MKL1888:Brief
[417] Brief (v. lat. breve, „kurzes Schriftstück“), schriftliche Mitteilung an abwesende Personen, also dem innern Wesen nach ein Surrogat für das Gespräch. Die Anzahl und Mannigfaltigkeit der Anlässe für briefliche Mitteilungen ist so unbegrenzt, daß eine erschöpfende Klassifikation der Briefe ganz unmöglich ist. Beispielsweise erwähnen wir: Geschäftsbriefe, freundschaftliche Briefe, Liebesbriefe, vertrauliche Briefe, d. h. solche, deren Inhalt nicht für Dritte bestimmt ist (in England meist mit der Überschrift „Private“ versehen oder als „confidential“ bezeichnet); Kondolenzbriefe, welche den Ausdruck der Teilnahme an einem Todesfall oder sonstigen traurigen Ereignis enthalten; Gratulationsbriefe, Ermahnungsbriefe, Geldbriefe, Dankbriefe, Drohbriefe, ostensible Briefe, d. h. solche, die dazu bestimmt sind, andern gezeigt zu werden; Steckbriefe (s. d.) etc. Offener B. (in einigen Fällen Epistel) wird ein für den Druck oder die Öffentlichkeit geschriebener B. genannt, der sich entweder nur der Form nach an eine bestimmte Persönlichkeit wendet, oder einen Angriff auf dieselbe enthält, wie überhaupt die Briefform ihrer Zwanglosigkeit wegen von alters her bei Schriftstellern aller Nationen beliebt ist. Das besondere Wesen des Briefstils beruht in der Natürlichkeit und der an den Charakter des Gesprächs erinnernden Unmittelbarkeit des Gedankenausdrucks. Tritt die schriftliche Mitteilung aus diesem Kreis hinaus, so wird sie, falls sie einen formellen oder amtlichen oder gelehrten Charakter annimmt, zum Schreiben oder Sendschreiben. Regierende Fürsten schreiben als solche keine Briefe an Standesgeringere, sondern erlassen Handschreiben. Kurze Briefe, ohne Beachtung der Briefformen an Personen in der Nähe gerichtet, heißen Billets. Ferner regelt die Kourtoisie alle herkömmlichen Titulaturen und Formeln und bestimmt Format, Zusammenlegung, Kouvert und Siegel des Briefs. Anweisung hierzu findet man in den sogen. Briefstellern oder Briefformularen.
Wenn auch geschichtliche Nachweise fehlen, so ist doch als unstreitig anzusehen, daß man Briefe schrieb, seitdem überhaupt die Schreibkunst bekannt war. Das Material, auf welchem in ältester Zeit geschrieben wurde, bestand in Holz- oder Steintafeln; bei den alten Ägyptern wurde nachweislich Jahrtausende vor Christo die Staude der Papyruspflanze zum Briefschreiben benutzt. Die Kopie eines alten Reliefs aus Benihassan von 2000 v. Chr., welche das Berliner Postmuseum aufbewahrt, zeigt, wie ein Diener dem Chef der Provinz eine Papyrusrolle, den Anmeldebrief asiatischer Einwanderer, überreicht. Inder und Chinesen benutzten schon frühzeitig Palmblätter zum Schreiben; der älteste historische B. soll derjenige sein, den der Inderkönig Strabrobates der Königin Semiramis übersandte. Urkundlich beglaubigt ist ferner die Absendung eines Briefs von David an Joab, den Urias bestellte (2. Sam. 11,14), und bei den Griechen der des Königs Prötos von Argos, welcher dem Bellerophontes an den König von Lykien mitgegeben ward. Aus der Überlieferung im sechsten Gesang der [418] „Ilias“ ergibt sich, daß zu Homers Zeiten, also 800 Jahre v. Chr., bei den Griechen ein B. aus Wachstäfelchen bestand, in welche die Schrift mittels Griffels eingeritzt wurde. Die Täfelchen, aus Holz, Erz oder in späterer Zeit aus Elfenbein bestehend, waren auf den beiden innern Seiten mit Wachs bestrichen und wurden übereinander gelegt, so daß die Schrift vor Verletzung bewahrt war. In dem Berliner Postmuseum sind mehrere dieser Täfelchen (bei den Griechen pinakes und deltoi, bei den Römern pugillares, codicilli oder tabelae genannt) aufbewahrt. Der Verschluß der Täfelchen wurde in der Weise hergestellt, daß man eine Schnur umlegte, diese schürzte und den geschürzten Knoten mit kretischer Siegelerde befestigte, deren Cicero in der Rede pro Flacco ausdrücklich als Briefverschlußmittel erwähnt. Die Schreibgriffel, mit denen man die Buchstaben ritzte, waren von Eisen; später findet man zierlich gearbeitete Bronzegriffel, deren Kopf dazu diente, das Wachs der Täfelchen bei dem Verbessern und Auswischen von Buchstaben besser zu glätten. Als die Berührungen der ägyptischen mit der griechischen und römischen Kultur immer zahlreicher wurden, kam auch der Papyrus ins Ausland und ersetzte die frühern unvollkommnern Briefformen. Im 3. Jahrh. n. Chr. tauchte das Pergament als Schreibstoff auf, und seit 1340 wurde in Europa das jetzige Lumpenpapier zum Briefschreiben verwendet. Von dieser Zeit ab nähert sich die äußere Form der Briefe immer mehr der uns bekannten modernen Form. Während man früher zum Verschließen der Briefe Wachs benutzte, in welchem Siegelringe abgedruckt wurden, kam im 15. Jahrh. Siegellack aus China nach Europa, und das erste Siegel aus Lack findet sich an einem Schreiben aus London von 1554. Im J. 1624 kamen in Speier die Oblaten auf. Seit 1820 benutzt man zum Einlegen der Briefe den Umschlag, das von Brewer in England erfundene Kouvert. Stephan fügte den alten Briefarten als neueste, auf dem Prinzip der Vereinfachung beruhende Briefform die Postkarte hinzu, welche unter den Kulturvölkern binnen kurzem so heimisch geworden ist, daß allein in Europa jetzt alljährlich 800 Mill. Postkarten Verwendung finden. Im J. 1880 kamen auf den Kopf der Bevölkerung in Großbritannien 35,5, in der Schweiz 22, in den Vereinigten Staaten 19, in Deutschland 16,5, in den Niederlanden 15, in Frankreich 13,1, Belgien 12,6, Dänemark 11,1, Luxemburg 11,1, Österreich 9,5, Italien 6,5, Schweden 6,3, Spanien 4,8, Ungarn 4,7, Griechenland 1,8, Rußland 1,2, Türkei 0,3 Briefe.
Das Stilistisch-Formelle des Briefs war bei Griechen und Römern gleich. Bei beiden setzte der Schreiber des Briefs seinen Namen nicht unter den B., sondern in die Überschrift und zwar vor den des Empfängers, z. B. Cicero Attico („Cicero an Atticus“). Die Griechen fügten der Unterschrift meist einen Glückwunsch etc. bei, die Römer dem Namen des Schreibenden und des Empfängers die Angabe der Würde und des Amtes, z. B.: Cicero consul M. Coelio aedili curuli, oder ebenfalls ein Zeichen der Vertraulichkeit, Freundschaft oder Gewogenheit, z. B.: Caius Sempronio suo, humanissimo, optimo, dulcissimo, animae suae etc., oder die Begrüßungsformel: Salutem plurimam dicit (abgekürzt S. P. D., „sagt schönsten Gruß“), oder Salutem dicit (abgekürzt S. D.), oder auch bloß Salutem (S.). Der Eingang des Briefs lautete bei den Römern gewöhnlich: „Si vales, bene est (oder gaudeo), ego valeo“ (abgekürzt S. V. B. E., oder G., E. V.), eine Formel, die in Deutschland in den untern Klassen noch weit verbreitet ist: „Wenn du gesund bist, soll es mich freuen, ich bin gesund“. Der Schluß lautete bei den Römern: Vale, oder Ave, oder Salve, oder Cura, ut valeas etc. („lebe wohl, sei gegrüßt, bleibe gesund“). Bisweilen bemerkte man auch das Datum im B. Seit der Kaiserzeit und besonders am byzantinischen Hofe verließ man allmählich die alte Einfachheit des klassischen Briefs und näherte sich zunächst in Staatsschreiben, Berichten u. dgl. und endlich auch in der Privatmitteilung der Umständlichkeit des neuern Briefstils. Sklaven und Freigelassene besorgten die Abfassung der Briefe und erhielten daher (a manu) den Namen Amanuensis.
Die Brieflitteratur der abendländischen Völker hat sich, insbesondere seit im Mittelalter kirchlicher und sonst amtlicher Verkehr die Korrespondenz wieder erweckt hatten, zu einem Umfang und Reichtum entwickelt, der nicht nur noch der Sichtung und Ordnung harrt, sondern auch noch lange nicht zu Tage gefördert ist, insofern viele für Staaten-, Litteratur- und Kulturgeschichte äußerst wichtige Dokumente noch in Archiven und Handschriftensammlungen der Bibliotheken verborgen liegen. In der griechischen Litteratur unterscheidet man Briefe aus der alten und neuern Zeit, echte und unechte. In den Schulen der griechischen Rhetoren wurden der Übung wegen zahlreiche Briefe abgefaßt, die man geschichtlichen Personen der Vergangenheit unterschob, und solche Übungs- oder Musterstücke sind fast alle früher der griechischen Blütezeit zugeschriebenen Briefe, die auf die Neuzeit herabgekommen sind, nur etwa mit Ausnahme einiger dem Redner Isokrates und dem Philosophen Epikur zugeschriebener Briefe. Solche Fälschungen sind z. B. die angeblichen Briefe des Pythagoras und seiner Anhänger; des Sokrates, seiner Freunde, Schüler und Nachfolger; die Briefe der Pythagoreischen Theano, des Platonikers Chion aus Heraklea, des Themistokles und besonders die durch die kritischen Behandlungen, zu denen sie Anlaß gegeben haben, merkwürdig gewordenen Briefe des Phalaris (vgl. Westermann, De epistolarum scriptoribus graecis, Leipz. 1851–58, 9 Tle.). Sammlungen griechischer Briefe von allerlei Verfassern besorgten: Ald. Manutius (Vened. 1499, 2 Bde.; lat. von Cujacius, Genf 1606), Joach. Camerarius (Tübing. 1540) und Eilh. Lubinus (Heidelb. 1601, 1605). Die neuern griechischen Briefe, aus dem 2. und den folgenden Jahrhunderten nach Christo, rühren zum Teil von den hervorragendsten Schriftstellern einer der Briefform sehr zugeneigten Litteraturperiode her und sind für die Kultur- und Litteraturgeschichte von großer Bedeutung. Unter ihnen sind die von Alkiphron besonders interessant als Sittenschilderungen, dagegen die von Libanios, Julian dem Apostaten und Fronto der darin enthaltenen geschichtlichen Daten wegen wichtig. Eine vollständige kritische Ausgabe der griechischen Briefschreiber (Epistolographen) gab R. Hercher heraus („Epistolographi graeci“, Par. 1873). Die römische Litteratur nennt nur wenige Epistolographen, die aber von desto größerer Bedeutung sind, indem ihre zahlreichen Briefe die Geschichte, Politik, Philosophie und Moral ihrer Zeit in das hellste Licht gesetzt und die Nachwelt nicht nur mit den trefflichsten Mustern der Briefschreibekunst beschenkt, sondern auch mit edlen Persönlichkeiten bekannt gemacht haben. Die große Trias besteht aus Cicero, Plinius und Seneca. Unter dem Einfluß der gesunkenen Zeit leidend erscheinen schon Magnus Ausonius, Symmachus und Sidonius Apollinaris. Im Mittelalter bediente man sich zu brieflichen Mitteilungen [419] in ganz Europa meist der lateinischen Sprache. Auch als in der Zeit der beginnenden Renaissance das Briefschreiben wieder als Kunst gepflegt wurde, behielt man zunächst die lateinische Sprache allgemein bei, so der Italiener Petrarca in seinen berühmten Briefen, und noch fast alle Humanisten des 16. Jahrh., wie z. B. Erasmus von Rotterdam, Konrad Celtes, Melanchthon, Scaliger, Lipsius, Casaubonus u. a., schrieben lateinisch. Auch die berühmten „Epistolae obscurorum virorum“ (s. d.) sind lateinisch geschrieben; dagegen bediente sich Luther in seinen Briefen der deutschen Sprache, wie ja überhaupt in ganz Europa durch die Reformation die Herrschaft des Latein gebrochen wurde.
Die Anfänge des italienischen Briefstils können nicht als Muster gelten; Bembo und de la Casa lieferten gedankenarme und überkünstelte Arbeiten, und die große Schar ihrer nächsten Nachfolger bildete die zur Manier gemachte Unnatur immer weiter aus. Erst Annibale Caro, Manuzio, L. Dolce, Bentivoglio, P. Aretino, Bern. Tasso näherten sich dem einfachen und korrekten Stil des eigentlichen Briefs, und noch mehr geschah dies von Gozzi, Algarotti, Metastasio, Ugo Foscolo und den jüngern Italienern. Eine für seine Zeit wichtige Sammlung veranstaltete P. Manutius: „Lettere volgari di diversi nobilissimi uomini“ (Vened. 1542–64, 3 Bde.); für die neuere Zeit sind die „Lettere di varii illustri Italiani del secolo XVIII. e XIX.“ (Reggio 1841, 10 Bde.) zu erwähnen. Die Spanier besitzen in Ochoas „Epistolario español. Coleccion de cartas de Españoles ilustres“ (Madr. 1872, Bd. 1 u. 2) eine Sammlung ihres Briefschatzes. Die Franzosen, deren hohe gesellige Bildung den feinen und dabei ungezwungenen Briefton begünstigte, haben in diesem Genre Vortreffliches produziert. Am berühmtesten sind die Briefe von Rabelais, Pasquier, Patin, Pascal, Bellegarde, die der Marquise von Sévigné an ihre Tochter, die von Fontenelle, d’Argens, Montesquieu, Voltaire, Crébillon, die der Marquise Dudeffand, der Frau v. Graffigny, der Ninon de Lenclos und des ältern Racine, ferner die Briefe von Rousseau, Diderot, d’Alembert, Boursault und seiner Geliebten Babet, der Frau v. Maintenon, Frau v. Staël, die von Napoleon I. und Josephine, von L. Courier, Madame de Rémusat, Mérimée, George Sand u. a. Vgl. Crêpet, Trésor épistolaire de la France (Par. 1865, 2 Bde.). Noch wertvoller als die französischen sind die Briefe der Engländer. Mit germanischer Gründlichkeit und lachendem Humor ausgerüstet, wußte der englische Schriftsteller schon lange, ehe der deutsche Geist den steifen Zopf hat lüften können, mit gehaltvoller Belehrung Anmut und Frohsinn zu verbinden. Die Briefe eines Swift, Pope, Hughes, James Howell, Sir Will. Temple, Addison, Locke, Bolingbroke, Horace Walpole, Chesterfield, Shaftesbury, Richardson, dann der Lady Rachel Russell, Lady Mary Montague, die von Sterne, Gray, Johnson, W. Melmoth, Cowper, Lord Byron, Sydney Smith, Walter Scott, Th. Arnold, Charlotte Bronté u. a. sind zum großen Teil Erzeugnisse von klassischem Ruf, ebenso die sogen. Juniusbriefe (s. d.), welche großes Aufsehen erregten. Vgl. die Sammlungen: „Epistles elegant, familiar and instructive“ (Lond. 1791); „Letters written by eminent persons in the XVII. and XVIII. centuries“ (das. 1813, 3 Bde.) und Scoones, Four centuries of English letters (2. Aufl., das. 1881).
Später als alle übrigen Völker gelangte der Deutsche zu einem natürlichen und selbständigen Briefstil. Als nach der Verfallzeit des Dreißigjährigen Kriegs gegen Ende des 17. Jahrh. in Deutschland das Deutschschreiben wieder in die Mode kam, suchte man in wunderlichen Anweisungen zum Briefschreiben, den sogen. Briefstellern, eine Theorie des Briefstils zu begründen, indem man den dürren Kanzleistil mit den glatten französischen Wörtern und Floskeln spickte. Zu diesen Briefstellern gehören: die „Neu-Aufgerichtete Liebes-Cammer“ (1679), Tobias Schröters „Sonderbares Briefschränklein“ (Leipz. 1690), Talanders (Bohses) „Gründliche Anleitung zu deutschen Briefen, nach den Hauptregeln der deutschen Sprache“ (Jena 1700). Die Genannten nebst Neukirch, Menantes (Hunold) und Junker sowie Lünigs „Curiöses Hof- und Staatsschreiben und wohlstilisierte neue Briefe“ blieben bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts die einzigen Führer zu geschmackvoller Korrespondenz. Die erste bessere Erscheinung, die in dieses trostlose Treiben tritt, ist ein Weib, Gottscheds Gattin. Mit besserm Geschmack und feinerm Takt als ihr Gemahl begabt, scheute sie vor der Verzerrtheit der damaligen Sprache zurück und entfaltete in ihren Briefen alle Anmut edler Weiblichkeit. Neben ihr erhob sich als eine gleichstrebende und gleich weibliche litterarische Erscheinung Gellert, welcher 1751 mit seiner „Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen“ (als Einleitung in die Sammlung seiner Briefe) hervortrat. Ein dritter redlicher Helfer war Stockhausen durch seine „Grundsätze wohleingerichteter Briefe“ (Helmstedt 1763). Seit dieser Zeit fanden allmählich bessere Muster, zumal englische, in Deutschland Eingang; gute Übersetzer und tüchtige Schriftsteller reinigten die entwürdigte Sprache von den fremden Schlacken, die deutschen Rhetoriker und Stilisten öffneten dem B. einen breiten Raum in ihren Lehrbüchern (Ernesti, Maaß, Adelung, Moritz, Pölitz etc.), und der Roman, der jetzt häufig in Briefform erschien, brachte die geläuterten Formen der Sprache ins große Publikum. Wie rasch seit der Frau Gottsched die Umwandlung der eben noch zwischen ungelenker, pedantischer Galanterie und zeremoniöser Steifheit schwankenden Sprache vor sich ging, ist mit einer Reihe von Namen dargethan: Lessing, Winckelmann, Klopstock, Herder, Rabener, Weiße, Garve, Sturz, Gleim, Abbt, Kant, Bürger, Lichtenberg, Joh. v. Müller, Matthisson, Hagedorn, Bodmer, Zollikofer, Geßner, Heinse, Wieland, Forster, Zimmermann, M. Mendelssohn, Fr. Heinr. Jacobi, v. Bonstetten, J. H. Voß, Jean Paul, v. Knebel, W. und A. v. Humboldt, Goethe, Schiller, Merck, Zelter, Karoline v. Wolzogen, Bettina (v. Arnim), Rahel (Frau v. Varnhagen), Gentz, J. Grimm, Börne, H. Heine, Fr. v. Raumer, F. Mendelssohn etc., eine Namenliste, die sich leicht verdoppeln und verdreifachen ließe und für den Reichtum der deutschen Brieflitteratur zeugen mag.
Sehr reich ist auch die epistolarische Litteratur des Morgenlandes. Die Briefsammlungen machen als „Inscha“ eine Hauptabteilung der mohammedanischen Litteratur aus, welche sich wieder in mehrere Unterabteilungen gliedert, unter denen besonders der abhandelnde Brief (risâle) reich entwickelt ist. Die berühmtern und wichtigern Sammlungen sind im Arabischen die von Ahmed el Attar (Bulak 1835), im Persischen die von dem Wesir und Dichter Mir Alischir; besonders geschätzt sind die Briefmuster Dschamis und Mir Alischirs, dann die von Saib, Ibnjemin und Mir Chosru. Unter den spätern Briefsammlungen zeichnet sich das „Inscha“ Abul Fazls von dem Großwesir des Großmoguls Mohammed [420] Akbar vor allen andern aus. Noch mehr als Araber und Perser haben die Türken die Briefstellerkunst ausgebildet, und ihre Briefsammlungen sind weit zahlreicher. Selbst Staatsmänner vom höchsten Rang zeichneten sich als kunstgeübte Briefsteller aus. Aus der frühern Zeit gelten als Muster die Briefe von dem Großwesir Mahmud Pascha, dem Wesir Mir Alischir, von Ahmed Kemalpaschasade und den Gebrüdern Dschelalsade, von den Dichtern Messihi, Sekaji, Lami und Latifi. Die Blüte der türkischen Briefstellerkunst fällt in das 17. Jahrh., wo die Muftis Jahja und Essad die talentvollen Briefschreiber zu Ämtern und Würden beförderten. Unter der großen Schar damaliger Briefsteller stellt der Bibliograph Hadschi Chalfa den Kerim Tschelebi obenan, andre den Nerkisfi. Der jüngste große Briefsteller der Türken war Aasim Ismael Efendi, der Mufti (gest. 1759). Für die Geschichte wichtig sind die „Munschaât humajun“, eine Sammlung wirklicher Geschäftsschreiben der türkischen Sultane an morgenländische und abendländische Herrscher und Wesire.
Die Blütezeit des Briefschreibens, als Kunst angesehen, ist heutzutage, wenigstens in der ganzen abendländischen Kulturwelt, wohl vorüber. Durch die enormen Erleichterungen des schriftlichen und mündlichen Verkehrs, welche die Eisenbahnen, Telegraphen und Dampfschiffe und die Entwickelung des Postwesens herbeigeführt haben, hat sich die Anzahl der Briefe in riesigem Maßstab vermehrt, aber sowohl der Umfang als die künstlerische Form der Briefe einen auffallenden Rückgang erfahren. Während man früher, um an Porto zu sparen, selten, aber dafür desto ausführlicher schrieb, ist bei einem Telegramm oder in einer Postkarte das Hauptstreben auf Kürze gerichtet. Anderseits bietet heutzutage für gelehrte oder ästhetische Abhandlungen, die sich früher in einem wissenschaftlichen oder schöngeistigen Briefwechsel bergen mußten, die so reich entwickelte periodische Presse eine Stelle, an der sie zu allgemeiner Geltung gelangen. Das „Wohlgeboren“ und andre pedantische Titulaturen und Formeln, die früher den Briefverkehr belasteten, sind im Verschwinden begriffen, und fast allgemein unterscheiden sich die heutigen Briefe von den frühern durch „mehr Inhalt, weniger Kunst“.
Brief (B) auf Kurszetteln bedeutet s. v. w. angeboten zu dem dabei bemerkten Preis, im Gegensatz zu Geld (G), d. h. gesucht. „Rumänier 90 B“ bedeutet, daß dies Effekt zu dem bezeichneten Kurs offeriert blieb, der wirkliche Preis, zu welchem die Abschlüsse gemacht werden, also niedriger ist, und zwar bleibt letzterer gewöhnlich etwa 1/8 oder ¼ Proz. (bei Notierung nach Stücken auch wohl um ½ Proz.) hinter dem Briefkurs zurück. Neuerdings ist jedoch an den deutschen Börsen der Buchstabe B durch P ersetzt worden, was als „Papier“ aufgelöst wird, aber dieselbe Bedeutung hat wie das früher übliche B. – Zuweilen bedeutet B. auch s. v. w. Wechsel, z. B. Briefe von der Hand, s. v. w. Wechsel, die der Verkäufer selbst ausstellt; gemachte Briefe (gemachte Papiere), s. v. w. Wechsel, die nicht vom Verkäufer ausgestellt, also schon in mehreren Händen gewesen sind.
[124] Brief. (Geschichte des Briefes in Deutschland.) In Deutschland war wie in den übrigen Ländern Europas die Briefsprache im Mittelalter lateinisch. In den Klöstern und überhaupt von Geistlichen wurde das Briefschreiben eifrig betrieben, in den Klosterschulen die Briefschreibekunst sehr gepflegt. Die Geistlichen besorgten in jener Zeit auch in den weltlichen Dingen alle Schreibereien und leiteten namentlich die Kanzleien der Großen. Hier kam es wesentlich auf die Beherrschung der Formen und Formeln an. Es kamen da dem Unterricht frühzeitig Mustersammlungen zu Hilfe, in denen Muster für den geschäftlichen und rechtlichen Verkehr enthalten waren. B. und Urkunde sind darin nichts geschieden; die Kunst, sie abzufassen, hieß die ars dictandi. In Italien war sie ausgebildet worden, man hatte eine Theorie geschaffen (namentlich Alberich von Monte Cassino), und den welschen Vorbildern folgte Deutschland nach. Der Gebrauch der lateinischen Sprache dauerte im Briefverkehr fast das ganze Mittelalter hindurch an. Indessen tauchen doch auch früh Spuren eines Briefverkehrs in deutscher Sprache auf. Das Minnezeitalter widmete dem B., dem Vermittler nicht nur der Geschäfte, sondern auch der Liebe, eine besondere Pflege. Dieser Briefverkehr war deutsch, und zwar in der Regel poetisch. Hin und wieder begegnen uns aber auch deutsche Briefe in Prosa. Im 14. Jahrh. treten uns dann sogar Briefe in deutscher Prosa entgegen, die eine große Beherrschung der Sprache zeigen. Es sind dies die Briefe der deutschen Mystiker, die in ihrer Vollendung aber ganz und gar Ausnahmen sind. Die Regel blieb aber auch in dieser Zeit der lateinische B. Erst als im öffentlichen Verkehr die deutsche Sprache überhaupt mehr und mehr durchdrang, begann auch der allgemeine Briefverkehr, dessen Charakter in jener Zeit durchaus ein geschäftlicher war, allmählich in deutscher Sprache geführt zu werden. Aber der deutsche B. entstand durchaus aus dem lateinischen. Oft wechselten beide Sprachen in demselben Briefe miteinander ab. Adresse, Anrede, Datum waren auch in sonst deutschen Briefen häufig lateinisch. Im 15. Jahrh. wird der deutsche B. endlich die Regel.
Das Pergament wurde in dieser Zeit von dem Papier fast ganz verdrängt, das Format war sehr groß. Der B. wurde aber in der Regel sehr klein zusammengefaltet und oft mit Fäden zur Sicherung durchzogen. Die Adresse war sehr umständlich, namentlich die Titel und Zusätze äußerst ausgedehnt. Regelmäßig stand am Anfange des Briefes der Gruß oder die Diensterbietung; danach folgte die lange Anrede; am Schluß stand eine Empfehlung in Gottes Schutz oder abermals eine Diensterbietung. Auch sonst finden wir bestimmte Formeln, wie denn überhaupt der B. durchaus etwas Schematisches hat und der Stil dem entsprechend höchst ungeschickt und schwerfällig und wesentlich Kanzleistil ist.
Der B. diente in jener Zeit der politischen Berichterstattung und besonders dem kaufmännischen Verkehr, dagegen dem geselligen, geistigen und freundschaftlichen Verkehr wenig. Das änderte sich allmählich im 15. Jahrh. Einerseits ist ein bedeutender Stilfortschritt erkennbar (z. B. in den Briefen des Albrecht Achilles und seiner Gemahlin), und der schwerfällige Kanzleistil unterscheidet sich schon von dem leichten Stil der Privatbriefe, anderseits verliert der B. mehr und mehr den rein geschäftlichen Charakter. Im 15. Jahrh. begannen auch die Briefsteller, d. h. Formelsammlungen, deutsch abgefaßt zu werden. Die bekanntesten sind das Augsburger „Formalari“ und Riedrers „Spiegel der waren Rhetoric“; spätere Verfasser von Briefstellern sind Frangk und Fabri von Höningen.
Im ausgehenden Mittelalter pflegte man den eigentlichen Briefen kleine Zettel (von cedula) beizugeben oder in diese einzuschließen. Der Ursprung der Sitte ist dunkel, man hat sie aus der Unsicherheit der Beförderung entwickeln wollen, aber ohne besondern [125] Grund. Im ganzen sind sie den Nachschriften völlig gleich. Im 15. Jahrh. wird der Gebrauch der Zettel immer häufiger, namentlich im politischen Verkehr. Oft finden sich mehrere Zettel nebeneinander. Sie enthielten oft wichtigere Nachrichten als der Brief selbst. Übrigens war der Gebrauch der Zettel keineswegs ungehörig; man konnte sie z. B. Briefen an hohe Herren beischließen. Im 16. Jahrh. war der Gebrauch, namentlich in den Kanzleien, am stärksten, im 17. nimmt er allmählich ab.
Den Höhepunkt der aufsteigenden Entwickelung bezeichnet Luther, dessen deutsche Briefe wahrhaft klassisch genannt werden dürfen. Aber den fernern erfreulichen Fortschritt hinderten einmal die Wiederbelebung des lateinischen Briefes durch die Humanisten, anderseits das immer stärkere Überwuchern des Kanzleistils, von dessen Einfluß man sich kaum befreit hatte. Jenes Moment hatte nicht nur zur Folge, daß die Gelehrten und Geistlichen fortan wieder fast ausschließlich lateinisch schrieben, sondern veranlaßte auch eine Sucht, auch in deutschen Briefen überall lateinische Worte und Floskeln anzubringen: die ersten Anfänge des Fremdwörterunwesens. Dies führte zu einer gesuchten Weitschweifigkeit und künstlichen Umständlichkeit, die allmählich jeden natürlichen Ausdruck erstickte. Der volkstümlich freie und natürliche Stil findet sich noch oft genug in den Privatbriefen des 16. Jahrh., aber er geht doch langsam verloren. Der gesellige Briefverkehr freilich, die Quantität und die Häufigkeit der Briefe nimmt in dieser Zeit sehr zu, wie auch in politischer Beziehung eine ungemeine Schreibthätigteit sich entfaltet.
Mit dem 17. Jahrh. tritt dann eine immer unerfreulichere Entwickelung hervor. Die Sprache der Briefe ist entweder überhaupt nicht deutsch oder arg mit Fremdwörtern durchsetzt; der Ton zeigt nicht mehr Natürlichkeit und Volkstümlichkeit, sondern steife Künstlichkeit und zierliche Phrasenhaftigkeit; es beginnt außerdem das Zeitalter der servilen Komplimente; der Geist ist durch und durch unwahr. Dabei steigert sich der Briefverkehr, den neuern Interessen und Verhältnissen entsprechend, immer mehr. Am meisten fällt zunächst die Wandlung der Sprache, die Ausländerei, auf. Eine große Zahl der deutschen Briefschreiber schrieb überhaupt nicht mehr deutsch, sondern die Gelehrten schrieben lateinisch und die Vornehmen und alles, was so aussehen wollte, französisch, denn Frankreich begann das Ideal zu werden. Die deutschen Briefe aber wurden in jener französisch-lateinisch-deutschen Mischsprache abgefaßt, die schon damals heftige, freilich durchaus vergebliche Opposition erregte. Um 1700 gab es rein deutsche Briefe überhaupt nicht mehr. Beispielsweise waren Adresse, Anrede und Unterschrift auch in deutschen Briefen in der Regel französisch. Der Stil steht unter dem Zeichen des Schwulstes, jener blumen- und bilderreichen Sprache, die sich keineswegs bloß auf die poetische Litteratur beschränkt. Ungeheures Gewicht wurde sodann in dieser Zeit auf Formalien, Titel und Zeremonien gelegt, ein allgemeines Avancement im Titel fand statt. Man sah es ferner auf eine servile Höflichkeit ab; charakteristisch sind namentlich die Eingänge der Briefe, die von überhöflichen Entschuldigungen strotzen. Überhaupt that man in eigner Erniedrigung und Erhebung des andern das Menschenmögliche; geradezu widerlich sind z. B. die Bittschreiben (vgl. Titelunwesen, Bd. 17, S. 800). Gewisse Ausnahmen sind freilich nicht zu verkennen. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts bewahren einzelne eine natürliche Schreibart, wenn sie auch der Fremdwörterei verfallen. Als solche bessern Briefschreiber sind unter andern Wallenstein und Karl Ludwig von der Pfalz zu nennen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts konnte man sich vor dem allgemeinen Schwulst höchstens durch eine gewisse Mäßigung und Nüchternheit auszeichnen. Dagegen haben die Frauen fast durchweg Natürlichkeit, die freilich oft mit Ungeschicklichkeit verbunden ist, bewahrt. Namentlich ragen die Briefe Lise Lottes, der pfälzischen Fürstentochter und spätern Herzogin von Orléans, außerordentlich hervor, zumal in ihnen zum erstenmal ein außerordentliches Plaudertalent, das in französischen Briefen längst allgemein war, sich zeigt.
Der Briefverkehr nimmt in diesem Jahrhundert außerordentlich zu. Das Briefgeheimnis wird freilich damals durchweg und ohne Scheu verletzt, und man wandte daher besondere Vorsicht bei der Beförderung namentlich von politischen Briefen an (Chiffern). Vielfach vertritt der B. auch die Stelle der Zeitung, so namentlich im politischen Verkehr, aber auch in demjenigen der Gelehrten, der Kaufleute und der Privaten. Es war daher in jener Zeit auch besonders wichtig, möglichst große Korrespondenz zu haben. Man drängte sich aber zu solcher Korrespondenz mit einflußreichen Leuten namentlich, um persönliche Vorteile daraus zu ziehen. So findet man zahlreich die Anwerbungsschreiben, überhöfliche Anerbietungen der Korrespondenz. Sehr beliebt sind auch die Grußbriefe. So werden im allgemeinen damals freundschaftliche Briefe (im 16. Jahrh. nannte man sie Gesellenbrieflein) überhaupt bezeichnet, im speziellen aber gänzlich inhaltlose Schreiben, die nur um der Korrespondenz willen da sind. Die streberhafte, servile Zeit vermehrte auch die Zahl der Gelegenheitsschreiben, der Glückwünsche zu allen möglichen Gelegenheiten, der Kondolenzbriefe, der Dankesschreiben außerordentlich. Sehr bezeichnend sind auch die Rekommandationsbriefe und die Bitten um solche, die Interzessionsschreiben und die Dedikationen. Anderseits ist aber die Steigerung des Briefverkehrs auch auf ein größeres Bedürfnis freundlichen Umganges zurückzuführen, und es entwickeln sich die Anfänge einer Briefliebhaberei, die wesentlich durch den Einfluß Frankreichs, wo die Briefstellerei längst ein Hauptinteresse der Gesellschaft geworden war, befördert wurde. Ein Beispiel fast übergroßer Korrespondenz bietet wieder Lise Lotte von der Pfalz. Wichtig ist auch der sich gegen Ausgang des Jahrhunderts entwickelnde Briefverkehr der Pietisten als Vorläufer der spätern empfindsamen Briefwechselei. Die Briefsteller dieses Jahrhunderts repräsentieren eine äußerst zahlreiche Litteraturgattung. Wesentlich ist, daß sie sich von dem juristisch-notariellen Element im großen und ganzen frei machen und vorzugsweise sprachlich-stilistische Werke, und zwar meist überaus umfangreiche werden. Sie entlehnten ihren Stoff in der Regel französischen und italienischen Werken, z. B. dem Persiko, Loredano und de la Serre. Am meisten wurden wohl der „Teutsche Secretarius“ von Harsdörfer und die „Teutsche Secretariatkunst von dem Spahten“ (Kaspar Stieler) benutzt. Gegen Ausgang des Jahrhunderts kamen die nach französischem Muster und durchweg in jener deutsch-französischen Mischsprache abgefaßten galanten Briefsteller auf und schossen bald wie Pilze aus der Erde. Über den Arbeiten der Schmierer, wie August Bohse (Talander) und Hunold (Menantes) stehen Christian Weises „Curiöse Gedanken [126] von deutschen Briefen“ und andre Werke, obgleich sie ebensowenig wie die spätern Schriften Benjamin Neukirchs einen wirklichen Fortschritt bedeuten. Das Äußere des Briefes verändert sich in dieser Epoche insofern, als der Gruß am Anfang allmählich abkommt und nur die Anrede gesetzt wird; als Pronomen der Anrede tritt jetzt das Sie auf; die Empfehlung in Gottes Schutz weicht höflichen Komplimenten, die meist mit der Unterschrift verbunden sind; das Datum, das früher nur unter dem Brief stand, wird jetzt auch oft zu Anfang gesetzt. Das Papier wird feiner, das große Format wird für offizielle Schreiben gebraucht, sonst ist ein Quartformat üblich. Als Verschlußmittel kommt statt des Wachses der Siegellack auf.
Die notwendige Besserung des Briefstiles trat erst im zweiten Drittel des 18. Jahrh. im Zusammenhang mit der durchgreifenden Änderung im ganzen Geistesleben der Nation ein. Eine neue gebildete und natürliche Sprache beginnt in den Briefen zu herrschen, als erste Repräsentantin dieses neuen Stiles darf die Jungfer Kulmus, die spätere Frau Gottsched, angesehen werden. Um die Mitte des Jahrhunderts wird dann auch theoretisch eine Reform verfochten. Gellert trat 1751 mit einer Sammlung wirklich geschriebener Briefe hervor, der er eine „Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“ voranschickte; die „Grundsätze wohleingerichteter Briefe“ von Stockhausen kommen daneben nicht in Betracht. Gellert drang vor allen Dingen auf eine natürliche Schreibart, und in seinem reichen Briewerkehr suchte er sie auch zu bethätigen. Sein Beispiel wirkte auch ungemein; die Gellertsche Schreibart (neben ihm ist noch Rabener zu nennen) war bald die Schreibart des ganzen gebildeten Publikums. Sie war leicht und gefällig, vor allen Dingen ohne Fremdwörter, aber doch noch weitschweifig, wässerig und oft affektiert. Die Unsitte der französischen Briefe blieb in den vornehmen Kreisen freilich noch lange bestehen; die Adressen, auch der deutschen Briefe, blieben bis in unser Jahrhundert in der Regel französisch. Dagegen geht die lateinische Korrespondenz der Gelehrten sehr zurück. In eine neue Phase trat die Entwickelung des deutschen Briefstiles in der Sturm- und Drangperiode. Man sprach von Gellertschem Gewäsch und suchte das Prinzip der Natürlichkeit in äußerster Übertreibung durchzuführen. Formlosigkeit, Lakonismus, Derbheit, oft dialektische Schreibweise charakterisieren die Briefe der jungen Leute. Am meisten änderte aber den Stil der seit langem vorbereitete Durchbruch des Gefühlslebens. Für die Aufgeregtheit des Stiles sind die zahlreichen Ausruf- und Fragezeichen bemerkenswert. Die übertriebene Empfindsamkeit änderte auch Ton und Inhalt der Briefe. Sie sollten ein Abdruck der Seele sein; nur Briefe voll Empfindung und Gefühl schienen den damaligen Menschen die rechten Briefe zu sein. Wertvoll ist aber die neue Entwickelung namentlich dadurch, daß jetzt eine vollendete Individualität des Briefstiles erreicht ist. Hervorragend individuelle Briefschreiber sind Lessing, Merck, Claudius, Lichtenberg, Lavater, Goethe. Nachdem sich das aufgeregte Treiben beruhigt hatte, zeigt sich der deutsche B. so auf seiner Höhe. Ganz ausgezeichnete Briefe stammen namentlich von Frauen; Beispiele bieten diejenigen Eva Königs, Charlotte Schillers und die der originellen Frau Rath, der Mutter Goethes. Gleichzeitig gelangt der Briefverkehr zu einer neuen Steigerung. Das 18. Jahrh. ist das Jahrhundert des Briefes; es wird ein wahrer Briefkultus getrieben. Überall treffen wir fleißige Briefschreiber, dabei werden die Briefe selbst ungeheuer lang; bei manchen ist eine wahre Briefwut zu erkennen. Der freundschaftliche Briefverkehr namentlich ist geradezu ein allgemeines Lebensbedürfnis geworden; man sucht überall Korrespondenten. Oft kennen sich langjährige Brieffreunde gar nicht persönlich.
Briefe wurden ein wichtiges Dokument zur Beurteilung der Menschen, nach Briefen verliebte man sich sogar. Man gab sich daher außerordentliche Mühe, da man sich gewöhnte, jeden B., auch von unbekannten Absendern, zu kritisieren. Das führte teilweise zu einer Effektschreiberei. Um die Briefe hervorragender Leute mühle man sich sehr; sie wurden oft massenhaft, z. B. diejenigen Gellerts, durch Abschriften, oft auch durch den Druck verbreitet.
Das Äußere der Briefe änderte sich auch in dieser Epoche. Das Papier wird feiner, das Format ist in der Regel Quart. Umschläge (Kouverts) kommen häufiger als früher vor, doch blieb das Falten der Briefe noch bis zur Mitte unsers Jahrhunderts eine Kunst, die jeder lernen mußte. Die Adresse ist einfach und kurz geworden, ohne die früher üblichen langen Zusätze.
Die Art der Briefe des 18. Jahrh. dauerte bis in die 40er Jahre unsers Jahrhunderts. Die langen Briefergüsse blieben beliebt, ebenso die Offenheit und Traulichkeit des persönlichen Verkehrs. Empfindung und Geist suchte jeder in seine Briefe hineinzulegen. Seit 1848 trat dann eine starke Änderung ein. Der Umschwung im Verkehrsleben, die rasche Verbindung durch Eisenbahnen, Dampfschiffe und Telegraphen, die rastlose Geschäftigkeit der Neuzeit beeinflußte den Briefverkehr. Kürze wird die Seele des Briefes. Unsre Zeit charakterisiert die Postkarte mit ihrer Kürze und Bequemlichkeit. Charakteristisch ist sie namentlich auch als Ausdruck dafür, wie wir aus unsern Briefen immer mehr die früher so wertvollen Äußerlichkeiten und Formalien verbannen. Die Postkarte wieder wird übertroffen durch das Telegramm. Die einfache Vergleichung eines Glückwunschtelegramms und eines Glückwunschbriefes aus dem 17. oder 18. Jahrh. zeigt, wie sehr sich die Zeit geändert hat. Vgl. Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes (Berl. 1889–91, 2 Bde.).
Sobald die Briefschreibekunst eine besondere Pflege genießt, bemächtigt sich auch die Litteratur der Briefform, um beliebige Stoffe zwanglos zu behandeln. Bei den Griechen der spätern Zeit sind fingierte Briefe, zumal die Sophistik diese Form sehr bevorzugte, nicht selten. Der Rhetor Lesbonax, der zur Zeit des Kaisers Augustus lebte, verfaßte erotische Briefe. Später schrieb Melesermos aus Athen 14 Bücher Hetärenbriefe, ferner Briefe von Landleuten etc. Von Alkiphron existieren Briefe von Fischern, Landleuten, Hetären, die ein treffliches Bild des damaligen Lebens in Athen geben. In den erotischen Briefen des Aristänetos tritt die Briefform fast ganz zurück. Übrigens lieben es die griechischen Romanschreiber, Briefe häufig in ihre Romane einzufügen. Bei den Römern findet man zunächst den didaktischen, poetischen B. Am meisten ragen des Horaz Episteln und des Ovid Heroiden und Tristien hervor. Auch Lucilius und Catull verwenden die Form hin und wieder. In prosaischen fingierten Briefen wurden ebenfalls mannigfache Stoffe behandelt. Lehrhafte Tendenz haben Catos Briefe an seinen Sohn; in Briefform wurden ferner juristische, medizinische, politische und litterarische Gegenstände behandelt. Die Verwendung der Briefform zu didaktischen [127] Zwecken findet sich auch im Mittelalter. Meist ist die Form eine poetische. Daneben bemächtigte sich auch die Minnepoesie früh der Briefform, um die wechselnden Liebesthemata darin zu behandeln. Die extremste Art dieser künstlichen Verwendung zeigen die sogen. Büchlein. In neuerer Zeit nimmt die Briefform in der Litteratur eine große Stelle ein. Im 16. und 17. Jahrh. handelte man gern politische Themata in fingierten Briefen ab, die als Flugschriften verbreitet wurden (am berühmtesten die „Epistolae obscurorum virorum“). Zu didaktischen Zwecken wird die Briefform zuerst wieder von dem Spanier Antonio Perez, der 1611 starb, verwandt. Von Franzosen ist Cyrano de Bergerac zu nennen. In Deutschland zeigt die Mode schon Harsdörfer, der in seinem „Teutschen Secretarius“ „nachsinnige juristische, historische und philosophische Briefe“ bringt. Im 18. Jahrh. wurde diese Form für die abhandelnde Prosa überaus häufig. Einen regen Anstoß dazu mögen auch Montesquieus „Lettres persanes“ gegeben haben. Von deutschen Schriften seien nur angeführt Bodmers Briefwechsel von der Natur des poetischen Geschmacks, Breitingers kritischer B., die Litteraturbriefe, Schillers B. über die ästhetische Erziehung des Menschen, Herders Briefe, das Studium der Theologie betreffend, und Briefe über Horaz, Sulzers Briefe von der Freundschaft, Goethes Briefe aus der Schweiz etc. Alle möglichen Themata werden in Briefen abgehandelt (Briefe eines Arztes an seinen Freund, forstwirtschaftliche Briefe, Briefe über das Blatterbelzen), und noch heute ist die Form sehr beliebt. Briefe in Versen sind in neuerer Zeit namentlich in Frankreich beliebt gewesen. In Deutschland erregten zuerst Hoffmann von Hoffmannswaldaus Heldenbriefe Aufsehen; nach seinem Vorgang wurde die Form der Heldenbriefe eifrig gepflegt. Nach französischem Vorgang bevorzugte dann die galante Lyrik die Briefform (z. B. Benjamin Neukirchs galante Briefe und Gedichte). Besonders gebräuchlich war sie für Gratulations- und Trauergedichte. Das Versmaß war in der Regel der Alexandriner. Von spätern poetischen Briefen seien zunächst die moralischen Briefe genannt (Wielands „Moralische Briefe“, angeregt durch die „Épîtres diverses“ von v. Bar). Weiter mögen dann die poetischen Episteln der Halberstädter, namentlich von Michaelis, der sich Horaz und Pope zum Muster nahm, genannt sein. Auch Goethe schrieb poetische Episteln. Die Briefform wurde ferner in der satirischen Dichtung gebraucht (Rabeners satirische Briefe) und diente auch nicht selten als Angriffswaffe in der Politik („Juniusbriefe“). Endlich ist der Roman in Briefen anzuführen. In England schrieb solche zuerst Richardson („Pamela“, „Clarissa Harlowe“, „Sir Charles Grandison“), in Frankreich später Rousseau „Nouvelle Héloïse“. Richardson rief in Deutschland „Grandison den Zweiten“, von Musäus, und „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen“, von Hermes, hervor. Er ist auch Muster für Sophie La Roches „Geschichte des Fräulein von Sternheim“, für Knigges „Geschichte des armen Herrn von Mildenburg“ u. a. Rousseauscher Einfluß macht sich dagegen mehr in dem bedeutendsten deutschen Roman in Briefen, in Goethes „Leiden des jungen Werther“ geltend. Der Werther hatte viele andre Romane in Briefen zur Folge. Auch später blieb die Form beliebt (Tiecks „William Lowell“).