MKL1888:Briefgeheimnis
[420] Briefgeheimnis, die Unzulässigkeit des Erbrechens oder des Unterdrückens von Briefen und andern verschlossenen Dokumenten. Diese Unzulässigkeit ergibt sich schon aus dem Eigentumsrecht, welches dem Absender und demnächst dem Empfänger an dem Brief zusteht. Die Notwendigkeit des Briefgeheimnisses folgt aber auch aus dem Wesen der Post als einer öffentlichen Verkehrsanstalt, welche ihre Zwecke nicht im vollen Umfang würde erfüllen können, wenn nicht den Absendern die Überzeugung gegeben wäre, daß die von ihnen der Post anvertrauten Briefe vor neugieriger und unbefugter Erspähung geschützt in die Hände der Empfänger gelangen. Wenn einerseits das B. als ein Gebot der öffentlichen Moral erscheint, so ist es anderseits nicht zu verkennen, daß der Briefverkehr oft schwere Verbrechen und gefährliche Umtriebe gegen die Sicherheit des Staats und seiner Bürger vermittelt, und daß es nicht angemessen wäre, würde sich eine dem Gemeinwohl gewidmete Anstalt zur Förderung eines verbrecherischen Treibens hergeben. Die Geschichte hat aus frühern Jahrhunderten und Jahrzehnten manche Sünden der Regierenden hinsichtlich der Wahrnehmung des Briefgeheimnisses zu verzeichnen. Namentlich ist in der Zeit des ersten französischen Kaiserreichs die heimliche Eröffnung der Privatkorrespondenz in sogen. „schwarzen Kabinetten“ zu einem politischen System herangebildet gewesen. Selbst in dem freien England kam noch 1844 eine Verletzung des Briefgeheimnisses zu politischen Zwecken vor, indem auf Anordnung des Staatssekretärs des Innern, Graham, Mazzinis Briefe zum Zweck der Mitteilung an kontinentale Regierungen heimlich geöffnet wurden. Wie sich aus der Beantwortung einer Interpellation des irischen Abgeordneten Sullivan in der Sitzung des englischen Unterhauses vom 14. Febr. 1881 durch den Staatssekretär des Innern, Harcourt, ergibt, besteht übrigens in Großbritannien noch heutzutage ein unter parlamentarischer Zustimmung erlassenes Gesetz vom Jahr 1837 in Kraft, nach welchem den Staatssekretären die diskretionäre Befugnis erteilt worden ist, Privatbriefe, welche der Postverwaltung anvertraut sind, zu Staatszwecken zu öffnen und zu lesen. Die meisten modernen Verfassungsurkunden gewährleisten das B. ausdrücklich, wie dies auch die Frankfurter Reichsverfassung von 1849 gethan hatte. Für das nunmehrige Deutsche Reich bestimmt das Reichspostgesetz vom 28. Okt. 1871 (§ 5): „Das B. ist unverletzlich. Die bei strafrechtlichen Untersuchungen und in Konkurs- und zivilprozessualischen Fällen notwendigen Ausnahmen sind durch ein Reichsgesetz festzustellen.“ Für Österreich ist zum Schutz des Brief- und Schriftengeheimnisses ein besonderes Gesetz (vom 7. April 1870) erlassen. Die für Deutschland in Aussicht gestellte Regelung der Ausnahmefälle ist durch die deutsche Justizgesetzgebung erfolgt. Die Strafprozeßordnung (§ 94 ff.) gestattet die Beschlagnahme der an einen Beschuldigten gerichteten Postsendungen sowie solcher Briefe etc., in Ansehung deren Thatsachen vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, daß diese Briefe von dem Beschuldigten herrühren oder für ihn bestimmt sind, und daß ihr Inhalt für die Untersuchung von Bedeutung ist. Die Beschlagnahme von Briefen in einer Untersuchungssache ist jedoch in der Regel nur dem Richter gestattet. Ist Gefahr im Verzug, und handelt es sich nicht bloß um eine Übertretung, so ist zwar auch die Staatsanwaltschaft zur Beschlagnahme befugt, sie muß jedoch Briefe und andre mit Beschlag belegte Postsendungen uneröffnet dem Richter vorlegen. Ist ferner gegen einen Schuldner auf Konkurs erkannt, so sind die Post- und Telegraphenanstalten nach der deutschen Konkursordnung (§ 111) verpflichtet, alle für den Gemeinschuldner eingehenden Sendungen, Briefe und Depeschen dem Konkursverwalter auszuliefern, welch letzterer zu ihrer Eröffnung berechtigt ist. Im übrigen kann ein Gläubiger vermöge des ihm zustehenden gerichtlichen Pfändungsrechts Wertsendungen an den [421] Schuldner zur Befriedigung einer vollstreckbaren Forderung nur dann gerichtlich mit Beschlag belegen lassen, wenn die Sendung dem Adressaten bereits ausgehändigt worden ist. Eine Verletzung des Briefgeheimnisses wird auf Antrag des Verletzten strafrechtlich verfolgt. Das deutsche Strafgesetzbuch (§ 299) bedroht denjenigen, welcher einen verschlossenen Brief oder eine andre verschlossene Urkunde, welche nicht zu seiner Kenntnisnahme bestimmt ist, vorsätzlich und unbefugterweise eröffnet, mit Geldstrafe bis zu 300 Mk. oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten. Weit strafbarer aber erscheint es, wenn ein Postbeamter selbst die seiner amtlichen Obhut anvertraute Postkorrespondenz oder die ihm in seiner amtlichen Eigenschaft zugänglichen Poststücke dem Willen des Absenders und des Empfangsberechtigten zuwider vorsätzlich und in andern als den vom Gesetz vorgesehenen Fällen eröffnet oder unterdrückt, oder wenn ein Postbeamter andern bei solchen Handlungen wissentlich Hilfe leistet oder ihnen solche Handlungen gestattet. Hier handelt es sich um ein besonderes Amtsvergehen (deutsches Strafgesetzbuch, § 354 f., 358), welches man wohl als Verletzung des Postgeheimnisses bezeichnet, im Gegensatz zu der von Privatpersonen begangenen Verletzung des Briefgeheimnisses. Die Strafe ist in solchen Fällen Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren und nicht unter drei Monaten; auch kann unter Umständen auf Entziehung der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter auf einen Zeitraum bis zu fünf Jahren erkannt werden. Diese Strafbestimmungen gelten auch den Telegraphenbeamten gegenüber.