahrlich doch gesetzet.

Goldne Rose, deinen Spiegel
Hat die Schlange bös verletzet.

Um den Apfelbaum sich schlingend,
Der die Mutter dir bedeckte,

395
Als sie rang, zur Welt dich bringend,

Bös die Schlange mich erweckte!“

Aber traurend sitzt die Süße,
Läßt die Harfe leis erbeben,
Daß ihn schön das Leben grüße,

400
Das die Liebe ihm gegeben.


Wie die Töne sich ergießen,
Fühlt die Jungfrau in dem Herzen
Wunderbaren Zauber fließen
Und so süße, wilde Schmerzen.

405
Höher sie die Saiten schwinget,

Denket nicht mehr des Gesellen;
Wie der Schwan im Tode singet,
Glühend ihre Töne schwellen.

Tausend Töne, die sonst schliefen,

410
Aus der Harfe lebend brechen,

Und in allen Herzenstiefen
Hört sie laut das Echo sprechen.

[274]

In dem Tode hallt es wider;
Schüchtern zu des Lebens Schwelle

415
Rufen ihn die Zauberlieder,

Seine Blicke werden helle.

Wer erklärt ihm die Gesichte,
Wer ergießt des Himmels Segen?
Ist so mild das Weltgerichte,

420
Kommt die Gottheit ihm entgegen?


„Süßer Tod, den ich erlitten!
Goldne Töne zu mir gehen,
Selig in des Himmels Mitten
Soll ich wieder auferstehen!“

425
Aus Biondettens frommen Mienen

Strömet ihm das selge Wähnen,
Gottes Mutter sei erschienen,
Und er betet unter Tränen.

Doch die arme Jungfrau singet

430
Unter bittren, bittren Tränen,

Während sie die Hände ringet:
„O, welch schmerzlich glühes Sehnen!

Schwarz bin ich, doch voller Liebe,
Wie die Hütten Kedars stehen,

435
Wie die bunten Teppche schimmernd

Salomons im Tempel wehen.

Die Weingärten zu behüten,
Setzten sie mich ein zum Wächter,
Meinen konnt ich nicht behüten,

440
Von Jerusalem ihr Töchter!


Wie der Tod so stark ist Liebe,
Fest der Eifer wie die Hölle,

[275]

Glut und Feuer meine Triebe,
Wie des Herren Blitz so schnelle.

445
Und wenn alle Wasser stiegen,

Und wenn alle Ströme rännen,
Würden sie sie nicht besiegen,
Nimmer sie erlöschen können!

Was in meinem Haus sich findet,

450
Alles Gut, wenn ichs wollt geben

Um die Liebe, die mich bindet,
Ach, ich hätte nichts gegeben!

Schön und lieblich meine Füße
In den goldnen Schuhen stehen,

455
Und mein Haupt, wenn ich ihn grüße,

Ist wie eines Helmbuschs Wehen!

Wie zwo Spangen schön sich schwingend,
Von des größten Meisters Händen
Eben aneinander dringend,

460
Stehen freudig meine Lenden!“


Doch nun lischt der Kerzen Schimmer
Und Biondette singet: „Wehe,
Wehe, Wehe, Lebensschimmer,
Holdes Leben, nicht vergehe!

465
Sterbet nicht, ihr süßen Lieder,

Wollt, o wollt nicht von mir schweben!
Sterbet nicht, ihr raschen Glieder,
Laßt euch froh zum Tanze heben!“

Eh die Lampe auch verglimme,

470
Will sie freudig nochmals schweben;

Doch sie hört nicht ihre Stimme,
Fühlt nicht ihrer Füße Schweben.

[276]

Weh! es walten böse Künste,[3]
Laut die frühen Hähne krähen;

475
Kehrt, ihr Geister, aus dem Dienste,

Denn der Tag will auferstehen!

Und Meliore kömmt zu Sinnen.
Licht und Lied und Lieb entschweben,
Mächtig fühlt er sich von hinnen

480
Auf die öde Straße heben.


Kühl umwehn ihn Morgenwinde,
Wunderbar ist ihm geschehen,
Denn er kann noch ihre Binde
Auf der frischen Wunde sehen.

485
Und die nahe Glocke klinget,

Und er hört die ersten Messen:
Bete, bete, nie gelinget,
Die Geliebte zu vergessen!

Anmerkungen des Herausgebers

  1. [403] Zu den folgenden Gesängen, die Biondetta in Liebesraserei singt, in welche sie sich durch das Gift aus Meliores Wunde versetzt hat, diente dem Dichter das „Hohe Lied“ als Vorbild, aus welchem er einzelne Stellen direkt entnommen hat, und zwar, wie Michels richtig bemerkt, nach der lutherischen Übersetzung.
  2. [403] Meliore hört aus dem ihm unverständlichen brünstigen Werben der keuschen Biondetta nur die Worte des „Hohen Liedes“ (das in vielen Versen ein Bestandteil kirchlicher Liturgie und in diesen jedem Katholiken vertraut ist) und antwortet mit den Worten desselben: „Meine Schwester“ (Kap. 4, V. 9, 10, Kap. 5, V. 1 usw.) und mit den Worten (Kap. 5, V. 3): „Ich habe meinen Rock ausgezogen“ usw.
  3. [403] Hier beginnt Apos Zauber (Romanze 18), der sie zu ihm zieht, zu wirken.
« Romanze XIV: Apo und Meliore Clemens Brentano
Romanzen vom Rosenkranz
Romanze XVI: Kosme krank – Pietros Garten brennt »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).