MKL1888:Deutsche Mythologie
[766] Deutsche Mythologie, die Lehre von dem einst heidnischen Glauben der alten Deutschen (Sachsen, Thüringer, Franken, Alemannen etc.). Die Nachrichten der Römer (Cäsar und Tacitus) geben nur ein ungefähres, äußerliches Bild; ältere, unmittelbare heimische Quellen fehlen fast ganz. Als die nordische Mythologie (durch die Edden) bekannt wurde und die Wissenschaft sich der deutschen Vergangenheit eingehender zuwandte, zeigte J. Grimm, daß, was in deutschen Volkskreisen an Sagen, Märchen, Gebräuchen etc. fortlebt, Überreste des alten Heidentums seien und dieselben in den Elementen, wenn auch vielfach im Lauf der Zeiten, besonders durch den Einfluß des Christentums, umgewandelt, mit der nordischen Mythologie übereinstimmen. Grimm schuf so die Wissenschaft der deutschen Mythologie, welche seitdem durch weitere Sammlung der alten Volkstradition sich immer mehr ausgebaut und unter dem Einfluß der vergleichenden Mythologie vertieft hat.
Cäsar schildert die Religion der Deutschen offenbar unter dem äußern Reflex ihrer Feste und Gebräuche, wenn er sie nur Sonne, Mond und das Feuer verehren läßt. Tacitus gibt schon ein eingehenderes Bild, wenn er von Göttern und Göttinnen sowie halbgottähnlichen Wesen berichtet, die in heiligen Hainen verehrt wurden, desgleichen von Opfern (auch Menschenopfern), Priestern, eigentümlichen Weissagungsarten u. dgl. Er glaubte bei den Deutschen als Hauptgott Merkur, sodann Mars und Isis, ebenso nach seiner Deutung eine „Erdmutter“ (Hertha oder Nerthus) sowie den Herkules wiederzufinden, ja zwei Götter erinnerten ihn an Kastor und Pollux. Bei der Einführung des Christentums wird dann auch öfters Wodan (Gwodan, der oben erwähnte Merkur), ferner Donar (wohl der obige Herkules) genannt, wie auch die aus heidnischer Zeit herstammende Bezeichnung der Wochentage dieselben als alte Götter kennzeichnet (Mittwoch, Mercurii dies, franz. Mercredi, engl. Wednesday, in Westfalen Godenstag, d. h. Wodans- oder Gwodanstag; Donnerstag, d. h. Tag des Donar) und noch zwei hinzufügt, nämlich Ziu, s. v. w. Mars (Martis dies, franz. Mardi, deutsch Ziestac oder Diestag, dann Dienstag), und Freia oder Fria, s. v. w. Venus (Veneris dies, franz. Vendredi, deutsch Freitag). So berühren sich die Hauptgötter der deutschen und nordgermanischen Völker: Wodan = Odin, Ziu = Tyr, Donar = Thor, Freia oder Fria = Frigg. Die 1841 zu Merseburg aufgefundenen heidnischen Sprüche bieten noch den nordischen Balder unter dem Namen Phol (Phol ende Wôdan vuorun zi holza etc.). Charakteristisch ist noch das Heiligtum der Sachsen bei Stadtberge, die Irmensäule (s. d.), welche Karl d. Gr. zerstörte. Von Wodan und Freia haben wir noch eine Sage, die mit dem Namen der Langobarden zusammenhängt. Vandalen und Winiler sind in Streit. Die erstern wenden sich an Wodan, der erklärt, er werde dem den Sieg verleihen, welchen er beim Sonnenaufgang zuerst sehe. Die Winiler dagegen wenden sich an Freia; diese riet, ihre Frauen sollten sich mit ihnen in die Schlachtreihe gen Osten stellen und ihre Haare wie einen Bart ordnen. Da habe Wodan, heißt es weiter, bei ihrem Anblick gefragt, wer jene Langbärte seien, und Freia, indem sie es ihm erklärt, daran die Bemerkung geknüpft, wem er den Namen gegeben, müsse er auch den Sieg verleihen. Und so sei er den Winilern zu teil geworden, welche denn seit jener Zeit Langobarden hießen. – Schon aus dieser Sage sieht man, daß die Hauptgötter einen nationalen Charakter hatten als himmlische Mächte, welche das Schicksal der Völker wie jedes Einzelnen lenkten. Von Donar und Ziu wissen wir weniger; vielleicht fällt mit dem letztern der in einer niedersächsischen Abrenuntiatio vorkommende Gott Saxnôt („Schwertgenosse“), wohl ein Kriegsgott, zusammen. Ein friesischer Gott auf Helgoland war Fosite. Zweifelhaft ist die Göttin Cisa oder Nehalennia. In volkstümlicher, noch fortlebender Sage tritt Wodan als wilder Jäger in besondere Beziehung zum Sturm (s. Wütendes Heer), Freia oder Frigg gleichfalls; dann aber erscheint letztere besonders als Sonnenfrau unter den Namen Frau Holle und Berchta; verehrt wurden beide namentlich an den Festen der Sonnenwenden, Wodan auch zur Erntezeit.
Außer jenen Hauptgöttern glaubten die alten Deutschen auch noch an mehr oder minder zauberkundige Wesen, welche Wald und Feld, das Wasser wie die Tiefen der Erde bewohnten und in das Leben der Menschen eingriffen. So erzählen uns die Sagen noch viel von Riesen und Zwergen, Schwanjungfrauen und Weißen Frauen, Elfen, Kobolden, Nixen, dem Bilwiz und Schrat sowie von dem die Menschen im Schlaf drückenden Alp oder der Mahrt (s. diese Artikel). Von dem elementaren Aberglauben gibt schon der „Indiculus superstitionum etc.“ vom Jahr 743 ein Bild. Die Verehrung des Wassers, namentlich der Quellen, spielte eine große Rolle. Das Volk betete daselbst, zündete Lichter an und setzte Opfergaben hin, um sich die Geister freundlich [767] zu stimmen. Von der Verehrung des Feuers haben wir Kunde schon, wie oben angedeutet, durch Cäsar. In den Johannis- und ähnlichen Feuern lebt auch noch ein guter Teil dieses Kultus fort. Ebenso waren Berge und Hügel wegen der Gottheiten heilig, die darauf hausten, besonders die Blocksberge (im Harz, in Mecklenburg, Preußen), das Riesengebirge, der Meißner, der Totenstein etc. Außer den besondern Gottheiten geweihten Hainen standen auch Wälder und Bäume, namentlich Eichen und Eschen, auch Buchen, Haseln, Holunder, Wacholder, in hohem Ansehen. Heilige Tiere waren das Roß und das Rind; mit Scheu betrachtete man den Bären, Wolf und Fuchs. Götter und Göttinnen verwandelten sich gern in Vögel; heilig waren besonders der Adler, der Rabe, der Storch. Schwan und Specht treten auch in Sagen auf; der Kuckuck hatte die Gabe der Weissagung. Eine besondere Kosmogonie hat die d. M. nicht. Nach dem Tode trennt sich die Seele vom Körper und wird nach einem andern Aufenthaltsort übergefahren; das Andenken Verstorbener wurde durch Feste gefeiert. Seelen, die nicht vollkommen der Seligkeit und Ruhe teilhaftig geworden, schweben zwischen Himmel und Erde, kehren auch zuweilen zu der Stätte ihrer Heimat zurück; sie schrecken den Menschen als Gespenster, erscheinen in mannigfaltigster Gestalt, als Feuermänner, Irrwische etc. Der Gespensterglaube hat sich, vielfach ausgebildet, bis auf die Gegenwart erhalten. Von religiöser Bedeutung waren auch die Deutschland sehr im Schwange gehende Zauberei (Hexen), die Beschwörungen, die Gottesurteile etc.
Außer J. Grimm, D. M. (Götting. 1835, 4. Aufl. 1875–78, 3 Bde.), sind zu vergleichen: W. Müller, Geschichte und System der altdeutschen Religion (das. 1844); Wolf, Deutsche Götterlehre (das. 1852); Derselbe, Beiträge zur deutschen Mythologie (das. 1852–57, 2 Tle.); Derselbe, Zeitschrift für d. M. und Sittenkunde (4 Bde., das. 1853–57; Bd. 3 u. 4 hrsg. von Mannhardt); Simrock, Handbuch der deutschen Mythologie (6. Aufl., Bonn 1887); die Arbeiten von Schwartz: „Der heutige Volksglaube und das alte Heidentum“ (2. Aufl., Berl. 1862), „Der Ursprung der Mythologie“ (das. 1860), „Die poetischen Naturanschauungen etc.“ (das. 1864–79, 2 Bde.), „Indogermanischer Volksglaube“ (das. 1884) und „Prähistorische Studien“ (das. 1885), sowie die von Mannhardt: „Germanische Mythen“ (das. 1859), „Die Götter der deutschen und nordischen Völker“ (das. 1860) und „Wald- und Feldkulte“ (das. 1875–1877, 2 Bde.); ferner Rochholtz, Naturmythen (Leipz. 1862); Bratuscheck, Germanische Göttersage (2. Aufl., das. 1878); Wägner, Nordisch-germanische Götter und Helden (2. Aufl., das. 1878); Pfannenschmid, Germanische Erntefeste (Hannov. 1878). Bedeutendes verdankt außerdem die d. M. den mythenvergleichenden Schriften A. Kuhns (z. B. „Herabkunft des Feuers und des Göttertrankes“, Berl. 1859) sowie verschiedenen Abhandlungen in A. Webers „Indischen Studien“, Haupts „Zeitschrift für deutsches Altertum“ und Kuhns „Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung“.