MKL1888:Bürger
[655] Bürger, im allgemeinen Bezeichnung für den Angehörigen eines Gemeinwesens, insbesondere des Staats oder einer Gemeinde. Indessen wird der Ausdruck nicht nur von den Angehörigen eines politischen Gemeinwesens gebraucht, wie man denn z. B. auch von akademischen Bürgern zu sprechen pflegt und darunter diejenigen versteht, welche einer Akademie als Studierende angehören. Das Bürgerrecht der antiken Welt war ein andres als dasjenige unsers modernen Staatslebens. In Hellas und Rom war der B. bei der Leitung des Staatswesens unmittelbar beteiligt, und das, was heutzutage den B. ziert, Gewerbfleiß und Arbeit, blieb vielfach den Sklaven oder Fremden überlassen. Darum war die persönliche Freiheit die Voraussetzung des Bürgerrechts, und das Bürgerrecht (civitas) selbst war wiederum in Rom die Voraussetzung der vollen Rechtsfähigkeit, welche zugleich dem B. (civis) zur Zeit der Republik die verfassungsmäßige Teilnahme an den Staatsgeschäften sicherte. Der Ursprung des modernen Bürgertums fällt in das 9. Jahrh., wo die Streifereien der vom Morgenland hereinbrechenden kriegerischen Völker und die beständigen innern Unruhen in dem weiten und an der Grenze schlecht geschützten Reich den Kaiser und seinen Adel die Wichtigkeit der Burgen schätzen gelehrt hatten, und wo man die größte Sicherheit in befestigten Ortschaften erblickte. Daher schreibt sich der Unterschied zwischen civitates und castra, welch letztere befestigte Städte bedeuten. Die Verteidiger der befestigten Orte nannte man, wie die Dienstmannen der Burgen, B., burgenses. Bald zeigte sich in den durch ihre Mauern gegen äußere Feinde gesicherten Städtebewohnern eine Einigkeit und Kraft, welche ihnen, durch zunehmenden Wohlstand, ja Reichtum unterstützt, dem bisher allein mächtigen Adel gegenüber zu selbständiger Macht verhalf. Die Autonomie der Städte gewann neben der Feudalherrschaft festen Fuß, und seit dieser Zeit war B. Ehrenname jedes Städtebewohners, welcher an den städtischen Rechten Anteil hatte. Sobald die Städtebewohner zu dieser Bedeutung gelangt waren, konnte es freilich nicht fehlen, daß innerhalb der Gemeinde selbst Einzelne den Versuch machten, sich über die andern zu erheben, und so entstanden Stufen in der Bürgerschaft. Zur ersten Klasse erhoben sich die sogen. vollberechtigten Einwohner die Ratsmänner, Handelsherren und Mitglieder der höhern Zünfte. Danach standen alle Städtebewohner, deren Erwerbszweig das Recht der Zunftfähigkeit noch nicht erworben hatte, den Bürgern als bloße Handwerker gegenüber. Aber auch noch dann, als sich diese zurückgesetzten Gewerbe nicht nur das Zunftrecht, sondern, durch offenen Aufruhr gegen die ratsfähigen Geschlechter im Mittelalter auch die Ratsfähigkeit verschafft hatten, machten sich, obwohl alle berechtigten Mitglieder [656] einer Stadtgemeinde B. hießen, gleichwohl noch engere Bedeutungen des Worts B. geltend. Zunächst unterschied man an einigen Orten B. als Hauseigentümer von den Handwerkern und zog zwischen den Gerechtsamen beider strenge Linien. Noch enger wurde der Begriff B. durch die Gegensätze der Schutzverwandten, Beisitzer, Beisassen oder bloßen Einwohner. Alle solche Schutzverwandte galten nur als unvollkommene B., und der eigentliche Charakter des Bürgers kam nur den vollberechtigten Mitgliedern der Stadtgemeinde zu (jus civitatis plenum im Gegensatz zum jus civitatis minus plenum). Diese Schutzverwandten standen als solche unter städtischer Obrigkeit und Gerichtsbarkeit, hatten aber kein Stimmrecht in städtischen Angelegenheiten, waren unfähig zu städtischen Ämtern und durften nicht die volle bürgerliche Nahrung, sondern nur gewisse Gewerbe treiben. Auch dadurch, daß gewisse Vorrechte, z. B. Besitz liegender Güter, die Ausübung gewisser Gewerbe, nur von Bürgern in Städten besessen werden konnten, entstand eine neue Veranlassung, daß Personen, die nach ihrem Stande der Aufnahme in der Stadt nicht bedurft hätten, um das Bürgerrecht nachsuchten. Auch diese hatten nur ein unvollkommenes Bürgerrecht und hießen Aus- oder Pfahlbürger; sie hielten sich in der Stadt bloß zu bestimmten Zwecken auf, besonders um städtische Grundstücke erwerben zu können. Außerdem gab es noch Gras- oder Feldbürger, welche in Dörfern wohnten, die zu dem städtischen Territorium gehörten, und Glevenbürger (von gleve, „Lanze, Spieß“), welche das Bürgerrecht nur mit der Verpflichtung erhielten, der Stadt in Kriegsgefahr Kriegsdienste zu leisten.
Seit dem 16. Jahrh. bildete sich die Idee aus, die Unterthanen eines Staats als eine geschlossene Gemeinde zu betrachten und so gleichsam die städtische Verfassung auf den Staat zu übertragen, und seitdem nennt man die vollberechtigten Unterthanen des Staats Staatsbürger (s. Unterthan). Die Rechte derselben werden bürgerliche Ehrenrechte genannt, die durch rechtswidrige Handlungen verwirkt werden können (s. Ehrenrechte). Die B. der einzelnen Gemeinden dagegen bezeichnet man als Orts- oder Gemeindebürger. Wo aber die Verfassung der Stadtgemeinden von derjenigen der ländlichen Ortschaften noch wesentlich verschieden ist, pflegt man noch jetzt mit B. den Angehörigen der städtischen Gemeinde zu bezeichnen, während der Landbewohner Nachbar genannt oder mit einem dem Sprachgebrauch der Gegend und der Gesetzgebung entsprechenden anderweiten Ausdruck bezeichnet wird, insofern er B. der Landgemeinde ist. Im übrigen ist der Unterschied zwischen B. und Bauer in rechtlicher Beziehung vollständig verwischt worden (s. Bauer). Als Staatsbürger stehen sich die Angehörigen der früher streng geschiedenen beiden Stände, Bürger- und Bauernstand, völlig gleich, und ebenso sind die Unterschiede zwischen Bürger- und Adelstand in rechtlicher Beziehung nahezu vollständig beseitigt (s. Adel). Auch die Abstufungen innerhalb des Bürgerstandes, welche Sitte und Sprachgebrauch bis in die neuere Zeit beibehalten hatten, sind heutzutage gegenstandslos. So hat man wohl die Gewerbtreibenden in den Städten vorzugsweise als B. bezeichnet, im Gegensatz zu den Beamten, Künstlern etc. Auch unterschied man zwischen höherm und niederm Bürgerstand; indessen sind solche Unterscheidungen heutzutage nicht mehr am Platz. In neuester Zeit suchen freilich die Anhänger der Sozialdemokratie den Arbeiterstand zu dem Bürgerstand in einen gewissen Gegensatz zu bringen, und der „Bourgeois“ wird von ihnen als der eigentliche Vertreter der kapitalistischen Produktionsweise hingestellt und bekämpft, ohne daß sich jedoch ein solcher Unterschied aus der rechtlichen Stellung des sogen. vierten Standes im Gegensatz zu dem als dritter Stand bezeichneten Bürgertum rechtfertigen lassen könnte. Das Bürgerrecht, d. h. der Inbegriff der dem B. als solchem zustehenden Rechte, ist vielmehr jedem Staatsangehörigen in gleicher Weise zugänglich. Für das Deutsche Reich ist zudem, wie in dem frühern Norddeutschen Bunde, das Prinzip der Zug- und Niederlassungsfreiheit durchgeführt. Wichtige Befugnisse, welche ehedem mit dem Bürgerrecht verknüpft waren, sind seitdem auf die Staatsangehörigen und auf die Angehörigen des Reichs überhaupt ausgedehnt worden, welch letztern ein gemeinsames Bundesindigenat (Reichsbürgerrecht) verliehen und damit das Recht eingeräumt ist, in jedem Bundesstaat als Inländer behandelt und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genuß aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zugelassen zu werden (s. Bundesindigenat).
Das Gemeindebürgerrecht hat daher in neuerer Zeit an Bedeutung erheblich verloren. Die darin enthaltenen Befugnisse waren und sind teils politischer, teils privater Natur. Zu den erstern gehören die aktive und passive Wahlfähigkeit zu allen Gemeindeämtern und das Stimmrecht in den Gemeindeversammlungen. Privatrechtliche Befugnisse waren früher: das Recht des ständigen Aufenthalts innerhalb der Gemeinde; das Recht des Gewerbebetriebs oder der bürgerlichen Nahrung; das Recht, innerhalb der Markungsgrenzen Grundbesitz zu erwerben; das Recht der bestimmungsmäßigen Benutzung der öffentlichen Anstalten der Stadt; das noch jetzt in manchen Gemeinden bedeutungsvolle Recht der Mitbenutzung und Teilnahme am Gemeindegut, soweit nicht dessen Nutzungen nach Statuten, Gewohnheit, Vertrag oder Urteil Einzelnen oder einzelnen Klassen von Gemeindegliedern anfallen; für die männlichen B. das Recht, innerhalb der Gemeinde durch Heirat eine Familie zu begründen, sofern sie eine solche zu ernähren im stande waren; das Heimatsrecht, d. h. das Recht, im Fall der Verarmung und der Unfähigkeit zum eignen Broterwerb den notwendigsten Lebensunterhalt aus Gemeindemitteln in Anspruch zu nehmen, sofern zu dessen Gewährung kein andrer (Verwandter, Stiftung etc.) nach den Grundsätzen des Privatrechts rechtlich verpflichtet und vermögend ist. An die Stelle des Heimatsrechts in diesem Sinn ist in Deutschland, abgesehen von Bayern und Elsaß-Lothringen, nunmehr das Recht des Unterstützungswohnsitzes (s. d.) getreten. Dagegen legt das Bürgerrecht auch gewisse Bürgerpflichten (Bürgerdienste, bürgerliche Beschwerden) auf. Jeder B. macht sich bei seiner Aufnahme verbindlich, für das Beste der Gemeinde möglichst mitzuwirken, Gemeindeämter zu übernehmen, gewisse Kommunaldienste zu leisten und die Gemeindeabgaben, den Bürgerschoß, zu entrichten. Indessen werden jetzt auch Nichtbürger zu den Gemeindeumlagen herangezogen, wofern sie nur ihren ständigen Aufenthalt in der Gemeinde haben. Erworben wird das Bürgerrecht durch die Aufnahme als B., welche von der Gemeindevertretung ausgeht. Früher pflegten wohl auch Landesherrn B. ohne Konkurrenz des Rats, sogen. Gnadenbürger, zu ernennen. Fähig zur Erlangung des Bürgerrechts ist [657] in der Regel jeder Unterthan des betreffenden Staats, welcher sich im Besitz des Staatsbürgerrechts befindet. Bei der Aufnahme zum B. muß man noch Bürgerskinder von andern Personen unterscheiden: erstere sind geborne B. (cives originarii), wenn die Eltern zur Zeit der Geburt das Bürgerrecht hatten, oder sie erlangen das Bürgerrecht doch leichter als die Fremden, nämlich gegen Entrichtung eines geringern Bürgergeldes. Uneheliche Kinder folgen ihrer Mutter, haben Anspruch aufs Bürgerrecht, erlangen es aber vielfach erst dann, wenn sie die Erfordernisse, die das Gesetz vorschreibt, erfüllen, nämlich erlangte Mündigkeit, ein gewisses Vermögen, einen bestimmten Nahrungszweig etc. nachweisen; andre Personen werden nur durch die Aufnahme B. (cives recepti s. novi). Bei der Aufnahme wird der Name des neuen Bürgers in das Bürgerbuch (Bürgermatrikel, Bürgerrolle) eingetragen; derselbe leistet nach manchen Stadtverfassungen den Bürgereid, daß er den Bürgerpflichten nachkommen wolle, entrichtet an die Kämmerei der Stadt für seine Aufnahme das sogen. Bürgergeld und empfängt dann den Bürgerbrief, eine Urkunde über seine Ausnahme. Personen, die sich ein besonderes Verdienst um eine Stadt erworben haben, oder die der Rat aus irgend einem Grund auszeichnen will, erteilt derselbe auch aus eignem Antrieb das Bürgerrecht, Ehrenbürgerrecht, und zwar ohne denselben die Bürgerpflichten mit zu übertragen. Verloren geht das Bürgerrecht durch ausdrückliche Aufgebung, durch Wegziehen von einem Ort, ohne daß man sich jenes an demselben vorbehält, und durch Verheiratung einer Frauensperson mit einem Nichtbürger.
Wichtig war in früherer Zeit der Unterschied zwischen Vollbürgern und Schutzbürgern, von welchem sich in einzelnen Gemeinden noch Spuren erhalten haben. Solche Schutzbürger, staatsbürgerliche Einwohner (auch Schutzverwandte genannt) waren diejenigen, welche auf Grund eines Staatsgesetzes das Wohnungsrecht in der Gemeinde hatten und deshalb in derselben ihre staatsbürgerlichen, namentlich politischen, Rechte auszuüben und die entsprechenden Pflichten zu erfüllen befugt und angewiesen waren. Dazu gehörte in den meisten Fällen die Teilnahme an allen nicht eigens oder ausschließlich für wirkliche B. errichteten Gemeindeanstalten; dagegen waren sie von den politischen Gemeinderechten ausgeschlossen, konnten jedoch in Angelegenheiten von gemischter Natur, die auf ihre besondern Interessen von Einfluß waren, mit beratender oder auch zählender Stimme begabt werden und vom Staat wohl auch einen Anspruch auf die Armen- oder Versorgungsanstalten der Gemeinde zugewiesen erhalten. Solche Einwohner waren daher auch verpflichtet, von den allgemeinen Lasten ebenfalls ihren Teil zu tragen. Ausmärker (Forensen, Markgenossen) sind diejenigen Staatsbürger oder Fremden, welche nicht in der Gemeinde domizilieren, aber ein bürgerschaftliches Besitztum, auch ein Grundrecht oder eine Werkstätte etc. in der Gemeinde haben, wofür sie demnach den Schutz von seiten der Gemeinde in Anspruch nehmen, deshalb teilhaben an allen Anstalten, welche mittel- oder unmittelbar ihrem Gut förderlich sind, und aus demselben Grund verhältnismäßig zu den allgemeinen Lasten beisteuern. In denjenigen Gemeinden, in welchen ein bestimmter Vermögenskomplex, namentlich Liegenschaften, zur Benutzung der Bürgerschaft überhaupt oder eines gewissen Teils derselben (Nachbargemeinde, Nutzungsgemeinde, Realgemeinde) vorhanden ist, bezeichnet man dies Vermögen als Bürgervermögen im Gegensatz zu dem Kämmereivermögen, den für die öffentlichen Gemeindezwecke bestimmten Mitteln. Zu beachten ist endlich noch, daß man den Ausdruck bürgerlich oder zivil heutzutage vielfach gebraucht, um den Gegensatz zwischen dem Militärstand und den übrigen Staatsgenossen zum Ausdruck zu bringen, während man in der Rechtssprache jene Bezeichnung anwendet, um den Unterschied zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht zur Geltung zu bringen. In diesem Sinn spricht man von bürgerlichem Recht oder Zivilrecht als gleichbedeutend mit Privatrecht im Gegensatz zum Strafrecht und andern Teilen des öffentlichen Rechts sowie von dem bürgerlichen Prozeß- oder Zivilprozeß als dem Gebiet der Privatrechtsstreitigkeiten im Gegensatz zum Strafprozeß, bei welchem die öffentliche Ahndung strafbarer Handlungen in Frage steht.
Bürger, 1) Gottfried August, lyrischer Dichter, geb. 31. Dez. 1747 zu Molmerswende bei Halberstadt, wo sein Vater Pfarrer war, genoß den ersten Unterricht im väterlichen Haus, dann seit 1760 auf der Stadtschule zu Aschersleben, wo sich sein Großvater seiner annahm. Schon hier waren poetische Versuche seine Lieblingsbeschäftigung; ein Epigramm auf den Haarbeutel eines Mitschülers gab aber Veranlassung zu einer Schlägerei, welche für B. harte Züchtigung und Entlassung von der Anstalt herbeiführte. Er kam nun auf das Pädagogium zu Halle, wo er mit Göckingk zugleich an poetischen Übungen teilnahm. Gegen seine Neigung, nur auf Verlangen seines Großvaters begann er 1764 das Studium der Theologie zu Halle, ward aber wegen seiner oft zügellosen Lebensweise von seinem Großvater abberufen und durfte erst Ostern 1768 von neuem die Universität beziehen und zwar diesmal Göttingen, um sich nun dem Studium der Rechte zu widmen. Bald aber erneuerten sich hier die alten Ausschweifungen, so daß der erzürnte Großvater ihm endlich alle weitere Unterstützung entzog. Aus diesem Zustand tiefer Gesunkenheit riß ihn die Hand der Freundschaft empor. Boie, Sprengel, Biester u. a. wußten die Liebe zu den Studien von neuem in ihm anzufachen und ihn schonend auf die Bahn der Ordnung und Regelmäßigkeit zurückzuführen. Nachdem es Boie 1772 gelungen war, B. die Stelle eines Amtmanns von Altengleichen im Hannöverschen zu verschaffen, trat B. auch mit dem jungen Dichterkreis in Göttingen (Hölty, Voß, Miller, Cramer, die Grafen Stolberg u. a.) in Beziehung. Sein Großvater söhnte sich jetzt mit ihm aus und schenkte ihm 1000 Thaler, deren B. zum Antritt des übertragenen Amtes bedurfte; doch ward dieser sehr bald darauf um den größten Teil des Geldes betrogen. Im Herbst 1774 heiratete B. eine Tochter des Justizamtmanns Leonhart zu Niedeck und zog bald darauf nach Wölmershausen, einem Dorf seines Gerichtssprengels. Aber auch aus seiner Verheiratung gingen für ihn nur traurige Folgen hervor: er faßte die heftigste Leidenschaft für die jüngere Schwester seiner Frau, die in seinen Liedern unter dem Namen Molly überschwenglich gefeierte Auguste, welche nach dem Tod ihres Vaters (1777) eine Zeitlang unter seinem Dach lebte, und das Doppelverhältnis zu den beiden Schwestern bereitete ihm jahrelang die aufreibendste Gewissensqual. Dazu kamen mancherlei durch geringe Einkünfte, häufige Krankheitsfälle und eine 1780 übernommene Pachtung zu Appenrode verursachte häusliche Sorgen. Von seinen Vorgesetzten obendrein wegen nachlässiger Geschäftsführung angeklagt, wurde B. in der angeordneten Untersuchung zwar freigesprochen; doch entschloß [658] er sich, sein Amt freiwillig niederzulegen. Nach dem Tod seiner Gattin (1784) siedelte er nach Göttingen über, um sich durch Privatvorlesungen über Ästhetik, deutschen Stil und ähnliche Gegenstände eine neue Existenz zu begründen, und verband sich im Juni 1785 endlich mit seiner geliebten Molly auch am Altar. Ihr früher Tod (9. Jan. 1786) stürzte ihn von neuem in das tiefste Seelenleid und benahm ihm auf lange alle Lust zu dichterischem Schaffen. Die Universität erteilte ihm bei ihrem 50jährigen Jubiläum die philosophische Doktorwürde und ernannte ihn im November 1789 zum außerordentlichen Professor, jedoch ohne Gehalt. Der Wunsch nach einem geordneten Hausstand veranlaßte B. zu einer dritten Heirat, der unglücklichsten von allen. Im Oktober 1790 verband er sich mit seinem „Schwabenmädchen“ (s. Bürger 2); aber schon nach wenigen Wochen trat die unglückseligste Zerrüttung des Familienlebens ein, der zwar durch eine Ehescheidung (März 1792) ein Ende gemacht wurde, jedoch nicht, ohne daß Lebensmut und Lebenshoffnungen in B. völlig vernichtet worden. Einsam verbrachte er Wochen und Monate im Studierzimmer; die Freunde waren gestorben oder flohen den Unglücklichen, und das einzige, was ihn noch erhob, das Bewußtsein seines Dichterwerts, ward ihm von Schiller (s. unten) entrissen. Um die nötigen Subsistenzmittel zu gewinnen, lieferte er Übersetzungen für auswärtige Buchhändler. Erst als der schwindsüchtige Mann auch die Arbeitsfähigkeit verloren hatte, bewilligte ihm das Universitätskuratorium, statt des erbetenen Gehalts, eine einmalige Unterstützung von 50 Thalern. Er starb 8. Juni 1794 und hinterließ zwei Töchter und zwei Söhne. Ein Denkmal wurde ihm an seinem Lieblingsplätzchen in einem öffentlichen Garten gesetzt. B. war klein und hager, die Gesichtszüge waren zu groß für seine Gestalt, aber Stirn und Nase kühn, und durch die schönen Augen schimmerte der schaffende Dichtergeist. Gesellige Gewandtheit ging ihm ab, und seinem Charakter fehlte, bei einem hohen Grad von Herzensgüte, die Willensstärke. Bürgers Dichtertalent gedieh nur langsam zur Entwickelung, und auch später war seine Produktion nie leicht und mühelos. Erst das Studium der alten und neuern Musterschriftsteller hatte die Schwingen seines Dichtergeistes gekräftigt, und hauptsächlich war es die unerbittliche kritische Strenge Boies, welche für B. der Sporn zu einer feinern und korrektern Abrundung seiner Gedichte wurde. Das Organ der Veröffentlichung für diese blieb der 1770 von Gotter und Boie gestiftete „Musenalmanach“. Seine berühmteste Dichtung ist die Ballade „Lenore“, auf welche er während seiner Amtsführung zu Altengleichen durch das Bruchstück einer alten, wahrscheinlich verloren gegangenen Volksdichtung geführt wurde. Diese mit allgemeiner Begeisterung begrüßte Ballade erschien, nachdem sie gemäß der Kritik des Göttinger Dichterbundes mehrfach umgearbeitet worden war, im „Musenalmanach“ für 1774. Im J. 1778 übernahm B. an Göckingks Statt die Redaktion des „Göttinger Musenalmanachs“ und gab die erste Sammlung seiner „Gedichte“ (neue Aufl. 1789, 2 Bde.) heraus. Schiller wirft in seiner Rezension derselben in der „Allgemeinen Litteraturzeitung“ von 1791 B. vor, daß seine Gedichte keinen reinen Genuß böten, daß ihm durchaus der ideale Begriff von Liebe und Schönheit fehle, daher seine Gedichte zu oft in die Gemeinheit des Volkes hinabsänken, statt dieses zu sich zu erheben, daß überhaupt der Geist, der sich in seinen Gedichten ausspreche, kein gereifter sei, daß seinen Produkten nur deshalb die letzte Hand der Veredelung fehle, weil sie ihm wohl selbst fehle. Dies wenn auch strenge Urteil mag bestehen, wenn man das Gegengewicht der Vorzüge Bürgers gelten läßt. Denn die Wärme seiner Empfindung, die unmittelbaren und ergreifenden Naturtöne der Innerlichkeit, die Weichheit und zugleich die Kraft des Ausdrucks, die Mannigfaltigkeit der Formen, die er beherrschte, werden ihm unter den deutschen Lyrikern immer einen bedeutenden Platz sichern. In der Ballade hat er (einige verfehlte abgerechnet) sehr Hervorragendes geleistet, und der melodische Fluß seiner Lieder ist oft von höchster Schönheit. Seine Übersetzungen sind, wie der Versuch einer Ilias in Iamben und seine Macbeth-Bearbeitung, meistens durch die Anwendung falscher Übersetzungsprinzipien mißlungen. Am treffendsten hat über B. wohl A. W. Schlegel in seinen „Charakteristiken und Kritiken“ geurteilt. Eine Sammlung von Bürgers sämtlichen Schriften veranstaltete Reinhard (Götting. 1796–1798, 4 Bde., u. öfter; zuletzt 1860, 4 Bde.). Derselbe gab auch Bürgers „Lehrbuch der Ästhetik“ (Berl. 1825, 2 Bde.) und „Handbuch des deutschen Stils“ (das. 1826) nach seinen in Göttingen gehaltenen Vorlesungen und als einen Supplementband dessen „Ästhetische Schriften“ (das. 1832) heraus. Die von Bohtz besorgte „Gesamtausgabe in Einem Band“ (Götting. 1835) enthält auch einige Briefe Bürgers und Althofs vortreffliche, zuerst 1798 zu Göttingen unter dem Titel: „Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen etc.“ erschienene Biographie des Dichters. Die von E. Grisebach besorgte Ausgabe von „Bürgers Werken“ (Berl. 1873, 2 Bde.) enthält nur eine Auswahl nebst biographisch-litterarischer Skizze. Neue Ausgaben der Gedichte allein mit Einleitung und Anmerkungen veröffentlichten Tittmann (Leipz. 1869) und Sauer (Stuttg. 1884). Bürgers Leben beschrieben außer Althof[WS 1] noch Döring (Berl. 1826; neue Ausg., Götting. 1848) und in neuerer Zeit Pröhle (Leipz. 1856), während O. Müller das Leben des Dichters in einem Roman („B., ein deutsches Dichterleben“, Frankf. 1845) bearbeitete, den Mosenthal (in dem Stück „B. und Molly“) dramatisierte. Außerdem sind über des Dichters Leben zu vergleichen: „Bürgers Briefe an Marianne Ehrmann“ (hrsg. von Th. F. Ehrmann, Weim. 1802); „Bürgers Ehestandsgeschichte“ (Berl. 1812), woraus „Bürgers letztes Manuskript“ (Leipz. 1846) in besonderm Abdruck erschien; Daniel, B. auf der Schule (Halle 1845); Gödeke, Gottfried August B. in Göttingen und Gellienhausen (Hannov. 1873); Strodtmann, Briefe von und an B. (Berl. 1874, 4 Bde.).
2) Elise, eigentlich Marie Christiane Elisabeth, geborne Hahn, geb. 19. Nov. 1769 zu Stuttgart, dritte Gattin des vorigen, dem sie 1789 öffentlich ihre Hand in einem Gedicht antrug, welches in Bürgers Schriften (Bd. 2) zu finden ist. B. nahm anfangs die Sache für einen Scherz, gab aber dann auf Andringen seiner Freunde eine poetische Antwort, woran sich eine Korrespondenz knüpfte, in welcher B. in einem denkwürdigen Brief seine ganzen frühern Lebensverhältnisse ohne Schleier darstellte. B. reiste in den Osterferien 1790 nach Stuttgart und führte im Herbst sein „Schwabenmädchen“ zum Altar. Die Ehe ergab sich bald als eine unglückliche, und B. empfand nur zu bald die Folgen der Zerstreuungssucht, Eitelkeit und offenbaren Untreue seiner Frau. Sie verließ ihn im Februar 1792 und wurde 31. März gerichtlich von ihm geschieden. Sie trat nun zuerst als Schauspielerin unter dem Namen Elise B. auf den Bühnen zu Hamburg und Altona, zu Hannover und Dresden auf, reiste zuletzt als Deklamatrice und [659] plastisch-mimische Darstellerin in Deutschland umher und starb, seit den letzten Jahren erblindet, 24. Nov. 1833 in Frankfurt a. M. Man hat von ihr: „Gedichte“ (Hamb. 1812), die Schauspiele: „Adelheid, Gräfin von Teck“ (das. 1799), „Das Boukett“ und „Die Heiratslustigen“ (Lemgo 1801), den Roman „Irrgänge des weiblichen Herzens“ (Altona 1799). Vgl. Ebeling, G. A. Bürger und Elise Hahn (2. Aufl., Leipz. 1870).
3) Hugo, Bühnendichter, s. Lubliner.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Athof