Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung/Die als Beispiele benutzten Märchen
← Die Technik der Märchenforschung | Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung (1913) von Antti Aarne |
Die Märchen führe ich in der Form vor, die die vergleichende Untersuchung als ihre Urform nachgewiesen hat, doch bestrebe ich mich in meiner Darstellung mich möglichst kurz zu fassen. Siehe: Krohn, K., Bär (Wolf) und Fuchs, eine nordische Tiermärchenkette (= Journal de la Société Finno-ougrienne VI 1889) und Mann und Fuchs, drei vergleichende Märchenstudien (1891) und Aarne, Antti, Vergleichende Märchenforschungen (1907)[1], Die Zaubergaben (1909) (= Journal de la Société Finno-ougrienne XXVII 1) und Die Tiere auf der Wanderschaft (1913) (= Folklore Fellows Communications 11).
Mt. 1. Das Erbeuten der Fische. Der Fuchs sieht den Mann mit dem Pferd die Fischlast fahren und wirft sich wie tot auf den Weg. Der Mann hebt in seiner Freude über den schönen Fuchspelz das Tier auf und schleudert es hinter sich auf den Wagen. Selbst vorn auf dem Wagen sitzend fährt er weiter, ohne zurückzuschauen. Der Fuchs wirft einen Fisch nach dem anderen auf den Weg. Schliesslich springt er selbst hinunter.
Mt. 2. Das Fischen mit dem Schwanze. Als der Fuchs im Winter Fische verzehrt, kommt der Bär zu ihm und bittet um einen Teil davon. Der Fuchs rät dem Bären, in einer kalten Nacht in einem Eisloch mit seinem Schwanz zu angeln, wie auch er es getan habe. Der Bär geht, um das Mittel zu versuchen. Der Fuchs rät, den Schwanz so lange unbeweglich zu halten, bis die Fische anbeissen. Als er denkt, der Schwanz sei eingefroren, fordert er den Bären auf denselben zurückzuziehen. Im Glauben, dass er eine [80] grosse Fischlast hebe, reisst der Bär, sodass der Schwanz abgeht.
Mt. 37. Die Suche nach einer Kinderwärterin (einem Klageweib). Der Bär geht nach dem Tode der Bärin, um eine Wärterin für seine Jungen zu suchen. Den ihm begegnenden Hasen findet er nach Prüfung seiner Gesangstimme untauglich, den Fuchs hingegen tauglich und bringt ihn in seine Höhle. Als der Bär ausgeht, um Essen zu suchen, verzehrt der Fuchs die Jungen eins nach dem anderen. Bei der Rückkehr des Bären kommt der Fuchs aus der Höhle, ehe er ihn hineinlässt, und den Sachverhalt spöttisch verkündend rennt er davon.
Mt. 47. Der Bär mit den Zähnen am Schwanze des Pferdes hängend. Der Fuchs frisst ein totes Pferd. Der Bär kommt und fragt ihn, wie er es gefangen habe. Der Fuchs sagt, er habe sich am Schwanze des in der Sonne liegenden Pferdes festgebissen und so gerissen, dass das Pferd zu laufen anfing und lief, bis es tot umfiel. Der Bär geht, um dasselbe Mittel zu versuchen, und das Pferd läuft mit dem Bären am Schwanze.
Mt. 130. Die Tiere im Nachtquartier.
Form B: Einige Haustiere: ein Ochse, ein Pferd, ein Widder, eine Katze, eine Gans und ein Hahn entfliehen, da sie für ein Gelage oder aus einem anderen Grunde geschlachtet werden sollen, und schliessen sich zu einer Reisegesellschaft zusammen. Sie kommen zufällig zu einem Wolfshaus, dessen Bewohner abwesend sind, und lassen sich für die Nacht in dem Hause nieder. Das Pferd stellt sich draussen auf, der Ochse irgendwo in der Nähe der Tür, der Widder auf dem Fussboden der Stube, die Katze nimmt im Herd Platz, die Gans auf dem Tisch, und der Hahn fliegt auf den Balken hinauf. Als die Wölfe in der Nacht heimkommen, schicken sie einen aus ihrer Mitte hinein, um zuerst nachzusehen, wer in der Stube ist. Die Tiere aber stürzen hier auf ihn los und verjagen ihn. Als [81] er am Herd Feuer anzünden will, zerkratzt ihm die Katze das Gesicht und die Hände, die Gans zwickt ihn mit dem Schnabel usw., während der Hahn vom Balken herab kräht. Zu seinen Genossen gelangt, erzählt der erschrockene Wolf, wie ihn ein altes Weib am Ofen mit Wollkämmen zerkratzt habe, ein Schneider habe ihn mit einer Schere geschnitten usw., und von oben habe einer hinter ihm her gerufen: „Gebt ihn auch mir her!“ Die Wölfe ziehen entsetzt von ihrem Haus weg und lassen dieses in den Händen der Haustiere.
Form A: Die Tiere: ein Ochse, ein Widder, ein Schwein, eine Gans und ein Hahn übernachten in einem von ihnen selbst gebauten Hause, wohin die Wölfe einen aus ihrer Mitte hineinschicken.
Mt. 154. „Bärenfrass“. Der Mann pflügt mit einem Paar Ochsen am Waldessaum. Zornig schilt er die faulen Tiere: „Ihr Bärenfutter!“ Als der Bär das im Walde hört, kommt er und fordert die Ochsen. In seiner Not bittet der Mann, mit ihnen seine Arbeit beendigen zu dürfen und erhält die Erlaubnis dazu. Vom Bären nicht bemerkt, schleicht der Fuchs zu dem verzweifelten Mann und verspricht, ihn aus der Not zu helfen, ja ihm sogar den Bären in die Hände zu liefern, wenn er als Belohnung ein Paar Gänse bekomme. Nachdem er dies Versprechen erhalten, verschwindet er wieder in den Wald, wo er anfängt das Hetzen der Hunde nachzuahmen. Erschrocken fragt der Bär: „Was ist das für ein Geräusch?“ Der Mann antwortet: „Die Jäger des Königs sind auf der Bärenjagd“. Der Bär bittet den Mann, ihn nicht zu verraten. Der Fuchs ruft aus dem Walde dem Manne zu: „Was hast du für Schwarzes neben Dir?“ Der Mann, auf Befehl des Bären: „Einen Baumstumpf“. Der Fuchs: „Hebe ihn auf dein Fuhrwerk! – binde ihn fest! – schneide die Äste ab! – haue die Axt in den Baumstumpf!“ Der Bär: „Tue, als höbest du – als bändest du – als ob du abschnittest – als ob du hiebest!“ [82] Der Mann hebt ihn auf sein Fuhrwerk, bindet ihn wirklich fest, schlägt die Beine ab, haut mit der Axt an den Kopf, so dass der Bär stirbt. Dann geht der Mann nachhause, um das im voraus von ihm versprochene Gänsepaar zu holen. Vom Hause bringt er einen zugebundenen Sack mit sich. Wie er ihn aber öffnet, springt daraus ein Hundepaar auf den Fuchs los, und der Fuchs entflieht in seine Höhle. Das Märchen fährt mit dem Gespräch des Fuchses und seiner Glieder fort und endet mit dem Tode des Fuchses.
Mt. 155. Undank ist der Welt Lohn. Ein Mann rettet eine Schlange aus der Kluft unter einem Stein. Die Schlange sagt, Undank sei der Welt Lohn, und droht den Mann[WS 1] zu verzehren. Auf den Vorschlag des Mannes aber gehen sie, bei drei ihnen entgegenkommenden Richtern Recht zu suchen. Die ersten Richter: das Pferd und der Hund sind mit der Schlange einig, aber der dritte, der listige Fuchs lockt die Schlange wieder in die Kluft, und der Mann tötet sie.
Mt. 210. Die Hausgeräte u. a. auf der Reise. Ein Ei, ein Skorpion (?), eine Nadel, ein Stück Kot und ein Mörser befinden sich zusammen auf der Reise. In dem Hause eines alten Weibes angelangt, verstecken sie sich an verschiedenen Stellen. Als die Alte am Abend nachhause kommt, geht sie zum Herd, um Feuer anzuzünden, aber das Ei zerspringt und beschmutzt ihr das Gesicht, der Skorpion sticht sie usw., bis der Mörser sie erschlägt.
Mt. 560. Das Märchen vom Zauberring. Ein armer Junge kauft für sein weniges Geld einen Hund und danach eine Katze los, die beide getötet werden sollen. Nach einiger Zeit rettet er eine in Todesgefahr schwebende Schlange. Dankbar führt ihn dieselbe zu sich nachhause, wo ihm ihr Vater einen Stein gibt, mit Hilfe dessen er alles verwirklichen kann, was er sich wünscht. Der Junge schafft sich als Wohnung ein prächtiges Schloss und heiratet die [83] Königstochter. Der Stein wird ihm aber gestohlen, das Schloss und die Frau werden durch Zaubermacht weitweg zu einer anderen Person entrückt, und der Junge wird vom König ins Gefängnis geworfen. Nun machen sich die dankbaren Tiere, die Katze und der Hund, auf, den Zaubergegenstand zu suchen. Die Katze sitzt auf dem Rücken des Hundes, als sie über einen Fluss schwimmen. Am Ziele angekommen, bemerken sie, dass der Dieb den Stein im Munde trägt. Die Katze fängt eine Maus und zwingt sie, ihr den Stein zu verschaffen. Die Maus kitzelt in der Nacht mit ihrem Schwanze die Lippen des schlafenden Diebes, der den Stein auf den Boden ausspeit. Auf dem Heimweg fällt der Stein ins Wasser, und ein Fisch verschluckt[WS 2] ihn, aber sie finden den Fisch und gewinnen den Stein zurück. Schliesslich bekommt der Junge den Stein wieder. Er zaubert sich sofort sein Schloss und seine Frau wieder herbei.
Mt. 561. Aladdin. In der in Tausend und eine Nacht vorkommenden Bearbeitung des Zauberringmärchens, in dem sogenannten Aladdin-Märchen, erhält der Held des Märchens, ein ungeratener Junge (Aladdin), den Zaubergegenstand, eine Lampe aus der Erde, wohin ein afrikanischer Zauberer ihn geschickt hat, die Lampe zu holen. Da aber der Zauberer den Gegenstand nicht schon zur Öffnung heraus bekommt, verschliesst er diese durch Zauberworte und lässt Aladdin unter der Erde. Dieser reibt zufällig an dem Ring, den ihm der Zauberer gegeben hatte: der Geist des Ringes erscheint und führt ihn ans Tageslicht. Dann wird erzählt, wie er die Tochter des Sultans heiratet, sich einen mächtigen Palast hervorzaubert und wie der Zauberer sich durch Betrug der Lampe bemächtigt. Der Geist des Ringes bringt Aladdin zum verschwundenen Palast. Der Zauberer wird durch einen Gifttrank getötet, und der Palast an seinen früheren Platz zurückgebracht. Schliesslich kommt der Bruder des Zauberers, um als heilige Frau seinen Bruder zu rächen, Aladdin aber tötet ihn mit einem Dolch.
[84] Mt. 563 u. 564. Die Zaubergaben.
Die Märchenform mit drei Zaubergegenständen; Ein armer Mann bekommt (vom Winde, der seinen Acker beschädigt hat, als Vergütung) ein Zaubertischtuch, das sich auf Befehl mit den besten Speisen bedeckt. Auf dem Heimweg vom Geber des Zaubergegenstandes kehrt er für die Nacht in einem Gasthaus ein. Während der Mann schläft, vertauscht der Wirt, welcher ihn am Abend das Tischtuch hat anwenden sehen, dasselbe mit einem anderen äusserlich gleichen, seiner Beschaffenheit nach jedoch gewöhnlichen Tischtuch, mit dem der Mann am Morgen seine Reise fortsetzt. Zuhause angelangt, wendet er das Tischtuch, um sich Essen zu verschaffen, an, aber vergebens, der Gegenstand hat gar keine Wirkung. Da der Mann vermutet, er sei bei dem Geber des Zaubergegenstandes betrogen worden, eilt er mit seinem Tischtuch dorthin zurück und bekommt einen Zauberesel, der auf Befehl so viel Geld fallen lässt, als man nur zu haben wünscht. Aber der Esel wird ebenfalls in dem Gasthaus mit einem anderen, gewöhnlichen Esel vertauscht. Der Mann unternimmt noch zum dritten Mal dieselbe Reise und erhält nun einen Zauberknüppel, der jeden unbarmherzig durchprügelt, den der Besitzer zu schlagen befiehlt. Der Mann kehrt wieder in dem Gasthaus ein; von dem Betrug des Wirtes dieses Gasthauses hat er bereits vernommen, und indem er dem Knüppel befiehlt, den Wirt durchzuprügeln, zwingt er ihn das entwendete Tischtuch und den Esel zurückzugeben.
In der Märchenform mit zwei Zaubergegenständen wird von einem Gegenstand zum Aufbewahren von Essen erzählt, der die wunderbare Eigenschaft besitzt, dass auf Befehl die besten Speisen aus ihm kommen, und von einem anderen Gegenstand von gleichem Aussehen, woraus Geister mit Stöcken in den Händen erscheinen und Prügel austeilen. Der wohlhabende Nachbar des armen [85] Mannes kauft den essenspendenden Gegenstand für teueren Preis, aber mit Hilfe des neuen Gegenstandes, der den mit seiner Beschaffenheit unbekannten Nachbar auf dessen Befehl durchzuprügeln beginnt, bekommt der Held des Märchens den ersterwähnten Gegenstand zurück.
Mt. 566. Die drei Zaubergegenstände und die wunderbaren Früchte. Es sind drei Brüder, Soldaten. Jeder von ihnen wird Besitzer eines eigentümlichen Zaubergegenstandes. Der eine bekommt einen unentleerbaren Geldbeutel, der zweite ein Horn, das ein Heer herbeizaubert, und der dritte einen Mantel, der seinen Besitzer hinbringt, wohin er befiehlt. Die Königstochter entwendet dem Besitzer des Beutels seinen Zaubergegenstand und ebenso den von seinem Bruder ihm gegebenen zweiten Zaubergegenstand. Auch der dritte der Brüder tritt dem Helden des Märchens seinen Zaubergegenstand, den Mantel, ab. Es gelingt ihm mit Hilfe des Gegenstandes das Mädchen zur Strafe auf eine ferne Insel zu schaffen. Aber das Mädchen betrügt ihn wieder, kehrt auf dem Zaubermantel nachhause zurück und lässt den Jungen auf der Insel sitzen. Dieser stösst auf einen Apfelbaum, isst von dessen Früchten, bemerkt aber zugleich, dass ihm Hörner am Kopf gewachsen sind. Er verzehrt andere Äpfel, und die Hörner verschwinden. Unerkannt verkauft der Junge von den ersten Äpfeln der Königstochter, die Hörner an den Kopf bekommt. Nach einiger Zeit kommt er als fremder Arzt an den Hof des Königs, zwingt das Mädchen, die entwendeten Gegenstände zurückzugeben, und schliesslich beseitigt er die Hörner.
Varianten dieses Märchens finden sich auch in der Geschichtensammlung Gesta Romanorum und in dem Volksbuch von Fortunatus, seinem Säckel und seinem Wunschhütlein.
Mt. 567. Der Zaubervogel. Das Schicksal macht einen armen Mann zum Besitzer eines Goldeier legenden Wundervogels. Der Mann verkauft die kostbaren Eier und wird [86] reich. Einmal geht er auf Reisen und lässt den Vogel seiner Frau zur Pflege zurück. Unterdessen kommt der Käufer der Eier zu der Frau und verlockt sie durch ein Liebesverhältnis, ihm den wunderbaren Vogel zur Mahlzeit zuzubereiten. Der Vogel birgt eine Wunderkraft derart, dass, wer seinen Kopf isst, König wird, und dass der, der das Herz verzehrt, das Vermögen Gold zu erzeugen bekommt. Der Vogel wird zugerichtet, fällt aber durch Zufall den beiden Söhnen des verreisten Hausherrn in die Hände, und die Jungen essen, ohne von der wunderbaren Eigenschaft des Vogels zu wissen, den Kopf und das Herz. Der Liebhaber aber weiss, dass ein Braten, der aus den Verzehrern des Vogels zubereitet wird, dieselbe Wirkung hat wie der gebratene Vogel selbst, und verlangt, dass die Jungen geschlachtet werden, worein auch die Mutter einwilligt. Die Jungen entrinnen durch Flucht dem Mordanschlag. Der den Kopf gegessen hatte, gelangt in ein Reich, wo nach dem Ableben des alten Herrschers gerade ein neuer gewählt wird. Ein steigen gelassener Vogel lässt sich auf seinen Kopf nieder, und er wird als Herrscher anerkannt. Der andere Bruder wird von einer Königstochter auf den Rat eines Zauberweibes veranlasst, das gegessene Herz zu erbrechen. Er verwandelt die Betrügerin durch ein Zaubergras in eine Eselin, die durch schwere Arbeit geplagt wird. Schliesslich treffen die Brüder einander, die Eselin bekommt wieder menschliche Gestalt, und die Mutter wird bestraft.
Mt. 1030. Ernteteilung. Mensch (Fuchs) und Teufel (Bär) betreiben einen gemeinsamen Ackerbau. Der dümmere, der Teufel, wählt von den Wurzelfrüchten (Rübe) den oberen und von den Halm- oder Hülsenfrüchten (Gerste) den unteren Teil.
Mt. 1052. Baumtragen. Mensch (Fuchs) und Teufel (Bär) tragen einen Baum. Der Teufel trägt am Wipfel, ohne sich umzusehen, der Mensch sitzt auf dem dicken Stammende.
- ↑ Vgl. die Besprechung K. Krohns in den Finnisch-ugrischen Forschungen IX Anz. S. 5.
Anmerkungen (Wikisource)
← Die Technik der Märchenforschung | Nach oben |
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext. |