Hildesheim (Meyer’s Universum)
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Der Traum des Mittelalters ist ausgeträumt; nur mit seinen Monumenten tritt es da und dort in die Gegenwart wie ein Riese. Wer kann dieses Bild der alten Stadt der Carolinger anschauen ohne Bewunderung? Und welch ein furchtbarer Wechsel der Geschicke ging an diesen Denkmälern vorüber! Wie viel Throne und Völker wurden seitdem niedergeworfen, wie viel neue haben sich erhoben! Doch konnte es nicht anders seyn. Die Welt ist eine Welt von Kräften; das Starke herrscht und hat keinen Richter; es hat keine Furcht, als vor dem Stärkern. Alle Geschichte beweist dieß, und auch die Hildesheimer Geschichte ist nur ein Beleg zu Tausenden.
Ehe das Kreuz die Irmensäule des Sachsenlandes verdrängte, war diese Gegend von dem schaurigen Urwald bedeckt, der von der Weser bis zur Elbe reichte. Unter ungeheuern Bäumen hatten die tapfern Besitzer des rauhen Bodens ihre Hütten, und die Heerden wilder Thiere streiften in den unabsehlichen Forsten. Nur die Thaten des Kriegs und der Jagd beschäftigten das Volk; Ackerbau und Künste waren ihnen unbekannt. Da, im siebenten Jahrhundert, sendete England seine Apostel über das Meer, um in die norddeutschen Wälder und Völker die lichtende Axt und das leuchtende Evangelium zu tragen. Keiner war eifriger und glücklicher in diesem kühnen Unternehmen als Winfried, der heil. Bonifazius. Nachdem er die Thüringer und Hessen bekehrt hatte, kam er auch in die Gegend von Hildesheim. Er stürzte die Götzen von den Altären, [102] lehrte dem wilden Volk Ackerbau und Gewerbe des Friedens und errichtete das erste christliche Kirchlein. Schon Ludwig der Fromme fand in Hildesheim eine so zahlreiche Christengemeinde, daß er, der den Dom erbauete, das Stift zum Bischofssitz erheben konnte. Er verlieh dem Oberhirten einen weiten Landstrich und im Laufe der Zeit kamen ansehnliche Schenkungen hinzu. Das Bisthum wuchs heran zu einer weltlichen Macht, die mit den benachbarten Fürsten es aufzunehmen sich erkühnte. Oft hatten die Bischöfe Fehde; mancher trug den Panzer häufiger, als die Stola.
Bischof Johann IV. hatte im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts Krieg mit Herzog Heinrich dem Jüngern von Braunschweig. Es war ein unglücklicher. Er verheerte das Hildesheimer Land und endigte damit, daß der vom Kaiser Karl V. unterstützte Herzog mit dem größten Theile des Bisthums beliehen, der Bischof selbst aber, als Reichsfürst, in die Acht erklärt wurde. Mit Mühe konnte er sich in seinen geistlichen Würden erhalten; die weltliche Macht blieb ihm genommen. Hildesheim kam an Braunschweig; das Domkapitel behielt nur einige Aemter. Unter dem Schutze der protestantischen Fürsten drang nun die Reformation ein; in Hildesheim, dem Sitze des Bischofs selbst, wurde der Abfall groß; fast die Hälfte der Einwohner und Geistlichen sagten sich von der ältern Kirche los und traten zur jüngern über. Ueber hundert Jahre nachher führte der dreißigjährige Krieg eine Restauration herbei. Bischof Ferdinand bekam durch einen Vergleich mit Braunschweig, 1643, den weltlichen Besitz des Bisthums zurück, und noch einmal wurde so die fürstliche Würde an den Krummstab geknüpft. Das dauerte bis 1802, bis zum Lüneviller Frieden, der die Säkularisation so vieler Stifter zur Folge hatte. Bonaparte warf damals die deutschen geistlichen Länder den größern Reichsfürsten hin, und sie gaben dagegen ihre Zustimmung zu Frankreichs Raub am schwachen Reiche. Hildesheim wurde der Krone Preußen zugesprochen; preußische Regimenter rückten ein und nahmen Besitz.
Tausend Jahre hatte, mit der einzigen Unterbrechung, welche die Braunschweiger Herrschaft herbeiführte, der Krummstab über die Städte und Dörfer, über die Hügel und Thäler des Hildesheimer Landes gewaltet. Urplötzlich kam der Wechsel, der eine ganze Reihe von Umwandlungen nach sich zog. Denn nachdem einmal die friedliche Aufeinanderfolge von regierenden Bischöfen ihre Endschaft erreicht hatte, sollte sich die Herrschaft über das Fürstenthum alle Paar Jahre ändern. Die preußische Verwaltung, die französische Administration, die westphälische Regierung, das abermalige Regiment Preußens folgten rasch auf einander. Es waren dieß die Uebergänge zu der durch den europäischen Frieden wieder herbeigeführten Dynastie Braunschweig-England, welche zu ihrem Hannover Hildesheim als neue Zuthat bekam, bis das Regiment eines selbstständigen Königreichs an die Stelle britischer Statthalter trat. Alle diese Wechsel waren nur Erzeugnisse der Nachbrandung jenes Sturms, der den Krummstab entwurzelt hatte.
[103] Bei der Raschheit, mit der die Metamorphosen der Herrschaft auf einander folgten, war an ruhige und reife Entwickelung im Staatsleben nicht zu denken. Es waren Umwälzungen, welche mehr zerstörten, als aufbauten. Doch wurden unter den Stößen und Reibungen, welche das nimmermüde Reformiren und Aendern in allen Staatseinrichtungen und nach allen Richtungen hin veranlaßte, die schlummernden Kräfte im Volke geweckt und zumal das gewerbliche Leben erhielt, sowohl auf dem Lande als in der Hauptstadt, mehr und mehr Geltung und Rührigkeit. Betteln und Allmosenempfangen wurden eingeschränkt, der arbeitsfähige Müssiggang zur Arbeit angehalten. Dem geistigen Leben ward besserer Vorschub. Schon die erste preußische Verwaltung brachte dem Schulwesen heilsame Reformen. Namhafte Männer wurden an die umgestalteten Gymnasien berufen, und die alten Lehrer, welche sich dem Streben und den Studien der neuern Zeit nicht befreunden konnten, beseitigt. – Das gesellige Leben in Hildesheim erhielt durch den Wechsel der Verwaltungen frische und neue Zuthaten; protestantische Staatsdiener der höhern wie der niedern Ordnung, welche Berlin, Kassel, Hannover nacheinander schickten, brachten neue Gewohnheiten, feinere Sitten und freiere Gedankenbewegung in die bürgerliche Gesellschaft. Der Athem des Zeitgeistes hauchte die uralte Stadt an, und wenn sie auch in der Zeit, als die französischen Intendanten administrirten, oder Hildesheim wie eine Kriegseroberung von ungewisser Dauer und Bestimmung gouvernirt wurde, viel zu dulden und zu leiden hatte, so hatte das doch auch wieder die gute Folge, daß man bürgerlich und religiös verträglicher gegen einander wurde, und daß der Druck gemeinschaftlicher Leiden die Widersprüche im Verkehr leichter ausglich und verwischte.
So ist denn das uralte Hildesheim nicht alternd und hinfällig geworden unter den Stürmen und den Wandlungen, welche ihm die Zeit gebracht hat, sondern es blüht noch und wächst von Jahr zu Jahr. Es hat jetzt eine Bevölkerung von 16,000, die in 2000 Häusern wohnt. Im Kern der Stadt herrschen die Formen des Alterthums; die Neuzeit spiegelt sich in dem jüngern Stadttheile ab, den manches ausgezeichnet schöne Gebäude ziert. – Hildesheim ist der Sitz eines Bischofs und der Oberbehörden des Fürstenthums. Es hat ein katholisches und ein protestantisches Consistorium, ein Seminar, ein protestantisches und ein katholisches Gymnasium, eine Gewerbschule und mehre Vereine für wissenschaftliche Zwecke. In einem geistlichen Staate, der größtentheils selbst aus geschenkten Besitzungen entstanden war, konnte es nicht an Quellen zu milden Zwecken fehlen. Daher eine außerordentliche Menge wohlthätiger und Armen-Anstalten (man zählt deren zwanzig), und sie hatten das Glück, daß sich ihre Fonds, unter allen Wechseln der Herrschaft, erhielten.
Hildesheim bietet mit seinen 18 Kirchen und mittelalterlichen Denkmälern dem Freunde der Kunst und Geschichte reichen Stoff zur Betrachtung. Der ehrwürdige Dom allein, noch aus der Karolinger Zeit, mit Ludwigs des Frommen Grabmal, mit der Irmensäule, den Schnitzereien, Gemälden etc. kann einen Tag fesseln. [104] Vor dem Dome steht ein sehr berühmtes Denkmal altdeutscher Kunstgießerei: eine 30 Fuß hohe Säule von Metall, mit Darstellungen aus der heiligen Geschichte in Relief. Sie stammt aus der Zeit des heil. Bernward, Lehrer Kaiser Otto’s III. und Bischof zu Hildesheim, der auch die Domkapelle mit Portalen von Bronze schmückte.