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MKL1888:Gottschall

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Gottschall“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Gottschall“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 7 (1887), Seite 571572
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Gottschall. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 571–572. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Gottschall (Version vom 30.08.2023)

[571] Gottschall, Rudolf von, Dichter und Publizist, geb. 30. Sept. 1823 zu Breslau, folgte seinem Vater, einem preußischen Artillerieoffizier, früh nach Mainz und Koblenz und studierte seit 1841 in Königsberg die Rechte. An der damaligen liberalen Bewegung in Ostpreußen lebhaften Anteil nehmend, gab er seiner Gesinnung Ausdruck in zwei anonym erschienenen Gedichtsammlungen: „Lieder der Gegenwart“ (2. Aufl., Königsb. 1842) und „Zensurflüchtlinge“ (2. Aufl., Zürich 1843). Die jugendliche Frische, mit der darin das damals so beliebte politische Lied angestimmt ward, fand nicht nur großen Anklang bei den Gleichgesinnten, sondern verschaffte dem Dichter auch eine hervorragende Stellung innerhalb seiner Partei. Ein studentisches Charivari mit politischer Färbung führte sein Consilium abeundi herbei, und ein Jahr später ward er auch von der Universität Breslau verwiesen. Nach längerm Aufenthalt bei dem Grafen Reichenbach wurde ihm die Fortsetzung seiner Studien in Berlin gestattet, worauf er 1846 in Königsberg als Doktor der Rechte promovierte. Er gedachte sich an der dortigen Universität zu habilitieren, gab jedoch diesen Vorsatz auf, als der Minister Eichhorn die Forderung an ihn stellte, daß er binnen Jahresfrist Beweise seiner veränderten Gesinnungen beibringen solle. Von nun an sich ausschließlich litterarischer Beschäftigung widmend, hielt er nebenbei in der Königsberger städtischen Ressource politische Vorträge. Auch übertrug ihm der Theaterdirektor Woltersdorf die dramaturgische Leitung seiner Bühne, für welche er die mit Beifall gegebenen Dramen: „Der Blinde von Alcala“ und „Lord Byron“ schrieb. 1848 siedelte G. nach Hamburg über, wo er zunächst eine Episode aus der Geschichte Hamburgs in der Tragödie „Hieronymus Snittger“ dramatisch bearbeitete. Die Dramen: „Ulrich von Hutten“ und „Maximilian Robespierre“ waren Vorläufer der stürmisch-revolutionären dramatischen und lyrischen Produkte, mit denen G. die Jahre 1848–50 begrüßte und begleitete. Das kleine Drama „Die Marseillaise“, die Tragödien: „Lambertine von Méricourt“ (Hamb. 1850), „Ferdinand von Schill“ (das. 1851), die „Wiener Immortellen“ (das. 1848) und die erste Sammlung seiner „Gedichte“ (das. 1850) zeigten gleichmäßig dieselbe Glut und Gärung, dieselbe von revolutionären Bildern gleichsam berauschte Phantasie. Eine Art künstlerischen Abschlusses fand diese Periode in dem größern lyrisch-epischen Gedicht „Die Göttin, ein hohes Lied vom Weibe“ (Hamb. 1853; 2. Aufl., Bresl. 1875). Im J. 1852 verheiratete sich der Dichter mit Marie, Freiin von Seherr-Thoß, und nahm seinen Wohnsitz in Breslau. Seine nächsten poetischen Produktionen verrieten das Bestreben, mit der unklaren Phantastik und überschwenglichen Rhetorik seiner ersten Periode zu brechen und zu lebendiger Gestaltung durchzudringen. Zeugnis davon legten sein episches Gedicht „Carlo Zeno“ (Bresl. 1854, 3. Aufl. 1875) und das vortreffliche historische Lustspiel „Pitt und Fox“ ab, das, 1854 zuerst in Breslau aufgeführt, seitdem die Runde über alle deutschen Bühnen machte. Gleichzeitig begann G. mit der Veröffentlichung einer Reihe litterarhistorisch-kritischer Arbeiten, deren hervorragendste „Die deutsche Nationallitteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (Bresl. 1855; 5. Aufl. 1881, 4 Bde.) und „Poetik, die Dichtkunst und ihre Formen“ (das. 1858; 5. Aufl. 1883, 2 Bde.) waren. Gelegentliche Rückfälle in die Tendenzpoesie früherer Zeit blieben nicht aus, da Gottschalls ganze Anschauungen dahin neigten, der „Modernität“ zeitgemäßer Stoffe eine größere und tiefere Wirkung zuzutrauen als der poetischen Vertiefung und der warmen, lebendigen Gestaltungskraft. So begeisterte ihn der Krimkrieg zu den Gesängen: „Sebastopol“ (Bresl. 1856), die Erscheinung Napoleons III. zu einer historischen Studie über diesen: „Kaiser Napoleon III.“ (Liegn. 1859, 2. Aufl. 1871). Objektiver und wärmer erschienen wiederum seine „Neuen Gedichte“ (Bresl. 1858), in denen er unter anderm eine Reihe von Versuchen zur Herstellung gereimter Oden mitteilte, die freilich mehr Paradestücke als Ausfluß wirklich dichterischer Empfindung waren. Einen sehr glücklichen Wurf that G. dann mit der Tragödie „Mazeppa“ (1859 zuerst in Breslau und Dresden, später an einer Reihe andrer Theater aufgeführt), in welcher die Eigenart seines Talents und die Natur des Stoffes sich in seltener Weise deckten. Die Lustspiele: „Die Diplomaten“ und „Die Welt des Schwindels“ hatten minder glänzende Erfolge als „Pitt und Fox“, dem sie nachgebildet waren. Im J. 1862 redigierte G. kurze Zeit die „Ostdeutsche Zeitung“ in Posen, welche sich die Aufgabe gestellt hatte, die deutsche und polnische Nationalität zu versöhnen, aber an den schwierigen Verhältnissen scheiterte. Nachdem er 1863 eine Reise nach Italien gemacht, die er lebendig in seinen „Reisebildern aus Italien“ (Bresl. 1864) beschrieb, wurde er 1864 von der Firma F. A. Brockhaus nach Leipzig berufen, um die Redaktion der Zeitschrift „Unsere Zeit“ (die 1880 zu einer Revue im großen Stil erweitert ward) und der „Blätter für litterarische Unterhaltung“ zu übernehmen, die er noch gegenwärtig leitet. In demselben Jahr ernannte ihn der Großherzog von Sachsen-Weimar zum Hofrat und später zum Geheimen Hofrat; 1877 ward er vom deutschen Kaiser in den erblichen Adelstand erhoben. Die nächste größere Dichtung Gottschalls, „Maja“ (Bresl. 1864), behandelte eine Episode aus dem letzten indischen Aufstand, welche als Rahmenerzählung farbenprächtige Bilder indischen Lebens umfaßt. Später folgten das erzählende Gedicht „König Pharao“ (Leipz. 1872), die Trauerspiele: „Der Nabob“, „Karl XII.“, „Katharina Howard“, von denen namentlich das letztere sich größerer Bühnenerfolge rühmen darf, ferner die Dramen: „Die Rose vom Kaukasus“, „Bernhard von Weimar“, „Amy Robsart“, „Arabella Stuart“ und das unter dem Pseudonym Karl Rudolf gegebene Lustspiel „Ein Vater auf Kündigung“. Einen vereinzelten Versuch, der Posse poetischen Gehalt zu geben, machte der Dichter in der am Viktoriatheater in Berlin aufgeführten „Fürstin Rübezahl“. Seine gesammelten „Dramatischen Werke“ umfassen bis jetzt 12 Bände (2. Aufl., Leipz. 1884); seine zerstreuten neuern Gedichte vereinigte er in der Sammlung „Janus“ (das. 1873). Eine Sammlung seiner „Erzählenden Dichtungen“ erschien in 3 Bänden (Bresl. 1876); eine Auswahl aus der großen Zahl seiner kritischen Essays und kleinern Aufsätze bieten die „Porträts und Studien“ (Bd. 1 und 2: „Litterarische Charakterköpfe“, Leipz. 1870; Bd. 3 und 4: „Paris unter dem zweiten Kaiserreich“, 1871) und die „Litterarischen Totenklänge und Lebensfragen“ (Berl. 1885). In neuester Zeit begann er im Verein mit hervorragenden Historikern die Herausgabe eines „Deutschen Plutarch“ (Leipz. 1874–85, Bd. 1–11) und betrat das Gebiet des Romans mit dem historischen, [572] zur Zeit des ersten Schlesischen Kriegs spielenden Roman „Im Banne des Schwarzen Adlers“ (Bresl. 1875, 3 Bde.; 4. Aufl. 1884), welchem die Romane: „Welke Blätter“ (das. 1877), „Das goldene Kalb“ (das. 1880, 3 Bde.), „Das Fräulein von St. Amaranthe“ (Berl. 1881, 3 Bde.), „Die Erbschaft des Bluts“ (Bresl. 1881, 3 Bde.), „Die Papierprinzessin“ (das. 1883, 3 Bde.), „Verschollene Größen“ (das. 1886, 3 Bde.), „Schulröschen“, Erzählung (das. 1886), u. a. folgten. Gottschalls lyrisch-epische Dichtungen und ernste Dramen leiden, bei aller Virtuosität im einzelnen und bei der rastlosesten geistigen Beweglichkeit, am Mangel einer bestimmten poetischen Lebensanschauung, für welche glänzender rhetorischer Schwung und eine gewisse Pracht des Kolorits nur zum Teil Ersatz gewähren können. Manche seiner Charaktere (z. B. Heinrich VIII. in „Katharina Howard“) bekunden eine nicht gewöhnliche Gestaltungskraft; unter seinen Lustspielen zeichnet sich namentlich „Pitt und Fox“ durch eine an Scribe erinnernde Lebendigkeit des Stils und realistische Leichtigkeit aus. G. gab auch eine beliebte Anthologie: „Blütenkranz neuer deutscher Dichtung“ (11. Aufl., Bresl. 1885), eine „Gedankenharmonie aus Goethe und Schiller“ (7. Aufl., Leipz. 1881) und ein „Deutsches Frauenalbum in Wort und Bild“ (2. Aufl., das. 1884) heraus.