MKL1888:Gottsched
[572] Gottsched, 1) Johann Christoph, Gelehrter und Schriftsteller, welcher in der Entwickelungsgeschichte der deutschen Litteratur eine hervorragende Stellung einnimmt, wurde 2. Febr. 1700 zu Judithenkirch bei Königsberg i. Pr. als Sohn eines Predigers geboren und bezog, 14 Jahre alt, die Universität Königsberg, um Theologie zu studieren, widmete sich jedoch bald ausschließlich dem Studium der Philosophie und der schönen Wissenschaften. Im J. 1724 flüchtete er aus Furcht vor den preußischen Werbern, die ihn wegen seiner stattlichen Größe ins Auge gefaßt hatten, nach Leipzig, wo der berühmte Polyhistor J. L. Mencke ihn zum Privatlehrer seines ältesten Sohns erwählte. Noch in demselben Jahr habilitierte sich G. mit einer im Geiste der Wolfschen Philosophie abgefaßten Abhandlung und eröffnete Vorlesungen über die schönen Wissenschaften. Mencke führte ihn in die Görlitzer Gesellschaft ein, aus welcher G., 1726 zum Senior erwählt, eine „Deutsche Gesellschaft“ machte, in welcher neben Poesie fortan auch Beredsamkeit gepflegt wurde. 1730 ward er zum außerordentlichen Professor der Poesie und 1734 zum ordentlichen Professor der Logik und Metaphysik ernannt. Er starb als Dezemvir der Universität und als Senior der philosophischen Fakultät und des Großen Fürstenkollegiums 12. Dez. 1766. In den Jahren von 1729 bis 1740 übte G. eine Art von litterarischer Alleinherrschaft in Deutschland aus und galt ziemlich unbestritten als die erste Autorität in poetisch-theoretischen Angelegenheiten. Dann erlitt sein Ruhm immer härtere Anfechtungen; namentlich in seinen Kämpfen mit den „Schweizern“ (der Anhängerschaft Bodmers und Breitingers) wurde er rasch aus der diktatorischen Gewalt, die er in Geschmackssachen besessen, verdrängt. Wenige und nur sehr armselige Trabanten machten von da an seinen Anhang aus, und als er in verblendeter Eigenliebe seine stumpf gewordenen Waffen sogar gegen Klopstock und Lessing kehrte, wurde sein Name zum Spott und Hohn und „sank beinahe bis zum Scheltwort herab“. Seitdem war es Mode geworden, ihn als das Urbild litterarischer Aufgeblasenheit, poetischer Plattheit, als den großen „Duns“ der Litteratur (wie ihn Lessing nannte) zu betrachten und zu verhöhnen, bis neuere Forscher (Gervinus, Wackernagel, Koberstein, vor allen aber Theodor Danzel) den Verdiensten des vielgeschmähten Mannes gerechter wurden. Unleugbar ist wohl, daß Gottscheds Ansichten und Bemühungen namentlich in der ersten Zeit seiner Leipziger Wirksamkeit berechtigt und teilweise sogar ungemein heilsam waren, wenn auch seine Anschauung nie über eine korrekte, formell elegante Litteratur hinauswuchs, der Unterschied zwischen Poesie und Rhetorik ihm nie aufging. Er erstrebte aufrichtig eine große Stellung der deutschen Litteratur, schloß sich zu diesem Zweck eng an die gepriesenen Vorbilder der Franzosen und jener Engländer an, welche die Franzosen nachahmten, und denen er sich verwandt fühlte. Gleichwohl war er zu trocken, dürr und pedantisch-nüchtern, um auch nur eine Dichterpersönlichkeit, wie die Popes oder Addisons, darstellen zu können. Sein nüchtern-verständiger Sinn verhalf ihm zur trefflichen Kritik des Schwulstes und der widrigen Geschmacklosigkeit der schlesischen Poeten, aber mit bloßer Verurteilung und Vermeidung ihrer Mängel war noch kein dichterischer Wert zu gewinnen. G. begann seine umfassende litterarische Wirksamkeit bereits ein Jahr nach seiner Ankunft in Leipzig mit der Zeitschrift „Die vernünftigen Tadlerinnen“ (1. u. 2. Teil, Halle u. Leipz. 1725–26), deren Hauptinhalt belehrende und erbauliche Aufsätze ausmachten. Ihr folgte eine Reihe andrer Zeitschriften, die er zum Teil geraume Zeit fortführte, so: „Der Biedermann“ (Leipz. 1727); „Beiträge zur kritischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit“ (das. 1732); „Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freien Künste“ (das. 1745–54); „Das Neueste aus der anmutigen Gelehrsamkeit“ (das. 1751–62). Durch diese Zeitschriften erwarb er sich ein unleugbares Verdienst um die Sprache, insofern er sie durch möglichste Verbannung der Fremdwörter, Deutlichkeit des Ausdrucks und künstlerische Durchbildung des Stils zu vervollkommnen suchte. Unter den dichterischen Gattungen wandte er dem Drama die meiste Sorge und Aufmerksamkeit zu. Hier war es vor allem die Herrschaft der Weiseschen Lustspiele und der Oper sowie in beiden noch besonders die pöbelhafte Figur des Hanswurst (Pickelhering, Skaramuz), die „zotenvolle Verschlechterung des englischen Clown“, denen er den Krieg erklärte, in dem er auch Sieger blieb. Er hatte sich vorgesetzt, ein deutsches Theater nach dem Muster des französischen zu gründen, und diesen Zweck suchte er mit seiner Gattin durch zweckmäßige Übersetzungen wie durch originale Produktionen zu erreichen. Unter den letztern sollte zuerst sein nach Addisons gleichnamigem Stück mit strenger Beobachtung der drei Aristotelischen Einheiten gefertigtes Trauerspiel „Der sterbende Cato“ (Leipz. 1732) lehren, wie eine wahre Tragödie beschaffen sein müsse, und das armselige Machwerk, das, fast aller Handlung bar, in breiter Deklamation auf dem Kothurn des Alexandriners einherstelzt, fand denn auch bei den Jüngern des Leipziger Messias überschwengliche Bewunderung. Im J. 1727 war der Theaterprinzipal Neuber mit seiner Truppe nach Leipzig gekommen; seine Frau, die eigentliche Seele seiner Unternehmung, ging auf Gottscheds Pläne ein und begann im Zusammenwirken mit diesem durch Aufführung von aus dem Französischen übertragenen und selbständig verfaßten Dramen die Begründung des regelmäßigen deutschen Schauspiels. Zunächst wurden die Haupt- [573] und Staatsaktionen vom Repertoire ausgeschlossen und dann (Oktober 1737) in einem besonders dafür zurechtgemachten Stück der Hanswurst förmlich von der Bühne verbannt. Später gab G. in seiner „Deutschen Schaubühne, nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet“ (Leipz. 1740–45) eine Sammlung von Dramen, welche als Musterschöpfungen gelten sollten und aus deutschen Originaldichtungen von G. selbst, von seiner Gattin, von J. E. Schlegel, Quistorp, Uhlich sowie aus Stücken von Racine, Corneille, Voltaire, Destouches, Molière, Holberg etc. bestanden. Der poetische Gehalt der Sammlung ist, was die vaterländischen Dramen betrifft, außerordentlich mager, und der Eindruck des Ganzen in seiner Regelmäßigkeit und kalten Nüchternheit mutet geradezu trostlos an. Von weit höherer litterarhistorischer Bedeutung als die „Schaubühne“ war Gottscheds „Nötiger Vorrat zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst“ (Leipz. 1757–65), worin ein Verzeichnis aller dramatischen Produkte aus den Jahren 1450–1760 gegeben werden sollte. Das Werk ist nicht vollständig, aber noch heute ein wichtiges Hilfsmittel für das Studium der Geschichte des deutschen Schauspiels. Außer einer Menge Dissertationen litterarhistorischen und kritischen Inhalts schrieb G. auch eine Reihe von Lehrbüchern, worunter als die wichtigsten anzuführen sind: „Ausführliche Redekunst“ (Hannov. 1728); „Versuch einer kritischen Dichtkunst für die Deutschen“ (Leipz. 1730 u. öfter) und „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“ (das. 1748). Vgl. Danzel, G. und seine Zeit (Leipz. 1848); Breitmaier, Die poetische Theorie Gottscheds und der Schweizer (Tübing. 1879); Bernays, Goethe und G., zwei Biographien (Leipz. 1880).
2) Luise Adelgunde Viktorie, geborne Kulmus, Gattin des vorigen, geb. 11. April 1713 zu Danzig, machte sich nicht nur mit mehreren neuern Sprachen vertraut, sondern erwarb sich auch wissenschaftliche Kenntnisse und bildete ihren Geschmack namentlich durch die Lektüre der englischen Dichter. Nach ihrer Verheiratung mit G. (1735) soll sie in Leipzig sogar noch Lateinisch und Griechisch gelernt haben. Sie starb 26. Juni 1762. Eine ebenso fruchtbare Schriftstellerin und Übersetzerin wie ihr Gatte, war sie vielfach über dessen Schwächen erhaben. In ihren „Briefen“ (Dresd. 1771–72, 3 Bde.) zeigte sie feinen Sinn und Geschmack, sowie ihr auch als dramatischer Dichterin oder Bearbeiterin ausländischer Stücke das Verdienst zuzuerkennen ist, daß sie es besser als ihr Gatte verstand, das Fremde der deutschen Bühne anzueignen. Ihr Lustspiel, das, obgleich Nachbildung, als Originalwerk unter dem Titel: „Die Pietisterei im Fischbeinrock“ (Rost. 1736) anonym erschien, war eine Bearbeitung der französischen Komödie „La femme docteur, ou la théologie tombée en quenouille“ (Douai 1731, wahrscheinlich von Guill. Hyacinthe Bougeant). Ihre „Gedichte“ gab ihr Gatte mit ihrer Lebensbeschreibung (Leipz. 1763) heraus. Von ihren Übersetzungen heben wir hervor die des „Spectator“ (Leipz. 1739–43, 9 Bde.) sowie die von Popes „The rape of the lock“ (das. 1744, neue Aufl. 1772). Vgl. Schlenther, Frau G. und die bürgerliche Komödie (Berl. 1885).