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In der Schutzhütte

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Autor: Johannes Proelß
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Titel: In der Schutzhütte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31–38, S. 524–528, 543–547, 555–559, 572–575, 591–594, 606–611, 621–626, 638–644
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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In der Schutzhütte.
Novellenkranz von Johannes Proelß.
1. Eingeregnet.

Noch einmal wurde das flatternde Gewölk, das die schneeumwandeten Schrofen des Säntis, der Gyrenspitze und des Alten Manns zu umschleiern strebte, durch den Sturmwind verjagt, der nun schon seit einer Stunde von der Innerrhodener Hochebene in die Felsenwelt des Appenzeller Gebirgs emporfegte. Die mächtigen Wolkenmassen, welche das tiefe Seealpseethal gleich dicken Dämpfen ausfüllten, wurden von ihm, in einzelne Fetzen zerrissen, emporgetrieben; oben aber in der Sphäre des ewigen Schnees stießen sie noch eine Weile auf den Widerstand der Sonne. Doch immer dichter kam es nachgedrängt, immer dunkler wurde es auch dort oben – noch ein kurzer Kampf zwischen den Dämonen des Lichts und der Finsterniß, und die letztere hatte gesiegt. Jetzt war auch die schlanke Säntisspitze und das letzte Stückchen blauen Himmels verschwunden und die empordrängenden Nebel hatten sich mit den Gewitterwolken oben so eng vereinigt, daß der Blick auch die verschiedenartigen Bewegungen der Dunstmassen nicht mehr zu verfolgen vermochte. Ja, der Wanderer auf dem schmalen Fußpfad, der sich hoch ob dem See auf der linken Firstkette über die Felsabhänge der Maarwies nach der Meglisalp hinzieht, vermochte überhaupt nichts mehr zu sehen als rings um sich grauen Nebeldunst und die immer dichter fallenden Regentropfen, die auf dem Geröll des Glimmerschiefers am Boden klatschend aufschlugen und die Alpenrosen am Abhange niederbogen.

„Eine schöne Geschichte,“ rief unmuthig ein älterer Herr von kräftiger Gestalt, dessen weißer Vollbart ein Gesicht von edlem Profil und lebhaftem Ausdruck umrahmte, „da wird’s ja völlig Nacht und es ist doch kaum erst vier Uhr. – Aber wer hatte recht?“ wandte er sich an seinen noch recht jugendlichen Führer, dessen bloße Füße mit Behagen die Nässe des vorher so heißen Weges zu empfinden schienen. „Ich traute dem Wetter schon unten in Weißbad nicht. Ihr aber bliebet dabei, es könne halt nur ein paar Tröpfli geben. Die paar Tröpfli ließen ja nicht auf sich warten; aber sie blieben nicht allein, und jetzt gießt’s in Strömen. Wie sollen wir so auf den Säntis kommen? Kaum den Weg unter seinen Füßen kann man noch erkennen.“

„Müssen halt auf der Meglisalp übernachten und morgen früh bei Zeiten naufigehn.“

„Ja, glaubt Ihr denn, daß das Wetter sich über Nacht aufhellt?“

„Wird schon gut, Herr. Ein Gewitterregen hält nicht die Ewigkeit an.“

„Und wie lange dauert’s denn noch bis zur Meglisalp?“

Ein lauter Donnerschlag, dessen Krachen mit schauerlichem Dröhnen in den Schluchten des Gebirgs widerhallte, erstickte die Antwort des mit seinem kurzen Alpenstock vor sich hin deutenden Burschen.

„Wenn wir schnell gehen, kann’s kein Viertelstündli mehr dauern.“

„Nun dann, junger Mann, vorwärts! Wir haben zum Glück den Wind im Rücken! … Hoho!“ unterbrach er sich, als vom grasigen Abhang über dem schmalen Pfad, den sie beschritten, lautes Getrampel vernehmbar ward und dazu ein Geräusch, wie wenn flüchtiges Wild durchs Knieholz bricht. Der Stadtherr blieb dabei stehen und faßte seinen Bergstock, als wollte er sich zur Wehr setzen.

„Nur unbesorgt, Herr, “ beruhigte der Führer. „Die Küh’ von der Alp sind es, hören S’ nicht das Geläut? Es geht über die Almen an uns vorbei. Die hellen Schellen – das sind die Geiß’n. Die Thiere merken, daß das Unwetter arg wird. Da suchen sie Unterschlupf in den Nothställen. Wir müssen ganz nahe dem Ziele sein.“

In schnellem Laufschritt, als sei ihm der vollbepackte Tragkorb auf dem Rücken mit dem Handgepäck des Touristen keine Last, flog der Bursche voran; der alte Herr bewährte auch jetzt seine Rüstigkeit und blieb dem jungen Blut wacker auf den Fersen. Als ein neuer Blitz den Aether zuckend durchfuhr und, eine schnell verlöschende Helligkeit verbreitend, in großer Nähe einschlug, lag vor den Wanderern das kleine Gehöft, das ihnen eine sichere Unterkunft für die Nacht versprach.

Der alte Herr mit den elastischen Sehnen war sofort in die große schwarzgeräucherte Küche getreten, die in jeder echten [525] Alphütte zugleich das Haupt- und Familienzimmer bildet, und bald fand er sich mit dem Alpwirth, seiner Frau und einer Tochter derselben in bester Unterhaltung. Er hatte eine schlechtere Herberge in dieser Alpeneinsamkeit erwartet, wie er sagte; daß die Aufnahme eine gastliche sei, hatte er schon unterwegs auf seiner Herreise gehört. Gleich zwei Gebäude und beide für die Aufnahme von Touristen berechnet, das lasse er sich gefallen. Die beiden Gebäude waren zwar recht klein und dürftig, nur im Unterbau aus zusammengemörtelten Steinblöcken, im übrigen aus Holz roh zurecht gezimmert; aber der freundliche Herr, der sich seines nassen Lodenmantels entledigt hatte und sich nun behaglich am Feuer wärmte, über welchem der große Milchkessel am eisernen Haken hing, hatte ganz recht mit diesem Lob, war er doch auch ein vielerfahrener Alpengänger, dem gar wohl bekannt war, wie unbehaglich so manches Unterkunftshaus ähnlicher Art sich bietet. Im Hintergrunde des vom offenen Herdfeuer nur halb beleuchteten, an den Wänden mit blankem Milchgeschirr ausgestatteten Raumes saßen zwei Führer, jeder einen Napf Milch mit großem Appetit auslöffelnd.

„Wollen’s auch eine Milch?“ fragte die Sennin den Ankömmling.

„Danke, liebe Frau. Aber ich möcht’ schon lieber etwas Warmes. Das kalte Wetter draußen hat mich ganz ausgefroren.“ Er ließ sich von seinem Führer seinen Rucksack bringen und entnahm demselben eine Ledertasche, die mit allerhand Konserven und ähnlichen Nahrungsmitteln, wie sie dem Reisenden nützlich sind, gefüllt war. Er öffnete eins der Blechbüchschen und roch mit Wohlbehagen daran. „Kaffee können Sie doch kochen?“

Die Frau bejahte das, fast beleidigt über den Zweifel.

„Nun, nun,“ beruhigte der freundliche Herr, „hab’ mir schon in mancher Alphütte den Kaffee selbst kochen müssen.“

Er schüttelte mit prüfendem Blick aus seiner Büchse ein Häufchen des bereits gebrannten und gemahlenen Kaffees auf ein entfaltetes Blatt Papier und reichte diese Portion der wieder eintretenden Ammerei, wie die Alpleute ihre Tochter nannten. „Das reicht gerade für zwei Tassen. Und, nicht wahr, Du bringst mir ihn recht heiß, Ammerei? Ist das Dein Taufname?“

„Anna Maria steht’s im Kalender.“

„Und ohne Milch, Ammerei. Inzwischen giebt mir der Vater wohl Bescheid, wo ich heute mein müdes Haupt betten soll.“

„’s ist schon gut,“ sagte dieser. „Es ist noch eine Kammer mit zwei Betten frei, und wenn niemand mehr kommt, können’s allein drin schlafen. Der Seppli kann Ihre Tasch’n gleich naufi tragen.“

„Es sind also schon mehr Reisende da?“

„Ei freilich, drei Parteien mit Führern, fünf Herren und zwei Damen. Gehn’s nur gefälligst in das Gastzimmer gerad’ hier über uns. Da finden’s schon Gesellschaft. Den Kaffee bringt Ihnen die Ammerei hinauf, sobald er fertig ist.“

„Gut denn! Behüt’ Gott einstweilen! Hab’ mich hier unten bei Euch recht wohl befunden. Wegen meiner bedurft’s nicht des ‚Gastzimmers‘. Und vor dem Kaffee bringt’s mir auch was zu essen. Ein paar Spiegeleier und Brot kann ich doch haben?“

„Wohl, wohl!“

„Gut also, bringen’s mir drei und dem Führer geben’s auch ein paar. Fleisch habe ich bei mir.“

Er war in die Thür getreten, wo ihm der Regen ins Gesicht schlug. „Das scheint sich hier festregnen zu wollen,“ sagte er ärgerlich, indem er seine goldene Brille abnahm, um die angelaufenen Gläser zu putzen. „Was denkt Ihr, Alpmeister? Wird’s über Nacht klar werden?“

Der alte Senn kratzte sich hinterm Ohr.

„Jetzt läßt sich gar nichts sagen, Herr. Wir können vor ‚Duft‘ ja nicht einmal das Wetterloch sehen. Aber besser kann’s schon werden bis morgen.“

„Dazu gehört freilich nicht viel,“ sagte mit sauersüßem Lächeln der Gast, der nunmehr in den Regen hinaustrat und über die hölzerne Freitreppe zu dem ihm angekündigten oberen Gastzimmer emporstieg.

Das herzhafte „Guten Tag“, mit welchem er hier eintrat, wurde nicht gerade entgegenkommend erwidert. Langeweile und Mißmuth schienen hier oben das Regiment zu führen. Das Gefühl des Eingeregnetseins schien auf den Gemüthern aller zu lasten. Auch diejenigen Opfer des launischen Wettergottes, die zu einander gehörten, gaben sich, still für sich, irgend einer Beschäftigung oder müßiger Uebellaune hin. An einem der Fenster, durch die man bei gutem Wetter die herrlichste Aussicht auf die Häupter der Säntisgruppe gehabt haben würde, stand ein Herr in mittleren Jahren und trommelte an den Scheiben. Die Züge und der Bartschnitt desselben verriethen angelsächsischen Typus, doch erinnerte der einfach und praktisch gekleidete Tourist sonst in nichts an jenen „großkarrirten“, murraybehafteten Engländer, dessen überlebte Erscheinung in [526] deutschen Reisebeschreibungen noch immer sich umtreibt. Ein jüngerer Mann, dessen etwas blasses Gesicht auf einen gelehrten Beruf schließen ließ, war in die Lektüre eines Buches vertieft. Er hatte eine Flasche Bier vor sich auf einem der zwei großen Tische stehen, welche die im übrigen ziemlich kahle Stube den Gästen darbot, und ließ sich durch das Lesen im Rauchen nicht stören. Ein Ehepaar, das, sichtlich im besten Alter, sich bester Gesundheit erfreute und vor Ausbruch des Regens offenbar von der Hitze sehr auszustehen gehabt hatte, deren Reflex noch auf ihren Stirnen und Wangen glühte, gab sich in beschaulicher Wehmuth einem frugalen Mahle hin, welches in der Hauptsache aus mitgebrachten Fleischschnitten bestand und dem eine Flasche des landesüblichen Hallauer die Würze gab. Ein anderes Paar von schlankerem Wuchse und aparterem Wesen stand schließlich neben dem Nähtisch einer zweiten jungen Alpnerin, die am Fenster neben der Thür mit einer der kunstvollen Weißstickereien beschäftigt war, wie sie die Appenzeller „Meidli“ mit ihren geschickten Händen alljährlich zu Tausenden in die großen Ausfuhrgeschäfte in St. Gallen, Appenzell, Gais und Bühler abliefern. Der blonde bärtige Herr hatte in der Rechten ein Skizzenbuch, in dem er offenbar vorher gezeichnet hatte, denn die andere Hand spielte mit einem Bleistift; die junge Frau hatte einen großen Strauß von Alpenblumen in der Linken und reichte aus demselben eben an schönes Exemplar von selbstgepflücktem Edelweiß der Stickerin hin.

Auch der neue Ankömmling, der zunächst mit prüfenden Blicken ein paarmal das Zimmer durchmessen hatte, in dessen Hintergrunde eine Falltreppe in ein oberes Stockwerk führte, fand sich angezogen von dem Bild der stickenden Gebirgstochter, deren feine Nadelstiche eben dabei waren, auf einem Streifen duftigen Mousselins das ziemlich naturgetreue Abbild einer Edelweißblüthe auszuführen.

„Das ist ja wahrhafte Künstlerarbeit,“ rief er unwillkürlich, nachdem er dem Mädchen eine Zeitlang zugesehen.

Dieses blickte befriedigt auf bei dem Lobspruch, sagte dann aber gelassen:

„’s ist nur Uebung, Herr. Mühsam aber ist’s schon, und wenn wir im Winter Tag für Tag über unseren Kissen sitzen, thun uns die Finger mitunter recht weh. Jetzt im Sommer giebt’s immer Abwechselung in der Arbeit; da macht einem das Sticken Freud’. Die letzten Tage, wo das Wetter so schön war und sehr viele Gäste bei uns einkehrten, bin ich gar nimmer dazu gekommen.“

„Bleiben Sie denn auch im Winter hier oben?“ fragte jetzt theilnehmend die Dame hinter ihr.

„O nein,“ sagte das Meidli; „da geht’s mit den Kühen und Geißen hinunter ins Schwender Thal.“

„Nun, da bringt so wohl auch der Winter Unterhaltung und Lustbarkeit?“

„Das schon auch, den Sennenball und den Schöttlerball in Appenzell und bei Hochzeiten oder Kindstaufen ein ‚tanziges Mahl‘. Aber die Hauptsach’ ist doch unsere Arbeit. Wenn die Meidli aus der Freundschaft nicht zusammenhalten thäten und zum Sticken zusammenkämen, könnt’s manchmal etwas gar zu einsam werden.“

„Da wird wohl wacker geplauscht, während die Nadeln sich fleißig rühren?“

„Wohl, wohl, aber auch ein G’sangl giebt’s oft, und wer’s kann, erzählt Geschichten, die alten heimischen, die jedes gern immer wieder hört, von der Jungfrau und dem Schatz in den Auen, vom blauen Schnee und der verschneiten Alp, vom Bötzler, vom besten Locker oder auch etwas neues.“

„Das ist recht,“ rief der alte Herr; „man sollt’ es nicht glauben, aber wahr ist es doch: die Leute auf dem Lande wissen oft besser für ihre Unterhaltung zu sorgen, als wir drin in den Städten mit unserem Ueberfluß an Bildungsmitteln und Scheinbildung.“

Der Blonde mit dem Künstlerkopf neben ihm nickte zustimmend und sagte:

„Sicher steckt in den alten Geschichten, wie sie sich hier von Mund zu Munde und von Geschlecht zu Geschlecht vererben, oft mehr Weisheit und Schönheit als in den Gesprächen, mit denen in unseren Salons vielfach über Kunst und Litteratur gesprochen wird, und vor allem – mehr Natur. Und die ist’s doch, die wir hier oben suchen.“

Die fleißige Stickerin hatte sich indessen erhoben: es sei zwar noch früh am Tage, aber sie müsse bei der wachsenden Dunkelheit doch jetzt die Lampen anzünden.

Während das flinke Mädchen die beiden einfachen Hängelampen über den Tischen anzündete, kam einige Bewegung in die Gesellschaft. Die Ammerei kam und brachte das einfache Eiergericht, das sich der letzte Ankömmling bestellt hatte. Der junge Gelehrte, der sich die Zeit mit Rauchen und Lesen vertrieben hatte, stand auf und trat an ein Fenster. Der Engländer wandte sich von dem seinen ab, und jener sagte mit Humor zu diesem:

„Ja, von der erhofften Aussicht ist hier ebenso wenig zu genießen wie oben auf dem Säntis, den Sie – wie Sie erzählten – so unbefriedigt verließen.“

„Indeed“, sagte mit langsamer und seine Abkunft verrathender Sprechweise der Engländer, „weil es heute mittag für meinen Geschmack zu – hell war. Hier bietet der Sturm – mir Ersatz für die fehlende Aussicht. Sehen Sie nur, wie er den Regen gegen die Scheiben schüttet.“

„O ja,“ meinte schmunzelnd der Deutsche, „auch das sieht, sozusagen, ganz nett aus. Aber bei schönem Wetter muß es hier doch wohl noch hübscher sein, wenn man da draußen statt Dunst und Nebel das großartige Panorama sieht, wie ich es eben da in dem Specialwerke über den Appenzeller Kanton gelesen habe.“

Mit komischem Pathos im Ton die Weise eines berufsmäßigen Fremdenführers kopirend und sich indirekt an alle Anwesenden wendend, fuhr er fort: „Um die weite Alp herum ragen aus den leuchtenden Schneefeldern der Säntis, die Gyrenspitze, die hintere Wagenluke, der Bötzler, der Fählerschafberg nach dem blauen Himmelsgewölbe hinauf; wilde Bergwasser schäumen tobend von den Schneefeldern in die Tiefe hinunter; Herdengeläute erklingt überall, Jodler schmettern durch die Luft … Ja, ja! All das kann man an besserem Tage hier genießen. Und hat man es recht gut getroffen, noch mehr. Wenn nämlich auf der grünen Alpe hier vor uns, welche der Nebel unseren Blicken entzieht, von den Sennen und Sennerinnen des weiten Seealpseethals ‚Alpstubeten‘ gehalten wird, da entfaltet sich hier ein festliches Treiben von ungemein malerischem Reiz. Da kommen die Appenzeller Meidli in ihrem schönsten, reich mit Silbergespänge und -Ketten verzierten Sonntagsstaat in Scharen herbeigezogen und mit ihnen die Sennen, gleichfalls in festlicher Tracht; ein Tanzplatz ist abgesteckt, die Fiedel und die Handharmonika spielen auf und unter Gottes blauem Himmel beginnt der Reigen. Bei einiger Phantasie, meine Herrschaften, kann man sich das alles ja schönstens vorstellen und das darf uns einigermaßen mit unserem Schicksal versöhnen.“

„Bravo!“ rief der Alte, der seine kleine Mahlzeit beendet hatte.

„Doch lange dürfte dieser Trost nicht vorhalten,“ sagte der robuste Herr, dessen Appetit jetzt befriedigt war und der nun begann, sein umständliches Reisenecessaire in Ordnung zu bringen. „Solch ein Wetter! Wenn wir wenigstens unten in Weißbad geblieben wären.“

„Und dabei ist wohl wenig Aussicht aus Besserung?“ warf der Alte fragend hin, als wolle er zum Widerspruch reizen.

„Es kann leicht noch schöner werden, wollte sagen–schlimmer,“ erwiderte der Engländer. „Sie müssen wissen, ich bin ein großer Enthusiast für die Natur, wenn sie – wild ist. Es ist das nur natürlich; denn dann ist sie doch am schönsten.“

„Dennoch dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir dem Sonnenschein und blauen Himmel den Vorzug geben und in unserem Falle recht sehr wünschen, der böse Regen möchte baldigst aufhören,“ sagte mit gutmüthigem Lächeln der Mann des materiellen Behagens, im Einklang mit seiner Frau, die sich begnügte, über den romantischen Standpunkt des Engländers lebhaft den Kopf zu schütteln.

„Und leider steht es mit den Aussichten schlecht genug,“ bemerkte nun der junge Gelehrte. „So ist es rathsam, sich wenigstens keinen Illusionen hinzugeben. Das macht erst recht ungeduldig.“

„Aber die Führer machten uns eben noch Hoffnung auf baldigen Wechsel des Wetters.“

„Ja, die Führer! Die sind immer Optimisten. Das bringt ihr Geschäft mit sich. Sie müssen sonst fürchten, aus halbem Wege entlohnt zu werden. Und davon will ihr gesunder Egoismus nichts wissen.“

„Aber was für Gründe haben denn Sie für Ihre pessimistische Auffassung?“

„Das ist der Kassandrafluch der meteorologischen Wissenschaft. Ich bin meines Zeichens Astronom und soweit sich nach den vorhandenen atmosphärischen Anzeichen ein Schluß ziehen läßt, handelt es sich heute nicht nur, wie es anfangs schien, um ein Gebirgsgewitter, [527] sondern um einen gründlichen Regen, der nur von gewitterartigen Erscheinungen begleitet ist. Ja, wenn der Wind umschlüge! Aber dazu ist vorderhand keine Aussicht. Morgen früh vielleicht?“

„Da heißt es sich in Geduld fassen“ sagte mit einem Seufzer die ältere Dame, indem sie sich in ihr Shawltuch wickelte und sich wieder auf ihren früheren Platz zurückzog.

„Aber wie soll man sich denn in dieser öden Hütte die Zeit vertreiben!“ rief verzweifelt ihr Gatte, der sein leichtes Sommerröckchen mit einer Lodenjoppe vertauschte, die er seiner umfangreichen Reisetasche entnahm. „Zu Bett kann man doch zu so früher Stunde noch nicht gehen, zumal uns hier nicht grade Stahlfedermatratzen erwarten dürften und der Sturm einem ohnehin das Einschlafen nicht erleichtern wird.“

Der Astronom schlug den Herrschaften, deren Sprechweise verrieth, daß sie im norddeutschen Plattland ihre Heimath hatten, ein Spielchen vor. „Sie können doch gewiß Skat?“ Doch diese verneinten es.

„Nicht möglich,“ rief der lustige Sterngucker. „Nun, dann ein anderes Spiel! Bärbeli,“ rief er gleichzeitig, „Ihr habt doch Spielkarten?“

„Wir hatten wohl, aber gestern sind sie abhanden gekommen. Es muß sie eins haben mitgehen lassen!“

„Nun, das muß ich sagen!“ rief jetzt auch im Tone der Verzweiflung der joviale Verehrer des Skatspiels. „Eingeregnet sein, das ist schon schlimm; aber eingeregnet sein ohne Karten, das übersteigt das Maß des Erträglichen! Bringen Sie mir wenigstens noch eine Flasche Bier!“

Das jüngere Ehepaar hatte sich inzwischen seinen vorher nur unterbrochenen Beschäftigungen hingegeben. Die Dame ordnete die mitgebrachten Alpenpflanzen in ihr Herbarium ein; der Herr führte in seinem Skizzenbuch eine angefangene Zeichnung aus. Er that dies mit so leichtem künstlerischen Strich, daß sich der Weißbart mit der goldenen Brille, welcher um Erlaubniß gebeten hatte, ihm zuzusehen, nicht der Frage enthalten konnte, ob er Maler von Beruf sei, was jener ohne viel Aufhebens bejahte. Der Engländer hatte sich wieder an sein Fenster gestellt und lauschte seinem Freunde, dem Sturm, der mit schrillem Geheul das Gebäude umtobte. Es war dies jetzt allen vernehmlich, da auch die übrigen wieder in die frühere Schweigsamkeit verfallen waren. Der Astronom rauchte nachdenklich seine Cigarre, der norddeutsche Herr hatte sich auch eine solche, offenbar eine echte, angezündet und sah nun mit seiner getreuen Ehehälfte der Gattin des Malers zu, welche mit bewunderungswürdigem Geschick ihre Pflanzen auf den Löschpapierblättern des Herbariums so zurecht legte, daß die einzelnen Blüthen und Blätter in ihrer Eigenart und doch auch wieder in malerischer Gesammtwirkung zur Geltung kamen. Das Bärbeli unterbrach die Stille; es brachte das gewünschte Bier und den Kaffee für unseren Freund. Derselbe kostete mit prüfender Kennermiene und lobte das Getränk.

„Sag’ der Mutter, daß sie ihn vorzüglich gekocht habe. Aber es ist zu viel. Darf ich den Damen eine Tasse anbieten? Echter Mokka. Ich habe ihn selbst mitgebracht … Sie lassen sich die kleine Aufmerksamkeit gefallen? Das ist schön! Geh, Bärbeli, dort im Schrank stehn ja Tassen.“

Das Mädchen brachte das Nöthige schnell herbei.

„Und nun, Meidli, da wir so gemüthlich beisammen sitzen, zum Theil ohne zu wissen, was wir anfangen sollen, wie wär’s, wenn Du etwas für unsere Unterhaltung thätest? Da, der Herr Maler sitzt grade so über sein Skizzenbuch gebeugt wie Ihr im Winter über der Stickerei, wenn Ihr Euch Geschichten erzählt. Und auch wir anderen befleißen uns einer andachtsvollen Ruhe. So sind wir Städter nun einmal, wenn wir, gänzlich unvorgestellt und unvermuthet, auf Reisen Tisch- und Zeitgenossen werden. Aber von Dir werden wir uns wohl alle gern eine Euerer heimischen Geschichten und Sagen erzählen lassen. Wie war’s mit dem ‚Bötzler‘ und mit dem ‚blauen Schnee‘? Fang’ einmal an!“

Das Mädchen zupfte sich verlegen an den Schürzenzipfeln. „Gehen’s, was machen der Herr für Gspaß! Für solche gescheite Stadtleut wie Sie sind das keine Geschichten und Sie würden mich nur auslachen, wenn ich Ihnen eins erzählen wollt’.“

Doch die Touristen, der Engländer nicht ausgeschlossen, protestirten sehr lebhaft. „Nein, nein, Bärbeli! Erzähl nur frisch drauf los!“

„Ei, wenn S’ denn gar so d’rauf aus sind; ich weiß schon, daß drinnen in den großen Städten es grundstudirte Leut giebt, die eine ganz närrische Freud’ an unsern Liedern und Geschichten haben; da will ich nachher die vom Bötzler Ihnen sagen, aber vorher muß der Herr selber etwas erzählen; der weiß gewiß schönere Geschichten wie so ein dummes Meidli in den Bergen.“

„Seht einmal, was für ein durchtriebener Schalk dem Mädel im Nacken sitzt!“ rief dagegen abwehrend der gesprächige Alte.

„Ja, aber recht hat das Bärbeli, Herr Professor,“ rief jetzt der lustige Wetterprophet mit dem düstern Kassandrablick von vorhin, indem er sich erhob. „Ich habe doch die Ehre, in Ihnen Herrn Professor Hermann Schröder zu begrüßen. Mein Name ist Helbig, Observator der Sternwarte in –, doch das thut nichts zur Sache; ich habe als Student bei Ihnen Kolleg gehört und jetzt erst erkannte ich Sie an der Stimme. Damals war Ihr Bart noch nicht weiß, auch trugen Sie keine Brille.“

„Ja, ja, man wird alt. Ich erinnere mich wohl. Vor zehn Jahren etwa Sie hörten bei mir das Lessingkolleg und englische Litteraturgeschichte.“

„Ganz recht, Herr Professor!“

„Freut mich sehr, Sie wiederzusehen, und bedaure nur, daß der Anlaß dieser gräuliche Regen ist.“

„Für den wir uns jetzt schadlos halten wollen durch eine animirte Unterhaltung.“

„Recht so! Das wollen wir! Die Herrschaften mögen unsere plötzliche Inkognitoenthüllung freundlichst als Vorstellung betrachten,“ fuhr mit einer höflichen Verbeugung gegen die übrigen der Professor fort.

„Bitte gleichfalls,“ schloß sich Herr Helbig an.

„Maler Breitinger, meine Frau“, „August Kurz, Fabrikant, meine Frau“, „John Whitfield“ – stellten sich auch die übrigen vor.

„Und nun, Herr Professor, Ihre Geschichte?“

„Fällt mir nicht ein, meine Ferien und diese Schweizerreise durch ein Kollegium zu profaniren. Ich habe genug im Hörsaal vorzutragen“.

„Aber, Herr Professor, Sie würden gewiß uns sämmtlich erfreuen!“

„Bleiben Sie mir mit dem Professortitel vom Leibe. Bin ich deshalb auf diese Höhen gestiegen? ‚Auf den Bergen ist Freiheit‘, singt der Dichter und ‚hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein‘, ist mein Wanderspruch!“

„Den ich mir gefallen lasse,“ warf der Maler dazwischen „Aber Sie sollen ja auch gar nicht doziren. Sie sollen nur das schönste und freieste Unterhaltungsmittel hier wieder zu Ehren bringen, das der freien Erzählung. Wie die arabischen Kaufleute auf ihren Reifen durch die Wüste des Nachts in ihren Zelten sich die Zeit vor dem Einschlafen durch Stegreif-Erzählen von Märchen und Geschichten vertreiben und der Berufenste dabei zuerst das Wort erhält …“

„Ja und wie Sie uns in Ihrem ‚Kolleg‘ so anziehend von Chaucers Canterburygeschichten erzählt haben, deren Einkleidung uns eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft von Pilgern vorführt, die auf der Reise zum Grabmal des heiligen Becket von Canterbury begriffen sind und sich auf den Vorschlag des lustigen Wirths vom Tabard-Inn den mühsamen Weg durch Geschichten erzählen kürzen, so wollen auch wir’s machen, um die Langeweile zu bannen und das schlechte Wetter zu vergessen.“

„Der Vorschlag läßt sich hören. Wenn Sie mich zum Alterspräsidenten des Symposions ernennen, so erhebe ich den Vorschlag zum Antrag. Wer ist dagegen?“

Die meisten erklärten zwar, sie hätten keine Uebung und würden sich blamiren, aber die Idee wurde von allen heiter willkommen geheißen. „Und nun zur zweiten Frage: welcher Art sollen die Geschichten sein? Herr Breitinger, Sie melden sich zum Wort, bitte!“

„Ich denke, da uns die Lust am Reisen, am Wandern hier zusammengeführt hat, so sollten es Reiseabenteuer sein, und da uns das Unwetter draußen heute um den erhofften Reisegenuß gebracht hat, möge jeder, sich und uns zum Trost, seine schönste Reiseerinnerung zum besten geben!“

Lebhafte Zustimmung war von allen Seiten die Antwort.

„Angenommen also,“ resümirte der Professor. „Jeder erzähle seine schönste Reiseerinnerung. Aber wer soll anfangen?“

„Ich denke, die studirten Herren machen den Anfang,“ war die Meinung der Damen.

„Ladies first,“ sagte verbindlich lächelnd der Engländer.

[528] „Dem Alter gebührt die Ehre,“ stichelte der Astronom, der sich als Jüngster in dem Kreise fühlte.

„Das hieße die natürliche Ordnung aus den Kopf stellen,“ entgegnete der Professor. „Je älter wir sind, um so reicher sind wir an Reiseerinnerungen und um so mehr Zeit brauchen wir also, die schönste aus der Menge herauszusuchen.“

„Es ist wirklich recht schwer,“ seufzte Herr Kurz, der mit gerunzelter Stirn vor sich hinbrütete. Seine Frau sah ihn vorwurfsvoll an. „Aber, Mann mußt Du erst nachdenken, welches Dein schönster Reisetag war?“

„Natürlich unser Verlobungstag, Lina, ich weiß wohl,“ beschwichtigte der Mann; „aber das ist doch keine Geschichte.“

Doch der Professor schlichtete den Streit mit einem Gewaltspruch. „Herr Doktor Helbig, kraft der mir übertragenen Befugniß als Präsident ersuche ich Sie, den Reigen des Erzählens zu eröffnen.“

„Nun gut! Dann müssen Sie es mir aber auch nicht verargen, wenn ich die grade heranschwimmende Erinnerung aus meinem Gedächtnißstrom heraufangele und für die beste erkläre, weil sie eben die erste ist. Ich könnte ihr den Titel geben: ‚Wenn man nicht Skat kann.‘ Für die poetischeren Gemüther unter uns empfiehlt sich dagegen als Titel ein Wort, mit welchem ich die ganz eigenthümliche, aus Abenteuerlust, Naturgenuß und Freiheitsgefühl gemischte Stimmung bezeichnen möchte, die man namentlich in der Jugend beim frohen Wandern über Berg und Thal empfindet; unser litteraturkundiger Präsident gestatte mir den Anklang an den ‚Waldeszauber‘ Eichendorffs; das Wort heißt: ‚Wanderzauber‘!“

[543]
2. Wanderzauber.

Ich bin zwar der Jüngste in diesem Kreise, aber wenn ich an die Zeit zurückdenke, an deren Erinnerungen ich jetzt rühre, komme ich mir schon recht alt vor. Damals verfolgte ich noch nicht mit mühsamen Berechnungen die Bahnen der Planeten und Kometen und noch weniger erschienen mir die Bahnen des Menschenlebens von Gesetzen und Regeln abhängig, die sich berechnen lassen. Und von jener Zeit her erscheint mir als Hauptreiz des Reisens und Wanderns, daß seine Wechselfälle aller Vorausberechnung spotten und man an jedem Kreuzweg dem Glück in einer anderen freundlichen Gestalt begegnen kann. Meine schönsten Reiseerinnerungen stammen denn auch aus der Zeit, da ich mit meinen Kommilitonen von Jena aus die Höhen und Thäler des Thüringerwaldes wandernd durchmaß, ohne viel Geld in der Tasche, aber das ganze Herz voll Lebensfrische und Daseinsfreude, das Geibelsche „O Wandern, o Wandern, du freie Burschenlust!“ zum Panier.

Die verehrten Damen unserer Tafelrunde werden sich schwerlich einen Begriff machen können von der Stimmung, welche den Ton angiebt, wenn Studenten wandern. „Studio auf einer Reis’, juchheidi, juchheida!“ heißt’s im Lied und die holde Mahnung eines anderen Verses:

„Laßt uns die Becher bekränzen,
Laßt bei Gesängen und Tänzen
Uns durch die Pilgerwelt geh’n –“

wird nie so wörtlich befolgt, als wenn der Bruder Studio das Ränzel auf den Rücken nimmt und sich auf die Wanderschaft begiebt, planlos, ziellos, hinaus ins Freie, in die Welt, wo sie schön ist. Und mit seinen Augen betrachtet, ist die Welt fast überall schön.

In unseren großen Städten, wo neben anderen wichtigen Centralstellen des Lebens auch Universitäten sind, kommt diese Stimmung kaum mehr recht auf; aber in jenen kleinen Orten, die nur Universitäten sind, um welche ewiges Philistervolk ehrfurchtsvoll herum wohnt, hat die alte deutsche Burschenfreiheit noch mächtige Bollwerke und behauptet sich siegreich vor der alles nivellirenden Großstadtkultur. Eine der Hochburgen der alten echten Studentenpoesie ist Jena an der Saale und von einem Pfingstausflug von hier in den Thüringerwald, den ich mit zwei gleichgestimmten Kameraden im ersten Semester unternahm, will ich nunmehr erzählen. Wohl habe ich seitdem Schöneres gesehen als die idyllischen Waldthäler Thüringens und Bedeutenderes erlebt als an jenen Tagen, aber keine spätere Reiseerinnerung steht in gleichem Maße von Poesie verklärt vor meiner Seele wie diese.

In Thüringen, wo von altersher immer Deutsche gewohnt haben, ohne daß fremder Einfluß von außen die heimische Sitte hätte verändern können, findet sich im Volksbrauch noch so manches aus altersgrauer Vorzeit erhalten. Wie die thüringischen Mädchen noch heute in der Nacht zum ersten Mai „in den Maithau gehen“, das heißt mit ihren Freundinnen unter Scherzen und Liedersang in die nächste Umgebung des Orts pilgern, wie es die Vorfahren gethan, die mit dem wundertätigen Thau dieser Nacht gläubig Schläfe und Stirn sich netzten, um damit ihr Gesicht vor den Spuren des Alters zu feien, so spielt zu Pfingsten die „Maie“, das ist mit ihrem jungen hellgrünen Blätterschmuck die Birke, eine von Alters her geheiligte Rolle. Wie zur Weihnacht die dunkle Tanne, wird dieser lustige Frühlingsbaum dann zum Schmuck der Häuser und Kirchen verwandt. Und in jedem Dorf wird auf dem großen Platz, wo die Linde steht oder wenigstens einstmals stand, ein Tanzplatz abgesteckt, oft auch mit Brettern ausgeschlagen und ringsherum im Geviert werden wiederum grüne Maien aufgestellt.

Auch uns hatten flatternde Maienbäume auf der Fahrt von Jena nach Rudolstadt lustig umrauscht, als wir das blühende Saalthal am ersten Pfingsttag morgens in einem offenen Beiwagen der Post durchfuhren. So wollte es die alte Tradition unserer Verbindung, der Eisenbahn zum Spott, die uns weit schneller, aber auch ohne alle Romantik aus Ziel gebracht haben würde. Und hatte schon bei dieser Fahrt eine Stimmung sich unser bemächtigt, die dem lustigen Grün der Birken an Frische nichts nachgab, so wollte der Jubel kein Ende nehmen, als wir nach beendigtem Mahl im „Adler“ zu Rudolstadt in größerer Gesellschaft von anderen Jenenser Studenten, die sich dort zusammengefunden hatten, in langem Zuge, zu zwei oder drei Arm in Arm, singend und mit den Stöcken schwenkend „zum Städtle hinaus“ zogen auf der Straße nach Blankenburg, von wo bekanntlich der Weg ins wildromantische Schwarzathal abbiegt. Schwarzburg am Ende desselben war das Endziel dieses ersten Reisetags.

Wir waren noch nicht lange gegangen, das unverwüstliche Wanderlied „Der Mai ist gekommen“ war eben zum dritten Mal mit zum Theil schon recht heiseren Kehlen zu Ende gesungen worden, da zeigte sich ein neues Dorf vor uns auf dem Wege und dieser Anblick weckte in der Mehrzahl der Genossen das gewohnheitsmäßige Verlangen nach einem solennen Kaffeeskat. Das Hin und Her der Vorschläge führte zu dem Entschluß, in dem Wirthshaus des Dorfs, falls es nur einen Garten zum Sitzen im Freien habe, die erste Einkehr zu halten und einen obligaten Skat dabei ins Werk zu setzen. An Karten dazu konnte es nicht fehlen, denn vier bemooste Häupter unserer bunt zusammengewürfelten Reisegesellschaft hatten diesen Einwand sofort damit niedergeschlagen, daß sie aus ihrer Brusttasche jeder ein Spiel Karten triumphirend hervorzogen.

Für unsere Damen, denen die zwingende Macht des Skatspiels über alle, die es spielen können, vielleicht noch unbekannt ist, muß ich hier hervorheben, daß Jena nur wenige Eisenbahnstunden von Altenburg, der Wiege dieses sinnreichen Kartenspiels, liegt und die Jenaer Studentenschaft schon frühzeitig ihren Beruf erkannt hat, demselben ein anhaltendes Studium und die ausdauerndste Pflege zuzuwenden. Sie werden daher meine Zerknirschtheit nachempfinden können, daß ich es damals bis über die Anfangsgründe des Skats noch nicht hinausgebracht hatte, während meine zwei eigentlichen Reisegefährten leidenschaftliche Spieler waren, die, nachdem sie mich meiner Unfähigkeit wegen weidlich verspottet hatten, ihrer Befriedigung lauten Ausdruck gaben, in so angenehmem Kreise den „dritten Mann“ für den ersten „Pfingstreiseskat“ finden zu können.

Das Wirthshaus im Dorf hatte richtig einen geräumigen Garten und bald saß die bis dahin freigeeinte Gesellschaft in Gruppen von drei und vier Personen abgesondert beim Spiel. Während der Wirth vergnügten Angesichts die ersten Gläser heranschleppte, schmetterte es aus den Holztischen bereits von grünen Wenzeln, Schellenassen und Eichelzehnern. Mir blieb nichts übrig, als mich, wenn nicht „weinend“, so doch beschämt „aus diesem Bund zu stehlen“ und mein Heil auf eigene Weise in einem „Solo“ zu suchen. Und ich hatte nicht lange zu suchen. Schon beim Einzug in die grüne Kastanienhalle des Wirthsgartens waren uns Fanfaren einer nahen Tanzmusik entgegen geklungen, und diesen lockenden Tönen nachgehend, gelangte ich bald auf den freien Dorfplatz, unter dessen breitem Lindendach aus blanken Brettern ein Tanzboden hergerichtet war, auf welchem sich sonntäglich geputzte Burschen mit ihren Mädchen im Takte drehten. In nächster Nähe des von Birken umrahmten Tanzplatzes waren, ebenfalls in primitiver Weise, aus Brettern und Pfosten Tische aufgeschlagen, an denen die älteren Leute saßen, die Frauen strickend, die Männer Pfeife rauchend, paarweis ein gemeinsames Bierglas vor sich, das offenbar nur in langen Pausen von dem blondzopfigen Töchterlein des Lindenwirths gefüllt zu werden brauchte, dessen Haus und Gehöft an diesen Platz grenzte. Wenigstens behielt das schmucke Kind genug Zeit übrig, um sich der Tanzlust hinzugeben, die ihm aus den blauen Augen über den gerötheten Wangen schimmernd leuchtete. Es war kein Wunder, daß eine merkliche Trübung dieses freudigen Ausdrucks eintrat, als ich durch mein Begehr nach einem Glase Bier sie nöthigte, sich aus den Armen ihres Tänzers zu lösen, nachdem die Musik eben erst ein neues Stück begonnen. Ihr Tänzer war nicht eben ein bevorzugter Vertreter seines Geschlechts und der Unmuth auf der Stirn der flinken Hebe, der noch nicht ganz verflogen war, [544] als sie mir den Trunk brachte, galt, wie sich zeigte, auch nur der Unterbrechung des Tanzes überhaupt, nicht dem Verluste grade dieses Tänzers.

Da mir ihre frische Jugend sehr gefiel, suchte ich sie denn auch festzuhalten in dem Gespräch, das ich mit dem Ausdruck meines Bedauerns begonnen hatte, sie im Tanze gestört zu haben. Ziemlich unvermittelt antwortete sie darauf: seitdem sie den vorigen Winter bei ihrer Tante, der Wirthin „Zum goldenen Lamm“ in Kahla, zugebracht habe, gefiele ihr es gar nicht mehr, wie hierin ihrem Heimathsorte die Burschen tanzten. Die Herren Studenten, mit denen sie auf den Winterbällen in Kahla oft habe tanzen können, die walzten freilich auch gar zu schön. So sagte sie und blickte dabei unwillkürlich nach meinen Füßen, wie um zu prüfen, ob ich wohl in der Lage sei, dieses allgemeine Lob durch eigene Leistung als vollberechtigt zu erweisen. In der That war ich, damals wenigstens, ein besserer Tänzer als – Skatspieler. Der Blick des kecken Dirnleins auf meine nicht grade salonmäßig bekleideten Füße wirkte auf mich elektrisirend. Die Musik lockte, das Lachen und Singen der Tanzenden mahnte zum Mitthun und das schlanke Mädchen vor mir hätte gar nicht nöthig gehabt, so ermunternd mich anzureden. Als der alte Wirth, ihr Vater, sein gestricktes Käppchen lüftend und die lange Tabakspfeife aus dem linken Mundwinkel in den rechten nehmend, nun auch noch hinzutrat mit der Frage, ob ich nicht ein wenig mittanzen wolle, da war ich mit dem lustigen Flachskopf schon mitten unter den Tanzenden und wirbelte die mich leise Belobende flott im Kreise herum.

Es ging ganz prächtig. Das Mädchen war geschmeidig und leicht, wie selten eins, das auf dem Lande erwachsen ist. Und der keineswegs gebohnte Bretterboden war viel glätter, als ich beim ersten Anblick vermuthet hatte. Viel Unterhaltung gab’s dagegen nicht. So lange die Musik spielte, mußte ich auch das Tanzbein schwingen. Und trat eine Pause ein, so rief mir der Vater sein Kind fort, damit es ihm helfe, frisch Bier den Gästen zu bringen. Endlich konnte sie sich ein wenig Ruhe gönnen und als ob sich das von selbst verstände, setzte sie sich neben mich und trank mir ohne besondere Nöthigung ein drollig burschikoses Schmollis zu. Ich muß nun hier einschalten, daß ich damals noch recht blöde war, da ich während der Schulzeit ohne Verkehr mit Altersgenossinnen aufgewachsen war; die Rede floß daher meiner Nachbarin viel behender von den Lippen als mir, und meine Unbeholfenheit stimmte mich um so unbehaglicher, je mehr die kleine Wirthstochter sich Mühe gab, aus ihrem Aufenthalt bei der Tante in Kahla die Anschauung herzuleiten, daß sie nun eigentlich kein Landpomeränzchen mehr, sondern eine perfekte Städterin sei.

Ich fand diesen Ehrgeiz recht wenig angebracht, da mir das Leben auf dem Lande viel reizvoller als das in den Städten, namentlich aber als das in einer Kleinstadt erschien und ich war eben im Begriff, die Dummheit zu begehen, der kindlichen Einbildung der kleinen Dorfkokette mit pedantischen Einwänden zu begegnen, als ein plötzliches Ereigniß mich veranlaßte, vom Sitz aufzuspringen.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel und mit lautem Donnergedröhn kam plötzlich auf der Landstraße ein zweispänniger Herrschaftswagen mitten auf den Platz gesaust und in demselben Moment, da ich das Fuhrwerk in der emporgewirbelten Staubwolke deutlicher erkennen konnte, rissen die Stränge, die Deichsel brach mit Krachen und die wildgewordenen Pferde schleiften den Kutscher ein Stück vorwärts, bis auch die Zügel nicht mehr hielten und die Rosse ungehindert weiter stürmten. Während die Theilnahme der Bauern sich vor allem den Pferden zuwandte und dann dem Kutscher zugute kam, hatte mich unwillkürlich mein Interesse dem Wagen zugetrieben, an welchem mit der Deichsel gleichzeitig ein Rad gebrochen war. Ich kam grade zurecht, um den Insassen aus dem Wagen zu helfen; es waren drei Damen der verschiedensten Altersstufen, nur die Urahne fehlte, um das berühmte Quartett der Schwabschen Ballade vollzählig zu machen. Großmutter, Mutter und Kind dankten alle drei sehr höflich, überzeugten sich schnell, daß der Kutscher sich nichts Ernstliches durch den Fall zugezogen, und gingen dann auf das Wirthshaus zu, den sie geleitenden Wirth bittend, dafür Sorge zu tragen, daß der Schmied schleunigst herbeikomme, um die Schäden des Wagens so gut wie möglich in aller Schnelligkeit auszubessern. Das Wort führte in dieser Sache die Großmutter, eine etwas korpulente, aber noch sehr rüstige Dame, welcher die Brille, die sie trug, nichts von der Freundlichkeit des Ausdrucks raubte, der das Gesicht trotz des Unfalls schon beim Aussteigen belebt hatte. In der Mutter fanden sich diese Züge faltenlos und in frauenhafter Frische wieder. Und gar erst in der Tochter! Sie müssen mir verzeihen, daß ich es Ihnen überlasse, sich aus siebzehn Jahren schlanken Gliedern, braunen träumerischen Rehaugen in einem zarten, aber gesunden Mädchenangesicht ein Bild auszumalen, das annähernd dem gleichkommt, welches mir in der Erinnerung haftet. Während die beiden älteren Damen schwarze Kleider trugen, war das Mädchen ganz weiß gekleidet; um den Hals trug es eine Schnur weißer Perlen. Ich hatte ihnen gleich beim Aussteigen die Schirme und Mäntel abgenommen und machte mir ein Vergnügen daraus, dies Handgepäck ihnen nach dem Sitze zu tragen, den ihnen der Wirth in der Laube seines kleinen Gärtchens, das links an sein Haus grenzte, anwies. Die älteren Damen zeigten sich sehr dankbar für meine kleinen Ritterdienste. Während mich aber ihre würdevolle Freundlichkeit trotzdem mit einiger Verlegenheit erfüllte, erweckte die schweigsame Sympathie, mit der mich das kleine schlanke Fräulein von der Seite wiederholt anschaute, eine mir bis dahin im Verkehr mit Damen völlig unbekannte Stimmung von Vertrauensseligkeit. Wie ich nun eben nach Worten suchte, um dieses Empfinden in irgend passender Form zum Ausdruck zu bringen – die Damen hatten gerade in der von weißem und blauem Flieder dicht umblühten Laube Platz genommen – da that sich die Gartenthür hinter mir auf und die Stimme der blonden Wirthstochter, die aber gar nicht mehr lustig klang, rief mir zu, daß eben wieder der Tanz beginne, und ich habe ihr doch noch einen versprochen. Ich murmelte verwirrt etwas von älteren Pflichten, verbeugte mich verlegen und ging zögernd auf die unwillkommene Ruferin zu, die mich, als habe sie wunder welche Rechte auf meine Galanterie, an der Gartenthür mit dem Vorwurf empfing:

„Ja, so sind die Herren Studenten. Ist niemand besseres zur Hand, so machen sie ungenirt uns Mädchen vom Lande die Kour; kaum aber zeigt sich etwas Vornehmeres, so ist man für die stolzen Herren nicht mehr auf der Welt!“

Da ich dem Mädel mit keinem Worte ein Recht zu solchem Anspruch gegeben, verdroß mich diese Art sehr, und als ich ein paarmal mit der mich jetzt sehr zärtlich an sich Drückenden herum getanzt und dabei zwischen den flatternden Birkenzweigen in der Richtung des Gartens ein weißes Kleid schimmern gesehen hatte, ließ ich die kleine Eifersucht nach einer förmlichen Verbeugung ruhig stehen und schritt mit einer mich selbst überraschenden Kühnheit direkt aus das fremde Mädchen zu, welches neugierig von der Gartenthür aus dem fremdartigen Treiben unter der Linde zuschaute, begrüßte sie fröhlich und ermunterte sie, von der Pfingstfreiheit, die heute alle guten Menschen verbrüdere, Gebrauch zu machen und auf dem ländlichen Tanzplatz mit einem fahrenden Bruder Studio einmal herum zu tanzen. Ihre Mutterwürde wohl nichts dagegen haben.

In den träumerischen Augen des zarten Geschöpfs blitzte es von heller Lebenslust auf; sie blickte sich um zu ihrer Mutter, welche hinter ihr stand, und da diese uns gewährend zunickte, war sie im Nu an meiner Seite.

„O wie schön, wie romantisch!“ rief sie leise, „ja, Pfingstfreiheit! – das war’s, wonach ich mich sehnte, als ich vorhin aus der heißen Kutsche unbefriedigt auf die um uns aufwirbelnden Staubwolken sah und mich mißgestimmt fragte: ist das Pfingsten? Ist das Reiselust? Wie dankbar bin ich Ihnen!“

Wir waren auf dem Podium; die Musik begann eben ein neues Stücks lustig und fidel wirbelten die Klänge; lustig und fidel wiegten wir uns auf und nieder.

„Nein, seht nur den Fuchs an!“ hörte ich plötzlich die Stimme des einen meiner beiden Reisekameraden vom Zaune her ziemlich laut sagen. „Wetter, was der Kerl für ein Glück hat! Während wir im Skat verlieren, läßt sich der Taugenichts zur Belohnung dafür, daß er fein artig das Kartenspiel meidet, das schönste Prinzeßchen vom Himmel herunterzaubern, nur damit er auch sein Vergnügen habe.“

„Aber nun ist es Zeit,“ rief der andere, als der Tanz gerade zu Ende war. „Es ist so wie so spät geworden.“

Und mit der Autorität eines Leibburschen, die keine Widerrede verträgt, trat er auf mich zu und sagte unter stummer [546] Begrüßung meiner verlegen und scheu dreinblickenden Tänzerin zu mir:

„Thut mir leid, Fuchs; wir müssen gehen. Die andern sind schon voraus. Haben so schon Zeit verloren mit dem Suchen nach Dir! Doch Du wirst das Fräulein gewiß noch zu ihrem Platz führen wollen. Also wir warten dort an der Ecke. Mein Fräulein, habe die Ehre!“

Ein Student im ersten Semester steht viel zu widerstandslos unter dem Regiment seines Leibburschen, als daß ich in diesem entscheidenden Augenblick zu widersprechen gewagt hätte, zumal die Freunde bereits auf mich gewartet hatten. In verlegener Eile und mit stammelnden Entschuldigungen geleitete ich das bis in die Stirn erröthete Mädchen zu den Ihren, empfahl mich dort mit dem Hinweis, daß mich die Rücksicht auf meine Reisegefährten zum Aufbruch zwinge, und dann machte ich Kehrt und mir war, als sei plötzlich die Sonne hinter Wolken verschwunden. Unwillkürlich hatte ich beim Weggehen „auf Wiedersehen“ gesagt, und zu spät fiel mir’s auf die Seele, daß ich nicht einmal den Namen des Mädchens erfahren hatte. Zerstreut zahlte ich an den Wirth meine kleine Zeche, und wenn mich nicht eine Bemerkung meines Leibburschen daran erinnert hätte, so würde ich ganz vergessen haben, meiner kleinen Tänzerin mit dem eifersüchtigen Köpfchen Lebewohl zu sagen. So that ich’s von weitem, indem ich meinen Hut gegen sie schwenkte.

„Aber, Fuchs, Dich dürfen wir ja gar nicht mehr allein lassen. Das geht doch über das Bohnenlied,“ hieß es nun, indem die Freunde sich gegenseitig darauf aufmerksam machten, daß das Mädchen mit dem Ausdruck schweren Mißmuths mich ziehen sah. „Es ist im Grunde klug von Dir, Fuchs, daß Du Dich um das Skatspielen ‚drückst‘. Du würdest höllisch verlieren bei so viel Glück in der Liebe!“

Ich aber fühlte nichts von diesem Glück, sondern im Gegentheil nur Aerger über die frühe und jähe Unterbrechung eines so poetisch sich anspinnenden Abenteuers. Um den Neckereien der Kameraden, die es übrigens herzlich gut mit mir meinten, ein Ende zu setzen, erzählte ich ihnen von dem Unglücksfall, der mein kleines Reiseabenteuer eingeleitet hatte. Der Schmied des Orts war eben mit der Reparatur des Wagens beschäftigt. Den daneben stehenden Kutscher hätte ich gar zu gern nach dem Namen seiner Herrschaft gefragt, aber ich fürchtete, meine Freunde würden mir dies als Zeichen der Verliebtheit auslegen, und so schwieg ich. Diese stimmten im Weiterschreiten ein übermüthiges Wanderlied an, in dem es von den Mädchen heißt, daß sie mit Sehnsucht dem weiterziehenden Burschen nachblicken, an den sie ihr Herz verloren; er aber könne sich nicht aufhalten, denn höher noch als Kuß und Liebesglück stehe ihm seine Freiheit. „Wonach zu achten, Fuchs,“ sagte am Schluß des kecken Gesangs mein Leibbursch Lorenz. Und damit war das Thema unter uns erledigt und wir gaben uns gemeinsam den Eindruücken der uns umgebenden Natur hin, deren zauberischer Reiz um so fesselnder ward, je mehr sich das Thal verengte, je wilder zerklüftet die röthlichgrauen Felsen am Ufer der Schwarza zwischen dem dunklen Tannengrün und dem lichten Laubgebüsch emporragten, je ungestümer und kecker das frische Berggewässer vorwärts stürzte, die Vergißmeinnicht am Ufer nur flüchtig berührend, wie ein fröhlicher Gesell in brausender Jugendlust auch weiter stürmt, ob auch freundliche Mädchenaugen am Wege zum Weilen laden.

Abends in Schwarzburg, wo sich im „Thüringer Hof“ wieder eine ganze Kneiptafel fideler Scholaren zusammengefunden hatte, brachten meine zwei Gefährten das Gespräch auf mein Abenteuer und eines der bemoosten Häupter knüpfte daran in salbungsvollem Ton eine recht leichtsinnige Betrachtung über die schöne Einrichtung der Welt, die so groß sei, daß man jeden Tag einem andern Mädchen den Hof machen könne, ohne nur einem wieder am nächsten Tag begegnen zu müssen. Ein anderer, der aus Livland stammte und auch mit zwei Freunden von Jena aus eine Pfingsttour unternommen hatte, erzählte ein lustiges Abenteuer, das sie zusammen am frühen Morgen erlebt hatten. In Rußland besteht bekanntlich die Sitte des Osterkusses. Beim ersten Begegnen am Ostermorgen wird ein Kuß ausgetauscht, wobei man Christos woskress (Christ ist erstanden) sagt. Die drei waren nun früh am Morgen mitten im Feld einem hübschen Bauernmädchen begegnet und der Livländer hatte sie angehalten und mit freier Benutzung dieses Osterkußmotivs ihr auseinandergesetzt, er müsse als Russe heiligem Brauche gemäß dem ersten Mädchen, dem er morgens am Pfingsttag begegne, einen Kuß geben. Offenbar hatte er das recht gut vorgebracht, denn das Mädchen war auf die Schelmerei insoweit eingegangen, daß sie stehen geblieben war und sich vorsichtig umgeblickt hatte, wie um sich zu vergewissern, ob sie allein sei. Der Livländer hatte jedoch diese Gelegenheit versäumt und gewartet, was sie weiter thun werde, indem er sich in theologische Spitzfindigkeiten verlor, die das Landkind unmöglich verstehen konnte. Da hatte sie sich zu den beiden anderen gewandt: ob die Herren auch Russen seien. Und ohne viel Zögern habe darauf der kleinste der drei, ein fideler Breslauer, ihr entgegnet: bloß Freund von Ruß, doch auch Freund von Kuß, habe sich auf die Zehen gehoben und der stattlichen Tochter des Thüringerwaldes einen herzhaften Kuß gegeben. Die habe darauf gelacht und sich dann davon gemacht; der Livländer aber hatte das Nachsehen, weil er, als es zu handeln galt, die günstige Gelegenheit verschwatzt hatte.

In der folgenden Nacht hatte ich einen quälenden Traum Ich war im Garten des Lindenwirths in dem Dorf an der Straße nach Blankenburg; nur war derselbe viel größer als in Wirklichkeit. Die tanzlustige Wirthstochter verfolgte mich auf den Kieswegen, über die ich mit um so größerer Hast jagte, als die Verfolgerin mir näher kam, welche in allen Tonarten mir zurief, ich solle doch stehen bleiben und mit ihr hinter die Laube treten, wo uns niemand sehen könne, und da wolle sie mir einen Kuß geben. Dort hinter der Laube aber stand, das fühlte ich instinktiv, zwischen blühenden Syringensträuchern das weißgekleidete Fräulein. Ihr wollte ich den Kuß geben, um den mich meine Verfolgerin bat. Aber da ich auch nicht von jener dabei gesehen sein wollte, lief ich immer zu, bis jene ermüdet sein und die Jagd einstellen würde. Endlich geschah dies. Nun eilte ich hinter die Laube. Aber ich kam zu spät. Das holde Mädchen in Weiß war freilich dagewesen, jetzt aber wurde sie von Wolken hinweg getragen, unwiederbringlich, und sie konnte mir nur aus der Ferne mit den Händen zuwinken, während der traurige Blick ihres Auges klagte: warum säumtest Du so lange? Jetzt ist’s zu spät!

Und nun merken Sie auf, wie seltsam das Reiseglück mit mir am folgenden Tag spielte. Wir waren früh bei Zeiten aufgebrochen, den schönen Waldweg hinauf zum Trippstein und von dort über Paulinzelle, wo wir nach Besichtigung der alten Klosterruinen Mittag hielten. Am Nachmittage ging’s gemächlich auf einem Waldwege nach Gräfinau, um von dort aus weiter zum Abend nach Ilmenau zu gelangen. Bald hinter ersterem Orte, gerade als wir an einem Kreuzwege uns im Zweifel befanden, welchen Pfad wir zu gehen hätten, trafen wir auf einen Landgendarmen, einen trotz seines martialischen Aussehens und riesigen Vollbarts recht gemüthlichen Vertreter der gestrengen Polizei, der uns nicht nur den Weg zeigte, sondern auch Feuer für unsere ausgegangenen Cigarren anbot, wogegen er eine frische von uns annahm und sich selbst anzündete. Er erklärte, denselben Weg zu gehen, und hatte sich bald mit meinen Freunden in ein Gespräch eingelassen über allerhand aufregende Ereignisse aus der Verbrecherwelt, wofür dem Gendarmen seine Praxis, meinen Freunden der „Neue Pitaval“ den Stoff lieferte, dessen Bände sie gerade damals eifriger studirten, als das Corpus Juris und Windscheids Pandekten. Mir behagten diese Räubergeschichten nicht, die sehr wenig zu meiner Stimmung paßten; aber sie ließen sich nicht stören; eine Geschichte gab die andere, das Thema war zu ergiebig. Erst als der biedere Mann der Ordnung gelegentlich einer Erzählung erwähnte, daß er auch Skat spiele, nahm das Gespräch eine andere Wendung, die dahin führte, daß beim nächsten Wirthshaus die beiden Spielratten den Gendarm einluden, mit ihnen einzukehren und ein paar Stunden zu spielen. Mein Protestiren half nichts. Ich könne mir ja die schöne Gegend betrachten, das müsse für einen „Natursimpler“ wie ich doch noch ein größeres Vergnügen sein; ich aber sagte unwirsch: „Nun gut, ich gehe voraus; in Ilmenau treffen wir uns abends in dem Gasthaus, das uns eben der Herr Gendarm empfohlen hat.“ –

Aergerlich ging ich vorwärts; doch der Blick auf die in der That herrliche Umgebung und die zur Rüste sich neigende Sonne, die im Westen die dunklen Waldberge mit rothem Lichtschein überflutete, gab mich bald wieder der träumerisch wohligen Stimmung zurück, die schon den ganzen Tag mich beherrscht hatte. Das [547] Schauspiel des Sonnenuntergangs, das durch Heraufziehen von Gewitterwolken einen besonderen Reiz erhielt, fesselte mich derart, daß ich nicht merkte, wie der Hauptweg eine Biegung nach links machte, während der Waldpfad, auf dem ich langsam meinen Weg verfolgte, mich in die Irre führte. Ich mochte so eine halbe Stunde gegangen sein, als ich mich plötzlich in einer Allee von hohen dichten Laubbäumen – ob es Linden oder Kastanien waren, weiß ich nicht mehr – befand.

Rechts und links von dem vielfach mit Gras überwachsenen Fahrwege dehnte sich der Wald hin. Bald konnte ich bemerken, daß der erstere in ziemlicher Entfernung in einem breiten Thorweg mündete. Neugierig näherte ich mich demselben; ein parkartiger großer Garten mit alten dichtkronigen Bäumen, zwischen denen aus der Ferne die Mauern eines großen Gebändes vorschimmerten, nahm mich auf. Auch anderes schimmerte hell durchs Gebüsch. Im Hintergrunde des Gartens schien eine größere Gesellschaft mit Spielen im Freien beschäftigt; helle Damenkleider blinkten ab und zu in Lücken des Buschwerks aus, und nun vernahm ich auch Stimmen. Aus meinem Lauschen weckte mich plötzlich ein Geräusch. Schritte knirschten auf dem Kiesweg, der, von dichtem Gesträuch umhegt, nach einem lauschigen Rondel führte. Ein dicker Baumstamm verhinderte, daß ich von dort aus gesehen werden konnte. Die Statue eines sein Schilfrohr blasenden Pans entzog andererseits auch meinem Blick einen Theil des so nahegelegenen Platzes, auf dem jetzt ein feiner Lieutenant in Interimsuniform mit einer jungen Dame heraustrat, auf die er mit lebhaften Gesten einsprach. Er war jetzt stehen geblieben, doch sie ging weiter mit einer abweisenden Gebärde und ließ sich auf einer Bank wie gelangweilt nieder. Jetzt konnte ich das Antlitz sehen; es war – ich traute meinen Augen nicht – meine Reisebekanntschaft von gestern; das weiße Kleid war mit einem rosafarbenen vertauscht. Der junge Offizier drehte sich verlegen den Schnurrbart; dann folgte er dem Mädchen und begann aufs neue seine eindringlichen Vorstellungen. Der Erfolg war eine kurze Antwort von seiten der jetzt sehr streng ihn anblickenden Schönen, welche bewirkte, daß er stracks mit militärischem Ruck Kehrt machte und den Weg, den er vorhin an der Seite des Mädchens gekommen, allein zurücklegte.

Dieses blieb wie in Träumen verloren sitzen. Als sie die Augen wieder hob, stand ich vor ihr. Ja, sie war es wirklich, das holde Kind, dessen Wesen mich gestern wie mit magischer Sympathie berührt, von dem ich die verwichene Nacht so seltsam geträumt hatte. Wunderbare Fügung! Und dieselbe freudig staunende Ueberraschung, die mich beseelte, lächelte mir freundlich aus ihrem Angesicht entgegen. Wir brauchten wenig Worte zur Aufklärung; sie war gestern auf der Reise hierher gewesen; die Besitzung gehörte einem Onkel von ihr. Daß ich mich auf meiner Wanderfahrt von den Gefährten getrennt, um mich hierher zu verirren, mußten unsre jungen Gemüther als eine Fügung des Himmels auffassen, der beschlossen hatte, uns einander wieder zuzuführen. Die berückende Wirkung dieser Thatsache machte das Mädchen zutraulicher gegen mich, als es ein jahrelanger Verkehr in den Salons der Städte würde ermöglicht haben. Sie war aufgestanden und hatte mir freudig die Hand gegeben, wie einem alten Bekannten. Dann aber war eine seltsame Befangenheit über sie gekommen und sie war unwillkürlich einige Schritte in den Schatten der Bäume zurückgewichen, doch ohne mich zu hindern, ihr zu folgen.

Sie stand zwischen blühenden Syringenzweigen, ganz wie ich sie im Traum gesehen, und gelbe Blüthentrauben des Goldregens umringelten ihre schwarzen Locken und ihren weißen Hals. Es war mir plötzlich, als könnte sie mir durch ein Wunder – wie es in dem Traum geschehen – entführt werden, als müsse ich sie fest halten und als könne ich die fliehende Minute versäumen, in der allein mir vergönnt sei, das Lächeln des Glücks von diesen Lippen zu lesen. Und so küßten wir uns.

In den Sträuchern und Bäumen um uns begann es zu rauschen; das schreckte uns auf. Es war nur der Wind, aber das Geräusch hatte ihr das Ungewöhnliche ihrer Lage, unsres Thuns zum Bewußtsein gebracht, nachdem sie vorher die Welt außer uns so ganz und gar vergessen gehabt, was ihr jetzt die Röthe der Scham in die Wangen trieb. Der Wind blies heftiger, und das Gesicht in ihre Hände bergend, fing sie an zu weinen. Ich sah ihr an, wie in ihrem Innern Zweifel rangen, ob sie mich einladen solle, ihr zu den Ihrigen zu folgen. Sie hätte es sicher gethan, wenn die Verlegenheit, die sich ihrer bemächtigt, nicht in diesem Augenblicke stärker gewesen wäre als jede andere Empfindung.

Am Himmel wetterleuchtete es. Große Tropfen fielen. Und nun hörten wir ihren Namen rufen. – „Marie!“ – So erst erfuhr ich, wie sie hieß. „Marie,“ sagte ich leise und ergriff ihre Hand.

„Wir müssen uns wiedersehen,“ sagte sie; „aber nicht heute.“

Ein furchtbarer Donnerschlag unterbrach ihre Worte. Gleich darauf begann der Regen in Strömen zu gießen.

„Marie,“ rief jetzt eine Männerstimme lauter und näher als früher. Geängstigt fuhr sie zusammen. „Ich muß hinein. Auf Wiedersehen!“ Indem sie dies leise rief, eilte sie von dannen. Fort war sie, unwiderruflich fort. Und bis heute bin ich ihr nicht wieder begegnet.

* * *

Die Damen blicken mich erstaunt an. Sie werden mit Recht fragen, ob und warum ich keinen Versuch gemacht habe, sie wiederzusehen? Ob ich ihn gemacht habe! Nach ihrem schnellen Verschwinden hatte mich, der ich trotz des Regens stehen blieb, ein Aufseher angetroffen und barsch gefragt, was ich hier zu suchen hätte. Der wolkenbruchartige Regen unter Donner und Blitz hatte jedoch alle weitere Verständigung abgeschnitten; zu suchen oder zu fordern hatte ich ja nichts hier. Hinter mir wurde knarrend das eiserne Parkthor geschlossen; mir war, als habe ein zorniger Cherub die Pforten des Paradieses hinter mir zugeschmettert. Es war tief in der Nacht, als ich in Ilmenau ankam. Ich hatte mich im Walde bei dem furchtbaren Gewitterregen verlaufen. Die Freunde empfingen mich mit Vorwürfen und sie hatten ein Recht dazu; was wußten sie von dem Wandermärchen, das ich inzwischen erlebt! Ihr Einfluß und die Zucht des studentischen Komments waren stark genug, um mich zu zwingen, am anderen Morgen mit ihnen dem verabredeten Reiseplan gemäß weiter zu marschiren. Mein Geheimniß mochte ich ihnen nicht verrathen. Kurz nach Pfingsten hatte ich meine erste Mensur, bei welcher ich einen scharfen Hieb über den Kopf erhielt, der nur schwer heilte. Sobald ich konnte, habe ich mich dann aufgemacht, um den Weg zu dem einsamen Park im Wald wieder zu finden. Aber ich fand mich in der Gegend nicht zurecht; ging wiederholt irre; die Spur blieb mir verloren. Und dann: ich war eben ein junger Student, der andere Dinge im Kopf hatte, als einem verwunschenen Schloß nachzugehen. Oft war mir’s wirklich, als sei das ganze Erlebniß nur ein Traum gewesen. Aber es war doch wirklich erlebte Wanderpoesie, die unvergeßlich meinem Erinnern eingeprägt ist und heute noch in demselben als schönstes Reiseerlebniß glänzt. So …, das war meine Geschichte.

[555]
3. Hochgefreit.

Die Damen bedauerten lebhaft, daß die Erzählung des jungen Astronomen keinen befriedigenden Schluß habe. Dieser entschuldigte sich, er sei kein Dichter, und die Geschichten, welche das Leben dichte, blieben nun einmal öfters ohne harmonischen Abschluß.

„Vielleicht ist die Ihre aber noch gar nicht zu Ende,“ meinte der Maler, „und das Leben dichtet Ihnen noch unvermuthet den passenden Schluß hinzu.“

„Offen gestanden, ich habe früher manchmal auch diesen Aberglauben gehegt, jetzt bin ich aber längst der Meinung, daß gerade der poetische Reiz meines Abenteuers in seinem fragmentarischen Charakter besteht, und gerade darin erblicke ich das Wesen des Wanderzaubers, daß auf Reisen selbst Herzenserlebnisse an der Seele flüchtig vorüberziehen wie die Eindrücke der Landschaft und keinen anderen Eindruck zurücklassen, als den eines schönen, reinbeglückenden Bildes.“

„Im Grunde ist denn doch diese Auffassung,“ ergriff nun Professor Schröder das Wort, indem er sich über den weißen Bart strich, „ebenso romantisch wie pessimistisch. Mir fielen vorhin bei Ihrem Schluß ein paar Verse Scheffels ein, des Dichters, auf dessen Spuren wir hier im Gebiete des Säntis wandern, Verse, die für seine im Grunde so melancholische Gemüthsart ebenso bezeichnend sind wie für seine Neigung, an die Schönheitswelt der Alpen seine poetischen Gedanken anzuknüpfen. Er schildert in dem Gedicht eine Wanderung fahrender Schüler über Alpenhöhen:

‚Hier blitzt ein Städtlein und dort ein Gefilde,
Dort eines Stromes sich schlängelnder Lauf,
Dort auch ein See, wie ein Menschenaug’ milde,
Aus der vernebelten Ferne herauf.
Flüchtig nur winkt es und flüchtig versinkt es
In das umflorende Dunstmeer zurück …
So ist das Leben – sternschnuppig nur blinkt es …
So ist die Minne, die Hoffnung, das Glück.‘

Meine persönliche Erfahrung setzt mich dagegen in Stand, dem Leben wie dem Reisen bleibendere und tiefer greifende Segnungen nachzurühmen. Mich wenigstens hat meine erste größere Reise in die Alpenwelt nicht nur von ähnlichem Pessimismus befreit, [556] sondern auch an dauerndes Glück zu glauben gelehrt. Wenn niemand sonst sich zum Worte meldet, will ich Ihnen dies Erlebniß erzählen.“

„Bitte, Herr Professor! Wir hören!“

„Jene Tage liegen bereits so abgeklärt hinter mir, daß ich von dem jungen Privatdozenten Hermann Schröder, dem Helden meiner Geschichte, völlig objektiv erzählen kann, wie von einem guten Freund, an dessen Jugendgeschicken ich einstmals herzlichen Antheil genommen. Wie schon angedeutet, war dieser für seine Wissenschaft begeisterte junge Gelehrte in der Zeit, welche jenem Erlebniß vorausging, von einem Pessimismus angekränkelt, wie er ihn später nie hat theilen können. Dieser Pessimismus war freilich keine Aeußerung eines etwa angeborenen Trübsinns, sondern die Folge von Ereignissen, die nicht nur auf ihn so niederdrückend gewirkt haben. Seine Universitätsjahre fielen in jene Zeit, da die Träger der deutschen Bildung von der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche eine Neuerrichtung des deutschen Reichs im Zeichen der Freiheit erhofften und auch anfangs erhoffen durften in Anbetracht der Begeisterung, mit welcher, gleich den edelsten deutschen Männern wie Grimm und Uhland, der beste Kern des Volks in allen Schichten diesem Ideale anhing und zustrebte. Ein geborener Rheinländer, studirte unser junger Freund in Bonn, anfangs die Rechte, bis er sich mit wachsender Ausschließlichkeit den schönen Wissenschaften, im besonderen der Litteratur- und Kunstgeschichte, zuwandte, angezogen durch die glänzenden Vorträge Gottfried Kinkels, welchem er auch trotz des Unterschieds in Stellung und Alter freundschaftlich näher trat. Die in dem engeren Kreise des wegen seines Freisinns schon wiederholt gemaßregelten Dichters herrschende politische Erregtheit, seine Theilnahme an den Kämpfen für die Verwirklichung eines freigeeinten deutschen Vaterlands ergriff auch ihn, und als die so schön erblühten Hoffnungen dann im Jahre 1848 gewaltsam zerstört wurden, fand die revolutionäre Gegenbewegung der Patrioten auch ihn in ihren Reihen. An dem Sturm auf das Zeughaus in Siegburg nahm auch er theil und würde dem geliebten Lehrer und Führer sogar auf den Kampfplatz in der Pfalz und Baden gefolgt sein, wenn ihn nicht direkt nach jener Sturmnacht ein hitziges Nervenfieber ergriffen und ihn jeder Theilnahme an allem, was ihm theuer war, entzogen hätte…

Doch mich beengt die objektive Erzählungsform, die ich wählte, lassen Sie mich nicht mehr wie von einem Fremden, sondern frei von der Leber weg von mir selber erzählen.

Als ich wieder genas, war Kinkel gefangen und mit ihm so mancher, auch mir lieber Gefährte des Siegburger Waffenganges; andere Gesinnungsgenossen waren nach der Schweiz und England geflohen, denn die Reaktion wüthete unbarmherzig. Auch ich wandte mich nach Zürich, wo ich meine Studien zum Abschluß brachte, mein Doktorexamen bestand und dann an die Ausarbeitung eines größeren litterargeschichtlichen Werkes ging, das meiner Geistesrichtung entsprach; es behandelte die Anfänge der politischen Dichtung im Mittelalter. Die Arbeit sollte mir die akademische Laufbahn ebnen, für welche ich inneren Beruf fühlte. Sie sollte mich aber auch abziehen von der Gedankenwelt trübster und kraftlosester Art, welche sich meines Gemüthes infolge des Fehlschlagens jener großen Erwartungen bemächtigt hatte. Empfand ich doch sogar meine Freiheit, mein Unbehelligtbleiben, während meine Freunde im Kerker schmachteten, als eine Schuld, obgleich ich doch wahrlich nicht dafür verantwortlich war, daß meine Natur unter den ungewohnten Aufregungen so schnell einem Nervenfieber zur Beute fiel. Bei den Eindrücken, welche mich nach dem Verlassen des langen Krankenlagers empfingen, hatte mein angegriffenes Geistes- und Seelenleben nicht recht wieder genesen können. Eine allgemeine Verstimmung der Nerven war zurückgeblieben, ein die Thatkraft lähmendes Mißtrauen in meine Kraft und die Kraft der Menschen überhaupt; sie äußerten sich in einem resignirten Verstummen all den idealen Fragen gegenüber, die mir vorher das Herz so mächtig bewegt hatten, während mein Geist über die Unzulänglichkeit menschlichen Wollens, über die Ohnmacht idealen Strebens trostlos grübelte. Ich empfand es als demüthigende Schmach, durch die Schwächlichkeit meines Körpers um die Ehre gebracht worden zu sein, für meine Gesinnungen im offenen Kampfe einzustehen, und mit Neid auf das Märtyrerthum meiner eingekerkerten Genossen las ich die Berichte von deren kühner Standhaftigkeit im Verhör, während sich um meine geringe Betheiligung selbst die Untersuchungskommissionen nicht kümmerten. Meiner Heimkehr ins Vaterland stand nicht einmal ein elender Steckbrief im Wege.

Dennoch trat ich dieselbe nicht an. Die Nachrichten von der Reaktion, die auf allen Gebieten geistigen Lebens Platz gegriffen, lauteten zu abschreckend für einen jungen Gelehrten, für dessen Beruf Gedanken- und Redefreiheit Voraussetzung des Gedeihens sind. So habilitirte ich mich in Zürich als Privatdozent und verwandte den größeren Theil meiner Zeit auf mein Buch, dessen Interesse mich schließlich doch nöthigte, einige deutsche Städte ihrer Bibliotheken wegen aufzusuchen, um dort gewisse Quellenwerke und Handschriften zu benutzen.

Eine solche Reise führte mich im Frühjahr 1851 nach Wien, und da mich dort unvermuthete Funde von Manuskripten, die ich auf der kaiserlichen Bibliothek machte, zu einer durchgreifenden Umarbeitung mehrerer Kapitel meines Buchs nöthigten, blieb ich dort länger, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte, sagte für das Semester meine Vorlesungen ab und miethete mich in der Nähe der Bibliothek ein, wo ich mich bald derart hinter meinen Büchern eingesponnen hatte, daß ich von den Lockungen des Frühlings und der lebenslustigen Kaiserstadt kaum etwas spürte. Für mich war und blieb diese das ‚Capua der Geister‘, wie sie der strafende Mund des Dichters genannt hatte. Der fröhlich leichte Sinn der Bevölkerung erschien mir so kurze Zeit nach den furchtbaren Auftritten der Straßenkämpfe fast als frivole Leichtfertigkeit.

An jene Tage, da auch in Wien, dem Wien Metternichs, für die Freiheit gekämpft wurde, fühlte ich mich täglich beim Auf- und Niedersteigen der Treppe zu meiner hochgelegenen Wohnung durch das Schild vor der Wohnung des ersten Stockwerks erinnert, das einen altaristokratischen Namen trug, welcher, einem der Führer der Reaktion in Oesterreich zugehörig, damals viel, in liberalen Kreisen aber immer nur mit Abneigung, ja erbittertem Grimm genannt wurde. Freilich war es nicht jener berüchtigte Staatsmann selbst, der hier wohnte. Wie ich von meiner Wirthin, einer gutmütigen alten Wiener Kleinbürgerin, der ein Plausch über alles ging, schon bald nach meinem Einzug erfuhr, wurde der erste Stock von einer Schwägerin des gefürchteten ‚Demagogenriechers‘ bewohnt, deren Mann Leibarzt eines der kaiserlichen Erzherzöge gewesen und früh gestorben war. Sie bewohnte die schöne Etage mit ihrer einzigen Tochter. Auch zu sehen bekam ich beide bald.

Der Eindruck war ein sehr verschiedener. Die alte Medizinalräthin hatte in ihrem Wesen und Antlitz ganz jenen Stolz ausgeprägt, der den Ambitionen dieser Familie entsprach, und ihre kühle, strenge Art wirkte um so auffälliger, als die Dame beständig auf die Hilfe und Liebe von ihr untergebenen Menschen angewiesen war: sie hatte ein neuralgisches Leiden und mußte sich im Rollstuhl fahren lassen. Die Tochter, deren Gestalt von vollendeter Schönheit war, hatte dagegen in ihren Zügen zwar auch einen Zug von ernster Zurückhaltung und vornehmem Selbstbewußtsein, welcher die natürliche Anmuth derselben beeinträchtigte, aber in ihrem Blicke äußerte sich ein warmes Seelenleben, das sehr wenig zu der frostigen Gemessenheit ihres Benehmens paßte.

Ich hatte gleich beim ersten Begegnen Gelegenheit, diesen Blick kennen zu lernen. Bei der Rückkehr von der Bibliothek fand ich eines Abends den Eingang ins Haus gesperrt durch den Rollstuhl der alten Dame, der von einem gleichfalls bejahrten Diener in den Flur geschoben wurde. Da ihm die Schwelle bei dieser Manipulation einige Schwierigkeit machte, war das Fräulein vor der Thür stehen geblieben und ich wurde auf diese Weise ihr Gegenüber, da ich natürlich auch warten mußte. Unwillkürlich lüftete ich grüßend den Hut; sie erwiderte den Gruß mit einer kühlen, kaum merklichen Neigung des Kopfes, doch mit einem Blick, der in höflichster Weise um Entschuldigung bat wegen der von der Mutter verursachten Störung der Passage. Diese stumme Art nöthigte mich unwillkürlich auch zum Schweigen; sie verdroß mich, denn ich meinte, darin die Anmaßung der jungen Aristokratin erkennen zu sollen. Während der Diener in Gemeinschaft mit einem Stubenmädchen, das heruntergeeilt war, den Rollstuhl sammt der Baronin hinauftrug, passirte dem Manne ein Unglück. Er trat fehl, strauchelte und wäre wahrscheinlich gefallen, wenn ich, der ich hinter ihm schritt, ihn nicht hätte [557] aufhalten können, worauf ich ihm kurzer Hand und das Lamento der erschrockenen alten Dame nicht achtend, die noch fehlenden Stufen den Stuhl tragen half. Dann grüßte ich kurz und stumm, ganz wie die alte Dame, ohne daß es mir entging, wie die Tochter mir einen Blick voll freundlicher Sympathie nachsandte. Ich begegnete ihr noch oft, und sie erwiderte stets freundlich meinen Gruß, aber die Wärme jenes Blickes fand ich nicht wieder. Doch vergessen konnte ich ihn nicht; er stahl sich in meine Träume, er leuchtete plötzlich zwischen den Zeilen meiner alten Pergamentfolianten hervor, in denen ich die Originale der Minnelieder altprovençalischer Troubadours, der Bertrand de Born und Guillem de Cabestaing studirte, Strophen, die jene kecken Bekenner kühner und freier Gedanken einst an gesellschaftlich hoch über ihnen stehende Frauen gerichtet hatten, durchglüht von hoffnungsloser Liebe.

Thoren, die sie waren, sagte ich oft in jenen Tagen zu mir, Thoren, sich in so unnahbare Wesen zu verlieben, welche – wenn sie wirklich die Frauen dieser Dichter geworden wären – sie in jeder Beziehung die erhoffte Herzens- und Geistesgemeinschaft hätten entbehren lassen. Jene – muthvollen Kämpen einer neuen Zeit mit freien Anschauungen und diese hocharistokratischen Ritterdamen, ganz erfüllt von den Vorurtheilen eines herzlosen, in strenge Formen gezwängten Feudalismus! … Ich aber – fühlte mich gewappnet gegen derartige Schwächen. Und wenn mich jene Blicke noch tiefer getroffen gehabt hätten, ich hätte mich schon hüten wollen, ihnen mein Herz preiszugeben. So meinte ich. Doch wenn ich ihr dann wieder auf der Treppe begegnet war oder beim Vorübergehen aus ihrer Wohnung den Gesang einer mich im Innersten ergreifenden Altstimme vernommen hatte – das Mignonlied in Beethovens herrlicher Komposition sang sie mit Vorliebe – da waren meine Gedanken wieder ganz in ihrem Bann und mir war, als habe ich selbst ähnliche Gedichte an sie zu richten wie jene hoffnungslosen Troubadours. Ja, es war Thorheit, es war Wahnsinn, was jene gethan; aber was kümmert sich die Liebe darum, ob das, was sie anstiftet, Thorheit ist. Ich war verliebt in jene stolze Trägerin eines von jedem freisinnigen deutschen Mann damals gehaßten Namens – trotz all meiner Klugheit …

Natürlich ließ ich ihr meine Empfindungen mit keinem Wimpernschlag merken. Aber je mehr ich gegen die schnell emporgewachsene Leidenschaft ankämpfte, um so mächtiger nahm sie von all meinem Denken und Fühlen Besitz. Ich schämte mich; ich verhöhnte mich im Stillen; aber immer mehr zehrte das Verlangen, sie zu sehen, an mir und machte mich zum Narren meiner Grundsätze. Denn diese Liebe erschien mir in den Stunden ruhiger Ueberlegung als Verrath an meiner Ueberzeugung. Schließlich verlor ich alle Fähigkeit, wie bisher an meinem Werke fortzuarbeiten. Ich ging schon damit um, in eine andere Wohnung zu ziehen, weil ich es in demselben Hause mit ihr doch nicht aushalten könne; da nahm mich eines Mittags ein junger Arzt, der mit mir denselben Mittagstisch besuchte, bei Seite und sagte mit wohlwollendem Ernst zu mir: ‚Lieber Freund, Ihr Aussehen und Ihr Wesen machen mir Sorge. Ihre Nervosität ist in letzter Zeit bedenklich gesteigert. Klappen Sie Ihre Bücher zu und reisen Sie auf ein paar Wochen ins Gebirg. Es ist hohe Zeit! Folgen Sie meinem Rathe!‘

Ich folgte ihm um so bereitwilliger, als ich an demselben Tage durch meine Wirthin erfuhr, die Damen vom ersten Stock, von denen ich mehrere Tage nichts gesehen, seien, wie nun schon mehrere Jahre um diese Zeit, nach Ischl ins Bad gereist. Nicht als ob ich nun die Absicht gehabt hätte, ihnen nachzureisen, – im Gegentheil. Wohl klang es wie Lockruf in meiner Seele, ihre Art, wie sie die Goethesche Sehnsuchtsstrophe ‚Dahin dahin‘ gesungen hatte; aber die Reise, die ich vorhatte, sollte mich grade von solcher Sehnsucht [558] befreien, mich nicht wieder in ihre gefährliche Nähe bringen. Aber daß auch sie nicht mehr hier war, erleichterte mir doch den Entschluß zur Abreise. Die österreichische Alpenwelt ist so groß, und Ischl so klein; da kann man sich ja schon ausweichen.

Die Herrschaften kennen das Salzkammergut?

„Wir waren erst voriges Jahr vier Wochen in Aussee,“ erwiderten zustimmend die Kurzschen Eheleute.

„Und ich habe schon dreimal den Dachstein bestiegen, das eine Mal von Süden her, die zwei andern Male von Gosau aus; da ist der Anstieg ein recht schwieriger,“ sagte der Engländer.

„Und wir haben das herrliche Land von See zu See durchschweift,“ riefen die Malersleute. Nur der Astronom war noch nicht dort gewesen.

„Nun, da steht Ihnen noch eine Fülle lieblicher und großartiger Eindrücke von eigenstem Reize bevor. In jener herrlichen Gegend, wo eine fast südliche Vegetation die Thäler und Seeufer mit Lustgärten überzieht, während zu ihren Seiten mächtige Felsenkämme über waldigen Vorbergen gen Himmel ragen, ging mir damals zuerst die Pracht und Schönheit unserer Alpen auf. Und noch viel anderes.

Ich ging wirklich nicht nach Ischl. Ich mied es ängstlich und empfand es mit Genugthuung, wenn Touristen, mit denen ich in Unterhaltung kam, das modische Solbad zwischen den Salzbergen für den langweiligsten Ort im Lande erklärten. Ich reiste, wie es meiner inneren Unruhe entsprach, nach Laune von einem der schönen Seen zum andern. Zuerst machte ich am Traunsee Station und hier war es, wo ich, der Weisung des Arztes folgend, mich allmählich an immer größere Bergtouren wagte, so daß ich keinen irgend erträglichen Tag vorüberließ, ohne eine Höhe zu besteigen. Im Anfang überwog die Anstrengung den Genuß. Ich war ja des Steigens zu ungewohnt, um mich nicht von einem mehrstündigen Auf- oder Niederstieg wie zerschlagen zu fühlen.

Eine der ersten steileren Höhen, die ich damals erklomm, war in ihren Anfängen ein Kalvarienberg und die Mühseligkeit des Anstiegs, den Wallfahrtsstationen vorüber, erschien mir in der That als eine Kasteiung. Mißmuthig war ich noch vor Schluß der Table d’hote aufgebrochen, hatte erst in meinem Zimmer Ruhe gesucht, und da ich sie dort nicht fand, war ich aufgebrochen und hatte planlos den Weg eingeschlagen, von keinem anderen Wunsche beseelt als dem, allein zu sein und nichts mehr zu hören von den Phrasen übertünchter Höflichkeit und überfirnißter Thorheit, die mich bei Tische umschwirrt hatten. Das waren nun Menschen, auf Rang und Stand höchst eifersüchtige Menschen gewesen, die sich alle für höchst gebildet erachteten, und doch hatte ein jeder gesprochen, als erschöpfe sich in Toiletten-, Küchen-, Etikette- und Sportfragen das Interessengebiet des Geistes. Und das wird immer so bleiben, sprach ich in mich hinein. Aller Fortschritt der Menschheit ist nur ein scheinbarer, weil man den Fortschritt einzelner mit dem der Menschheit verwechselt. Der Weg, den ich beschritt, zog jedoch wegen seiner Steilheit meine volle Aufmerksamkeit auf sich. Es war das ausgewaschene Bette eines offenbar einst mächtigen Gewässers. Wohl viele hundert Jahre hatte hier das Wasser fließen müssen, ehe es diesen Weg so glatt und sauber in die Felsen eingescheuert.

Unwillkürlich fiel mir der lateinische Sprach ein: gutta cavat lapidem – der Tropfen höhlt den Stein. Und wie ich mühsam Schritt für Schritt auf dem steilen Pfade empordrang, nur nach langer Mühe ein Ziel erreichend, das nach dem Augenmaß wie im Sprunge zu erreichen geschienen, da machte sich in meine Gedanken die versöhnliche Einsicht, daß eben auch die Höhen des menschlichen Fortschritts nicht allen zugänglich und nicht gleichmäßig zu erklimmen sind und die Langsamkeit des Vorwärtsschreitens in ihrer Natur begründet ist. Je höher ich stieg, um so kleinlicher erschien mir der Anlaß meines Grolls. Und als ich oben auf der Spitze des Berges war, da überkam mich ein wonniges Gefühl des Befreitseins von Trübsal und Kleinmuth, entzückt schweifte mein Blick ins weite Land über Berg und Thal, über blitzende Spiegel von blauen Seen und weiße Gipfel von blauen Bergen und auf meine Lippen drängte sich der Ausruf: ‚Die Welt ist doch schön – trotz alledem.‘ Und gleich dann mußte ich an sie denken, deren Anblick ich fliehen wollte, deren Bild mich aber überallhin begleitete. Auch sie, die Nichte des finsteren Reaktionsmanns, hier oben würde sie aus dem Anblick der schönen großen Gotteswelt eine ähnlich befreiende Wirkung gewinnen.

Und mit jeder neuen Bergfahrt fühlte ich mich, obgleich sie mich den Menschen entrückte, den Menschen und der bunten Mannigfaltigkeit ihres Strebens näher gebracht. Viel trug dazu bei der Eindruck, den ich von dem Leben der Landleute dieser schönen Gebirgswelt empfing. Die zähe Ausdauer, mit der diese Leute dem entlegensten Erdstrich zwischen Felsentrümmern Gras und Futterkräuter für ihr Vieh abgewinnen, ihre Genügsamkeit und ihre Fähigkeit, von Herzen froh zu sein in ihrer Dürftigkeit, steigerte meine Achtung vor dem Menschenthum und ließ mir die socialen Unterschiede, die uns im Qualm der Städte entzweien, in ihrem Kern nur noch gering erscheinen. ‚Und sie bewegt sich doch,‘ sagte ich mir, wenn ich in einem weltentlegenen Einödhof des Gebirgs moderne Werkzeuge in Gebrauch fand, ‚und sie bewegt sich doch vorwärts, die Menschheit‘– wenn ich Spuren geistiger Aufgeklärtheit entdeckte bei Leuten, denen ich die Kunst des Lesens nicht zugetraut hatte. Und: ,Sollten wir uns nicht doch finden können?‘ fügte ich bei, wenn ich der Stolzen gedachte, deren Pfad mein Verstand hatte meiden wollen, während im Stillen mein Herz hoffte, ich möchte ihn kreuzen.

Es war auf der Straße nach Gosau, die vom Hallstätter See aus am Fuße des Salzbergs hin durch das waldumschattete wildromantische Gosauthal führt. Die vielgerühmte Gosauschmiede war mein Ziel; ich wollte in der Nähe des wundersam schönen stillen Alpensees, der seine anmuthige Idylle unmittelbar unter der Gletschermajestät des gewaltigen Dachsteinmassivs entfaltet, ein neues Standquartier suchen. Ich war in der fröhlichsten Stimmung und sang ein altes Studentenlied vom Wandern. Plötzlich hörte ich hinter mir einen Wagen in schnellem Tempo heranfahren. Da ich inmitten der Straße ging, schwenkte ich nach rechts ab, mich unwillkürlich nach der Ursache der Störung umsehend.

Eben kam die Equipage herangerollt und schon wollte ich mich zum Weitergehen wenden, da erblickten meine Augen Fräulein Josephine neben einer freundlichen alten Dame im Wagen. Nur für einen Moment verlor ich die Fassung. Dann grüßte ich höflich. Die Damen erwiderten freundlich den Gruß und die ältere, welche mich mit Interesse angeblickt hatte, richtete dann eine Frage an ihre Nachbarin, worauf sie mit ihrem Sonnenschirm dem Kutscher das Zeichen zum Halten gab.

Beide Damen wandten sich mit einladender Gebärde nach mir um, ich war an ihrer Seite.

,Ein Bekannter meiner Nichte, Herr Doktor, das freut mich. Wir armen Frauen reisen so allein durch die Berge, da ist das Vergnügen doppelt groß, einen Herrn zu finden, an dessen Rath und Stütze man zu appelliren ein Recht hat.‘

Die Nichte, welche hoch erröthend neben ihr saß, wollte sie unterbrechen. Die alte Dame aber ließ sich nicht stören und stellte sich vor als Schwester der Mutter Josephinens, als welche sie es für ihre Pflicht gehalten habe, ihren Liebling aus der Monotonie des Ischler Badelebens auf einige Tage zu befreien und sie zu einer Wagenpartie nach den schönsten Orten des Salzkammerguts einzuladen. Doch was sei eine solche Vergnügungsfahrt ohne Herrengesellschaft!

‚Aber Tante!‘ flüsterte wiederum Josephine.

‚Ei was, ich will mit Eurer Duckmäuserei nichts zu thun haben; ich sage meine Meinung immer ehrlich heraus. Also, Herr Doktor, Sie haben die Wahl. Wollen Sie zu uns einsteigen oder dürfen wir zu Ihnen auf die Straße kommen, um an Ihrer Wanderlust teilzunehmen, die Ihnen da eben so fröhlichen Gesang aus dem Herzen lockte? Josephine, die über diese Fröhlichkeit sehr erstaunt that – ich wundere mich gar nicht darüber – hat schon während der ganzen Fahrt beklagt, daß sie nicht zu Fuß durch die schönen Thäler einherziehen könne. Wollen Sie uns mitnehmen?‘

Ich öffnete in einer ganz eigenen Stimmung, die aus Seligkeit und Verlegenheit wundersam gemischt war, den Wagenschlag, aber sie, deren Nähe mich so erregte, zögerte noch, indem sie mit einem Frageton, der sich an mich wandte, zur Tante sagte, sie wisse doch nicht, ob sie berechtigt wären, an mich solche Ansprüche zu erheben; Tante hätte sie falsch verstanden, wir hätten zwar [559] in demselben Hause gewohnt – ,Ei was da‘ unterbrach sie die lebenslustige alte Dame, ‚siehst Du denn nicht, daß der Herr sehr erfreut ist über den Zwischenfall? Nur ohne Umstände! Schnell ausgestiegen! Dafür sind wir auf Reisen. Kutscher, fahren Sie nur immer voraus und halten Sie, wo die Wege nach Ober- und Untergosau sich theilen.‘

Auf diesem so originell eingeleiteten Spaziergang durch eines der schönsten Alpenthäler der Welt, vor uns die zackige Wand der Donnerkogel, überragt von einigen schneeigen Spitzen des Dachsteins, lernten wir uns nun eigentlich erst kennen. Sie hatte bisher in Ischl wie auch in Wien ein recht einsames Leben geführt. Das Leiden ihrer Mutter und deren Kur-Diät hatten auch ihrem Bewegungsbedürfniß enge Schranken gezogen. Der oberflächliche Umgangston in den Gesellschaftskreisen, mit denen die Mutter Verkehr Pflegte, hatte sie, wie schon gelegentlich der früheren Aufenthalte in Ischl, wenig befriedigt. Ja, sie war eine Aristokratin, sie war in konservativen und feudalen Anschauungen aufgewachsen; aber sie hatte das bürgerliche Element in seinen besten Vertretern, in Künstlern und Gelehrten, kennengelernt und in ihrer stillen Wohnung, wo sie seit des hochgebildeten Vaters Tode viel einsame Stunden gehabt, hatte ihr die sonst von niemand benutzte Bibliothek des Verstorbenen Quellen höchster Bildung erschlossen. Wohl war sie in einer Klosterschule erzogen und dann von einer französischen Gouvernante mit jenen Kenntnissen versehen worden, die nur auf äußere Repräsentation berechnet sind, aber sie hatte seitdem auch Goethes ,Faust‘ und Humboldts ,Kosmos‘ gelesen und ihre mir so sympathischen Augen blickten mit besserer Einsicht in die Welt, als so mancher meiner früheren Bekannten, der sich hoher Bildung vermaß. Das alles erfuhr ich, während wir, bald allein, bald mit der freundlichen Patronin uns unterhaltend, der in stiller Bergeinsamkeit gelegenen Gosauschmiede zuschritten. Daß ich aber den Muth zu all den Fragen fand, verdankte ich einzig dem befreienden und belebenden Einfluß der erhabenen Alpennatur. Wie bringt doch das Leben in der freien Natur der Natürlichkeit näher; wie schnell entstand hier eine herzerquickende Intimität zwischen zwei Menschen, die drin in der Stadt, obgleich in demselben Hause wohnend, kaum mehr als drei Worte mit einander gewechselt hatten!

Aber trotz dieser Annäherung, trotz der zwischen uns emporblühenden Freundschaft blieb ein Etwas zwischen uns, was meine Hoffnungen niederdrückte. Das viele Alleinsein, das leider nicht sehr herzliche Verhältniß der Mutter zu der Tochter hatte in dieser eine gewisse Selbständigkeit des Meinens und Willens entwickelt, die mich bisweilen wie Standeshochmuth berührte.

Unser Leben im Schutze der Tante hatte sich sehr gemüthlich gestaltet. Sie fuhr mit uns spazieren, nahm die Mahlzeiten mit uns, anstrengendere Partien aber ließ sie uns allein unternehmen. So gab sie der nach einer richtigen Hochtour sich sehnenden Nichte auch die Erlaubniß, mit mir die Zwieselalp und von da den großen Donnerkogel zu besteigen, diese herrlichen Aussichtspunkte, welche gleichzeitig in die Gletscherwelt des vielgipfeligen Dachsteins aus unmittelbarer Nähe intimen Einblick und einen weiten Ausblick über die Höhen, Thäler und Seen der Salzalpen gewähren. Sie hatte gehört, daß man diese Gipfel ganz gut ohne Führer besteigen könne, und setzte meinem Vorschlag, dennoch einen solchen zu nehmen, hartnäckigen Widerspruch entgegen.

Es war ein heißer Tag, und obgleich wir sehr früh am Morgen aufgebrochen, machte sich die Gluth der Sonne bald genug geltend. Wir stiegen anfangs mit frischer Kraft und in bester Stimmung die Zickzackwege zur Zwieselalp bergan, deren Beschreiten kein beschwerliches gewesen wäre, wenn nicht der lockere Glimmerschiefer den Füßen nur einen schlüpfrigen Halt geboten hätte. Ich ließ sie zunächst voranschreiten, um ihr sofort, im Falle sie es bedürfe, als Stütze dienen zu können. Auch wenn ich nicht verliebt gewesen wäre, würde mich der Anblick der vor mir elastisch emporsteigenden schlanken Gestalt entzückt haben. Dennoch glitt ihr kleiner Fuß wiederholt aus und ich bot ihr an, sie bei der Hand zu führen. Das verdroß sie: sie bedürfe solcher Hilfe nicht. Auch bat sie mich, voran zu gehen, sie werde schon sicher nachkommen. Da ersteres bei steileren Stellen ohnedies nöthig gewesen wäre, zögerte ich nicht, es zu thun. Doch ersuchte ich sie, dicht hinter mir zu bleiben. Da sie gerade wieder ein Rutschen der Glimmersteine verursacht hatte, machte sie, darüber ärgerlich, sich dran, den steinigen Fußpfad zu verlassen und über den grasigen, mit Knieholz durchsetzten Abhang emporzuklimmen. Umsonst warnte ich sie davor; sie schwang ihren Alpenstock und stieg rüstig voran: hier sei der Weg viel weicher und zudem schneide sie dabei gehörig ab.

Ich beeilte mich nun, an ihre Seite zu gelangen; es war auch hohe Zeit. Als ich bei ihr war, hatten sich ihre Füße im Geäst eines breitwuchernden Alpenrosenbusches verfangen; als sie glücklich wieder frei war, lachte sie aber mich aus.

Der Abhang wurde steiler und steiler, moosüberwachsene Felsblöcke stellten sich in den Weg, und noch zeigte sich nicht der Fußweg, auf den sie gedacht hatte, nach wenig Minuten wieder zu gelangen. Schattenlos dehnte sich vor uns die grüne, felsübersäete Berghalde steilan; um mir zu zeigen, daß sie gar wohl den eigenwillig aufgesuchten Schwierigkeiten gewachsen sei, muthete sich die solchen Steigens völlig Ungewohnte Uebermenschliches zu. Ich drang in sie, einmal still zu stehen und zu rasten – sie schritt, schweigend mit dem Kopfe schüttelnd, weiter; da – als ich wieder von dem steinbesäeten Wege aufsah, brach sie zusammen.

Ich eilte vorwärts. Hinter einer Zwergkiefer fand ich sie, auf den Alpenrosenteppich hingestreckt. Eine Ohnmacht, ein Hitzschlag hatte sie getroffen. Ich selbst fühlte mich bei dem Anblick wie vom Schlage gerührt. Doch ermannte ich mich schnell. Ich hob ihr Haupt und legte es so, daß es vom Schatten der Kiefer gekühlt ward. Ich machte ihren Hals frei, damit sie freier athmen könne. Dann nahm ich aus meinen, leichten Rucksack die mitgenommene Weinflasche, von der zu trinken sie vorher abgelehnt hatte. Ich netzte mit dem kühlen Naß ihre Schläfe; dann setzte ich ihr die Flasche an den Mund, der fest geschlossen war. Die ersten Tropfen rieselten ungetrunken über Wangen und Kinn.

Auf einmal aber löste sich die Starrheit in dem bleichen Antlitz. Sie öffnete die Lippen und mit gierigen Zügen trank sie von dem erquickenden Wein. Und jetzt öffnete sie die Augen. Träumerisch schaute sie in die meinen, die gewiß mit warmer Zärtlichkeit auf ihr ruhten.

,Welch schöner Traum!‘ hauchte sie und schloß die Augen wieder, jetzt mit dem Ausdruck wohliger Schlafseligkeit. Dann öffnete sie aufs neue wie durstig die Lippen. Ich reichte ihr wieder den Wein; sie trank davon, doch nur wenig; dann schüttelte sie enttäuscht den Kopf.

,Fräulein Josephine!‘ rief ich, indem ich mein Gesicht zu dem ihren niederbeugte. Da fühlte ich meinen Hals von den Armen der Träumenden umfaßt, sie schmiegte ihre Wangen an die meinen:

‚Hier bin ich!‘ sagte sie leise aus dem Traume heraus und nannte mit dem Ausdruck zärtlicher Liebe meinen Namen.“

Der Professor, der selbst wie in träumerischer Entrücktheit dies letzte erzählt hatte, blickte wie erwachend auf. Er fuhr sich über die Stirn und lächelte dann seinen Zuhörern zu.

„Wozu mehr erzählen? Das war mein schönstes Reiseerlebniß! – Wie es kam, daß wir am Abend nach diesem Morgen als verlobtes Paar an jener Stätte glückseligen Unglücks wieder vorüberschreiten konnten? Das Bewußtsein weiblicher Schwäche, das von ihrer Ohnmacht zurückgeblieben, und noch ein anderes Bewußtsein hatten die Starrheit des Stolzes von ihr genommen. Sie fühlte, daß im Kampf gegen elementare Schwierigkeiten nicht der Eigenwille entscheidet, wenn ihm die Kraft zur Ausführung fehlt. Sie fühlte, daß sie mich liebe. Soll ich noch schildern, wie wir uns oben auf der luftigen Bergesspitze emporgehoben fühlten und erhaben über so vieles, was unten in den Städten die Menschen scheidet und die trennenden Vorurtheile nährt, wie wir uns so rein in unserer Menschlichkeit dort gegenüber standen, daß uns leicht zu überwinden schien, was uns noch trennte; wie die einst für unübersteigbar gehaltenen Hindernisse im Austausch der Seelen uns nichtig erschienen gegenüber der Harmonie der Natur, wie sie unseren entzückten Blicken sich darbot? Ein Wort sagt alles: es fanden sich unsere Herzen auf Bergeshöh’n: so hab’ ich mir im Freien mein Weib voll Freiheit gefreit.“

[572]
4. Die Geschichte der Malersleute.

Professor Schröder hatte kaum seine Erzählung geschlossen, als ihm auch schon eine Menge Fragen aus der Tischgesellschaft entgegenklangen. Nicht nur sein ehemaliger Zuhörer, der Astronom, auch alle übrigen erkundigten sich nach der Heldin der Geschichte und ihrem Befinden. Mit Theilnahme hörten sie, daß Frau Josephine auch dieses Jahr den Professor auf seiner alljährlichen Gebirgsreise begleitet habe und nur unten in Weißbad geblieben wäre, doch nicht allein, denn eine seiner Nichten, die er eingeladen, die Reise mitzumachen, leiste ihr angenehme Gesellschaft. Mr. Whitfield, der Engländer, nahm ein noch größeres Interesse an der Schwiegermutter, wie das seiner Vorliebe für Unglücksfälle entsprach. Dieselbe werde doch ihr Möglichstes gethan haben, die Mesalliance ihrer Tochter zu hintertreiben. Der Professor bejahte, wenn auch mit einiger Zurückhaltung, die Frage: trotz aller Schonung und zarten Rücksicht hätte sie dem Eheprojekt ihrer Tochter den hartnäckigsten Widerstand entgegengesetzt, doch sei vor ihrem Tode noch eine Versöhnung erfolgt. Jetzt aber schnitt mit freundlicher Abwehr der Vielgefragte die Debatte ab, indem er seiner Präsidentenpflicht eingedenk die Mahnung aussprach, nun ohne weiteren Aufschub dem dritten Erzähler das Wort zu gönnen. Diesmal wurde gelost, und das Los traf Frau Breitinger, die anmuthige Gattin des fleißigen Malers, der auch während des Erzählens nicht aufgehört hatte, an seinem Skizzenblatt weiter zu arbeiten.

„Wenn ich es denn schon sein soll, die nach des Herrn Professors so ergreifender Geschichte den Versuch wagen soll, ein Erlebniß in geordnetem Zusammenhange vorzutragen, dann muß ich schon meinen lieben Mann bitten dürfen, daß er mich dabei unterstützt – leider habe ich gar nichts vom Talent einer Scheherezade.“

Der Maler lachte und wollte protestiren; Herr Kurz aber unterstützte den Vorschlag: auch er werde, wenn er an die Reihe komme, gleichzeitig im Namen seiner Frau seine Geschichte erzählen, schon in Anbetracht der Zeit empföhle es sich, daß in dieser Weise die anwesenden Ehepaare ihre Einheit und Einigkeit zum Ausdruck brächten.

Der Maler nickte nun zustimmend und rief: „Fang’ nur an, Aennchen, ich werde schon helfen; nur mußt Du keine Geheimnisse erzählen, von denen ich selber nichts weiß.“

„Behüte, Fritz! Erstens hab’ ich gar keine solchen und dann weißt Du doch selbst, daß man schönstes Reiseerlebniß unser gemeinsames Eigenthum ist; freilich, so recht schön wurde es damals erst, als das Reisen vorbei war und die Rückkehr uns zusammenführte.“

„Still, Aennchen! Nichts verrathen! Du verdirbst ja die Spannung. Nur ohne lange Einleitung frisch drauf los! Erster Abschnitt: Warum an eine Heirath zwischen uns nicht zu denken war oder – ‚Sie konnten nicht zu einander, das Wasser war viel zu tief‘. Vorher aber mußt Du Dich den Herrschaften in Deiner Eigenschaft als Malerin, nicht nur Malersfrau, vorstellen. Anch’ io sono pittore. Oder laß mich das besorgen: Hier, mein blondes Weibchen, das so bescheiden ihre Blumen ins Herbarium ordnete, während ich ihr ins Handwerk pfuschte, ist ihres Zeichens eine Malerin von Beruf und auch leidlichem Rufe; ihre Bilder, die noch weiter unter ihrem Mädchennamen gehen, sind auf dem Kunstmarkt in erfreulicher Weise gesucht. Konkurrenz machen wir uns nicht, da sie Landschaftsmalerin ist, während ich mich bis auf gelegentliche Sünden im Skizzenbuch auf das bäuerlich-ländliche Genre – Sittenbild sagen jetzt die Sprachreiniger, ohne den Begriff zu erschöpfen – beschränke. Und das ist wahr: ohne daß wir beide unser Leben der edlen Malkunst geweiht, würden wir uns schwerlich je kennen, schätzen, lieben und heirathen gelernt haben, während andererseits der Umstand, daß wir unser Talent zwei verschiedenen Gebieten unserer theuren Kunst gewidmet, umgekehrt beinahe zum Anlaß wurde, eine gemeinsame Haus-, Herd- und Ateliergründung dauernd zu verhindern. Und das kam so … Jetzt, Aennchen bist Du aber dran. Ueber den Anfang wärst Du hinüber.“

Frau Breitinger folgte heiter der Mahnung:

„Ich bin Holländerin. Bereits mein Vater war Maler und liebte es, seine Studien am Ufer des Meeres zu machen. Als halbwüchsiges Mädchen schon durfte ich ihn begleiten, wenn er des Sommers sich in einem der Fischerdörfer des Nordseestrands in irgend einer gastlichen Hütte einquartierte, um zwischen den Dünen frei nach der Natur das Meer in seinem Zorn und in seinem Frieden zu malen. Die ersten Anfangsgründe der Malerei lernte ich in solcher Umgebung von ihm; er war mein Lehrer, und meine ersten Versuche, auch meinerseits die Eindrücke der in ihrer Einfachheit so großartigen Meereslandschaft im Bilde festzuhalten, vollendete ich unter seiner Leitung. Sie werden begreifen, daß dieser Anfang die Richtung meiner bescheidenen Künstlerlaufbahn entschied. Auch als ich in meinem neunzehnten Jahre vom Vater nach München geschickt wurde, um hier unter Leitung von Professor Schönleber, den er nicht nur seiner vollendeten Technik, sondern auch seiner tiefen Naturauffassung wegen besonders schätzte, mein Talent weiter auszubilden, blieb ich derselben treu. Die Motive, die Vorlagen zu meinen Bildern, die ich jetzt in München unter des Meisters anregender Kontrolle mit peinlichster Sorgfalt bis ins Detail ausführte, entnahm ich meinen Skizzenmappen, welche ich aus der geliebten Heimath mitgebracht hatte und nun während des Sommers eifrig um neue Studienblätter bereicherte. Denn sobald Pfingsten vorüber war und die den Malern eigenthümliche, aus ihrem Beruf erwachsende Reiselust die große Münchener Künstlerkolonie auseinandersprengte, brach auch ich auf nach Holland, um dort wie früher an der Seite meines Vaters dem Meere bei Sonnenauf- und -untergang, bei heiterer Stille oder bei Sturmeswüthen seine zauberhaften Schönheitsreize abzulauschen. Auch als mein Vater durch ein sich immer öfter und stärker wiederholendes rheumatisches Leiden verhindert ward, mein regelmäßiger Begleiter und Genosse in der sommerlichen Villeggiatur zu sein, und ich den größeren Theil meiner Ferien bei ihm und den Meinen in der Stadt verbringest mußte, wurde ich meinem geliebten Nordseestrande nicht ungetreu, zumal eine uns befreundete Familie in der Nähe von Zandvoort ein Landgut besaß, welches sie im Sommer bewohnte und in dem mir ihre Gastfreundschaft ein Stübchen immer bereit hielt. Außerdem aber kannte mich in unserem alten Fischerdorfe, das damals noch nicht den Rang eines Seebadeplatzes beanspruchte, jedes Kind und jedermann war gastlich und freundlich zu mir; wurden mein Vater und ich doch von allen wie zum Orte gehörig und mit allerhand Ehrenbürgerrechten ausgestattet betrachtet. Und so sehr mich meine Münchener Freunde auch baten, doch einmal mit ihnen ins Gebirge zu ziehen und das langweilige Holland, wie sie sagten, sich selbst zu überlassen, ich konnte es nicht übers Herz bringen, sowohl um der Meinen willen, als in Rücksicht auf das Meer und meine Kunst, die nun einmal zusammengehörten. Selbst mein Mann, das heißt Herr Breitinger –“

„Ja, selbst ich,“ nahm mit humoristischem Lächeln dieser nun den Faden der Erzählung auf, „selbst der liebenswürdige, aufmerksame und redegewandte Maler Fritz Breitinger, der mit der jungen Holländerin täglich auf dem gleichen Flur und auch sonst mancherorts zusammentraf, aus dem sehr einfachen Grunde, weil unsere Ateliers in demselben Stockwerk neben einander lagen – selbst ich konnte die hochgeschätzte Kollegin nicht überreden, einmal versuchsweise unsere Sommervilleggiatur im Hochgebirg zu theilen, sollte darüber auch Holland in Nöthe gerathen. Ich muß hier einschalten, daß diese Aufmunterung von meiner Seite einzig und allein aus kameradschaftlichem Interesse, keineswegs aber unter dem Antrieb einer wärmeren Empfindung stattfand, die über das Niveau freundnachbarlicher Theilnahme hinausging. Es ist unter uns Malern eine sehr angenehme Sitte, gegenüber den weiblichen Talenten, die sich unter uns mischen und mit uns dieselben Berufsinteressen theilen, von dem Geschlechtsunterschied möglichst abzusehen und mit ihnen auf Grundlage dieser Gemeinschaft zu verkehren; der Ernst ihres Strebens und ihr Können entscheidet, [573] ob wir sie ehrlich und offen als unsere guten Kameraden willkommen heißen oder ihnen, falls sie Pfuscherinnen und anspruchsvolle eitle Dilettantinnen sind, ablehnend aus dem Wege gehen. Was aber speciell die junge blonde Dame betrifft, die da eines Tages das leerstehende Atelier neben dem meinen gemiethet und dabei durch ihre ruhige Sicherheit im Verhandeln mit dem Hausbesitzer nicht nur mir, sondern auch den beiden andern Malern, deren Ateliers auf den gleichen Flur stießen, bedeutend imponirt hatte, so galt von ihr im besondern jene Stelle aus ‚Schillers Mädchen aus der Fremde‘: ‚Doch eine Würde, eine Höhe entfernte die Vertraulichkeit‘.“

„Du wirst weitschweifig, Schatz.“

„Unterbrich mich nicht, Aennchen! – Als wir drei Maler, der eine war ein Thiermaler aus Berlin, der andere aus Dresden und gleich mir ein Genremaler, uns über die empfangenen Eindrücke nach einigen Tagen unterhielten, machte ich sogar den Versuch, ihr den Spitznamen ‚Das Mädchen aus der Fremde‘ zu geben; doch der Thiermaler protestirte: er habe noch nicht bemerkt , daß ‚ihre Nähe beseligend‘ sei. – Silentium, Aennchen! Du bekommst sogleich wieder das Wort. – Sie sei eben eine phlegmatische Holländerin, das sage alles. Wenn sie aber einen besonderen Ehrennamen bekommen solle, so mache er als echter Berliner einen andern Vorschlag: die ‚kühle Blonde‘– Aennchen, Du verzeihst die Indiskretion – die ,kühle Blonde‘ solle sie hinfüro heißen. Ja, schlechte Witze machen leider auch wir Maler, zumal wenn wir jung und guter Laune sind. Und wir waren ganz guter Laune in jener Stunde und waren trotz der Spötterei vom ersten Tage an sehr gut auf unsere Ateliernachbarin zu sprechen, die nicht nur blond und im Anfang wirklich etwas gar zu kühl war, sondern auch bescheiden und geräuschlos in ihrem Auftreten, klar und bestimmt in ihren Absichten und Ansichten, dankbar und empfänglich für jeden guten Rath und schließlich auch sehr gemüthlich und heiter im Umgang, wie wir es im Anfange nie für möglich gehalten. Ja, als das Fräulein nach der ersten Ferienunterbrechung etwas später als wir anderen zurückkehrte, gestand sogar der Berliner, daß das Fehlen der ‚kühlen Blonden‘, die auch seine Frau inzwischen ins Herz geschlossen habe, ihn ordentlich beunruhige, und er habe ihr unrecht gethan, sie gleiche wirklich dem ‚Mädchen aus der Fremde‘ in des Wortes schönster Bedeutung.“

Hier unterbrach aber doch nachdrücklichst den kecken Erzähler die Malerin, indem sie ihm mit dem Finger drohte.

„Die Indiskretionen und Spöttereien konnt’ ich mir noch gefallen lassen,“ rief sie, „aber so ins Angesicht sich loben und über Gebühr rühmen lassen, das geht mir wider die Natur. Es ist Zeit, daß ich Dir das Wort entziehe, damit wir wieder zur Sache kommen. Es ist wahr, ich hatte mich über die Herren nicht zu beklagen, und wenn sie mich für übermäßig kühl gehalten hatten , so belehrte ich sie bisweilen eines Besseren, zum Beispiel sobald sie sich erlaubten, sich über mein geliebtes und schönes Holland, das man in Deutschland so wenig kennt und deshalb so oft ungerechterweise lästert, lustig zu machen. Wie mir mein Mann später gestanden hat, thaten dies die schlimmen Menschen gerade erst recht, nachdem sie bemerkt, in welche Wallung die gekränkte Vaterlandsliebe mein Gemüth versetzte. Denn ich nahm noch alles für Ernst, und da unsere heimische Lebensweise von der in München üblichen recht bedeutend abweicht – nicht immer zum Nachtheil der unseren – ich daher schon so Mühe hatte, mich in all das Fremde zu finden, war ich den drei Flurnachbarn, die im übrigen ja meinen Dank verdienten, oft recht ernstlich bös darüber, daß sie durch solche Ausfälle mein Heimweh noch steigerten. Natürlich bewog mich dies erst recht, sobald die Junisonne zum Reisen lockte, meinen Weg den Rhein hinab in die Heimath zu nehmen, und ich hätte es für Verrath an dieser gehalten, wenn ich einer der Einladungen von mir befreundet gewordenen Münchner Familien gefolgt wäre, auch einmal meine Ferienzeit fern von Holland zu verbringen.“

[574] „Das hielt uns aber nicht ab, liebes Aennchen,“ fiel ihr der Gatte ins Wort, „recht gute Freunde zu werden. – Ich war der einzige von ihren näheren Bekannten , der aus eigener Anschauung das Meer kannte und ihre Freude am Rudern und jeder Art Wassersport theilte, was ich bei gelegentlichen Tagespartien an die nahen Seen von Starnberg und Tegernsee auch bewährte. Wenn wir trotzdem auch damals noch nicht unser Herz entdeckten, so war eben der kordial gemüthliche Ton unseres Verkehrs daran schuld, an den wir uns gewöhnt hatten, und ferner – die große Aehnlichkeit unserer Anschauungen und Neigungen; das Gesetz der Goetheschen ‚Wahlverwandtschaften‘ konnte sich zwischen uns gar zu wenig geltend machen. Ein alter griechischer Philosoph hat gesagt, der Streit sei der Vater der Dinge. Und die antike Mythologie macht den Kriegsgott zum Geliebten von Aphroditen und giebt beiden zum Kind Eros, den Gott der Liebe. Heutzutage unterschätzt man meist die segenbringende Bedeutung des Streits für die Liebe. Tatsächlich bringt er noch immer die Herzen schneller zusammen als Nachgiebigkeit und Friedfertigkeit. Wir aber stritten uns nie oder wenigstens fast nie. Wir hatten so ziemlich denselben Umgangskreis und trafen uns daher oft in Gesellschaft. Wenn ich durch irgend eine Behauptung zum Widerspruch gereizt ward, konnte ich sicher sein, sie auf meiner Seite zu haben, und trat wiederum sie für irgend eine Ansicht mit Begeisterung ein, so mußte ich nolens volens sie unterstützen. Nur wenn der Frühling kam und die verschiedenen Reisepläne der einzelnen zum Hauptthema wurden, dann standen wir uns oft als streitbare Kämpen gegenüber. Ich schalt es unfruchtbare Einseitigkeit und Philistrosität, bei so jungen Jahren immer demselben Landschaftsgebiet seine Motive zu entlehnen und sie nannte unsere herrliche Alpenwelt, im besondern die Oberbayerns, monoton und die Genrebilder mit den ewig lachenden Sennerinnen und den sakrisch schneidigen Bu’en langweilig im Verhältniß zu der Fülle höchster Poesie, welche das Meer und seine Uferlandschaft in all ihren Wandlungen dem kundigen Auge böten. Dann konnten wir scharf aneinander gerathen, und wenn ich in solchen Momenten ihre Augen drohend und mit flammendem Blick auf mich gerichtet sah, wenn ihre Stimme zum Dolmetsch leidenschaftlichen Empfindens wurde, dann überkam mich unversehens ein sonst nicht gekanntes Verlangen, diese trotzigen Lippen zu küssen, diese stürmisch bewegte Brust an die meine zu drücken.“

„Aber Fritz, nun werde ich ernstlich böse. Du sprichst ja wirklich von mir, wie von der Heldin einer Novelle, aber nicht, wie es sich schickt, wenn Du von Deiner Frau erzählst. Wie ich dazu gekommen, trotz allem mein Leben an das eines so ungezogenen Wildfangs zu ketten, dies zu erklären, scheint mir jetzt die dringendste Aufgabe zu sein. Damit Sie aber überhaupt dies begreiflich finden, müssen Sie sich schon die Mühe geben, ihn sich etwas rücksichtsvoller und zartfühlender vorzustellen, als er eben erschien. – Nur ruhig, Männchen! – Die Ferien standen wieder einmal vor der Thür und ein Streit von jener Art, wie mein Mann eben angedeutet, hatte hohen Wellenschlag verursacht. Er hatte mir vorgeworfen, daß ich mich in eine Antipathie gegen unser schönes Hochgebirg hineingeredet habe, die um so bedauerlicher und haltloser sei, als ich dasselbe ja gar nicht richtig kenne. Und ich hatte ihm – mit mindestens ebenso viel Berechtigung – das Gleiche vorgehalten in Bezug auf meine nordische Heimath. Als ich an jenem Abend, von dem Hausmädchen der freundlichen Professorswitwe, bei welcher ich wohnte, begleitet, die Villa des Gastgebers verließ und über die Schwanthaler Höhe meiner Wohnung zuschritt, beschäftigte mich der mir gemachte Vorwurf bald um so mehr, als ich an einer nach Süden sich frei öffnenden Stelle durch einen wunderbaren Blick auf die im Mondlicht klar vom blauen Sternenhimmel sich abhebende Alpenkette aufs angenehmste überrascht und mächtig ergriffen wurde. Ein älterer Maler, Landschafter wie ich, der mir schon immer wohlwollte, hatte so begeistert von dem größten der bayerischen Seen, dem Chiemsee, gesprochen, er hatte mir versichert, daß dessen weite Fläche mit dem erhaben schönen Kranz der Alpenberge um ihn her, obgleich ihm die Bewegung von Ebbe und Fluth fehle, dem Marinemaler die reichste Ausbeute lieblicher und bedeutender Motive erschlösse, und seine Einladung, ihn und seine Familie zum Ferienaufenthalt auf die idyllisch schöne Fraueninsel mitten in diesem See zu begleiten, erschien mir immer mehr in verlockendem Lichte. Daß mein Antagonist gesagt hatte, er würde dann auch dort sein, dieser Thatsache legte ich bei dem Vorgange wenig Bedeutung bei.

Der Wunsch, endlich einmal den leidigen Streit im Wege der Erfahrung zu schlichten, ging mir auch weiterhin nach. Briefe von daheim brachten mir die Mittheilung, daß diesmal mein Besuch mit mehreren unvermeidlichen Störungen verknüpft sein würde. Ein Bild, das ich auf Bestellung zu malen hatte und noch vor der Abreise fertigstellen wollte, hielt mich wider Erwarten lange in München zurück. Alles dies bestärkte mich in der Absicht, diesen Sommer endlich einmal die vielbegehrte Ausnahme zu machen und, statt nach Holland ans Meer, in das bayerische Hochland nach dem Chiemsee zu gehen. Aber Mittheilung davon machte ich niemand. Auch den Gastfreunden nicht, die ich auf Frauenwörth überraschen wollte, am allerwenigsten dem geehrten Herrn Ateliernachbar, der sich dann womöglich eingebildet hätte, er wäre es, der diesen Entschluß bewirkt. Er, wie seine Freunde, waren bereits ausgeflogen, als ich endlich mit nicht geringer Spannung nach dem Chiemsee aufbrach. O, wie entzückte mich der Anblick des weiten breiten Binnenmeers, dessen Spiegel so groß ist, daß seine Ufer sich nicht überblicken lassen, und das doch einen umfriedeten Eindruck macht, weil ringsherum stolze Alpenketten oder kleinere Höhenzüge sein Weichbild umrahmen. Und wie erfrischend wehte mich die kräftige Alpenluft an, die von der nahen Kampenwand herniederblies und das klargrüne Wasser des Sees lustig aufkräuselte, so daß der Einbaum, in dem ich mich aus Liebhaberei, das Dampfboot verachtend, von zwei Schiffern zu der fernen Insel hinüberfahren ließ, ganz wie bei einer Meerfahrt im Falle günstigen Windes fröhlich auf und nieder sich bäumte!

Welche Fülle malerischer Motive zeigte sich je nach der Nähe und Ferne der Ufer schon bei dieser Fahrt meinen entzückten Augen! Wie prächtig hoben sich die dunklen Laubwälder der größeren Insel Herrenwörth in die sonnige Luft und wie reizend – schön wie ein Poetentraum! – bot sich schließlich das kleine Eiland dar, auf dem neben uralten Lindenbäumen das Kirchlein des alten Frauenklosters mir entgegengrüßte! Und dann auf der Insel die Begrüßung, die festliche Bewillkommnung! Ich kam wirklich überraschend; um so unmittelbarer war der Ausdruck herzlicher Freude über mein Kommen von seiten meiner Freunde sowohl als der übrigen mir meist wohlbekannten Mitglieder der kleinen Malerkolonie, die sich in den gemüthlichen Räumen des alten Wirtshauses neben der Kirche häuslich niedergelassen hatte.

Alles übertraf meine Erwartungen. Nur in einer Beziehung fühlte ich mich enttäuscht, mehr als ich es für möglich gehalten hatte: Herr Breitinger befand sich nicht bei der Gesellschaft. Nachdem er jahraus jahrein mir von dem fidelen Künstlerleben in den Bergen vorgeschwärmt, nachdem er indirekt die besondere Veranlassung meines Entschlusses geworden war und er mir doch bei jenem Gespräch versichert hatte, daß auch er diesen Sommer hierher gehen wolle, war er nicht da! Das war doch mehr als Gleichgültigkeit. Ich beachtete nicht, daß er ja nur die Zusage für den Fall meiner Herkunft gegeben und er von dieser durch mich absichtlich nichts erfahren hatte. Wer weist, wo er nun hingegangen, sagte ich mir, und als auf ihn einmal das Gespräch kam, suchte ich möglichst unbefangen die Antwort darauf in Erfahrung zu bringen, doch ohne besonderen Erfolg; er werde wohl wieder nach Mittenwald gegangen sein, wo er schon in früheren Jahren immer am längsten ausgehalten habe, angezogen von der herrlichen Lage und dem lebhaften Volksleben des alterthümlichen Geigenmacherdorfs am Fuße des alten Karwändel. Es machte sich dann – ohne mein Zuthun natürlich, denn ich wollte nach dieser Rücksichtslosigkeit gar nichts mehr von ihm wissen – daß wir einige Wochen später einen Ausflug mehr ins Innere des bayerischen Hochgebirgs und über den Kochel- und Walchensee in das Isarthal machten, wobei wir auch in den genannten Lieblingsaufenthalt des Treulosen geriethen; aber auch hier war er nicht anzutreffen.“

„Und das war sehr natürlich,“ nahm jetzt der Maler wiederum das Wort. „Denn der Treulose verdiente diese Bezeichnung damals wahrlich am wenigsten in Bezug auf meine geehrte Vorrednerin, sondern ganz allein in Rücksicht auf sein geliebtes Hochgebirg. Mir war es seit jenem Streit eigenthümlich gegangen. In jener Mondnacht, welche so zaubermächtig auf die Entschlüsse meiner Gegnerin eingewirkt hatte, war ich noch lange in einer mir ganz neuen Verfassung in den Straßen Münchens umhergeschweift. Ich hatte [575] die Kollegin ursprünglich, wie ich es schon oft gethan, in dieser Nacht nach Hause begleiten wollen; sie war aber so plötzlich aufgebrochen und hatte mir eine so kühl ablehnende ‚Gute Nacht‘ geboten, daß ich unwillkürlich davon zurückgeschreckt und dageblieben war. Zufällig brach einer meiner Kollegen, der meine holländische Freundin schon seit einiger Zeit mit besonderer Auszeichnung behandelt hatte, kurz nach ihr auf, und als ich dann allein meinen Weg heimwärts suchte und dies sehr langweilig fand, blitzte in mir ganz plötzlich die Vorstellung auf, daß jener wohl gar sich ernstlich um ihre Neigung bemühe und statt meiner ihr Begleiter geworden sein werde. Dies machte mein Blut ganz rebellisch. Mir wurde mit einem Male klar, daß sich meine kameradschaftliche Freundschaft für sie in aller Heimlichkeit längst in Liebe verwandelt hatte. Wenn sie doch gar keine Künstlerin wäre, sondern ein Mädchen wie die andern auch, deren Wille nicht durch die Rücksicht auf einen ernsten Beruf gehemmt und geleitet werde: dieser Wunsch war mein nächster Gedanke. Und wenn schon Künstlerin, warum nicht eine Blumenmalerin wie so viele ihrer Genossinnen, statt Specialistin in der Darstellung des fernen Nordseestrandes und seiner Fluth? So aber: sie mit ihrer künstlerischen Sehnsucht nach Norden, ich mit meinem Verhältniß als Künstler zum bergigen Süden – wie sollte da ein gedeihlicher Bund zu stande kommen? Damit fielen mir die Vorwürfe auf die Seele, die ich ihr am verwichenen Abend mit etwas gar zu rücksichtsloser Entschiedenheit gemacht. Sie hatte ganz recht; was wußte ich eigentlich von Holland und seiner Küste? Meine Wissenschaft, soweit sie ungünstig lautete, hatte ich vom Hörensagen, soweit sie günstig war, aus ihren Bildern. Monoton in Bezug auf die äußerlichen Motive waren ja diese Ansichten in der That, aber welche unerschöpfliche Fülle koloristischen Reizes hatte sie dieser einfach elementaren Natur abgelauscht. Und nach den Staffagen zu schließen, war das Leben des kernigen Fischervolks dieser holländischen Küstendörfer, seine Tracht und sein Thun nicht minder malerisch als das Leben der Bauern im Hochgebirg. Es dürfte sich wirklich verlohnen, aus eigener Anschauung sich ein Urtheil zu bilden.

In der folgenden Woche bestärkten mich zwei Umstände in dieser Ansicht. Ich verkaufte ein Bild, an dem ich lange gemalt hatte, für eine ganz bedeutende Summe, und ich mußte erleben, daß meine Nachbarin mich mit auffälliger Kälte behandelte. Sie hatte immer zu thun und war in größter Eile, so oft ich sie anredete; dies war wirklich der Fall, ich aber glaubte, daß sie sich von mir beleidigt fühle oder auch gleichgültiger gegen mich werde aus Interesse für einen Andern. Eines Morgens war mein Entschluß gefaßt; noch bevor sie aufbrach, wollte ich eine Reise nach Holland antreten, und wenn sie dann in ihrem geliebten Zandvoort eintraf, so sollte sie mich dort vorfinden, eifrig bemüht, mich zu besseren Ansichten über ihr Heimathland zu bekehren. Und so reiste ich ab, ohne irgend jemand etwas von dem Ziel meiner Fahrt zu sagen – der Triumph der Ueberraschung sollte mir durch keine Indiskretion geschmälert werden. Ich hielt mich erst einige Tage in Amsterdam und im Haag auf als fleißiger und andächtiger Besucher der schönen Bildergalerien; in Scheveningen, dem luxuriösen Modebad der holländischen Küste, fand ich die Mynheeren und Mefrouwen in ihrer Art das Dasein hinzubringen, ziemlich ebenso langweilig wie das Gesellschaftsleben in allen Badeorten, wo die Plutokratie den Ton angiebt; auf einer Fußwanderung aber in westlicher Richtung durch das graugrüne Hügelland der Dünen, die ich öfter unterbrach, um mich im Segelboot weiterbringen zu lassen, da ging mir die eigenthümliche Schönheit auf, welche allerdings nur für ein geübtes Malerauge sich in diesen Küstengegenden entfaltet, während der Blick des Ungeübten nur den gelblichen Dünensand, das dunkle Grün des mächtigen Oceans und das hellere des langhalmigen Dünengrases von der Farbe des Himmels zu unterscheiden glaubt. Welche Fülle seiner Farbenschattirungen erzeugt nicht allein das wechselnde Spiel von Licht und Schatten, das der Gang der Wolken erregt!

In Zandvoort brauchte ich nur ihren Namen zu nennen und ich hatte mich der gastlichsten Aufnahme zu erfreuen. Bald war ich dahinter, eine kleine Genrescene zu malen, welche Pfeifen rauchende Fischer beim Netzestricken darstellte, während kleine muthwillige Kinder im Maschenwerk der Netze spielten. Das Meer bildete den Hintergrund. Der Gegenstand fesselte mich sehr – aber doch nicht genug, um die Ungeduld zu unterdrücken, mit der ich der Ankunft von – nun, ihrer Ankunft entgegensah. Ich hatte ja keine Ahnung, daß sie inzwischen ein Seestück malte, welches den Wellenschlag des Bayerischen Meeres, wie man den Chiemsee auch nennt, darstellte mit den bayerischen Alpenbergen im Vordergrund und einem altbajuvarischen Einbaum mit zwei jungbajuvarischen Fischerinnen zur Staffage; ebenso wenig wie sie von meiner Anwesenheit in ihrem geliebten Zandvoort. So saßen wir fern von einander und malten uns in die Anschauungswelt des andern hinein, während die Hoffnung einer baldigen Begegnung den Pinselstrich beschleunigte.

Doch die Hoffnung trog uns. Als ich mein Bild fertig hatte, suchte ich ihre Eltern in Utrecht auf und erfuhr von den freundlichen Leuten, daß ihre Tochter diesmal in die bayerischen Berge gegangen sei. Sie kannten mich durch die Erzählungen ihrer Tochter gar wohl und waren erstaunt, daß ich gerade jetzt nach Holland gekommen, wo sie nicht anwesend. Siedend heiß strömte mir das Blut in die Wangen, als ich das hörte. Welche Blamage! Welcher Hohn, welcher Verrath! Kaum, daß ich mich beherrschen konnte. Sobald ich wieder im Freien und mir selbst überlassen war, fiel ich den widerstrebendsten Empfindungen zur Beute. Ich wollte sofort sie aufsuchen und Rechenschaft fordern. Aber mit welchem Rechte? War sie nicht Herrin ihrer Entschlüsse? Ich wollte die ganze beschämende Geschichte ignoriren; aber wie hätte ich das auf die Dauer vermocht? Ich war recht unglücklich – fast wie Heimweh überkam es mich. Schließlich löste ich ein Billet nach meiner Vaterstadt und besuchte die Meinen. Dort im Schoße meiner Familie fand mein Gemüth das nöthige Gleichgewicht wieder, um mit scheinbarer Ruhe, ja sogar mit einigem Humor der schnöden Verrätherin brieflich meine Irrfahrt in ihre Heimath zu schildern, eine Irrfahrt in doppelter Beziehung, die mich auch von einem doppelten Irrthum geheilt habe, von meinem Vorurtheil gegen Holland und meiner Einbildung, daß sie mir gut sei.

Als ich dann in meine vier Wände nach München zurückgekehrt war und ich eben dabei war, eine neue Leinwand aufzuspannen, da klopfte es an die Thür …“

„Nein, nicht weiter,“ rief jetzt erregt die Nachbarin des Erzählers, die schon lange seine rechte Hand mit ihrer Linken zärtlich umfaßt hielt; „mehr brauchst Du nicht zu erzählen, Fritz. Die Geschichte ist fertig. … Ich war eben von meiner Reise ins Gebirg zurückgekehrt, hatte in meiner Wohnung seinen Brief gefunden und mit Entzücken gelesen und nun trieb’s mich zu ihm …“

„Halt, Frauchen,“ rief nun der Maler, „es ist wahr, die Geschichte ist fertig. Dieser Weg zu mir war Dein – war mein schönstes Reiseerlebniß.“

[591]
5. Der Bötzler.

Die Geschichte der fröhlichen Malersleute hatte in der Gesellschaft die heiterste Stimmung geweckt. Professor Schröder brachte ein Hoch auf Erzähler und Erzählerin aus, die sich beide so treulich beigestanden, und herzhaft stimmten die anderen ein; auch Herr und Frau Breitinger selber, welche sich gegenseitig hochleben ließen. Man schien das Unwetter draußen ganz vergessen zu haben; sogar Mr. Whitfield hatte zur Zeit kein Ohr für die heroischen Fanfaren des Sturmwinds; und der Vorschlag des redegewandten Astronomen, nun auf das Wohl des verehrten Vorsitzenden zu trinken, dem man die Anregung zu diesem improvisirten Dekamerone der Reiseabenteuer verdanke, fand ebenfalls freudigen Widerhall. Doch mit verbindlichem Lächeln lehnte der also Geehrte die ihm nachgerühmten Verdienste ab: der Dank gebühre dem braven Bärbeli, das durch die Erwähnung ihrer alten Heimathssagen den Anstoß zu dem Versuche gegeben und nun schon die dritte Geschichte wohlaufmerkend mit angehört habe, ohne sich in ihrer Stickereiarbeit stören zu lassen, aber auch ohne das ihrerseits im Anfang gegebene Versprechen einzulösen. Das Bärbeli schaute von ihrer Arbeit auf und schickte sich eben – nicht ohne zögernde Verlegenheit – an, auf die freundliche Neckerei zu antworten, als plötzlich von unten her die Stille unterbrochen wurde.

Die Führer in der großen Küche des Alpwirths, dieser selbst mit den Seinen, schienen von dem frohen Lärm in der Gaststube angesteckt worden zu sein. Sie hatten sich zu einem gemeinsamen Cantus vereinigt; laut und vielstimmig klang es herauf in einer seltsamen Melodei – langgezogene, tiefe Gurgeltöne in melancholischem Rhythmus und wieder hellaufjuchzende Laute aus höchster Tonlage. Der Appenzeller Kuhreigen, jenes urwüchsig naive Loblied des Sennen auf seine „Küh – i – a“ scholl durch den Raum. Der Wortlaut des Textes ließ sich nicht verstehen, nur die langgezogenen Jodler – „Wendria – wendria“ und „durididi duida – duida du“ – waren deutlich vernehmbar. Der Professor lachte vor sich hin, als wieder Stille eintrat. „Wissen auch die Herrschaften,“ frug er, „was diesem Schlußjodler für ein Text voranging? Man sollte es nicht meinen, wie viel Pessimismus in dieser Volkspoesie der Berge enthalten ist. Nachdem in dem Liede der Senn all seine Kühe mit Namen aufgezählt – die geschecket, die geflecket, die listig, die schlau – die langbäuri, die langlänri, ’s halböhrli und ’s möhrli – ist das Fazit seiner Betrachtung, daß es keine Menschen gäbe, die besser wären als seine Kühe, und weiter singt er:

‚Guot wenn ma ledig ist,
Ma hed kä Kommer,
Sobald ma g’wibet het,
So chommt der Jommer …‘

Gelt, Bärbeli – so heißt es doch? … Schämt Ihr Euch nicht, Ihr Leute, hier in Euren schönen Bergen – so schlimm vom Heirathen zu denken? Nach diesen Versen muß man ja meinen, Ihr Appenzeller bliebet am liebsten alle ledig und das sei die wahre Seligkeit. Es wäre Euer Ländli dann freilich der einzige Fleck Erde, wo die Mädel so dächten. Sag mal, Bärbeli, wollt Ihr wirklich nichts vom Heirathen wissen, weil der ‚Jommer chommt‘, ‚sobald ma g’wibet hat‘?“

„O, das ist nur so eine Ruhmredigkeit von den Bub’n, um uns Mädli zu reizen,“ sagte, mit Ernst auf die Frage eingehend, das ehrliche Sennenkind.

„Ja, ja, die bösen Bub’n. In ihren Liedern prahlen sie, die Mädchen wären ihnen völlig gleichgültig, und im Grunde sind sie bis über die Ohren verliebt, entweder in alle Schönen oder, wenn’s gut geht, in eine.“

„Wohl, wohl,“ seufzte die Stickerin treuherzig.

„Sag mal, Bärbeli, Du hast wohl auch schon einen Schatz?“ fragte aufmunternd der Maler.

Das Mädchen schlug ihre Augen nieder und strich sich verlegen über die Schürze.

Der lustige Astronom ersparte ihr die Antwort. „Natürlich hat sie einen,“ rief er zuversichtlich. „Dafür gehört sie zur Meglisalp und die steht unter einem der Liebe günstigen Sterne! Ist ihr Name, der soviel wie Mägdelisalp bedeutet, doch innig verknüpft mit einer Sage, welche von einem gar treuen Liebespaar handelt, dem selbst der Teufel nichts anhaben konnte. Das habe ich vorhin hier in meinem Buche gelesen, das von dem Appenzeller Ländli ausführlich handelt, und ich schlage vor, daß das Bärbeli uns jetzt – wenn sie uns nicht auch ihr schönstes Reiseabenteuer erzählen will – die Geschichte vom Bötzler erzählt; dies ist der Titel der Sage der Meglisalpe.“

„Eigentlich steht freilich das Reiseerlebniß auf der Tagesordnung,“ wandte Professor Schröder ein.

Das natürliche Kind, welches von ihrer Strickereischule in Appenzell und der vielfachen Berührung mit dem Touristenstrom her eine dialektfreiere Sprache führte, als sonst die Sennentöchter dieser Gegend, welche ihr Leben ausschließlich dem Hirtenberuf der Väter widmen, rückte sich zurecht und sagte. „Ich hab’ wohl zum Theil ganz gut verstanden, was die Herren und die Frau Malerin Schönes erzählt haben – alles freilich nicht –; aber davon, was Sie die Schönheit der Natur und den ,Wanderzauber‘ nennen, davon kann unsereins schon gar nicht mitreden. Wer hier zwischen den Bergen immer wohnt, Sommers und Winters, der kann nur schwer begreifen, was die Herren und gar die Damen aus den schönen Städten hier heraus treibt und daß sie ein Pläsir darin finden, die schlechten Wege herauf und hinunter zu kraxeln. Ja, wenn’s immer schön Wetter wär! Ich für mein Theil blieb’ lieber immer in der Stadt mit den schönen Häusern. War auch schon drin. Unten in St. Gallen und als im Sommer vor zwei Jahren die Winkelriedfeier war, zu der das ganze Schweizervolk nach Sempach gewallfahrtet ist, gar in Luzern und in Zürich. Da ist’s schön. Aber lieb – das ist wahr – hab auch ich unsre Berge und so schlimm ist’s mit uns auch nicht bestellt, als Sie gemeint haben von wegen der Worte im Kuhreigen. So wüst und bös sind auch unsre Bub’n nicht, wie man danach denken könnt’, und dafür zum Beweis ist’s mir schon recht, wenn ich die Geschichte vom Bötzler erzähle. Müßt’s mich aber nicht auslachen, darf ich bitten.“

„Bravo, Bärbeli! – ’s Bärbeli hat das Wort.“

„Hier oben in der Meglisalp, lange vor der Zeit, daß für die durchziehenden Fremden hier Wirthschaft geführt wird, als noch Geister in den Bergen sichtbar hausten und die armen Sennen neckten und schreckten, hat das Sennthum ein Mädli geführt, das weitum für die Schönste galt. Der Hirt einer Nachbaralpe, ein gar frischer und fester Bub, war ihr Schatz. Wenn es Abend war, kamen die beiden vor der Hütte zusammen und unterhielten sich wie zwei Liebesleute, doch in allen Ehren. Als der Senn einst von anderen Hirten, die von Treue und Tugend sehr gering dachten, aufgezogen wurde, weil er an die Treue seiner Liebsten glaubte, ward er sehr angebracht und verschwor sich, sie auf immer demjenigen abtreten zu wollen, der auch nur den Schein einer Untreue ihr nachweisen könne. An einem der nächsten Abende geschah es, daß der junge Senn sich ganz unvermuthet abgehalten fand, zum Stelldichein zu erscheinen. Die schöne Sennin harrte seiner mit Sehnsucht, aber vergebens. Sie zog sich in ihre Hütte zurück voll Mißmuth über das Ausbleiben des Geliebten. Da knarrte auf einmal die Thür – es trat ein Mann herein und setzte sich neben sie nieder. Obgleich sie die Gestalt infolge der herrschenden Dämmerung nicht recht erkennen konnte, hielt sie den Ankömmling dem Klang der Stimme nach für den Ersehnten und die gewohnte Unterhaltung begann. Da sie anfangs wegen seines Zuspätkommens schmollte und das Gesicht ihm nicht zuwandte, wurde sie ihres Irrthums nicht gewahr. Als aber die Liebkosungen des Mannes bald weit zudringlicher wurden, als es dem bisherigen Verkehr der beiden Liebenden entsprach, und sie sich unter Sträuben seiner Umarmung entzog, merkte sie im Umwenden, daß es ein Fremder war, und zugleich entdeckte sie, daß derselbe einen Geißfuß hatte. Es ward ihr heiß und kalt bei diesem Anblick, doch fand sie bald ihre Fassung wieder und sagte beherzt. ‚Satan, Du bist ein Betrüger, über mich hast Du keine Gewalt.‘ Der Teufel aber erwiderte: ‚Dein Liebhaber hat unlängst sich verschworen, seine Braut Dem abzutreten, der sie dahin zu bringen [592] vermöchte, auch nur einen Schein von Untreue zu zeigen, und das hast Du gethan, indem Du mich bei Dir angenommen hast. Nun bleibst Du unabänderlich solange in meiner Macht, bis Du mir meinen wahren Namen sagen kannst.‘ Als aber am nächsten Abend der wahre Liebhaber zu ihr kam, fand er sie in großen Aengsten und sie erzählte ihm alles, was sich zugetragen. Betrübt und verzweifelt sich der Uebermacht des Bösen, der ihn um sein Glück bringen wollte, nicht gewachsen fühlend, strich der Senn, nachdem er die Sennin verlassen, im Lichte des Mondscheins in den Bergen umher. So kam er auch auf die höchste Alpe des nächsten Berges, der jetzt der ‚Bötzler‘ heißt. Da sah er ein offenes Feuer und einen Sennen mit einem Geißfuß, der um dasselbe mit übermütigen Gebärden tanzte. Als er näher trat und hinter einer Legföhre knieend hinlauschte, hörte er, wie der Böse, den er gar wohl erkannt hatte, die Worte sang:

‚Wenn mi Schätzle thät wössa,
Daß i Bötzler heiß,
Wär’s vorbei mit dem chössa –
Guot, daß sie’s nöt weiß.‘

Flugs eilte er am andern Morgen noch vor Beginn der Arbeit zu seinem Schatz, erzählte ihm sein Abenteuer und nannte den Namen, den er gehört. Als dann am Abend der Satan erst vorsichtig die Hütte umschlich und, da er die Sennin allein in dieser hantieren sah, keck zu ihr eintrat, da scholl ihm aus ihrem Munde der Gruß entgegen: ‚Geh nur, Bötzler, ich kenne Dich!‘ Kaum war das Wort ihren Lippen entflohen, so machte der unheimliche Gast einen Luftsprung zur Thür hinaus, wobei er dem Meidli mit seinem Geißfuß einen derben Schlag ins Gesicht versetzte, so daß sie ohnmächtig niedersank; als sie aber erwachte, lag sie in den Armen ihres treuen Sennen. Von dieser Zeit an heißt der Berg, auf welchem der Böse jenen Vers sang, der ‚Bötzler‘. Die Sennin von der Meglisalp und ihr Schatz aber wurden bald danach ein glückliches Paar.“

Das Bärbeli schloß ihre mit großer Schlichtheit vorgetragene Erzählung, indem sie ohne weitere Umstände ihre Stickarbeit wieder aufnahm.

„Eine wurzelechte Sage, völlig der Gegend entwachsen, für deren einfache Verhältnisse und einsame Menschen sie sehr bezeichnend ist,“ sagte mehr zu sich selbst als zu den anderen der gelehrte Litteraturkenner, welcher dem Mädchen am nächsten saß. „Um so auffallender ist die Verwandtschaft des einen Motivs, daß die Sennin den Namen des geheimnißvollen Gastes errathen muß, mit demjenigen, auf das sich unser deutsches Märchen vom Rumpelstilzchen gründet… Auf jeden Fall verdient unser braves Bärbeli unser aller Dank für die Mittheilung; möge ihre Treue von solchen Anfechtungen verschont bleiben, dafür aber einen gleichen Lohn finden wie die Sennin der Sage vom Bötzler!“

„Und möge sich ihr Schatz auch jederzeit so frei von Eifersucht erweisen wie der Senn der Geschichte,‘ fügte neckend der Astronom dem Glückwunsche bei.

„Aber, Herr Doktor,“ unterbrach ihn da mitleidigen Tones die bisher so schweigsame Frau Kurz, „bringen Sie doch das liebe Kind nicht in Verlegenheit; sehen Sie nur, wie sie roth wird.“

„Das ist nur ein Beweis, wie sehr meine Vermuthung berechtigt ist, daß heutzutage auch in diesen entlegenen Revieren der Glaube an den Teufel verschwunden ist und daß so ein warmblütiger Bursche von heute, wenn er hörte, ein Mann sei bei seiner Liebsten gewesen, es habe sich aber herausgestellt, daß es der Satan selbst in höchsteigener Person war, diesem Berichte mit eifersüchtigem Mißtrauen begegnen würde.“

Die Stickerin legte erregt die Arbeit nieder, indem sie sinnend vor sich hinblickte.

„Es ist aber doch der Teufel, der auch noch heute sich neidisch zwischen liebende Herzen drängt, wenn er auch nimmer sichtbar mehr kommt,“ sagte sie dann.

„Wie meinst Du das, Bärbeli?“ fragte wiederum mit einem Lächeln warmen Wohlwollens die Frau des Fabrikanten, welcher, über diese Initiative seiner Gattin sichtlich erfreut, näher rückte, während er mit Behagen den blauen Rauch seiner Havanna kunstgerecht in Ringen vor sich hinblies.

„Ei, ich und mein Schatz wären beinah aus einander gekommen, ganz unnöthig, nur weil er eifersüchtig war. Die Eifersucht, das ist eben der Böse …, der Bötzler. Und die er heimsucht, wissen auch jetzt nicht um den Betrug, bis ihnen die Augen aufgehen.“

„Das mußt Du uns erzählen“ mahnte nun der Professor. „Wenn auch das Reisen keine Rolle dabei spielen sollte, so ist’s doch sicher ein Erlebniß, das hier in den Bergen spielt, die wir Städter nur vom Reisen her kennen.“

„Wohl ist auch das Reisen daran betheiligt,“ erwiderte eifrig das Mädchen. „Wenn die fremden Gäste, die auf ihrer Reise den Säntis besteigen, hier nicht vorüberkämen und in der Meglisalp einkehrten, wären wir beide nie uneins geworden.“

„O weh,“ scherzte der Maler, „so sind wir eigentlich sämmtlich Mitschuldige!“

„So ist es nicht gemeint,“ fuhr das Mädchen fort, ohne sich in ihrem Ernst stören zu lassen. „Und dann, was ich gleich jetzt sagen will, dem Reisen verdanken wir auch unser Glück, unsere schönsten Stunden.“

„Aha, das ist Wasser auf unsere Mühle! Aber nun wollen wir alle fein zuhören.“

Der Professor hätte diese Mahnung kaum nöthig gehabt, so andächtig lauschten bereits alle.

„Mein Schatz ist auf der anderen Seite des Säntis daheim, im Toggenburgischen. Sein Vater war ein Arbeiter in der großen Rothfärberei zu Ebnat-Kappel; auch er war als Knabe mit in der Fabrik beschäftigt, dann aber wurde er Schmied, und damals, als ich ihn kennen lernte. war er Gesell in der Schmiede von Neu St. Johann, das nur eine Stunde vom südlichen Fuße des Säntis gelegen ist. Es war am Sonntag nach Jakobi vor zwei Jahren. Ich war mit meinen Leuten zum großen Schwingfest aus die Bottersalp gezogen, welche in der Nähe des Krätzernwaldpasses grade in der Mitte zwischen unserem Weißbad und dem Rietbad der Toggenburger liegt. Dieses Schwingfest wird alle Jahre abgehalten; die kräftigsten und schönsten Sennen des Gebirgs strömen dann zusammen, um im Schwingkampf ihre Kräfte zu messen. Ich war damals noch ein halbes Kind und bewunderte gar sehr die Sieger; am allerbesten von ihnen gefiel mir aber der St. Johanner Schmied-Jakob. Der stolze Bub mochte dies wohl bemerkt haben, denn als es nachher aus Tanzen ging, kam er gar bald zu mir, als ob sich das von selbst verstünde, und holte mich zum Tanze, und als er dann mich im Kreise drehte, während ich, wie es sich gehört, meine Hände auf seine Schultern gelegt hielt und ihm grad ins Gesicht sehen mußte, da war mir’s, als versicherten mir seine Augen, daß er nur um mir zu gefallen seinen Gegner vorhin so mächtig geworfen habe. Später hat er mir’s auch mündlich gesagt, und als es ans Scheiden ging, da waren wir einig, daß von nun an eins dem andern sein Schatz sei.

Leider hatten wir wenig Aussichten, bald zu heirathen. Sein Vater war arm und er hatte auch noch weit hin, um sein Schmiedhandwerk selbständig zu betreiben. Auch sieht man’s bei uns nicht gern, wenn eine Innerrhoderin über die Grenze heirathet. So mußten wir unseren Verspruch geheim halten. Aber ein paar Zusammenkünfte mittenwegs auf den Pfaden zum Säntishaus machten wir doch möglich und bei unserer Alpstubeten im Herbst war auch er da und tanzte von allen am schönsten. Was mir aber noch ganz besonders gefiel, das war seine Stärke, mit der er es vor den andern zu verbergen vermochte, wie sehr er mich lieb hatte. Und doch stand uns der Abschied für die lange Winterszeit bevor. Als wir uns dann heimlich noch einmal trafen, da spürte ich’s wohl, welche Anstrengung ihm diese Selbstbeherrschung gekostet haben müsse. Ich wußte auch aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, seinem Schatz ein fremdthuendes Gesicht zu machen. Und nun einen ganzen Winter lang sich nicht sehen sollen – es kam uns hart an.

Statt daß aber dann das Wiedersehen im Frühjahr nach so langer Trennung um so fröhlicher gewesen wäre, brachte er aus seiner schwarzen Schmiede in die hellen Berge ein mißmuthig Herz mit. An den langen Winterabenden, wo die Burschen, die im Sommer den Fremden als Führer auf den Säntis und zum hohen Kamorn dienen, müßig im Wirthshaus sitzen, hatte er allerhand dummes Gerede gehört, wie die Fremden in den Gasthäusern und Schutzhütten den Mädlen schön thäten und diese nicht spröde wären, sondern sich noch etwas drauf einbildeten, wenn so ein Städtischer ihnen den Kopf verdrehe. Ich suchte ihn zu beruhigen. Es sei nur in Ordnung, daß wir den Gästen, [594] die wir zu bedienen haben, auch ein freundlich Gesicht machten, er solle sich keine so törichten Sachen einbilden: wegen meiner – so könnten mir hundert Herren an einem Tage schön thun und ich würde noch keine Minute in meiner Treue wankend werden. Da sei Gott vor! … Er sprach zwar bei jenem ersten Wiedersehen nicht mehr davon und unterdrückte sein Mißtrauen, aber der einmal rege Argwohn in seiner Seele war nur dem Scheine nach beseitigt.

Nun traf es sich vorm Jahre, daß schon zeitlich im Sommer ein Herr drunten im Weißbad Wohnung nahm, der von der dort gebotenen Molkenkur sehr wenig wissen wollte, desto mehr aber von den alten Ueberlieferungen in Haus und Gerät, Sprache und Brauch, wie sie in unseren Appenzeller Gebirgsthälern sich erhalten haben. Es war einer, die so Bücher schreiben, wie dort eins auf dem Tisch liegt. Er sprach immer von der ‚Kultur’– das wär’ sein Fach, sagte er. Er hatte eine Brille auf der Nase, wie all die gelehrten Herren, und dann frug er zu viel – wie ein kleines Kind, das bei allem ‚warum denn’ und ,woher denn’ fragt, sonst aber war’s ein netter und honetter Mann, auch noch nicht alt und zu einem guten Scherz aufgelegt. Nun war meine Großmutter unten in Schwendi besonders angesehen, weil sie so viel wußte, was früher in unserem Ländli sich zugetragen, auch die Sagen und Lieder und die Bedeutung von so manchem Brauch und Geräth, an die heutzutag eben nur noch die ganz alten Leute denken.

Von dieser Frau hatte der Herr von einem seiner Lehrer in Zürich, einem Professor an der Universität, der sich auch mit solchen Dingen abgab, gehört, und so war er denn sehr betrübt, daß sie schon todt war. Mich hatte die Ahn immer besonders lieb gehabt, weil ich ihren Geschichten gern zugehört hatte, auch mir manches vermacht von alten Sachen, namentlich ihren vollständigen Sonntagsstaat, um den mich seitdem viele beneiden, denn jetzt werden all die Kettchen und Spangen, die Haarnadeln und die Ohrgehänge, die Plättlikette und das Halsnuster, die Schürzrose und die Schluttenketteli lange nicht mehr so schön und gediegen gemacht.

Von alledem hörte der studirte Herr und kam nun eigens zu uns herauf, um mich recht nach Herzenslust auszufragen. Es gefiel ihm hier oben, und so ließ er sich’s bei uns gefallen, als ob er’s nicht anders gewohnt sei. Wir alle hatten ihn gern, denn es freut unsereinen doch auch, wenn ein Fremder gar so viel Theilnahme für alles Heimliche hat, und so lästig mir’s mitunter wegen der darüber versäumten Arbeit war, gab ich ihm redlich Bescheid über alles, wonach er mich fragte, soweit ich dies eben konnte. Ein ganz besonderes Interesse hatte er auch für alles, was ihm an unserer Art zu sprechen als sonderbar auffiel: er nannte das Dialektforschung. Und daran lag’s.

Weiß noch heute nicht, wer’s dem Jakob gesteckt hatte – es verkehren ja so viele Führer hier, auch die von der Toggenburger Seite kommen gern einmal vor dem Rückweg zu uns herunter – genug, ihm war gesagt worden, daß ein Fremder, der noch jung und nicht uneben sei, sich dauernd hier bei uns aufhalte und zwar nur wegen meiner. Den ganzen Tag habe er sein Wesen um mich. Das wär ja nicht gegen die Wahrheit. Aber der arme Joggeli wußte nicht, wie’s gemeint war. Heiß stieg ihm die Eifersucht in den Kopf und brachte ihn um alle Ueberlegung. Ich hatte davon keine Ahnung. Wie immer, schloß ich jeden Tag mein Denken damit ab, daß ich dem fernen Schatz eine gute Nacht zurief, ohne einen Schimmer, daß er sich um dieselbe Zeit unruhig auf seinem Lager wälze, von den furchtbarsten Vorstellungen gepeinigt.

Der Gast hatte mich nun schon öfter gebeten gehabt, ihm einmal den vollen Sonntagsstaat meiner Ahneli vorzuführen, indem ich mich selber damit herausputze. An einem Sonntag hatte ich mich denn früh am Morgen mit allem ausstaffirt und behangen, daß es eine wahre Pracht war. Die Haube mit den großen schwarzen, aus Roßhaar und Seide gewobenen Schlappen, der weiße Stoßer vor der Brust, das sammtne Mieder, das bunte, goldgestickte Brusttuch, die schneeweißen Hemdärmel, die braune, feingefältelte Joppe, der rosenrothe Schoß aus schimmernder Seide – all das stand mir gar gut, das fühlte ich selbst. So erschien ich dem gelehrten Kulturdoktor, der hier in der Gaststube allein über seiner Arbeit saß, und hatte meinen hellen Spaß an seiner Freude.

Da auf einmal wird die Thür aufgerissen. Als wolle er seinen Augen nicht trauen, starrt mit dem Ausdruck sprachlosen Zorns der Jakob ins Zimmer – auf mich, auf ihn. So hatte er mich noch nie gesehen, so hatte ich mich ihm noch nie gezeigt – ‚nur dem Fremden zulieb wird solcher Staat gemacht!‘ las ich in seinem Auge.

‚Jakob!‘ schrie ich erschreckt und stürzte mich ihm entgegen, um alles aufzuklären.

Mit einem Ruck stieß mich der Starke bei Seite: ‚Wir zwei sind fertig, geh’ aufi‘ – knirschte er, einen wilden Blick auf mich schleudernd, mit heiserer Stimme – ‚aber mit dem da will ich noch ein Wörtli reden. ’s ist Zeit, scheint’s.‘ Damit schritt er auf den im Vergleich mit ihm nur schwächlichen Stadtherrn zu mit einer ausholenden Armbewegung, als gölte es, beim Schwingfest den stärksten Gegner beim Gürtel zu fassen und in die Luft zu schmettern.

Sicher wäre es sehr schlimm abgelaufen, wenn der Doktor nur die geringste Miene zu seiner Vertheidigung gemacht hätte. Aber daran dachte der gar nicht. Er war gerade damit beschäftigt gewesen, sich die Namen aller Ketteli und Spangen genau aufzuschreiben, als die heftige Unterbrechung erfolgte. Da er mich ‚Jakob‘ rufen gehört, wußte er, daß der Eingetretene mein Schatz war; denn ich hatte ihm auch öfter von meinem Schatz erzählt, und wenn er sein Verlangen geäußert hatte, eine genaue Beschreibung der bei unseren Schwingfesten eingehaltenen Gebräuche zu erhalten, so hatte ich ihn vertröstet auf den Tag, wenn mein Joggeli aus St. Johann zu Besuch kommen würde, der sei einer, der’s vom Grund aus verstünde. Diese Hoffnung hatte sich in seinem Geiste mit der Erwartung seines Eintreffens derart verschwistert, daß er das drohende Auftreten Jakobs für ein G’spaß nahm, dem nun eine Erklärung der Schwingfestgebräuche auf dem Fuß folgen müßte. Jetzt muß ich lachen, wenn ich dran denk’. Damals aber war’s ein furchtbarer Augenblick. Ich denk’ grad’, Jesus, Maria und Joseph, der zerschmeißt uns unsern zarten Kulturdoktor in lauter kleine Stückeli, da höre ich diesen auf einmal ganz vergnügt ‚Bravo, bravo!‘ schreien und, als handle es sich um ein Schauspiel, vergnügt in die Hände klatschen. Darausf war der wilde Jakob nicht vorbereitet. Wenn der Fremde sich in einen Riesen verwandelt hätte, wäre er nur erst recht auf ihn eingedrungen; diese Verwandlung des vermeintlichen Feindes in ein harmloses Kind entwaffnete ihn.

‚Noch einmal diese Stellung – das war echt, das war urecht,‘ rief der Doktor. – Mit dem ,echt‘ machte er sich immer zu thun.

Nun hatte der Jakob seine Sprache wieder gefunden. ‚Nichts da,‘ donnerte er, ‚hier ist der Spaß aus; das Bärbeli da war mein Schatz und die laß ich mir von keinem hergelaufenen Stadtherrn verschimpfiren! Wenn Ihr ein Mann seid und Ehr im Leib habt, laßt’s uns ausfechten.‘

Nun endlich konnte ich zu Wort kommen. Ich suchte ihn aufzuklären. Er aber glaubte mir nicht.

‚Ist’s etwa nicht wahr, daß ihr vom ,chössa‘ und ‚lieba‘ Euch unterhalten habt?‘ warf er mir entgegen.

‚Kann wohl sein,‘ sagte ich, ‚der Herr ist an Sprachengelehrter und studirt unsere Mundart.‘

Das verstand nun mein guter Schatz zwar nicht, aber er merkte doch, daß es noch Menschen gäbe, die mit mir vom Küssen sprechen könnten, ohne mir Küsse abzuverlangen. Ich benutzte seine Verwirrung und zog ihn mit mir hinaus. Und nun denkt’s Euch, als ich ihn, nachdem er etwas ruhiger geworden war, frug, wie er so unerwartet habe eintreffen können:

‚Weißt, Bärbeli,‘ sagte er, ‚Führer bin ich geworden. Hab’ den Schmiedhammer an den Nagel gehängt. Die Berg’ kenn’ ich auch, wie die andern und Geld bringt’s ein. Die Hauptsach’ aber ist, nun kann ich selbst sehen, was Du treibst und wie Du lebst, und brauch’s nicht zu hören von giftigen Ohrenbläsern, die eine Freud’ dran haben mich aufzuhetzen, wie die schlimmen Kameraden in der Geschichte vom Bötzler.‘

Und seitdem,“ schloß das Bärbeli vergnügt, „sehen wir uns oft und sind glücklich mit einand’. Der Böse ist ausgetrieben.“

„Und,“ fuhr der Professor, indem er sein Glas erhob, fort, „die Wandlung Deines Schmied-Jakob in einen Reiseführer war auch – Dein schönstes Reiseabenteuer!“

„Und daß wir zu Euch ins Gebirg reisen, hat auch sein Gutes. Gelt, Bärbeli?“ sagte vergnügt der Maler.

[606]
6. Im ewigen Eise.

Es war inzwischen acht Uhr abends geworden, um welche Zeit Bergsteiger, die ein Alpenschutzhaus zum Uebernachten benutzen, um andern Tags noch vor Sonnenausgang den eigentlichen Aufstieg zum Ziel anzutreten, sich niederzulegen pflegen. Professor Schröder stellte daher der animirten Tischgesellschaft die Entscheidung anheim, ob man die Fortsetzung des Symposions vertagen oder noch beisammen bleiben solle, so daß auch Mr. Whitfield und Herr Kurz noch heute zu Worte kämen Er selbst würde es lebhaft bedauern, wenn der sich rundende Kranz von Erzählungen jetzt unvollendet bleiben müsse, aber dies sei seine Privatmeinung und könne für die übrigen Theilnehmer nicht maßgebend sein. Durch die ins Freie führende Thür, welche das Bärbeli geöffnet hatte, um den Herren frisches Getränk zu holen, pfiff in diesem Moment der draußen noch immer herrschende Sturm so kalt und schrill, daß Herr Kurz wohl die Meinung aller aussprach, als er lächelnd bemerkte:

„Na, morgen früh vom Säntis herab die Sonne aufgehen zu sehen, diese Hoffnung hat wohl ein jeder von uns längst völlig aufgegeben. Ich denke, Herr Whitfield und ich spinnen gleich weiter das Garn zu Ende, um diesen guten norddeutschen Seemannsausdruck zu gebrauchen.“

Der Engländer nickte zustimmend.

„Aber wer von uns beiden fängt an? Was mich betrifft, so lasse ich Ihnen als Ausländer gern den Vortritt, vorausgesetzt, daß der Faden Ihrer Geschichte bereit liegt.“

„Ganz wie es Ihnen beliebt,“ sagte, seine Cigarette niederlegend, Mr. Whitfield. „I am ready.“

Nachdem auch Professor Schröder ihn gebeten, daß er anfangen möge, rückte der schlanke, auffallend schön gebaute Brite näher an den Tisch heran und begann ohne weitere Umstände.

„Auch ich will ein Reiseabenteuer erzählen und von Wanderlust und Wanderglück; aber ich fürchte, daß nicht alles nach dem Geschmack der Mehrzahl von Ihnen ist, denn Sie sind Vergnügungsreisende, die ins Gebirg gekommen sind, um im Anschauen großer und schöner Natur auf kurze Zeit Ihr städtisches Kulturleben zu vergessen; mir ist das Ueberwinden der Schrecknisse der gewaltigen Gebirgsnatur dagegen zum Berufe geworden, die Alpen sind die grande passion meines Herzens, ich bin Alpinist mit Leib und Seele. Ich weiß wohl, wenn ich hier vor Ihnen ein Loblied auf die Kunst des Bergsteigens anstimmen und des längeren auseinandersetzen würde, wie hocherhaben dieser Sport über jeden andern zu stellen ist, Sie würden im Stillen mich einen ,Alpenfex‘ nennen und sich vor allem Folgenden bekreuzen. Es wäre dies auch gerade so verkehrt, wie wenn ein passionirter Jäger von seinen Jagdabenteuern vor Zuhörern schwärmen wollte, die, weil sie keine Jäger sind, während der Erzählung nur die armen Hirsche und Rehe bedauern, um deren Erschießen sich die Jagdlust dreht, oder wenn ein leidenschaftlicher Reiter sein Lieblingsthema eingehend behandeln wollte vor Sonntagsreitern, denen das bloße Zupferdesitzen schon eine Anstrengung ist. Aber ich habe die Frage nach meinem schönsten Reiseabenteuer zu beantworten, und so muß ich wohl oder übel manches vorbringen, was theils ruhmredig klingt, theils Ihnen thöricht erscheint, und was doch nicht zu verschweigen ist, weil es organisch zu meiner Geschichte gehört. Denn gerade dieses Erlebniß hat meine Leidenschaft für die Eis- und Firnwelt der Alpen zur Voraussetzung.

Nur eines lassen Sie mich noch kurz vorausschicken. Die meisten derer, die in den Städten einem friedsamen Berufe nachgehen, meinen, nur die Befriedigung der Eitelkeit sei der eigentliche Ansporn zu dem gefahrvollen Alpensport. Das Gegentheil ist der Fall. Es giebt nichts, was die menschliche Eitelkeit so gründlich demüthigt wie die innige Berührung mit der gewaltigen Hochalpenwelt, die in ihrer Schönheit wie ihrem Schrecken gleich großartig ist. Auch herrscht die Meinung, es handle sich dabei nur um Akrobatenkunststücke von Leuten, welche die Alpen als Klettergerüst betrachten. Aber die wahre Alpinistik ist zugleich eine Kunst und eine Wissenschaft. Die Kunst des Bergsteigens fordert eine Entfaltung der persönlichen Thatkraft und Geschicklichkeit, welche fast alle Fähigkeiten der Seele und der Sinne ins Spiel fetzt, sie fördert und bereichert durch die Erforschung der Alpenwelt unsere Kenntniß der Natur auf allen ihren Gebieten. Vor dem Botaniker, der die Flora, vor dem Zoologen, der die Fauna, dem Geologen, der die Gesteinschichten und Gletscherschiebungen der Alpen erforschte, vor dem Techniker, der bequeme Hochstraßen und kühne Schienenwege über und durch die Alpen legte, dem Meteorologen, der seine Beobachtungsstationen auf hohen Bergesspitzen errichtete, dem Strategen, der die im Kriege vorteilhaftesten Alpenpässe auf seinen Karten eintrug, vor den Erbauern bequemer Alpenschutzhäuser und Unterkunftshütten für das reisende Publikum, stieg als Pionier ihrer aller der Tourist in die Wirrniß der Bergriesen mit ihren Felsgraten und Geröllböden, Gletscherabstürzen und Schneeüberhängen, Firnbassins und Schuttkaminen und erforschte die Gesetze ihres Baues.

Leider freilich macht sich auch in der Alpinistik, wie überall in Kunst und Wissenschaft, der Dilettantismus besonders wichtig. In einem Dorfe am Fuß des Großglocknergebirgs liegt auf dem Friedhof ein junger Mann begraben, der bei einer Besteigung jener eisumpanzerten Spitze ums Leben kam. Ich war damals selber in Kals, als man seine Leiche herunterbrachte. Dieser Verunglückte erscheint mir immer als Typus dilettantischer Bergfexerei. Ohne an kleineren Hochtouren seine Kräfte erprobt zu haben, ohne irgendwie vorbereitet zu sein, in einem leichten Sommeranzug, welcher nur im Zuschnitt der wetterfesten Tracht der Gebirgsbewohner kokett nachgeahmt war, war er nach Kals mit einigen Freunden gekommen ohne die geringste Absicht, den Glockner zu besteigen. Die Rückkehr einer nicht gerade besonders kräftig gebauten Dame von einer glücklichen Besteigung der hohen Eispyramide veranlaßte ihn zu der Behauptung, ihm würde das gleiche Unternehmen eine Kleinigkeit sein, und als er damit auf den Widerspruch und Spott seiner Kameraden stieß, wettete er voll Uebermuth, daß er es ihnen beweisen werde. Unterwegs gerieth er mit seinen Führern in einen eisigen Schneesturm; den Mahnungen der kräftigen Männer, umzukehren, gab er nicht nach, so sehr er fühlte, wie seine Kräfte nachließen; seine Eitelkeit vermochte sich nicht in die aus einer Rückkehr sich ergebende Demüthigung zu finden, und so trotzte er den Elementen, bis er erlag, in Krämpfe verfiel und dann auf dem Rücken des treuen Führers, der ihn heruntertrug, sein Leben aushauchte.

[607] Ein wirklicher Alpinist wird im Gegensatz zu dem Leichtsinn und der Eitelkeit, die hier einen alpinen Unglücksfall bewirkten, alle Hilfs- und Schutzmittel in Anspruch nehmen, welche ihm die Kultur und die Technik zur Ueberwindung der Schwierigkeiten einer solchen Hochtour darbieten. Wir studiren das Maß unserer eigenen Kräfte und richten danach die Inanspruchnahme der Kräfte erprobter Führer sowohl als einer rationellen Ausrüstung. Der Eine läßt beim Ueberschreiten steilerer Gletscher sich anseilen und in das Eis Stufen hauen, der Andere verläßt sich, wenn es sich nicht um besonders gefährliche Entdeckungsfahrten handelt, auf seine eigenen, mit Steigeisen bewaffneten Füße und den Bergstock in seiner Hand. Ein richtiger Alpinist wird auch immer die nothwendigsten Hilfsmittel für Höhenmessung und Terrainbeobachtung mitnehmen und seine Entdeckungen und Erfahrungen der Wissenschaft zu gute kommen lassen. Wenigstens habe ich es immer so gehalten. Daß das Bewußtsein absoluter Schwindelfreiheit und oft erprobter Kraft auch solche Alpinisten bisweilen zu verwegenen Unternehmungen verleitet, bei welchen allein die Lust am gefährlichen Abenteuer und der ‚Reiz des Unbekannten‘ als Motive wirken, will ich ebenso wenig leugnen wie den Ehrgeiz, der im Wetteifer mit Gleichbegabten ins Spiel tritt.

Gerade das letztere war in besonderem Grade bei einer Reihe von Hochtouren der Fall, die ich vor einigen Jahren in dem bereits erwähnten Gebiete des Großglockners ausführte. Und die Persönlichkeit, welche meinen Ehrgeiz und Wetteifer so herausforderte, war – wie im Falle jenes Verunglückten – eine Dame. Kennen Sie Heiligenblut? Wenn man von Regenwetter festgehalten, dort um alle Aussicht betrogen wird und in dem kahlen Wirthszimmer des einzigen alten Gasthofs über seine Specialkarte des Großglocknergebiets gebückt darüber simulirt, welche Partien man machen könnte, wenn nur das Wetter besser wäre, ist’s ein armseliges Gebirgsdorf wie tausend andere. Wenn aber ein günstiger Wind die grauen Wolkenschleier emporweht, welche bisher die hermelingeschmückte Majestät des Großglockners dem Anblick entzogen, wenn über den dunklen Bergen des oberen Möllthals, über den schneebedeckten hohen Leiterköpfen und dem schimmernden Absturz des großen Pasterzengletschers in der Ferne sich die schlanke Firnnadel des Großglockners leuchtend aus der sie umgebenden Eiswelt ins Blau des Himmels hinaufschwingt, erscheint dies Dorf mit seiner gleichfalls schlank emporgestreckten Kirche dem Alpenfreund als die denkbar schönste Pforte zu einem Paradiese im Reiche des ewigen Schnees! Je länger ich vorher die Langeweile des Eingeregnetseins hatte ertragen müssen, um so entzückter wurde ich dann des fascinirenden Reizes dieser Scenerie inne, als endlich – endlich die Spitze des Glockners frei ward. Es waren noch mehrere Herren im Schoberwirthshaus, die gleich mir mit Sehnsucht diesem Ereigniß entgegengesehen hatten. Ein Professor aus München, Botaniker von Fach, ein Entomolog aus Wien, der auf den Almen unterhalb der Firnwelt auf Schmetterlingsjagd ausgehen wollte, und noch mehrere Touristen, welche nur die Wanderung an dem Glocknerhaus und der Pasterze vorüber über die Pfandlscharte ins Fuscherthal vorhatten. Wir saßen gerade in lebhaftem Gespräche bei Tisch, als zum Fenster einfallende Sonnenstrahlen uns die Aenderung des Wetters ankündigten und überdies der freudige Ruf eines Führers vor dem Hause: ‚Der Glockner wird frei!‘ unsere Ahnung bestätigte.

In diesem Augenblicke that sich die Thür auf und in derselben erschien – während wir gerade im Begriff waren, aufzustehen und ins Freie zu eilen, um Zeugen der Aufhellung des Himmels zu werden – eine touristisch gekleidete Dame, bei deren Erscheinen es auch wie Sonnenschein durch die niedrige Stube ging. Da ein blauer, von ihrem Florentiner Strohhut herabwallender Schleier ihr Gesicht zur Hälfte bedeckte, welches obenein zurück nach der Hausflur gewendet war, bestimmte der auffallend schöne Wuchs von seltener Kraft und Grazie den ersten Eindruck. Sie trug eine anliegende, leicht geschürzte Kleidung aus hellbraunem Lodenstoff, in der Rechten hielt sie einen Bergstock, ihre Schuhe waren aus dickem Leder und auch vorn mit Nägeln beschlagen. An der Seite der Wirthin, welche sie als alte Bekannte begrüßte, trat sie nunmehr ganz ein, indem sie zu dieser sagte:

‚Der Michel soll nur mein Gepäck gleich auf mein Zimmer tragen; ich aber will hier unten bleiben; der Weg von Dölsach hierher hat mir Appetit gemacht.‘

‚Das ist schön,‘ sagte die Wirthin, welche der Dame auf einem andern Tisch als dem unseren ein Gedeck zurechtlegte, ‚und schönes Wetter haben Sie auch mitgebracht, nachdem es vierzehn Tage lang bei uns geregnet hat. Das heiße ich Glück und gute Vorbedeutung.‘

Ueber das Antlitz der Dame glitt bei dieser Beglückwünschung ein herber Zug, der jedoch die eigenthümliche Schönheit des Gesichtes eher erhöhte als minderte. Dasselbe war von einer gleichmäßigen, nicht ungesunden Blässe, mit welcher das große grünlich blaue Auge, dessen Blick klar und bestimmt, beinahe streng war, sonderbar kontrastirte. Die feingeschwungenen Lippen waren fest geschlossen und ihr Ausdruck deutete wie die Kontour ihres Kinns auf besondere Energie. Sie hatte den Strohhut abgenommen, wodurch das schöne edle Profil ganz sichtbar geworden war, sowie ihr blondes welliges Haar, das vorn schlicht gescheitelt, hinten in einem einfachen Knoten aufgesteckt war, ähnlich dem, den wir an antiken Statuen der besten Zeit kennen. In diesem Haare spielte etwas wie ein goldener Schimmer, und ich konnte dem Professor neben mir nicht unrecht geben, der auf meine leise hingeworfene Bemerkung, welche auf die Aehnlichkeit dieses Gesichts mit einem bekannten Dianakopf hinwies, mir antwortete: ‚Nein, die Gletscherkönigin selber.‘

Dieser Nachbar, der ein Stammgast von Heiligenblut war, wußte mir dann auch, als wir draußen auf dem Wege zum Katzensteig dem Spiele der Wolken zuschauten, welche mehr und mehr den vollen Anblick des Glockners freigaben, näheres über den neuen Ankömmling zu sagen.

Ihr Vater war ein Kollege von ihm gewesen, der, zwar Deutscher von Geburt, als Professor an einer russischen Universität vor einigen Jahren gestorben war. Derselbe hat sich als Entdeckungsreisender dauernden Ruhm erworben. Ihre Mutter, eine geborene Russin, war ihm bald in den Tod gefolgt. An der Seite dieses Vaters hatte die Tochter schon in frühen Jahren viel von der Welt gesehen und auch die Gefahren des Hochgebirgs schon als Mädchen verachten gelernt. Die letzten Hochtouren, welche sie mit dem geliebten Vater gemacht, hatten einigen Spitzen des Glocknergebiets gegolten und daher stamme ihre Vorliebe für diese Gegend. Weiter erzählte mir der gesprächige alte Herr, daß die Dame trotz des jungfräulichen Ausdrucks ihres Wesens kein Mädchen mehr, sondern eine Frau sei, aber eine geschiedene. Warum die Scheidung nach einer übrigens nur kurzen Ehe erfolgt sei, darüber seien seiner Zeit die verschiedensten Meinungen laut geworden. Auf jeden Fall war dieselbe von ihrer Seite eingeleitet worden, und zwar unter Angabe keines andern Grundes als dem unüberwindlicher Abneigung. Es sei wahrscheinlich, daß diejenigen recht hätten, welche damals behauptet, der Mangel an Mannhaftigkeit und Muth, den ihr Mann in einem kritischen Augenblicke an den Tag gelegt, habe diese Abneigung ihr eingeflößt. Ja, er habe Anlaß, zu glauben, daß jenes Erlebniß einen allgemeinen Widerwillen gegen das männliche Geschlecht, oder wenigstens gegen die gebildeten Vertreter desselben in ihr zurückgelassen habe, denn sie meide seitdem geflissentlich, freilich auch ohne Ostentation, allen Umgang mit solchen; nur im Verkehr mit den wetterfestest, wortkargen, durch Muth und Entschlossenheit ausgezeichneten Führern dieser Gegend aus Kals, Fusch oder Heiligenblut habe er sie gesprächig und frei von jeder Zurückhaltung gesehen.

Alles dies war nur geeignet, mein Interesse für die Dame, das schon ihre Erscheinung geweckt hatte, wesentlich zu steigern, und mit Spannung sah ich einer Gelegenheit entgegen, mich ihr zu nähern und ihre Bekanntschaft zu machen. Bei der gleichen Vorliebe für die Alpenwelt und das Ersteigen ihrer Gipfel und Uebergänge konnte es ja an Anknüpfungspunkten nicht fehlen, und was ihre Antipathie betraf, so nahm ich es ja, wie ich meinte, in Bezug auf Muth und Entschlossenheit mit dem besten Bergführer im Glocknergebiet auf. Als ich aber erleben mußte, daß sie mir gerade wie jedem andern Touristen dieselbe Unnahbarkeit und Ablehnung zu theil werden ließ, entbrannte ich vor Begier, diesem selbstbewußten und selbstgenügsamen Weibe Respekt vor meiner Kraft abzugewinnen und sie die Ueberlegenheit eines Mannes, eines männlichen Willens fühlen zu lassen.

Es ist ein natürliches Bedürfnis nach einer glücklich zurückgelegten Hochtour, während welcher kein unnötiges Wort gesprochen wird, mit Gleichgestimmten die überstandenen Erlebnisse zu [608] besprechen. Gerade hieraus ergiebt sich ja die Würze der Geselligkeit in den Unterkunftshütten der Alpenklubbisten, welche auf andere Unterhaltungsmittel völlig verzichten muß. Wir hatten das damals noch sehr primitive Glocknerhaus des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins am Absturz der Pasterze ziemlich gleichzeitig zur Station genommen, um den öfteren Rückweg nach Heiligenblut zu sparen. Es konnte nicht fehlen, daß wir des Morgens vor Aufbruch und abends nach der Rückkehr an dem einzigen Tisch des einzigen Gastzimmers dieses Asyls unsere Mahlzeiten nahmen, und gleich am zweiten Tag nach einer glücklich durchgeführten Besteigung der Glocknerspitze auf dem Wege über den Ködnitzgletscher, die Vanitscharte und den Stüdlweg fühlte ich mich gedrängt, ohne weitere Umstände das Wort an die Dame zu richten, obgleich sich dieselbe an einem Platze möglichst fern von mir niedergelassen hatte. Der Uebergang über die Vanitscharte hatte mir unerwartet viel Mühe gemacht, und so unterdrückte ich denn auch die Klage darüber nicht, nachdem ich meinem Entzücken über den auf der Spitze erlebten Sonnenaufgang und die einzig grandiose Aussicht Luft gemacht hatte.

Die Gletscherkönigin, so nannte ich unwillkürlich in meinen Selbstgesprächen die schöne Einsame weiter, blieb auch bei dieser Gelegenheit dem in diesem Namen ausgedrückten Charakter treu. Meine enthusiastischen Schilderungen nahm sie, zwar ohne die Höflichkeit zu verletzen, aber mit eisiger Kälte entgegen, und nur nach jener Beschwerde ging ein Lächeln über ihre Lippen, ein Lächeln des – Mitleids. Es war, als wolle sie sagen: wie, du prahlendes Männlein, schon diese kleine Anstrengung macht dir Beschwerniß; schon recht, was drängst du dich in mein Reich ein, wo deinesgleichen nicht hingehören. Wohl fühlte ich das Bedürfniß, auf dieses Lächeln mit gebührendem Hohn zu antworten, doch fand ich ihrer stillen Gelassenheit gegenüber keine passenden Worte dafür, ohne Gefahr zu laufen, mich vor ihr lächerlich zu machen. Als ich dann in die Stube der Führer hinausging, um mit den meinen einiges für den folgenden Tag zu verabreden, war ich Zeuge, wie der Heiligenbluter Recke, der sie gerade auf die Johannisspitze zu führen gehabt hatte, in Worten höchster Bewunderung von ihrer sicheren Kraft und Gewandtheit beim Steigen, der Unbeirrbarkeit ihres Willens, der völligen Furchtlosigkeit ihres Wesens sich aussprach, wie sie in solcher Vereinigung auch bei den kräftigsten Männern selten nur anzutreffen seien.

Dieser empfindlichen Demüthigung meines Selbstgefühls folgte bald eine zweite. Es war einige Tage später. Der Zufall hatte es gefügt, daß wir beide gleichzeitig einen Rasttag hielten. Die Post hatte Briefe gebracht, die beantwortet werden mußten; ich hatte außerdem das Bedürfniß gehabt, einige werthvolle Funde für meine Sammlungen näher zu bestimmen und provisorisch zu konserviren sowie meine Beobachtungen in meine Tagebücher einzuschreiben. Auch sie hatte Aehnliches vor, und da wir auch dafür gemeinsam auf das Touristenzimmer angewiesen waren, in welchem gerade auch ein bekannter Naturforscher aus Wien sich aufhielt, dessen ruhige, schlichte Gelehrtennatur selbst die Sympathie der gestrengen Gletscherkönigin zu gewinnen wußte, so kam ein ganz leidliches Einvernehmen zwischen uns zu stande. Die schlichte liebevolle Art, mit der sie von ihrem Vater sprach, dessen hinterlassene Aufsätze über seine Forschungsfahrten in die Alpenwelt sie herauszugeben vorhatte, die anspruchslose Sicherheit, mit der sie sich als dessen verstandesscharfe Schülerin erwies, gewannen meine höchste Sympathie.

Am Nachmittag saßen wir drei vor dem Glocknerhaus auf dem grasbedeckten Felsenvorsprung, von welchem der Abhang zum Pasterzenkees und seiner Moräne hinabzieht. Das Licht der Sonne fiel voll auf den breiten mächtigen Gletscherabsturz vor uns und die Strahlen erzeugten ein magisches Glitzern und Leuchten in den riesigen Eisspalten des tausendfach zerschründeten Eiskatarakts, dessen Risse und Sprünge die grauweiße Farbe des Massivs mit bläulich grünem Geäder durchfurchten. Das großartige Bild dieses schaurig schönen Gletscherabsprungs, der rechts und links von dunklen Felsenwänden umrahmt wird, während sein scheinbares Ende nach oben hin von dem hochaufstrebenden Firnkegel des Großglockners überragt ist – in Wahrheit dehnt sich die Eismasse um die Freiwand einbiegend noch stundenlang weiter als ein breites Eismeer bis zu dem eigentlichen Massiv von Groß- und Kleinglockner und Glocknerwand hin – dieses prachtvolle Bild fesselte bald unsere Aufmerksamkeit derart, daß das von uns geführte wissenschaftliche Gespräch über die verschiedenen Theorien der Gletscherentstehung und Gletscherbewegung plötzlich versiegte, weil ein jeder dem magischen Reize des Anblicks erlag. Als wir so in stumme Bewunderung eines der größten und schönsten Wunderwerke der Natur verloren dasaßen, tauchten plötzlich vor uns die Gestalten zweier Führer auf, die vom Gletscherrand heraufgestiegen kamen, ein jeder seinen Bergstock und Steigeisen in Händen. Es waren die zwei Kalser Führer, die ich mir, auf besondere Empfehlung hin, für die Dauer meines Aufenthalts hier gemiethet hatte, zwei prächtige, unternehmungsfrohe, kraftstrotzende Burschen, die auf meine Frage, woher sie kämen, lachend erwiderten, sie hätten einen Probemarsch über die Pasterze versucht.

In früheren Jahren hätte es einen leidlichen Weg über die durcheinander geschichteten Eisberge und Blöcke gegeben, auf welchem schwindelfreie Touristen, vorausgesetzt daß sie Steigeisen benützten und sich anseilen ließen, nach der Franz Josephshöhe am rechten Rande derselben hätten gelangen können. Die strenge Kälte des letzten Winters, die Nachwirkungen des vielen Neuschnees, verschiedene Eislawinen von oben her hätten die Verhältnisse des Gletschers jedoch derart verändert und verschoben, daß ein solcher Weg noch nicht wieder ausfindig gemacht worden sei. Auch ihre Mühe sei eben vergeblich gewesen.

Meine Natur würde sich gänzlich verleugnet haben, wenn ich auf diese Mittheilung hin nicht sofort den Vorschlag geäußert hätte, mit ihnen gleich jetzt eine zweite Expedition in die Gletscherwelt, deren Anblick uns eben erst in höchstes Entzücken versetzt hatte, anzutreten. Immer entferntere Ziele im Auge, war ich nie auf den Gedanken gekommen, dem nahen Pasterzeabsturz einen Besuch abzustatten. Die Führer erklärten sich mit Freuden bereit und der Professor aus Wien bat um die Erlaubniß, sich anschließen zu dürfen, was ich selbstverständlich herzlich willkommen hieß, indem ich auch meine Nachbarin aufforderte, an der kleinen Exkursion theil zu nehmen. Gern, sagte sie in ihrer kurzen Weise, aber mit höflicher Freundlichkeit, und so brachen wir denn, nachdem die Führer noch die nöthigen Steigeisen und Seile herbeigeholt hatten, auf. Unten auf dem letzten Ausläufer des Gletschers ging’s an die Ausrüstung. Die Steigeisen waren bald angeschnallt. Weniger schnell ging das Anseilen. Frau Wallenheim, dies war der eigentliche Name der Gletscherkönigin, erklärte plötzlich, sie bedürfe des Anseilens nicht, dasselbe genire sie bloß. Ich entgegnete, daß auch ich des Anseilens nicht bedürfe, daß aber bei derartigen Unternehmungen, bei welchen der Weg fast beständig an Spalten und Klüften vorübergehe, es die gemeinsame Sicherheit erfordere, daß sämmtliche Theilnehmer sich durch Seile mit einander verbänden. Strauchle oder falle dann einer, so sei die Kraft und der sichere Stand der Anderen ihm Stütze. Dies sah sie ein, aber nun wollte sie wenigstens die letzte im Zuge sein. Dagegen protestirten jedoch die Führer: einer von ihnen müsse die Führung haben, der andere den Schluß bilden, dafür hätten sie die Verantwortung.

Ohne ihren Mißmut ganz verbergen zu können, ließ sie sich nunmehr anseilen, wie es den Führern beliebte. Die Reihenfolge war jetzt die folgende: voran ein Führer, dann der Wiener Gelehrte, dann Frau Wallenheim, dann ich, gefolgt von dem zweiten Führer. Und nun ging das Steigen los. Anfangs mit übermäßiger Vorsicht, denn der mir voranschreitende Professor, des Ueberschreitens von Eisbergen ungewohnt und durch die Nähe der unheimlich schimmernden, weitklaffenden Spalten geängstigt, wirkte zunächst als Hemmniß. Bald aber hatte auch er seine Scheu überwunden und nun wurden unsere Bewegungen schneller und kühner. Bald ging es bequem über schräge Absenkungen wellenförmiger Erhebungen hin, bald auf den emporragenden Rippen von langsam ansteigenden Eisbergen, bald mußten wir vorsichtig von einer Eiswand zur anderen springen oder eine Kluft überklettern, wobei vorragende Eiszungen in Gletscherspalten unseren Füßen Halt bieten mußten. Der Professor glitt manchmal aus und nahm auch sonst öfters die Hilfe des ihm voranschreitenden Führers in Anspruch. Um so sicherer und leichter überwand dagegen die ihm folgende Dame jede Schwierigkeit. Es war, als sei ihr all dies nur ein Spiel, als sei dies Klettern und Voltigiren auf Eis und Firn ihr eigentliches Element. Und spielend in ihrer Grazie und darum ein Schauspiel für mich von fesselndem [610] Reize waren ihre Bewegungen. So kam es, daß auch ich ein paar Mal ins Stolpern kam, eben weil meine Blicke an der vor mir schreitenden schönen Gestalt hingen, statt auf den Weg zu achten. Da endlich schien auch sie einmal ihre sichere Ruhe einzubüßen. Mit einer gewissen Genugthuung, in welcher ich die Empfindungen eines Lebensretters vorschmeckte, sah ich sie plötzlich nach links ausgleiten und mit jähem Ruck ein Stück der schrägen Eiswand herunterrutschen. Mit zwei gewaltigen Sätzen war ich dicht hinter ihr und umfaßte sie mit voller Kraft. Doch sie hatte inzwischen, wie ich jetzt erst merkte, schon wieder festen Stand gewonnen, und, mit heftiger Gebärde sich meinen Armen entziehend, wandte sie sich nach mir um und sagte mit herbem Lächeln:

‚Sahen Sie denn nicht, daß ich absichtlich diesen Abrutsch ausführte? Dort oben hat der sich aufschwingende Tritt des Professors die Stütze abgebrochen, welche der Führer für seinen Weg fand, und wenn ich das nicht rechtzeitig bemerkt hätte, so wäre Ihre jetzt sehr unnöthige Hilfeleistung allerdings vielleicht nöthig geworden. – Uebrigens, meine Herren,‘ fuhr sie mit gehobener Stimme fort, ‚kommen wir so nicht ans Ziel. Die Eiswand dort zur Rechten können wir nicht nehmen und hinter derselben schichtet sich Eisklotz an Eisklotz. Probiren Sie doch einmal, über die Rippe, welche dort nach links hinzieht, vorzudringen, ich sollte meinen, daß wir so den Westrand der Pasterze erreichen können, von wo aus wir bequem unseren Weg über den Felsenrand und dann den minder schwierigen Pasterzenboden zur Franz Josephshöhe einschlagen können.‘

Um mich kümmerte sie sich nicht weiter. Und zu dieser Demüthigung kam noch die zweite, daß ihr Rath sich als vollkommen richtig erwies. So hatte also auch der erfahrene Führer, der vorangegangen war, seine Lektion weg – von einer Dame.

Diese Scharte muß ausgewetzt werden, dieses Verlangen beherrschte nunmehr mein ganzes Geistesleben. Auch meinen Führern glaubte ich anzumerken, daß sie schwer an der Erfahrung trugen, von einer Flachländerin in ihrem eigensten Berufe zurechtgewiesen worden zu sein. Auf jeden Fall kam es mir wie eine Herausforderung ihrerseits vor, als sie zwei Tage später des Abends nach einer kürzeren Tour, da Frau Wallenheim und ich allein in dem Gastzimmer des Glocknerhauses saßen, mit der Bemerkung vor mich hintraten, sie wüßten noch eine schöne Aufgabe für mich. Durch den Sturz einer Eislawine vom Glocknerkarkees herab sei vor einigen Tagen der untere Theil des Hofmannsweges, der bisher über felsiges Gestein führte, verschüttet worden; es gälte, über das veränderte Terrain einen brauchbaren Steig ausfindig zu machen, so daß dieser kürzeste Aufstieg zum Glockner dem Touristenverkehr wieder gewonnen würde. Vielleicht entschlösse sich auch die gnädige Frau, sich an dem Unternehmen zu betheiligen; sie fände sich ja mit ihren scharfen Augen in der Gletscherwelt noch besser zurecht als sie, die Führer. Sie hatten sich mit dieser letzteren Bemerkung fragend an sie gewandt. Und diese, weit entfernt, irgend welche Anzüglichkeit darin zu erblicken, ging mit lebhaftem Interesse sofort auf den Gegenstand ein. Ich selber war nunmehr für die Idee Feuer und Flamme. Meine Rivalin bewies auch sofort wieder ihren touristischen Scharfblick und klaren Verstand. Die Hindernisse von unten aus zu nehmen, so führte sie aus, würde viel unnötige Kletterei verursachen; es sei rathsam, von oben her auf dem Kalser Weg über Stüdlhütte und Adlersruhe sich dem Operationsfeld zu nähern, wobei man es mit dem Fernrohr und Feldstecher rekognosciren und danach den Angriffsplan einrichten könne.

Mir war im Grunde die Art der Ausführung gleichgültig, mein ganzes Sinnen und Trachten stand nur darauf, bei dieser Gelegenheit mich in Bewährung von Muth, Thatkraft und Scharfsinn mit der stolzen Gletscherkönigin zu messen. Ein Feldherr kann nicht begieriger dem Ausgang eines Treffens entgegensehen als ich dem Ausgang des verwegenen Unternehmens.

Während ich mit meinen Führern am folgenden Tage den Weg nur bis zur Stüdlhütte zurücklegte, ging sie mit ihrem Heiligenbluter, einem ruhigen älteren Mann, noch bis zur Erzherzog Johannhütte auf der Adlersruhe hinauf, um dort zu übernachten. Den Vorsprung, den sie dadurch früh am Morgen voraus hatte, benutzte sie, und zwar wider die Abrede, zu einer selbständigen Rekognoscirung des veränderten Gletscherterrains. Die heiße Witterung der letzten Tage hatte viel Neuschnee zum Schmelzen gebracht und dies jene Eisrutschungen bewirkt. Auch Sprünge hatte der oft in einem Winkel von vierzig Grad abschüssige Glocknerkargletscher bekommen; die einsame Exkursion der einzelnen Dame war daher sehr gewagt. Der Ehrgeiz war eben auch in ihr zum Ausbruch gekommen und hatte ihre ruhige Besonnenheit getrübt. Ihr Führer war aber viel zu sehr überzeugt von ihren oft bewährten Tugenden als Bergsteigerin, um ihrer Weisung, uns oben auf der Adlersruhe zu erwarten, einen Widerspruch entgegenzustellen. So hatte er sie ziehen lassen und ihr nur noch ein paar rothe Fähnchen mitgegeben, die sie an besonders markanten Stellen ihres Vordringens möglichst weit sichtbar befestigen sollte.

Als wir gegen sechs Uhr früh auf der Adlersruhe eintrafen, fanden wir den biederen Graubart in großer Unruhe und Sorge. Er hatte seine Schutzbefohlene so lange wie möglich mit sorgsamen Blicken verfolgt, bis sie diesen gänzlich entschwunden war, und seitdem – es war wohl der Verlauf einer Stunde – war sie in seinem Gesichtsfeld nicht wieder aufgetaucht. Mit großer Eile schritten wir – zunächst angeseilt – den Weg hinunter, scharf ausspähend, ob nicht eines der rothen Fähnchen sichtbar werde. Wir waren schon nahe bei der Stelle, wo in früheren Jahren der Gletscher zu Ende gewesen, als wir fast gleichzeitig an verschiedenen Stellen mitten in dem vor uns im Absturz sich überschichtenden Eisblockgewirre drei der rothen Fähnchen ansichtig wurden. Leider ist man in dieser Gletscherregion den ärgsten optischen Täuschungen ausgesetzt; so kam es, daß wir alle vier verschiedener Meinung waren, welches von den Fähnchen das nächste, welches das entfernteste sei. Daraus ergab sich das Bedürfniß, in getrennter Marschordnung vorzurücken. Ich und einer meiner Führer zogen geradeswegs auf das mittlere los. Die beiden anderen Männer rückten zu beiden Seiten vor. Es war ein verwegenes Wandern; jetzt galt es, felsiges Terrain zu überklettern, dann wieder über steile Gletscherabhänge vorsichtig abzurutschen und wieder, tiefe Gletscherspalten zu überspringen oder, wenn dies nicht ging, zu umgehen. Bald befanden wir uns mitten in einem Labyrinth von Eisbergen, -Nadeln, -Kegeln und Firnhängen, in welchem wir nur Dank des Kompasses die Richtung einhalten konnten, so verwirrend wirkte diese Umgebung. Sowohl die rothe Fahne als die Führer waren uns aus dem Auge gekommen; auf unsere Jodelrufe kam keine Antwort. Doch verloren wir dadurch nicht unsere Geistesgegenwart. Ohne Aufenthalt, aber auch mit kluger Ausnutzung jedes Terrainvortheils rückten wir vorwärts.

Endlich erreichen wir die Zinne einer hohen Eiswand, die uns einen Ueberblick nach vor- und rückwärts gestattet. Erstaunt entdecken wir zwei der rothen Fähnchen hinter uns. Vielleicht hatten wir also die Gesuchte schon überholt. Wir lugen scharf aus, ob wir nicht in irgend einer der Einschartungen im Eise ihr Gewand sehen. Nirgends läßt sich eine Spur nur entdecken. Da plötzlich – fast direkt unter uns – werden wir sie gewahr. In einer äußerst steil geneigten Eisrinne, deren Boden offenbar fußtief von Schnee bedeckt war, denn bei jedem Schritt sank sie bis an das Knie ein, schritt sie langsam vorwärts. Mein Führer wollte sie gerade anrufen, als ich ihm stumm bedeutete, zu schweigen. Mich gelüstete es, dem kühnen Weibe zuvorzukommen, das offenbar im Geiste schon den Triumph genoß, ohne jegliche Manneshilfe das schwierige Unternehmen durchgeführt zu haben. Wir kletterten leise über die steile Neigung des Eisbergs nach Osten hinab, fanden hier günstiges Terrain zum Vordringen in die Rinne und waren gerade in einer breiten Kluft zwischen zwei Eiswänden angelangt, welche in diese mündete, als ein prickelndes Geräusch in dieser uns still stehen heißt. Entsetzen macht unser Blut für einen Moment erstarren: die Schneedecke in der steilen Eisrinne vor uns bewegt sich. Durch das Gewicht der Tritte eines der anderen Führer, der auch die Einsame entdeckt hatte und von oben her in die Rinne, halb rutschend, eilte, war, so erfuhren wir später, die auf dem Eise lagernde, von der Sonne erweichte Schneedecke ins Gleiten gekommen. Schon war die Bewegung und das von ihr erzeugte Geräusch ein Sausen. Es war kein Zweifel, die tollkühne Frau mußte von dem Sturze mit fortgerissen und auf die an die hundert Meter unter dem Ausgang der Rinne lagernde Pasterzenmoräne mit rasender Wucht geschleudert werden. Ohne uns zu besinnen, stürzten wir vor nach dem Rand, an welchem jeden Augenblick die Unglückliche vorbeitreiben mußte.

Noch rechtzeitig gelange ich, als der vordere, zu dem wilden Schneesturz, und vom Instinkt getrieben, stürze ich, als die halben Leibs im Schnee noch aufgerichtet Stehende, mit starren Augen [611] dem Tod Entgegensehende herantreibt, mich ihr entgegen, indem ich dem Führer hinter mir zurufe, das Seil fest anzuziehen, das mich und ihn verband. Mit dem Unterkörper tief in den Schnee gesunken, mit dem rechten Arm die vom Schreck Erstarrte um die Hüfte fassend, während die Linke fest das Seil umklammert hält, gelingt es mir, für einen Moment die Bewegung zu hemmen. Der treue Führer hat Stand hinter einem Eisvorsprung genommen und hält unverrückbar den gewaltigen Ruck aus, der das Seil um seine Brust furchtbar anzieht, so daß ihm, dem Starken, fast der Athem vergeht, der aber auch uns beide aus der Todesgefahr hinauf auf festen Boden bringt. Auch der nachstürzende Führer hatte von dem Stillstand der Bewegung profitirt. Ihm war es gelungen, sich mit Hilfe seines Bergstocks ans Ufer der Rinne zu schnellen. Es war eine Rettung aus höchster Todesgefahr.

Schon aus diesem Grunde steht dieser verhängnißvolle Tag als der Bringer meines schönsten Reiseerlebnisses mir im Gedächtniß. Es giebt kein beseligenderes Gefühl, als einem anderen das Leben zu retten, indem man das seine preisgiebt. Die That als solche war kaum etwas Besonderes; der Antheil des Führers an derselben war gleich stark wie der meine, und jeder Bergführer der Alpen ist jeden Tag bereit, ähnliches zu tun, und thut es ohne Aufhebens. Mir aber war zudem in jenem Momente klar geworden, welch ein Verlust gerade der Tod dieser Frau für mich sein würde. Sie verkörperte das Ideal einer Lebensgenossin für mich, so schön, so bewundernswerth, wie ich es bis dahin für unmöglich gehalten hatte, es im Leben finden zu können. Und nun lag sie vor mir, doppelt schön in ihrer Todesblässe, lebend, weil ich sie gerettet! Sie war nicht die unnahbare, unbesiegbare Gletscherkönigin mehr, sondern ein gebrochenes Weib, das der furchtbaren Gewalt des Königs, der im ewigen Eise regiert, in Schwachheit erlegen war. Sie war ein Weib wie ein anderes auch, das einer Stütze bedurfte – diese Stütze wollte ich ihr sein.

Und ich war ihr, der Ohnmächtigen, zunächst auch die nöthige Stütze. Ich ließ es mir, nachdem wir ihr Wein eingeflößt und den Blutumlauf durch Reiben gefördert hatten, nicht nehmen, sie selbst herniederzutragen auf dem Wege, welchen die inzwischen vereinigten Führer für uns über das Gletschereis gehauen. Und mir wurde das Glück zu theil, daß die aus ihrer Ohnmacht Erwachende sich in meinen Armen fand ohne Zeichen des Mißmuths oder des Mißbehagens, vielmehr den sanften Druck meiner Arme dankbar erwidernd.

Unten über die Pasterze trugen wir die wieder Entschlummerte zu viert und in der Hofmanns-Hütte zimmerten wir eine Bahre, auf der wir sie wohlgebettet ins Glocknerhaus brachten. Leider verfiel die geliebte Frau in ein schweres Fieber. So lange bis eine ihr besonders befreundete, von mir telegraphisch herbeigerufene Cousine herbeikam, ließ ich mir, im Bunde mit der Wirthin in Heiligenblut und unter Hinzuziehung des Dölsacher Arztes, ihre Pflege angelegen sein. Dann mußte ich dringender Geschäfte halber fort. Auf mein Landgut in Surrey ließ ich mir Nachrichten über ihren Zustand nachsenden. Als ich vernahm, daß sie wieder genesen sei, hielt ich brieflich um ihre Hand an. Nach einigen Tagen empfing ich die Antwort. Sie war ablehnend, aber die Ablehnung hat mich nicht gedemüthigt.

Sie schrieb mir, daß sie meine Neigung bis zu einem gewissen Grade herzlich erwidere. Und zwar nicht bloß von dem tiefen Dankgefühl getrieben, das sie mir als Retter aus Todesgefahr schulde. Sie verehre in mir den muthigsten und unerschrockensten Mann, der ihr im Leben begegnet sei, aber der Mann, dem sie ihr Leben ganz anvertrauen möchte, müsse ihr auch das Vertrauen einflößen, daß er das seine wie das ihre nie verwegen aufs Spiel setze. Das hätte ich gethan, als ich sie zu einer Art Wettkampf im Reiche des ewigen Eises herausgefordert. Durch mein Beispiel sei sie damals sich selber untreu geworden und ihre Buße solle sein, daß sie hinfort nur sich, sich ganz allein treu sein wolle.

So bin ich ledig geblieben und sie auch. Aber eine treue Freundschaft verbindet uns. Es ist wahr, ein Alpinist, wie ich, taugt nicht zur Ehe. Aber wenn ich zur Winterszeit in meinem Arbeitszimmer daheim zwischen den hohen Regalen mit meinen alpinen Sammlungen das Bild, das sie mir damals schenkte, heruntergrüßen sehe, – ich muß gestehen, daß ich dann recht melancholisch werden kann.“

[621]
7. Heimkehr.

Ob die entthronte Gletscherkönigin des melancholischen Engländers, wie sie die Herzenskönigin des kühnen Alpinisten geworden, nicht schließlich doch noch seine Frau werden würde: diese für ihr echt weibliches Gemüth gar wichtige Frage wollte eben Frau Kurz zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Betrachtung über die wunderthätige Macht des ehestiftenden Gottes machen, als sie von ihrem Gatten mild beschwichtigend unterbrochen wurde:

„Du hast ganz recht, Mutting, es ist oft wunderbar, auf wie gewundenen, auseinanderlaufenden Wegen das Schicksal die Menschen, die es für einander bestimmt hat, bis zur endgültigen Vereinigung führt; die theoretischen Erörterungen aber wollen wir lassen, da ja auch meine Geschichte und die erfreuliche Thatsache, daß wir hier sozusagen als Jubelpaar voll Heiterkeit neben einander sitzen, die Sache genugsam veranschaulichen. Es ist ohnehin spät geworden und für die Herrschaften daher schon eine Zumuthung, nach all den geistigen Genüssen, die sie gehabt, nun noch meine Geschichte mit anzuhören, und ich dächte, liebe Alte, ein Glas gut gebrauter Grog wird allen eine willkommene Aufmunterung sein. Wir haben ja dort in unserer Handtasche noch eine unangebrochene Flasche alten Cognac und heißes Wasser giebt’s in der Küche – nicht wahr, Bärbeli, Du holst uns welches herauf, auch Gläser und Löffel, wenn’s giebt – Zucker haben wir auch … also man zu! Ich muß gestehen, bei Ihrer packenden Erzählung, Herr Whitfield, mit ihren grausigen Gletscherabenteuern ist’s mir ganz eisig durch die Glieder gefahren und da muß ich schon ein bißchen nachheizen.“

Bald hatte ein jeder sein dampfendes Glas Grog vor sich stehen und alle rückten in angeregter Stimmung dichter an den Tisch, als Herr Kurz in behaglichem Tone begann:

„Wenn ich Ihnen leider auch nicht in Aussicht stellen kann, daß das Sprichwort ‚Wer zuletzt lacht, lacht am besten‘ sich an dem bewahrheiten werde, womit ich unser Quodlibet von Erzählungen nun beschließen will, so habe ich als letzter sicher den einen Vorzug, daß ich in einer wahrhaft gehobenen, durch das Vorangegangene erst erzeugten Stimmung das Wort ergreife. Wollte ich aus der Fülle meiner Reiseerlebnisse nur das ins Auge fassen, was in letzter Zeit mir begegnet, so hätte ich leichte Arbeit; ich hätte dann eben nur schlankweg zu erklären, daß der hier mit Ihnen in so anregender Weise verbrachte Abend mein schönstes Reiseerlebniß seit langer Zeit war. Dies ist kein leeres Kompliment für die Vorredner. Bunt zusammengewürfelt, vom Zufall in Gestalt widrigen Wetters hier in einer nur dürftig ausgestatteten, wenn auch gastlichen Herberge zusammengebracht, hat unser kleiner Kreis ohne Verabredung und künstlich ersonnenen Plan und nur von der Absicht geleitet, mit Hilfe schöner Erinnerungen die Langeweile zu vertreiben, etwas wie eine wohlgegliederte Symphonie hervorgebracht, deren Thema lautet: welch‘ köstlich Ding ist doch das Reisen! Welche Fülle an heiteren und großartigen Eindrücken es vermittelt, wie es beglückend, befreiend, veredelnd und stärkend wirkt, wie es die Kunst und die Wissenschaft fördert, wie es Herzen in Freundschaft und Liebe zusammenführt, Vorurtheile überbrückend und dem rein Menschlichen Geltung verschaffend, all dies haben uns die so verschiedenen Geschichten einiger weniger grundverschiedener Menschen eindringlich zu Gemüthe geführt. Ob die Musik des einen Stückes allegro oder andante klang oder sich als scherzo entfaltete, alle Melodien vereinigten sich zu einem Lobgesang auf das Reisen. Ich soll nun das Finale liefern. Es hieße, das Spiel verderben, wollte ich jetzt absichtsvoll und so gut ich’s vermöchte die bisherigen Melodien in einander zu weben versuchen zu einem kunstgerechten Schlusse. Mich drängt es, eine einzige herauszugreifen und an dieselbe eine neue anzuknüpfen; vielleicht daß dabei auch die anderen gelegentlich mit aufklingen.

Ein Gemeinsames hatten alle Ihre Geschichten: Ihre Thüringerwald-Pfingstidylle, Herr Doktor Helbig, so gut wie Ihr Abenteuer im ewigen Eise, Herr Whitfield, sie alle haben bezeugt, daß das Reiseglück die Menschen nicht nach dem Reisepaß fragt, sondern unbekümmert nur Unterschiede und Vorurtheile, die aus der Abstammung und Herkunft der einzelnen sich herleiten, seine Segnungen spendet. Was Schiller von der Freude singt:

‚Ihre Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt -‘

haben Sie alle unwillkürlich dem Reisen nachgerühmt. Der Münchener Maler, Herr Breitinger, führte, vom Reiseglück gesegnet, die holländische Kunstgenossin als Braut heim; der radikale Rheinländer knüpfte in der Freiheit der Berge sein Lebensglück an das der Tochter einer österreichischen Aristokratenfamilie; das brave Bärbeli hat bekannt, daß sie die glückliche Wendung in ihrem kleinen Liebesromane der Wirkung des Fremdenverkehrs verdankt, und Herr Whitfield kümmerte sich ebenso wenig um die Angaben des ‚Passes‘ seiner Gletscherkönigin, da sich sein Herz ihr in Liebe zuwandte, wie Herr Doktor Helbig um denjenigen der kleinen Waldnymphe, deren Herz er so schnell eroberte und so schnell vergaß.“

„Doch nicht, verehrter Herr Kurz. Vergessen hab’ ich sie nicht.“

„Um so besser paßt auch Ihr Beispiel zu dem, was ich ausführe. Dieses in unserer Zeit der Nationalitätenverhetzung besonders erhebende Vorkommniß einer Uebereinstimmung grundverschiedener Menschen in der Bethätigung echter, freier Humanität hat mich im Innersten erquickt. Denn ein Deutscher in meinen Jahren, der von Jugend auf gleich vieltausend anderen an sich selbst es erfahren hat, daß kein einzelner, kein Stamm, keine Nation für sich und durch sich existiren, sie vielmehr nur Dank dem wechselseitigen befruchtenden Verkehr mit ihrer Mitwelt leben, wachsen und gedeihen können, der muß mit tiefem Ingrimm wahrnehmen, wie die an Bildung reichsten Völker, die doch nur kraft dieses Zusammenhangs zwischen Nationen und Generationen aus Barbaren zu Kulturvölkern geworden sind, ihr höchstes Gut, eben die Humanität, mit Füßen treten und verleugnen! Man kann ja heutzutage kein Zeitungsblatt zur Hand nehmen, ohne Symptomen davon oder Klagen darüber zu begegnen. Daß das nur eine vorübergehende Krankheit ist, für die uns Deutschen, wie der verstorbene Kaiser Friedrich als Kronprinz sagte, glücklicherweise sogar die Bezeichnung fehlt, in dieser Zuversicht bestärkt mich vor allem das Bewußtsein, daß der sicherste Talisman gegen dies Uebel eben das Reisen ist und daß das Reisen, die Reiselust und das Reisebedürfniß, das Reisen zur Erholung wie im Dienst von Handel und Wandel, bei seiner steten Wechselwirkung mit der glänzenden Entwickelung der Verkehrsmittel, nur immer mehr zunehmen kann und selbst die Unbemitteltsten und am entlegensten Wohnenden mit seinen Wohlthaten berühren muß. Mein ganzer Lebenslauf, auf dessen unruhige wechselvolle Gestaltung ich jetzt aus bemoostem Schwabenalter heiter zurückblicke, war in ganz ungewöhnlicher Weise dazu angethan, diese Erkenntniß in [622] mir zu nähren und zu befestigen. Wohl hat es lange gedauert, bis ich dazu kam, unter die Vergnügungsreisenden zu gehen. Unsere schönen Alpen kann ich mir z. B. erst jetzt mit rechter Muße betrachten. Und doch war von Jugend an mein Sinnen und Trachten dem Reisen zugewandt und die Reiselust hat sich frühe in mir geregt. Aber sie trieb mich nicht in die Höhe, sondern in die Weite. Und weit – weit herum in der Welt – bin ich gekommen.

Wenn es eine gute und eine schlimme Fee gäbe, eigens um für Glück und Unglück der Menschen auf Reisen zu sorgen, so müßte ich annehmen, daß an meiner Wiege beide gestanden haben. Die eine gab mir den leidenschaftlichen Reisetrieb und eine vorzügliche Gesundheit mit auf den Weg; die andere versah mich mit Eigenschaften, welche gar leicht den ersteren mir zum Verhängniß hätten werden lassen können. Viele Umstände kamen zusammen, um denselben verfrüht zum Ausbruch zu bringen. Mein Vater war ein wohlhabender Holzhändler in Stettin. Als fünfjähriger Knabe schon durfte ich ihn auf einer Seereise nach Schweden begleiten. Um Schifffahrt, Flößerei, Fluß und Meer drehten sich die Lieblingsgespräche meines Vaters bei Tisch. Ferner hatte ich einen Onkel in Amerika, der nach bewegter Vergangenheit Kapitän auf einem Mississippidampfer geworden war. Was ich von ihm hörte, wenn es auch selten Günstiges war, erregte mächtig meine Phantasie. In noch höherem Grade thaten dies einige Bücher, welche mir bald, nachdem ich lesen gelernt hatte, in die Hände kamen, Campes ,Robinson‘ und populäre Bearbeitungen einiger Romane von Cooper, dem Lederstrumpf-Autor , und Marryat, dessen ‚Peter Simpel‘ ich in jener Zeit wohl mehr als ein Dutzendmal gelesen habe. Wie dieser englische Midshipman auf See zu gehen, auch auf die Gefahr hin, gleich Robinson auf einer wüsten Insel zu stranden, oder wie Lederstrumpf in den amerikanischen Hinterwäldern als Bundesgenosse eines Chingachgook gegen Apachen oder Siouxindianer zu kämpfen und den Büffel zu jagen, dies wurden meine Knabenideale.

Das war an sich gewiß nichts Besonderes. Als ich aber über diesen und ähnlichen Büchern dann meine Schulaufgaben zu vernachlässigen begann, als ich – so oft und so lang ich konnte – mich von Hause wegstahl, um mit einigen gleichgestimmten Kameraden mich am Hafen, ja bald auch auf den dort lagernden Schiffen herumzutreiben, und mein Vater mit der herben Strenge seines Charakters dagegen seine Autorität geltend machte, wurde aus jenen Träumen allmählich der Plan, mich dem strengen Regimente und dem Schulzwang durch die Flucht zu entziehen und bei meinem Onkel auf dem Mississippi, dem ich, wie sie zu Hause sagte, ‚leider‘ nachschlug, mein Heil zu suchen. In irgend einer schwüle Gewitterstunde, in welcher das Donnerwetter von meines Vaters Munde grollte, ließ ich mich dann hinreißen, in störriger Knabenweise mit der Ausführung dieses Plans den Eltern zu drohen, und diese nahmen die Drohung ernster, als es damals nöthig gewesen wäre; ich wurde, um jedem bei der Nähe des Meeres sehr leicht auszuführende Fluchtversuch vorzubeugen, von Stettin fort in ein Knabenpensionat nach Heidelberg gethan, das wegen der in ihm herrschenden strengen Zucht wohlverdienten Rufes genoß. Ja, die Zucht war streng dort, zu streng für mein nach freier Uebung der besonderen Anlage lechzendes Naturell. Dort lernte ich zuerst den Werth der Heimath schätzen; die Welt meiner Knabenträume und Knabenspiele wurde zum Gegenstand sehnsüchtigen Heimwehs.

Als ich aber zu Weihnachten in die Ferien kam, mußte ich erkennen, daß diese Sehnsucht einem verlorenen Paradiese galt. Mein Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, daß ich studiren sollte; sein Ehrgeiz wollte den einzigen Sohn in Amt und Würden sehen, die nur ein staatsgeprüfter Jurist erlangen kann; meine Natur aber war auf realere, praktischere Dinge gerichtet als die griechische Syntax und das Uebersetzen von Ciceros Reden, und meine Censuren, die ich heimgebracht hatte, lauteten nicht günstig. Ein Uebermaß von Nachhilfestunden, das mir nun in Heidelberg aufgebürdet wurde, machte die Sache nicht besser. Der alte Plan, nach Amerika durchzugehen, genährt durch die heimliche Lektüre von allerlei Reiseabenteuer- und Entdeckergeschichte, genährt auch durch das Gefühl, in mir schlummernde Gaben draußen in der Welt bewähren zu können, die jetzt mit aller Macht unterdrückt wurden, nahm immer mehr feste Gestalt an. Als die großen Ferien herannahten, war mein Entschluß reif. Das Geld zur Fahrt nach Stettin, das mir bei Beginn derselbe ausgehändigt werden würde, wollte ich an mich nehmen und als Zehrpfennig benutzen auf der Flucht in die weite Welt.

Wie sehr mein Geist dem Zuge nach der Fremde damals erlegen war, wurde mir erst klar, als ich viel später einmal das schöne Heidelberg wieder betrat. Für die Fülle anmuthigen erhabenen Schönheitsreizes, die das Neckarthal hier umfaßt, hatte ich damals kein Auge. Nur der Neckar selbst, der flinke Geselle, der mit brausendem Ungestüm an der Stadt vorbeieilt, dem Rheine zu, hatte mir’s angethan. Er auch bot mir das Mittel zu einer ebenso sicheren wie wohlfeilen Flucht. Wie oft hatte ich den langen mächtige Flößen nachgeschaut, welche die schnelle Fluthen des Neckars, sobald nur der Fluß vom Eise befreit war, dem Rheine alltäglich zutragen. Mit dem Vorgeben, ein armer Handwerksbursch zu sein – mit entsprechender Kleidung hatt’ ich mich vorher versehen –, der nach Holland wolle, stellte ich mich in Mannheim auf einem der großen Floßfahrzeuge ein, die dort zur Abreise bereit lagen, und gelangte so, wenn auch auf langsamem Wege, nach Rotterdam. Gerade diese Langsamkeit hielt mich den Nachforschungen der ebenso erzürnten wie erschreckten Eltern entzogen. Ich hatte ihnen einen Brief geschrieben, worin ich ihnen Mittheilung von meinem Entschluß machte und mein aufrichtiges Bedauern aussprach, ihnen Schmerz und Enttäuschung zu bereiten; um Verzeihung wolle ich sie erst bitten, wenn ich auf dem selbstgewählten Wege ein Mann geworden sei, der ohne Erröthen der Scham werde vor sie hintreten können.

Wie tief ich meine Eltern kränkte, wie groß der Kummer war, den ich ihnen bereitete, davon hatte ich damals keine Vorstellung. Ich glaubte mich an sich im Rechte; in meinem Vater sah ich den starren Gegner meines Lebensglücks; das Gefühl, einen Akt der Selbsterhaltung in allerdings sehr eigenmächtiger und waghalsiger Weise zu vollziehen, begleitete mich auf der abenteuerlichen Fahrt. Daß ich nicht aus Arbeitsscheu oder Sucht nach materiellen Genüssen dem Ort strenger Schulzucht entflohen, bethätigte ich von Beginn an. Als einer der Ruderknechte des Floßes erkrankte und in Köln ans Land gesetzt werden mußte, trat ich an seine Stelle und zeigte mich, trotz meiner halbwüchsigen Jugend, der körperlichen Anstrengung gewachsen. In Rotterdam verdingte ich mich auf ein Kauffahrteischiff, das zunächst nach Nordamerika ging, als Schiffsjunge. Trotz der Entbehrungen und Anstrengungen, ja auch Mißhandlungen, denen ich hier ausgesetzt war, fühlte ich mich auf dem Schiffe glücklicher als seit langem. Der Gedanke an meinen Onkel in Amerika gab mir Halt. Der war ja Schiffskapitän auf dem Mississippi, der werde mich schon besser zu verwenden wissen. Daß ich demselben kaum bekannt war und als Sohn meines Vaters schwerlich besonders willkommen sein konnte, diese Bedenken störten mich nicht.

Die Suche nach meinem Onkel gehört zu den romanhaftesten Kapiteln meines Lebens. Unser Familienname, so stolz mein Vater als Chef des alten Hauses Jakob Kurz und Sohn auf denselben auch war, ist nicht nur kurz, sondern auch sehr häufig. Der Mississippi aber ist länger und breiter, als ich mir selbst in meinen verwegensten Träumen vorgestellt hatte, und die Schiffe jeden Kalibers, die ihn befahren, zählen nach Tausenden. Eine nähere Adresse aber wußte ich nicht; war Onkel Richard doch nach einer heftigen Entzweiung mit meinem Vater außer alle Berührung mit der Familie gekommen. Nur daß er Kapitän auf dem Mississippi geworden war, hatte die Eltern vor Jahren zufällig von einem gemeinsamen Bekannten erfahren. Lange dauerte es denn auch, bis ich überhaupt in Erfahrung brachte, daß er zur Zeit gar nicht mehr diesem Berufe oblag. Wohl stand mein Dichten und Trachten nach den großen Uferstädten des genannten Stromes, wo ich am ehesten hoffen konnte, den Aufenthalt des Onkels auszukundschaften; aber wie hingelangen? Im Verhältniß zu heute war es ja freilich damals für eine junge kräftigen Mann von aufgeweckten Sinnen, der sich nicht scheute, da zuzugreifen, wo sich Arbeit bot, noch leicht, in Amerika sich durchzuschlagen und bei einigem Glück zu geordnetem Wohlstand zu gelangen; aber der Weg, den ich bis zu diesem Ziel zu machen hatte, war recht lang und oft recht steil, führte mich kreuz und quer und ein paar Mal auch an den Rand der Verzweiflung.

Das Erste, was mir blühte, war eine Anstellung als Hafenarbeiter. Saures Brot war’s, das ich hier erwarb, aber die [623] Zeit doch nicht verloren, denn während des Lastentragens beim Laden und Löschen der Seeschiffe wurde ich mir bewußt, wie viel natürliche Begabung für das Erfassen der Struktur jeder Art von Maschinenwerk in mir schlummere und nach Bethätigung ringe. Dies veranlaßte mich dann, eine Stelle als Werftarbeiter zu suchen, die ich endlich fand. Der Direktor des Bauplatzes wurde auf mich aufmerksam und engagirte mich für sein Bureau, wo ich allmählich Einblick in die Pläne und Berechnungen gewann, auf denen der Schiffsbau beruht, und mir theoretische Kenntnisse auf dem Gebiete der Statik und Mechanik erwarb, die ich dann abends in der kleinen Mansardenstube, die ich bewohnte, eifrig vervollständigte.

Dann aber regte sich aufs neue der Reisetrieb mächtig in mir. Ich machte das Steuermannsexamen und wurde nach einigem Suchen Steuermann auf einem Kauffahrer, der zwischen Kalifornien und New-York regelmäßig verkehrte. Jetzt hatte ich oft Gelegenheit, mich nach einem Kapitän Richard Kurz, der auf dem Mississippi fahren solle, zu erkundigen; doch niemand wußte von ihm. Auch als ich selbst an das Steuer eines sein Stromgebiet befahrenden Dampfers kam, konnte ich lange Zeit nichts von ihm erfahren, bis ich eines Tages in New-Orleans einen älteren Kapitän im Bureau einer Dampfschifffahrts-Gesellschaft traf, der den Onkel gar wohl gekannt hatte und mir mittheilte, daß derselbe schon vor mehr als zehn Jahren den Dienst quittirt habe und aus der Gegend geschieden sei. Das war ein schwerer Tag für mich damals. Den Onkel zu finden, war im Laufe der Jahre das feste Ziel meines Strebens und Hoffens geworden; auf einmal fühlte ich mich im Meere des Lebens plan- und ziellos, und was ist ein Steuermann ohne Reiseziel!

Ein Zufall war es, der mich schließlich dem Manne meiner Sehnsucht zuführte. An der Maschine unseres Dampfers waren einige Reparaturen nöthig geworden, und einige Besonderheiten in der Konstruktion veranlaßten mich, an die Schiffsbauerfirma zu schreiben, auf deren Werft die ,Minerva ‘ entstanden war. Die Antwort, die ich erhielt, trug unter dem Namen der Brooklyner Firma John Cowley u. Co. denjenigen, der mir so oft auf den Lippen schwebte: ‚Richard Kurz‘ stand in fester Handschrift darunter. Ich schrieb nun sofort einen persönlich an diesen Richard Kurz sich wendenden Brief, um die Identität mit dem gesuchten Onkel festzustellen, und richtig, er war es. Meine briefliche Darstellung, wie er in meiner Knabenzeit schon mich beeinflußt, wie der Gedanke an ihn mich nach Amerika begleitet und wie ich ihn dann so unverdrossen gesucht habe, rührten den alten wackeren Herrn, wie er mir schrieb, aufs tiefste: er lud mich ein, zu ihm zu kommen, und sobald ich meinen Steuermannsposten verlassen konnte, eilte ich nach Brooklyn. Mit Freuden stellte er fest, daß meine Eltern in der That ganz recht gehabt, als sie schon bei meinen Knabenstreichen geklagt hätten, daß ich dem schlimmen Onkel Richard nachschlüge, und daß dies nicht nur in Bezug aus den abenteuerlichen Trieb in die Ferne, sondern auch auf das Talent, das ihn nach langer Irrfahrt schließlich zum Betriebsdirektor einer der größten Schiffswerften am New-Yorker Hafen hatte werden lassen, der Fall sei. Unter Freudenthränen lachend, küßte und umarmte mich der auf den ersten Blick rauh erscheinende gute Mann; er bot mir zunächst eine Stelle als sein Privatsekretär an, damit unser Verhältniß auch Ordnung und einen Namen habe, und verschaffte mir bald einen schönen Posten im Bureau des gewaltigen Instituts, dem er als am Gewinn betheiligter Chef vorstand.

Nur in einem fand ich mich in meinen Erwartungen getäuscht, wenn auch nur auf angenehme Art. Ich hatte erwartet, den Onkel voller Antipathien gegen die Heimath und unsere Familie zu finden, die ihm ohne genügenden Grund schlimm mitgespielt hatte. Das Gegentheil war aber der Fall: meinem Vater hatte er in der Stille des Herzens das Unrecht, das ihm dieser gethan, längst verziehen. Und daß er sich so völlig entwurzelt vom Heimathboden wisse, bezeichnete er als Ursache eines tiefen Kummers, der an ihm zehre.

‚Ja, ja, mein Junge,‘ sagte er gleich am ersten Abend unseres Beisammenseins zu mir, ‚verlassen soll man das warme und bequeme Bett, das einem die Heimath bietet, bei Zeiten, in der Jugend und hinausgehen in die Welt, um die Kräfte zu stählen und mit eigener Hand sich sein Glück zu schmieden; aber man soll sie doch nur verlassen, um wieder zurückzukehren. Wenn ich nur ein wenig besser zu unserer Familie passen würde, ich wäre schon längst einmal wieder hinüber und hätte mich nach einem hübschen Platze umgeschaut an unserem Ostseestrand, am Rande der alten Buchenwälder, die so schön doch nirgends wieder zu finden sind, um mir für die Tage des Alters ein gemüthliches Nest da zu bauen. Du bist erstaunt, daß Dein see- und landfahrender Onkel so spricht? Es ist aber doch mein voller Ernst. Ganz sich loslösen von seiner Heimath kann und darf niemand, wenn er nicht an den teuersten Besitzthümern des Herzens Verlust erleiden soll. Ich bin auch hier in Amerika ein Deutscher geblieben, und wenn meine Gedanken gelegentlich nach Stettin ziehen und Einkehr im alten Vaterhaus halten, so geht auch unser guter alter plattdeutscher Spruch durch meine Seele:

‚Nord, Ost, Süd, West –
To Hus is’ best.‘

Und darum müsse er es bedauern, wenn sein Beispiel dazu beigetragen, mich auf die Dauer der Heimath zu entfremden. Daß ich fortgelaufen und auf meine Manier ein tüchtiger Mann der Arbeit geworden sei, darüber wolle er nicht mit mir rechten; daß ich aber auch wieder zurückkehre und mit den Meinen noch rechtzeitig meinen Frieden mache als vernünftiger Sohn, wie es sich gehöre, das erwarte er von mir, und es mir zu erleichtern, solle seine Sorge sein. Ich erwiderte zwar, daß ich nicht eher zurückkehren könne, als bis ich fest auf eigenen Füßen stehen werde, drückte aber dem braven Onkel, der so viel Herz sich hinter der wetterharten Brust bewahrt hatte, gerührt die Hand.

In der That fühlte sich das meine auch keineswegs von der Heimath losgelöst. In den Zeitungen verfolgte ich die politischen Wandlungen im großen deutschen Vaterlande wie irgend ein anderer stimmberechtigter Bürger. Mit Genugthuung nahm ich den Prozeß wahr des allmählichen Erstarkens und der Rückwirkung desselben auf das Ausland, das dem deutschen Namen mit wachsendem Respekt zu begegnen begann. Dann bestand aber auch noch eine direkte Beziehung zwischen mir und der Heimat. Um meinen Fluchtplan hatte ein einziges Wesen gewußt, dem ich auch den Abschiedsbrief an die Eltern anvertraut hatte, welcher erst drei Tage nach meinem Aufbruch der Post übergeben werden sollte. Dieses Wesen war ein Mädchen, das gleich mir damals in dem grünen Alter von sechzehn Jahren gestanden hatte und durch die zwischen uns in aller Stille erblühte Neigung in mehr als einen schweren Konflikt gerathen war. Denn dies treue Lining, so hieß sie und heißt sie – nicht wahr, Alte? – war die älteste Tochter des gestrengen Scholarchen, dessen allzu drückender Schulzucht ich mich so freventlich entzog. Auch sie fühlte sich nicht glücklich in einer Umgebung, die, bei aller gegenseitigen Liebe zwischen den Eltern und ihr, nicht geeignet war, frohe Stunden und heitere Eindrücke, wie sie einem jungen Mädchenherzen Bedürfniß sind, ihr zu bereiten. Der klösterliche Ton im Knabeninstitut beherrschte auch das Familienleben, andererseits war der Vater vom Stundengeben und anderen pädagogischen Geschäften und die Mutter von der Führung des großen Haushalts viel zu sehr in Anspruch genommen, als daß die Erziehung der Tochter eine gleichmäßige hätte sein können. Lina hatte schon überall mit anzugreifen, namentlich die Gartenarbeiten lagen ihr ob, und in einer von rothblühenden Bohnenranken umsponnenen Laube hatten wir uns unsere junge Liebe gestanden. Ohne die Billigung meines Fluchtplans von ihrer Seite würde ich schwerlich aufgebrochen sein. Das Vertrauen in meinen Charakter war aber in dem braven, frühreifen und über die Jahre ernsten Kinde stark genug, um mir nach längerer Ueberlegung, wenn auch unter Thränen, ihren Reisesegen zu geben. Ihr hatte ich die Sorge um den Brief an meine Eltern übergeben und sie übernahm freiwillig, an meine Mutter zu meinen Gunsten oder wenigstens zur Aufklärung über die Motive meines Handelns bald nach meiner Abreise zu schreiben.

Unsere beiden Mütter waren nämlich Freundinnen von der Schule her, und bei einem Besuche der meinen im Heidelberger Institutshaus hatte dieselbe eine warme Sympathie für das junge Mädchen bezeigt und sie eingeladen, später, wenn ich Student sei, einmal während der Ferienzeit auf unser Gut am Ostseestrand zu längerem Besuche zu kommen. Meine gute Mutter, die, wie sie in Bezug auf meine Herzenswahl denselben Geschmack mit mir theilte, auch sonst weit mehr Verständniß für meine Eigenart und den Kern [624] meines Wesens hatte, als sie unter dem Druck der Autorität meines Vaters zu erkennen gab, meine gute Mutter hatte diese Herzensregung der kleinen Freundin ihres Sohnes hoch aufgenommen und freundlich beantwortet. Dies Verhältniß hatte Dauer gewonnen, nachdem Lining einer Einladung gefolgt war, ihr an ihrer Einsamkeit Gesellschaft zu leisten. So strömten mir durch den geheimen Briefwechsel mit meinem treuen Schatz immer auch Nachrichten aus dem Vaterhaus zu, ohne daß die Eltern, die sich gewöhnten, mich gleich einem Todten zu betrauern, davon eine Ahnung hatten. Und auch sie erhielten Nachrichten auf diesem Wege von mir. Denn das schlaue Mädchen that so, als erfahre sie durch die Schwester eines meiner Schulkameraden, was ich ihr an Tatsächlichkeiten schrieb. Nur von meinem endlichen Zusammentreffen mit dem langgesuchten Onkel und allem, was damit zusammenhing, erfuhren sie auf meinen besonderen Wunsch nichts.

Meine Braut, von dem festen Vertrauen beseelt, daß ich schon rechtzeitig heimkehren werde, wenn ich’s zu etwas Tüchtigem gebracht hätte, und daß auch dies keine Ewigkeit währen könne, verschonte mich ihrerseits in rührender Weise mit naheliegenden Vorstellungen und Bitten, doch schon vorher als reuiges Kind ins Vaterhaus zurückzukehren. Aber als das dritte Weihnachten kam, das ich im fernen Auslande zuzubringen hatte, da sandte sie mir als Geschenk eine Brieftasche, in welcher vorn auf einem Seidenblatt mit seiner Perlenschrift die Worte aus Goethes ‚Iphigenie‘ eingestickt waren:

      ‚Der ist am glücklichsten, er sei
Ein König oder ein Geringer, dem
In seinem Hause Wohl bereitet ist.‘

Unter meines Onkels Leitung ging es nunmehr mit mir trefflich vorwärts. Bald erhielt ich im Laboratorium der Fabrik, das ausschließlich dem Zwecke diente, zur Vervollkommnung des Dampfbetriebs von Fahrzeugen Experimente zu machen, eine besonders gut bezahlte Stelle. Ich hatte auch hier Glück. Nach einigen Jahren gelang es mir, einige Verbesserungen zu erfinden und durchzuführen, welche die Gefahrlosigkeit hoher Fahrgeschwindigkeit bis zu einem gewissen Grad so gut wie garantirten. Die Firma nahm Patente darauf und betheiligte mich am Gewinn der Verwerthung. Der Vortheil der Neuerung war so einleuchtend, daß fast jede Maschinenfabrik sich gedrungen fühlte, ihn sich zu nutze zu machen. Das Geschäft war ein glänzendes. Unser Haus war mit mir höchlich zufrieden. Ich erhielt den Auftrag, meine Erfindung auch in Europa bekannt zu machen und patentiren zu lassen, sowie zur Einführung derselben in die dortige Fabrikation selbst hinüber zu reisen. Der Tag der Rückkehr in die Heimath war gekommen. Wie klopfte mein Herz, als ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein Schiff bestieg, ein Schiff, das das erste war, welches mich, wie Goethe in seiner ‚Italienischen Reise‘ so schön es ausgedrückt hat, ‚heimathwärts, liebewärts‘ tragen sollte!

Und ich kam nach Stettin. Ich trat ein in mein Vaterhaus. Aber nicht als Sohn klopfte ich an seine Thür. Der Vertreter der großen Brooklyner Maschinen- und Dampfschifffabrik John Cowley u. Co. forderte Einlaß im Bureau des gestrengen Herrn Jakob Kurz und wurde mit Zuvorkommenheit willkommen geheißen. Mein Vater hatte schon in den Fachzeitschrift von den Erfindungen gelesen, und dieselben für seine Schleppdampfer zu verwerthen war bereits sein Entschluß, ehe ich kam. Ich hatte mich mündlich als Vertreter meines Hauses anmelden lassen, natürlich ohne meinen Namen zu sagen. Ich wollte ohne jede Beziehung zu dem, was ich diesem theuren, trotz allem innig geliebten Manne durch die Geburt war, ihm entgegentreten, so wie ich geworden war. Mit warmem Interesse hörte er meine Auseinandersetzungen über Wesen und Werth der Erfindungen an und legte großes Verständniß für beides an den Tag.

‚Der ganze Weltverkehr gewinnt ja durch diese an sich kleinen Aenderungen, die verhältnißmäßig wenig Kosten verursachen!‘

‚Das Ei des Columbus,‘ sagte ich lächelnd.

‚Ei, nur ein Erfinder selber darf so geringschätzend von seinen Verdiensten sprechen. Ich wollte Sie schon immer fragen, habe ich denn die Ehre, den Erfinder selbst vor mir zu haben?‘

‚Freilich, verehrter Herr Kurz.‘

Der Vater erhob sich und drückte mir die Hand. ‚Und Sie besorgen persönlich die Einführung in Europa,' fuhr er fort. ‚So wird die Sache überall schnell Eingang finden. Die ganze Handelswelt ist Ihnen Dank schuldig, ja, jedermann, der reist, und wer reiste heutzutage nicht! Das Reisen ist ja das eigentliche Ferment der modernen Kultur. Nun, das Haus Cowley kann sich gratuliren, eine so frische aufstrebende Kraft sein nennen zu können.‘

‚Sie ahnen nicht, wie sehr mich Ihre Worte erfreuen. Da ich von Geburt ein Deutscher bin, möchte ich nicht ewig im Dienste des in der That bedeutenden amerikanischen Hauses bleiben. Ich würde dabei selbstverständlich nicht gleich eine ähnliche Position hier beanspruchen, wie ich sie dort aufgeben würde. Zum Beispiel, wenn Sie in Ihrem großen Holzimportgeschäft …‘

‚Aber, lieber junger Mann,‘ unterbrach mich der Vater, ‚ich falle aus den Wolken. Wie sollten Sie Ihr ganz besonderes Talent für Maschinenbau bei mir vortheilhaft verwerthen können?‘ Ein Schatten flog über sein Gesicht. ‚Sonst, ach ja, ich könnte wohl eine frische, ausgiebige Persönlichkeit voll Welterfahrung und Unternehmungsgeist auch in meinem Geschäfte brauchen. So ein ganzer Mann ist ja überall von Nutzen und Herr der Situation.‘

‚Nun denn, wenn Sie mich für einen solchen Mann halten und ihn brauchen können, so wäre ja uns beiden geholfen,‘ rief ich, ‚mein Name ist …‘

In diesem Augenblicke ging die Thür von der Wohnung zum Bureau auf und - unwillkürlich trieb es mich, der eintretenden Dame mit den trotz der grauen Haare mir gar innig vertrauten Zügen entgegenzueilen, so daß ich mich nur schwer beherrschen konnte.

Sie aber hatte diese Bewegung bemerkt, und obgleich ich bei meinem Wanderleben ein ganz anderes Aussehen wohl bekommen, als mein Knabengesicht einst hatte ahnen lassen, erkannte das treue, scharfe Auge der Mutter mich sofort und: ‚Guter Himmel, das ist ja unser Ernst‘ rufend, stürzte sie auf mich zu, dann lag sie, von einem Weinkrampf durchschüttert, mich zärtlich umfassend, in meinen Armen.

Ich küßte ihr Haar, ihre Stirn. ‚Ja, ich bin’s,‘ sagte ich und blickte zum Vater auf. ‚Du hast mich eben um meiner Persönlichkeit willen willkommen geheißen, Vater: bin ich es auch weiter, da ich Dein Sohn bin? Kannst Du dem Ausreißer vergeben, nun er auf Reisen und durch seine Begeisterung für das Reisen und die Mittel desselben das geworden ist, was Du eben einen ganzen Mann genannt hast? Bilde Dir ein, ich sei auf Deinen Wunsch fort gewesen, und nimm mich nun auf in Dein Haus und Dein Geschäft – nicht als verlornen, sondern als pünktlich wiedergekehrten Sohn!‘

Mein Vater hatte keine Worte für sein Empfinden. Er sagte nur: ‚Das unser Ernst? – Ja, Du bist es! … Gottes Wege sind wunderbar,‘ und reichte mir feierlich aufs neue seine Rechte. Nachdem er sie geschüttelt, murmelte er: ‚Es sei so, wie Du es sagtest,‘ und ging hinaus, mit dem Arm sich über die Augen fahrend, und ließ mich mit der Mutter allein.

Draußen hielt eine Droschke. Es war meine Lining, die kam. Ich hatte gleich nach meiner Ankunft in Hamburg an ihren Vater geschrieben, meine Lage ihm dargelegt und um die Hand seiner Tochter angehalten. Als Antwort im günstigen Falle solle er diese zu meinen Eltern reisen lassen, wo ich sie treffen wolle. Die Treue seiner Tochter hatte den strengen Herrn doch gerührt, zumal ihr Vertrauen zu mir sich bewährt hatte. Die Mutter war schon lange vorher von ihr eingeweiht worden in unser Geheimniß und gab nun selig der Tochter ihren Segen mit auf die Reise nach Stettin … Das war ein Wiedersehen! …“

Herr Kurz ergriff unwillkürlich sein Glas: „Nicht wahr, Mutting, das war unser schönstes Reiseerlebniß? Darauf müssen wir anstoßen!“

Mit einem verschämten Ausdruck stillen Glückes stieß die treue Gattin des Erzählers mit ihm an. Aber auch den übrigen Zuhörern, die sich erhoben, mußten sie und er Bescheid thun.

„Ja, Lining, das ist nun schon lange her … Aber es ist uns auch weiter meist recht gut gegangen … Das Reisen, meine Herrschaften, haben wir zwei in unserer gesegneten Ehe immer nach Gebühr geschätzt. Deshalb kraxeln wir in unsern alten Tagen auch noch so hoch in die Alpen hinauf, und unsern Sohn haben wir ohne Widerstreben als Freiwillige in die Marine eintreten lassen. Aber nicht minder hoch halten wir unser Heim. [626] Und nun es Schlafenszeit ist und wir für heute auseinander gehen, lassen Sie mich diesen Abend beschließen um dem herzlichen Wunsche. Allen eine glückliche Reise –

‚Nord, Ost, Süd, West‘–

aber allen auch eine glückliche Heimkehr, denn –

‚To Hus is’ best‘.“

„Recht so! Das war ein braver Schluß! Und nun, in der That, ist es auch Zeit, die Sitzung zu schließen,“ rief mit Wärme Professor Schröder. „Mit bestem Dank gegen Sie alle lege ich mein Präsidentenamt nieder.“

„Ihnen unseren Dank! “ … „Aus Wiedersehen!“ und „Glückliche Reisen!“ – klang es noch einmal fröhlich durcheinander. Dann suchten die Ehepaare und Junggesellen ihr Lager auf. Das Bärbeli löschte die Lichter.

„Gute Nacht – Gute Nacht!“

[638]
8. Im Sonnenschein.

Das Wetterprophezeien müssen wir Astronomen doch auch weiter noch den Astrologen überlassen; das sind ja wirkliche Sonnenstrahlen, und ich meinte gestern Abend bestimmt, es werde nun so einige Tage weiter regnen.“ Mit diesem stillen Selbstvorwurf erhob sich Herr Doktor Helbig, die Augen nochmals reibend, von dem Lager, dessen Härte nicht hatte verhindern können, daß er bis eben fest und tief geschlafen hatte. Freilich nicht ohne Träume, die von den am Abend vorher gehörten Geschichten stark beeinflußt waren. Eben noch hatte sein Traum den dramatischen Höhepunkt erreicht. Er hatte sich mitten in einer von blauem Licht durchflutheten Gletscherspalte befunden, um seine Brust ein Seil, an welchem ihn ein Führer in der Schwebe hielt, in seinen Armen ein Mädchen, in dessen holdem bleichen Angesicht die Augen geschlossen waren … Wer war es nur gewesen? Die Züge waren ihm nicht fremd. Vergeblich! Er konnte sich nicht besinnen, wo im Leben er sie schon gesehen … Da war die Sonne von oben in die Gletscherspalte, nein in die schmale Kammer, die er mit Herr Whitfield als Schlafgemach theilte, gefallen und hatte ihn geweckt. „Neckender Traumgott, läßt Du Dir von der Wirklichkeit so direkt ins Handwerk pfuschen? Hast Du mir nun den Traum gesandt oder ist nicht hier mein noch schlummernder Stubengenosse der Uebelthäter, dessen Gletscherabenteuer meine erregte Phantasie in ihrer Weise weiter gesponnen?“

Leise war er ans Fenster getreten und hatte den linnenen Vorhang zurückgeschoben. Da aber brach es mit Entzücken von seinen Lippen: „Herrlich, wunderbar! Hollah, Herr Whitfield, aufgewacht, es ist über Nacht das schönste Wetter geworden und nun sehen Sie einmal, welch ein Schauspiel!“

Der Engländer war sofort aufgefahren, hatte sich schnell am Waschtisch mit kaltem Wasser die Augen genetzt und trat mit einem freundlichen Good morning, Sir! neben den enthusiasmirten Astronomen an das Fenster. Und auch sein verwöhnter Sinn mußte eingestehen, daß der sich darbietende Anblick ein außerordentlicher war.

Dicht vor ihnen und in der tiefen Schlucht, die sich vom Seealpthal zu den Schneefeldern des Hohen Säntis und seiner Nachbarn heraufzog, wallte und wogte es von weißschimmernden Dämpfen und Wolken, klar und scharf aber über dieser vom Licht durchflossenen Nebelmasse hoben sich die zackigen Formen der Bergspitzen selbst empor ins Blau des wolkenlosen Himmels, auf der einen Seite noch tief in Schatten, auf der andern aber vom Licht der siegreichen Morgensonne leuchtend überfluthet. Immer mächtiger wurde ihr Walten, immer mehr verflüchtigten sich die Wolken, gleich fliehenden Spukgestalten, hinunter ins Thal, dessen Umrisse allmählich auch sichtbar wurden.

„Das wird ein Tag,“ rief befriedigt der Deutsche, der sich von dem Anblick nicht hatte trennen können, als der Engländer bereits mit einem Splendid indeed daran gegangen war, seine einfache Toilette zu vollenden: „Nun aber auch keine Zeit verloren; ich gehe nach dem Frühstück sofort auf die Spitze!“

„All right, ich werde Sie begleiten. Die Aussicht war gestern zu dunstig. Ein so frisch geklärter Morgen wie heute ist selten.“

Auch in den anderen Räumen der Meglisalpe war es inzwischen lebendig geworden. In Plaids und wollene Bettdecken gehüllt zum Schutz gegen die noch herrschende Kälte, erschienen fast gleichzeitig mit den beiden Junggesellen die Kurzschen Eheleute und Professor Schröder auf dem hofartigen Platz vor den beiden Unterkunftshäusern, einander in frohester Stimmung wie alte Bekannte begrüßend. Aus der Küche tönte der Appenzeller Kuhreigen und der Führer Doktor Helbigs, der eine kleine felsige Anhöhe in der Nähe bestiegen hatte, ließ einen Juchzer ertönen, so laut und kräftig, daß der in den Bergen geweckte Widerhall wie Donnerklang dröhnte. Das Bärbeli, das bereits blitzsauber angekleidet war und eben den aufgestandenen Gästen auf einem Tisch im Freien den Kaffee auftrug, sagte mit stolzem Lächeln: „Das ist mein Schmied-Jakob, gelt, der kann’s!“

Mit warmem Interesse wurde der kräftige Bursche, der lachend herantrat, um seinen Herrn zu fragen, ob er die Sachen zum Aufbruch herunterholen solle, von allen bewillkommnet; er war ihnen ja durch die Geschichte vom Bötzler, wie sie das Bärbeli gestern Abend erzählt, allen aufs beste bekannt.

Jetzt traten auch Herr Breitinger und seine Frau aus dem Nebengebäude, fix und fertig zum Abmarsch. Die fröhlichen Malersleute sahen heiter aus wie der Sonnenschein, der das Bild rings umfluthete.

„Da sind einmal wirklich die Rechten zu einander gekommen,“ flüsterte mit einem fast mütterlich zärtlichen Blick auf das schöne Menschenpaar Frau Kurz ihrem Gatten zu; dann rief sie den Nahenden mit freundlichem Gruße entgegen: „Schon reisefertig?“

„Versteht sich, an solchem Morgen ist jede Minute kostbar,“ entgegnete die Malerin. „Und zwei Stunden braucht auch ein rüstiger Bergsteiger zum Hinaufstieg,“ fügte ihr getreuer Mann und Kollege hinzu.

„Die Herrschaften haben recht, Lina. Gefrühstückt hätten wir – so kann’s denn losgehen. Aber warten dürfen Sie nicht auf uns. Wir nehmen uns Zeit. Das Alter hat etwas überflüssigen Ballast angesetzt und da ‚örteln‘ wir uns so langsam hinauf. Das eine große Schneefeld dort wird uns ohnehin Mühsal bereiten.“

Doch dem widersprach ihr Führer. Ein wenig strapaziren würden sich die Herrschaften schon, aber besonders schlimm wäre der Weg nicht. Nicht einmal für Damen beschwerlich, bei so schönem Wetter wie heute.

Auch Professor Schröder hatte sich reisefertig gemacht und kam, mit seinem Alpenstock bewaffnet, gerade auf die im Gespräch begriffene Gruppe zu, um Adieu und Auf Wiedersehen zu sagen, denn er wollte sich den eben aufbrechenden jüngeren Männern anschließen. Er kam gerade zurecht, um die letzte Versicherung des Führers zu vernehmen, und diese bewirkte eine Aenderung seines Entschlusses. Er drehte sich um, winkte den seiner Harrenden Lebewohl zu und rief „Auf Wiedersehen, meine Herren, heut Mittag! Ich bleibe hier und erwarte meine Damen, um dann gegen Abend mit ihnen den Aufstieg zu unternehmen. Das Barometer ist so bedeutend gestiegen, daß das schöne Wetter gewiß anhält. Da wär’s eine Sünde, wenn ich meine Frau, die unserer [639] Verabredung gemäß nun sicher den Weg bis hierher macht, nicht animiren wollte, ganz mit hinauf zu kraxeln … Sie hat sich die Sache offenbar schwieriger vorgestellt als sie ist, und wird sicher nicht hinter Ihnen, verehrte Frau Kurz, an Unternehmungsmuth zurückstehen wollen. Ich habe nämlich,“ erklärte er weiter den Damen, „mit meiner Frau verabredet, falls es sich über Nacht aufhelle, möchten sie und meine Nichte mir bis hierher entgegenkommen. Nach meinem Plane wollte ich ja gestern Abend noch auf den Säntis und dort übernachten. Nun werden die Damen bereits unterwegs sein und ich müßte mich übermäßig abhetzen, wenn ich bis zu ihrer Ankunft hier den An- und Abstieg zur Spitze erledigen wollte. Da ist mir noch zur rechten Zeit eingefallen, daß die Damen sich bei dem schönen Wetter, und nun der Reiseplan doch einmal geändert werden muß, ganz gern entschließen werden, in der Kühle des Abends mich hinauf zur Spitze zu begleiten. Der Sonnenuntergang muß, nach dem Aufgang zu schließen, heute ja wundervoll werden.“

Fröhlich klang dann das „Auf Wiedersehen!“ von Mund zu Munde. Der Professor blickte den drei Gruppen noch eine Weile nach. Dann ging er hinein ins Gastzimmer, wo gestern Abend der Geist Frau Aventiures die Tafelrunde der Eingeregneten von Mißmuth und Trübsinn befreit hatte, setzte sich an ein Fenster, dessen Ausblick zum Säntis hinausging, und nahm sein Taschenbuch heraus, um einiges niederzuschreiben; doch bald ließ er es sinken und schaute träumerisch ins Freie hinaus, auf die firnumpanzerten Berge und den weiten blauen Himmel über ihnen. Sonnig heitere Erinnerungen woben in seine Träume liebliche Bilder; die Erzählung, welche er gestern Abend hier vorgetragen, ging noch einmal durch seine Seele mit der Frische selbsterlebter Poesie.

Um diese Zeit etwa bog auf dem vom Weißbad ins Gebirge führenden Wege, da, wo er sich in der Nähe des Itterbachfalls nach dem Seealpsee und nach der Höhe links gabelt, in den letzteren steilaufsteigenden Saumpfad eine kleine Karawane ein, bestehend aus zwei Damen, einem Herrn, drei Maulthieren und zwei diese führenden Treibern. Die jüngere der beiden Damen, in deren braunem Gelock der frische Morgenwind spielte, so daß bald dieses bald jenes Löckchen luftig aufflatterte, war mit leichten Schritten vorangegangen, als die auffallend hohe Stimme des Stadtherrn, der etwas hinter der älteren Dame herankam, dem Zuge Halt gebot.

„Meine Damen, meine Damen, darf ich bitten, Fräulein Marie! Hier geht es ja ganz steil hinauf – ah – und da möchte ich die Gnädigen doch gehorsamst bitten, sich endlich der beiden Reitthiere zu bedienen, die ich – so frei war, für Sie zu bestellen.“

Während er diese Sätze mit der Hast eines Kurzathmigen hervorstieß, war er stehen geblieben und trocknete sich mit einem rothseidenen Taschentuch den Schweiß von der Stirn und dem bereits ziemlich kahlen Schädel, welchen er zu diesem Zwecke entblößt hatte.

„Es thut mir leid, ein so freundliches Anerbieten ablehnen zu müssen, aber ich sagte Ihnen unten in Weißbad schon, daß ich auf steilen und vielleicht schwindelerregenden Bergpfaden von jeher lieber gehe als reite, ja gegen das Reiten ist solchem Falle geradezu eine Antipathie habe,“ antwortete in sanftem Tone die ältere Dame auf diese Einladung. Minder sanft, ja fast erzürnt klang es dagegen von der Höhe zu dem in einen eleganten schwarzen Anzug mit weißer Weste, die für seinen Leibesumfang viel zu eng war, eingezwängten, bereits jetzt unter der Sonnenwärme schwer leidenden Kavalier hernieder. „Aber Herr von Tümpling, wollen Sie mir denn die ganze Partie verderben? Ich habe zwei gesunde Füße und das Bergsteigen ist mir eine wahre Lust. Schicken Sie doch die zwei für uns bestimmten höchst unnöthigen Muli wieder zurück und besteigen Sie selbst das dritte, wenn Ihnen das Zuberg-Reiten ein solches Vergnügen macht.“

„Ich bedaure sehr, meine Damen, Ihren Geschmack nicht getroffen zu haben. Was mich betrifft, – eh – so hab’ ich von Kleinauf gern im Sattel gesessen und verschmähe dies auch nicht auf – Bergeshöhen. Auch bin ich für so beschwerliche Touren nicht mit dem passenden Schuhwerk eingerichtet,“ fuhr er seufzend fort, mit einem halb kläglichen, halb selbstgefälligen Blick auf seine enganliegenden glänzenden Lackstiefeletten. „Ja, wir armen unpraktischen Junggesellen sind übel dran. Eine so gute Hausfrau, wie Frau Professor, bedenken freilich alles und haben sogar Fräulein Marie veranlaßt, über ihre zierlichen Füße die plumpen schweren Nagelschuhe zu stülpen. Auf meine bescheidene Weise lassen Sie mich aber gleichfalls vorsorgen. So pressant ist es auch mir nicht, den Mulo zu besteigen. Aber mitgehen sollen er und seine beiden Kameraden; die Damen könnten denn doch ihre Kräfte überschätzen. Es wird warm werden, sehr warm, ah, – und ich fühle schon den Triumph voraus, welchen es mir machen wird, wenn Fräulein Marie mir eingestehen wird, daß es ihr doch recht angenehm sei, sich von einem so sicheren Reitthier – bis zur Meglisalpe weiter tragen zu lassen.“

„Das wird niemals geschehen,“ rief es trutzig von oben herab. „Wenn mein Wunsch einigen Werth für Sie hat, so schicken Sie, bitte ich nochmals, die Thiere zurück. Sie so leer mit hinaufziehen zu lassen, erinnert gar zu sehr an die Stücklein der Herren von Schilda. Nichts für ungut, Herr von Tümpling; aber Sie zwingen einen ja zum Spott.“

Damit wandte sich das Fräulein, welches sah, daß auch ihre Tante den Anstieg begonnen, und kletterte vergnügt über den steinigen Boden empor, den für eine Gebirgsreise so wenig geeigneten Herrn sammt seinen drei Maulthieren seinem Schicksal überlassend.

Der also Verhöhnte mußte nun wohl oder übel sich wieder in Bewegung setzen und seine schönen Lackstiefel dem spitzigen Steingeröll preisgeben. Er sah sehr verdrießlich und mißmuthig aus. Mehr noch als die Gefahr, in die er sich begeben, ärgerte und kränkte ihn der verletzende Uebermuth der jungen Dame. Ihretwegen hatte er eigens seine Reiseroute geändert, hatte er ganz gegen seinen Grundsatz, die Riesen des Hochgebirges nur von unten aus schön zu finden, die verrückte Idee gefaßt, die Damen auf dieser verwünschten Tour zu begleiten. Mit größter Sorgfalt hatte er alles bedacht und angeschafft, was denselben die Mühseligkeit irgend erleichtern könnte, und statt Dank zu ernten, erfuhr er nun solche Behandlung. Als er das Fräulein im vorigen Winter in Berlin im Hause dortiger Verwandten kennengelernt hatte, war sie ihm gerade durch ihr gesetztes Wesen und die gediegenen Eigenschaften ihres Charakters, die sie ohne Abbruch ihrer jugendlichen Anmuth zu entfalten gewußt hatte, so besonders angenehm aufgefallen. Was hatte sie nur so umgewandelt? Sollte sie jetzt, da sie sah, daß er sich ernstlich um sie bemühe, etwa gar an seinem Alter Anstoß nehmen? Er war doch noch lange nicht fünfzig wie sein Freund, der Oekonomierath von Bellwitz, der erst kürzlich einen blühenden Backfisch heimgeführt hatte. Und gar so groß war der Altersunterschied überhaupt nicht. Wenn man sie so vor sich sah, wie er eben, da sollte man freilich nicht meinen, daß sie schon längst die Zwanzig überschritten. Dies aber hatte er von ihrer Tante selbst gehört. Dagegen wurde dieser Unterschied ja durch weit schwerer wiegende mehr als aufgehoben; war er doch bereit, ein simples Fräulein Müller, deren Vater allerdings ein wohlhabender Architekt und Baurath war, zu einer von Tümpling zu machen. Einen von Tümpling behandelt man aber nicht ungestraft so, mein Fräulein wie es Ihnen soeben beliebte. Ein von Tümpling läßt sich dergleichen nicht bieten …

So schwer ihm bei dem anhaltenden Steigen der Versuch fiel, laut zu sprechen, seine innere Entrüstung drängte nach diesem Selbstgespräche danach, sich laut zu äußerst. Natürlich nur in der feinen Weise eines Kavaliers von Geburt.

Da er den Gegenstand seines Zornes nicht erreichen konnte, wandte er sich an deren Tante:

„Fräulein Nichte haben bisweilen recht eigenthümliche – Launen. Scheine mich doch in der Beurtheilung ihres Charakters – ausnahmsweise geirrt zu haben. Bei meiner Menschenkenntniß passirt mir das – sonst nicht. Muß – problematische Natur sein.“

„Ei, lieber Herr von Tümpling, Sie müssen, was sie sagte, nicht auf die Goldwage legen. Sie sprach unüberlegt; die frische Gebirgsluft, die Lust des Wanderns haben sie berauscht. Sie werden sich aber auch schwerlich vorstellen können, wie sehr sie sich auf diese erste wirkliche Hochtour gefreut hatte, die beinahe zu Wasser geworden wäre.“

Frau Professor Schröder war bei diesen Worten stehen geblieben, um Athem zu schöpfen. Sie wandte sich dabei um.

„Aber lieber Freund,“ rief sie fast erschrocken „wie echauffirt Sie aussehen! Das Steigen greift Sie wirklich an; da ist der [642] Aerger ein um so schlimmerer Gast. Söhnen Sie sich aus mit der so ganz gegen Ihre Absicht, vielmehr durch Ihre überquellende Liebenswürdigkeit herbeigeführten ärgerlichen Situation. Machen Sie gute Miene zum bösen Spiel, das sicher nicht bös gemeint ist, und plagen Sie sich nicht mehr mit dem Steigen ab. Setzen Sie sich auf eines der Thiere, und wenn der Weg oben wieder ebener wird, will ich Ihrem Beispiel folgen.“

Ein Zug von Rührung ging über das erhitzte Antlitz des an ein behagliches Schlendern durch die Lustgärten des Lebens gewöhnten Rittergutsbesitzers. Von dieser Dame, die ihre aristokratische Abkunft so schön bewährte, fühlte er sich verstanden. Und warum sollte er nicht das Maulthier besteigen? Er machte zu Pferd eine gute Figur, das wußte er. Einige Schritte weiter fing der Weg an breiter und ebener zu werden. Er ließ die Treiber mit ihren Thieren dort halten und bestieg das vordere derselben.

Frau Professor Schröder machte ihm ein Kompliment über die dabei entwickelte Gewandtheit. Es war ihr wirklich drückend, den auf seine Weise stets aufmerksamen und galanten Reisegenossen verstimmt zu sehen.

Ihr Zuspruch hatte auch die gewünschte Wirkung. Herr von Tümpling richtete sich, soweit es sein Embonpoint erlaubte, elegant im Sattel empor und machte dabei mit den Füßen eine Bewegung, als gälte es, einem gelernten Reitpferd die Sporen in die Weichen zu drücken. In dieser Beziehung aber verstand das in der Freiheit der Berge nur mangelhaft dressirte Maulthier keinen Spaß. Im Nu bäumte es auf, stellte sich auf die Hinterbeine, bockte nach vorn, und dann jagte es auf dem schmalen Bergpfad, ohne der Zügel seines Reiters zu achten, vorwärts. Und als ob die zwei unbenutzt bleibenden Muli nur auf dies Beispiel gewartet hätten, stürzten sie dem Durchgänger nach. Die überraschten Treiber suchten sie unter Schreien und Drohen einzuholen. So ging es wie die wilde Jagd an der erschreckten Dame vorbei. Zum Glück war das Terrain gerade an dieser Stelle nicht besonders gefährlich, und als der Pfad wieder steiler bergan zog, mußten die Thiere von selbst wieder in eine ruhige Gangart zurückfallen. Während die Frau Professorin in dieser Betrachtung beruhigenden Trost fand, kam Herr von Tümpling, dem der aufgespannte Sonnenschirm bei dem schnellen Ritt entfallen war und der sich nun krampfhaft an der Mähne des wilden Thieres festhielt, an jene Stelle, wo die Steigung wieder begann. Von demselben Trostgedanken geleitet, daß hier die Sache ein Ende haben müsse, ließ er die Mähne fahren, um wieder die Zügel zu ergreifen, denn er hatte Geistesgegenwart genug, darauf bedacht zu sein, daß er in seiner peinlichen Lage auf das vorausgeeilte übermüthige Fräulein keinen komischen Eindruck mache. Ja, die Sache hatte ihr Ende erreicht, aber dasselbe kam anders, als er gehofft hatte. In dem Momente, als das Terrain das Muli wieder zum Steigen zwang und der Reiter sich wieder emporrichtete, bäumte dasselbe von neuem und schleuderte dabei den Aermsten rücklings auf den Rasenabhang, so zwar, daß er vor einem weiteren Absturz geschützt war, dafür aber auf einen stachligen Stechpalmenstrauch zu liegen kam, aus dessen Zweigen er sich ganz fassungslos und wie ein Wahnsinniger schreiend mühsam freimachte. Als er zu sich kam, sah er Fräulein Müller mit einem trotz aller Anstrengung nicht zu unterdrückenden Lächeln auf den Lippen dicht über sich stehen und das nun wieder ruhig gewordene Maulthier beim Zügel halten.

„Sie haben sich doch nicht weh gethan?“ fragte sie, das Lächeln nun doch besiegend, im Tone aufrichtiger Theilnahme.

Er aber hatte das Lächeln gesehen und las aus der Frage nur Spott und Hohn. Es wurde ihm trotz alles Herumtastens klar, daß er in der That keine Blessur davongetragen, die einigermaßen dem Hilfegeschrei entsprochen hätte, das er im ersten Schrecken ausgestoßen. An allem war das bösartige Vieh schuld, das nun da lammfromm neben der Spötterin stand, als habe es an dem ganzen Malheur keinen Antheil. Nun hatte er wenigstens einen Gegenstand, an dem er seinen Zorn auslassen konnte.

„Verwünschte Bestie,“ schrie er, „rädern sollte man Dich. Hals und Beine hätte ich brechen können, wenn’s nach Dir gegangen wäre. Zerschmettert würden meine Gebeine im Abgrund liegen, wenn ich nicht rechtzeitig Deiner Herr geworden wäre! Recht so, schlagt nur zu!“ spornte er die Treiber an, die inzwischen herbeigekommen waren und nun unter Flüchen auf die Thiere eindraschen.

„Genug!“ rief aber nun auch Fräulein Müller. „Ein Glück, Herr von Tümpling, daß der Sturz so gut abgelaufen ist. Ich gratulire Ihnen herzlich. Was aber soll jetzt das nachträgliche Schlagen der Thiere nützen? Von meinem Standpunkte sah die Sache übrigens nicht so gefährlich aus; die Stelle hier war für den Unfall ungemein günstig. Auch warf Sie das Muli ziemlich sanft ab. Wenn Sie von Anfang an geritten wären, würde das Thier gewiß nicht plötzlich solche Launen bekommen haben.“

„Aber Marie!“ mahnte die herzugekommene Tante.

„Nun, ist es nicht wahr, daß dieses vierbeinige Trio uns die ganze Partie verdirbt? Herr von Tümpling thut mir ja leid –“

„Ich aber danke für Ihr Mitleid, in dem sich nur Spott und Hohn verbirgt. Theilnahme hätte ich allerdings von Ihnen erwartet nach solchem Unglücksfall. Ihr Benehmen aber belehrt mich, daß es in der That eine Dummheit von mir war, Ihnen auf dieser Fahrt mich zum Ritter anzubieten. Dem kann man ja abhelfen. Habe die Ehre, meine Damen!“

Sich verbeugend, wandte er sich ab zu den Treibern. Mit Würde wies er einen derselben an, die Damen als Führer mit einem der Muli zu begleiten. Dann schritt er dem anderen und den zwei übrigen Thieren auf dem Wege voran, den er wenige Minuten vorher in so verhängnißvoller Weise hatte zurücklegen müssen.

„Sprach’s und schlug sich seitwärts in die Büsche,“ recitirte das nunmehr doch recht ernst dreinblickende Mädchen mit gewaltsamem Humor, der ihre Verlegenheit verbergen sollte.

„Ein recht unangenehmer Auftritt, an dem, wie er jetzt verlaufen, auch gar nichts mehr komisch ist,“ sagte dagegen im Tone sanften Vorwurfs die Tante.

„Sei mir nicht böse, Tantchen,“ schmeichelte aber das Mädchen, indem es auf die mütterliche Freundin zueilte. Es barg den krausen Lockenkopf an deren Brust und küßte sie dann innig auf den Mund. „Nicht böse sein, Muttel! Ich konnte nicht anders.“

Frau Professor Schröder hatte die Tochter ihrer liebsten Schwägerin viel zu lieb, um ihr ernstlich böse sein zu können. Sie küßte das erregte Mädchen, das so jäh ihre Stimmung gewechselt, auf die Stirn, blieb aber ernst, indem sie sagte:

„Da hast Du wieder einen Freund weniger. Ich will Dein Urtheil in Herzenssachen nicht beeinflussen, aber Du erscheinst wirklich zu anspruchsvoll gegenüber der Männerwelt.“

„Herr von Tümpling – mein Freund?“

„Nun, er bewarb sich sichtlich am Dich und nannte sich Deinen Verehrer.“

„Den aber zum Beispiel die Frage, ob ich eine Gänseleberpastete auf Straßburger Art zuzubereiten verstehe, bei weitem mehr interessirte, als irgend eine meiner feineren Empfindungen.“

„Du übertreibst.“

„Nein! Drin in der Stadt, in den Gesellschaften des vorigen Winters war es mir nicht so aufgefallen, in welchem Grade dieser selbstgefällige Modejunker vom rohesten Materialismus und Egoismus beherrscht war. Hier aber in der freien Natur ist es mir klar geworden, wie ihm alle gesunde Natürlichkeit und natürliche Empfindung abgeht. Und nun gar heute. Mit Lackstiefeln auf den Säntis! Und diese alberne Komödie mit den drei Mulis. Weil er mit seinen bereits vom Zipperlein geschwächten Gliedern nicht steigen kann und deshalb reiten will, sollen auch wir es, so sehr wir von Beginn an dagegen protestirten. Ihn hat nur die gerechte Strafe ereilt. Und ich danke Gott, daß wir ihn los sind.“

Die beiden Damen waren langsam vorwärts gegangen. Nun gelangten sie an eine offene Stelle, welche einen Ausblick in das Seealpthal gewährte. Ein entzückter Ausruf drängte sich auf die Lippen der Sprecherin. Sie machte eine Bewegung mit der Hand, als wische sie etwas Häßliches aus.

„O Tante, welche Aussicht! Sieh, da steht eine Bank! Setzen wir uns; die Schönheit der Natur mag das unangenehme Erlebniß aus der Seele verdrängen. Wie still und verschwiegen dort in der Tiefe der dunkle Bergsee ruht, ganz umrahmt von rauschendem Wald und ragenden Felswänden. Da muß es schön sein, zu träumen.“

„Immer gleich träumen, Du närrisches Kind. Warum nicht wachen Auges dem Schönen ins Angesicht schauen?“

„Sind denn die Träume nicht schöner noch als die Wirklichkeit? Vervollständigen sie doch die Eindrücke der Natur und des Lebens zu Stimmungsbildern, welche sich unverlöschlich der Seele einprägen.“

[643] „Du liebe Träumerin! Finde Du nur erst das Glück, das Dein reines Herz im Träumen ersehnt, so wirst Du schon auch an der Wirklichkeit ein Genüge finden.“

„Ich bin eben jetzt ganz glücklich. Und doch ist mir gar träumerisch zu Muthe.“

„Weil Dir das Märchenhafte dieses Sees, dieser Umgebung heimlich den Glauben nährt, daß auch theure Märchenträume Deiner Seele sich noch erfüllen könnten.“

Das Mädchen wurde roth und sah wie verschämt zu ihrer Tante auf.

„Märchenträume? Wie kommst Du zu dem Wort?“

„Ei nun. Prinzen, die verzauberte Prinzessinnen erlösen, die brave Mägdlein aus Einsamkeit und Vergessenheit befreien, bevölkern die nicht schon die Traumwelt unserer Kinder? Wenn ich Dein sprödes Verhalten allen bisherigen Heirathsanträgen gegenüber betrachte – ich will dabei von diesem, ich gebe es zu, nicht sehr verlockenden Tümpling ganz absehen – so muß ich glauben, ein solcher Traum aus der Kinderzeit stehe bei Dir einem realen Erfassen ehelichen Glückes im Wege.“ Sie umschlang bei diesen Worten ihre junge Nachbarin, welche, ihren Kopf an ihre Schulter legend, die Augen schloß und schwieg, während ein seliges Lächeln um ihre Lippen schwebte. „Ich habe also recht,“ fuhr sie fort. „Willst Du mir nicht einmal den Kindertraum erzählen?“

Marie schüttelte mit dem Kopf.

„Er läßt sich nur träumen!“

„Und gar nicht zur Wirklichkeit machen?“ frug sanft und mit besorgtem Blick die mütterliche Freundin.

„Doch, doch! Noch hoffe und glaube ich’s.“

„Aber sage, Kind, Dein Prinz, Dein Märchenprinz muß dann doch auf Erden wandeln, von Fleisch und Blut sein wie Du? Man muß ihn doch auffinden können, ihn darauf aufmerksam machen, daß Du seiner harrst.“

„Er muß von selbst kommen!“

„Ja, aber sag’ mir nur wenigstens, wo er lebt. Kenn’ ich ihn?“

„Das weiß ich nicht.“

„Aber wie er heißt?“

„Das weiß ich nicht.“

„Du sprichst in Räthseln, Kind. Was er ist, mußt Du aber doch wissen?“

„Ach, auch das ist mir unbekannt. Aber“ – und das Mädchen erhob sich plötzlich – „jetzt habe ich genug verrathen. Wir versäumen die Zeit. Der Onkel wird droben schon auf uns warten. Das Märchenerzählen langt für die Winterabende, aber nicht für gefährliche Bergpartien. Siehst Du, Tantchen, dort geht’s schon wieder recht scharf in die Höhe.“ Und damit schritt sie mit dem ihr eigentümlichen leichten Gange voran.

In der That war inzwischen oben auf seinem Warteposten Professor Schröder ungeduldig geworden. Er hatte mit einem Fernrohr von geeigneter Stelle aus die Nahenden verfolgt und auch ein paarmal an Punkten, wo der Weg sichtbar wurde, sie erkannt; anfangs in Begleitung von dem geschniegeltem Aristokraten, der seit einigen Tagen aus sichtlichem Interesse für seine Nichte Marie ihr Reisegenosse geworden war, dann ohne ihn. Was konnte vorgefallen sein und die Trennung bewirkt haben? Im Grunde that es ihm wohl, den ihm unsympathischen Menschen aus dem Gesichtsfeld schwinden zu sehen. Er hatte zwar von Anfang an das Vertrauen gehabt, das kluge Mädchen werde die Hohlheit und Oberflächlichkeit seines Wesens bald genug durchschauen und seine Bewerbung zurückweisen. Aber wer ist vor Irrthum geschützt, wenn es sich um Vorausberechnungen handelt in Bezug auf Neigung und Liebe? Auch kannte er die Schwäche seiner sonst so vernünftigen Frau sowie der Mutter Mariens, das eigenthümliche Mädchen, dessen Herz so lange Zeit zur Entknospung brauchte, durchaus unter die Haube bringen zu wollen. Natürlich, um es später nur zu bereuen! … Unter solchen Betrachtungen war er den Damen entgegen gegangen, begierig auf die Lösung des Räthsels, denn etwas Besonderes mußte den Herrn doch zum Rückzug veranlaßt haben.

Mit warmem Interesse hörte er dann, als er die Damen, die er gestern bei unsicherem Wetter verlassen und jetzt bei leuchtendem Sonnenschein wiedergefunden hatte, die Mittheilungen seiner Frau an, während Marie, die ihn mit inniger Herzlichkeit begrüßt hatte, vorausschritt.

„Ein seltsames Mädchen,“ sagte er, nachdem er den Hergang erfahren hatte. „In diesem Falle kann ich ihr ja nicht unrecht geben, im Gegentheil; aber ihr Verhalten ist allerdings auch ein neues Symptom jener ablehnenden kühlen Art, mit der sie bisher allen sie umwerbenden Männern begegnet ist. Weißt Du denn gar nicht, was diese verursacht?“

„Eben vorhin erst hat mir das Kind einen, jedoch auch nur schmalen Einblick in diese Welt ihres Herzens gewährt. Und das fragmentarische Bekenntniß klingt so seltsam, so märchenhaft, daß es mich recht mit Sorge erfüllt hat. Der Mann, den sie liebt, ist nicht viel mehr als ein Hirngespinst, kaum daß er mehr Wirklichkeit hat als die Gestalt eines Traumes. Denke Dir: sie weiß nicht, wo er lebt, nicht was er ist, nicht einmal wie er heißt. Und dabei hofft sie mit einem Glauben, der an den des Käthchens von Heilbronn gemahnt, dennoch auf ein Wiedersehen, ja auf eine dauernde glückliche Vereinigung mit ihm. Welche romantische Schwärmerei!“

Der Professor war nachdenklich geworden. Er strich sich über den weißen Vollbart, zog dann die Stirn nach oben und blickte in die Ferne, als ob es dort geheime Inschriften zu enträthseln gäbe, dann aber ging ein feines Lächeln über seine Züge und er sagte schmunzelnd: „Vielleicht handelt es sich doch hier nur um ein neckisches Spiel des launigen Gesellen, den Gott Amor so gern zum Regisseur wählt, wenn er eines seiner Lustspiele aufführt, des Zufalls. Ja, lausche nur auf! – Marie!“ rief er dann der vor ihnen in Sinnen einher Schreitenden zu , und als diese dem Rufe entsprochen hatte, fuhr er in herzlichem Tone fort: „Wir reden eben vom Thüringer Wald, in dem ich meine ersten kleinen Bergtouren als Knabe vollführt habe; sag’ mal, warst Du auch einmal in Thüringen?“

„Freilich, Onkel. Papa hatte dort einen reichen Verwandten, der leider bald, nachdem ich einmal mit Mama und Großmama einen Monat lang auf seinem Gut zu Besuch gewesen war, verstorben ist. So bin ich später nur noch einmal flüchtig auf einer Rundreise durch das schöne Stück Land gekommen.“

„Es hat Dir also damals sehr gut dort gefallen?“

„Ach, Onkel; ich kam damals gerade, kaum sechzehnjährig, aus der Pension von Lausanne; es war mein Eintritt aus der Schule ins Leben. Und was für ein Eintritt! Ein herrlicher Mai, blühender Frühling ringsum, freundliche, liebe Menschen, Freiheit und Jugendluft – nie vergessen kann ich den Tag meiner Hinfahrt, meiner Ankunft; es war, als stände der Himmel offen! O Gott – es war eben zu schön, als daß es hätte so bleiben können!“ Eine plötzliche Ueberwallung des Gefühls erstickte die Stimme des Mädchens, sie mußte schluchzen, weinen. Doch bald fand sie wieder die Herrschaft über sich. „Verzeiht,“ sagte sie leise, „ich bin heute so aufgeregt und reizbar trotz all der Schönheit, die mich umgiebt; weiß selber nicht warum.“

„Die Scene mit Herrn von Tümpling hat Dich mehr alterirt, als Du zugeben wolltest,“ tröstete teilnehmend die Tante, welche ihren Mann fragend von der Seite ansah, was er denn mit seinem Verhör über Thüringen beabsichtigte. Dieser aber fuhr fort, indem er seinen Arm aus dem der treuen Gattin löste und ihn um die Schultern des geliebten Pflegekindes legte:

„Ich gebe nichts auf Ahnungen und die spiritistischen Auslegungen des Zufalls sind mir verhaßt. Und doch möchte ich sagen, es liegt etwas in diesem Sonnenschein, der schimmernd dort die Spitze des Säntis umspielt und von Fels zu Fels und Firnfeld zu Firnfeld seine goldenen Netze spinnt, was wie Sympathie auf Deine Nerven wirken könnte. Ob nicht auch der so fröhlich veranlagte und doch melancholische Herr Doktor Helbig, der mir gestern Abend ein Erlebniß, das er zu Pfingsten vor acht Jahren zwischen Schwarzburg und Ilmenau hatte und als das schönste seines Lebens bezeichnete, eben etwas Aehnliches aus diesem Sonnenlicht auf sich einwirken fühlt?“

„Onkel, wer – was sagst Du?“

Ein Beben ging durch die Stimme des Mädchens, und doch hielt sie ihren Onkel fest, daß er nicht weiter schreiten solle und ihr kein Wort von dem, was er da sagte, verloren gehe.

„Fassung, Kind! Nur eine Vermutung. Mehrere Herren und Damen, die gestern Abend gleich mir in der Meglisalpe eingeregnet waren, beschlossen auf meine Anregung, sich die Zeit durch Geschichtenerzählen zu vertreiben. Jeder sollte sein schönstes Reiseerlebniß zum Besten geben. Darunter ein junger Mann, [644] ein Astronom, Observator an einer deutschen Universitätssternwarte, Doktor Helbig mit Namen, der sich mir als ein einstiger Zuhörer vorgesteckt hatte, und dieser erzählte uns ein romantisches Liebesabenteuer, das er auf fröhlicher Studentenfahrt durch den Thüringer Wald einst erlebt hatte, mit einem Mädchen, an das er sichtlich noch heute mit Zärtlichkeit dachte, doch wußte er weder wie sie hieß, noch wer sie war, noch wo sie dauernd wohnte. Doch halt, den Vornamen hatte er erfahren. Der Name lautete – Marie …“

„Onkel, Onkel! Und wie sah er aus, der Erzähler?“

„Ei, recht hübsch, Kind. Gescheit und dabei ganz unternehmend. Doch wozu da viel Worte machen! Wir sind ja zur Stelle und wenn ich mich nicht irre, so ist der dort auf dem Felsen mitten im Alpenrosenhag sitzende junge Mann, der eben seinen Feldstecher auf uns richtet, der, den ich meine. Siehst Du, er hat Dich betrachtet, er zuckt zusammen, er blickt wieder her, nun läßt er das Glas sinken, sinnt und sinnt, nein, springt auf – er kommt uns entgegen! Da frag ihn selber, ob er Dir außer seiner Geschichte von gestern noch etwas Besonderes zu erzählen hat.“

* * *

Die Sonne stand im Zenith. Da oben auf der Meglisalp ließ sie ihre Strahlen frei und lustig spielen. Sie ließ sich genügen, hier nur als Lichtspenderin zu walten – hei, wie funkelte es! –; Wärme gab es schon genug ohne sie. Wärme echter Festesfreude, theilnehmender Freundschaft, seliger Liebe. Auch durch die Stube, in der gestern Abend die Eingeregneten beim trüben Schein der Lampe gesessen, fluthete hell ihr Licht und vergoldete das schlichte Tafelgeräth auf dem Tisch, um welchen eine fröhliche Festversammlung bei der Mahlzeit saß. Die Mahlzeit war sehr einfach; aber nicht das glänzendste Festessen kann gleichzeitig so fröhlich und so weihevoll verlaufen. Eben erhob sich Herr Kurz: „Meine Damen und Herren,“ sagte er in seiner behaglichen Weise. „Gestern Abend schlossen wir unser Symposion in der Alpenhütte mit dem Rufe ‚Glückliche Reise‘ und ,Gute Heimkehr‘ und heute früh trennten wir uns mit dem Wunsche ,Auf Wiedersehen!‘ – Welches Glück aber noch diese Säntisfahrt zur Reife bringen und welche Heimkehr sie zweien der Bergfahrer zusichern werde, ahnten wir alle wohl gleich wenig. Und welch ein Wiedersehen uns hier so bald bevorstehen würde, uns allen, aber vor uns allen dem wackeren Doktor Helbig und seiner nunmehrigen Braut, wer hätte dies voraussagen wollen? Nun schmähe noch einer die Wirklichkeit: sie sei aller Poesie, aller Schönheit bar! Die schönsten Märchen erdichtet das Leben selbst. Reist nur hinein in die Welt, und ihr erlebt auch heute noch in unseren Tagen der Nüchternheit wundersame und abenteuerliche Geschichten die Menge. Da seht unser Brautpaar an! Die beiden werden das Reisen, sein Glück, seine Wunderkraft für alle Zeiten segnen. Möge ihnen auch daheim am häuslichen Herd nicht weniger Segen erblühen! Das wünschen und hoffen und glauben wir. Darauf lassen Sie uns mit ihnen anstoßen und nochmals rufen: ‚Glückliche Reise‘ – und ,Gute Heimkehr‘ und – ‚Auf Wiedersehen!‘“ …