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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Bei der Raschheit, mit der die Metamorphosen der Herrschaft auf einander folgten, war an ruhige und reife Entwickelung im Staatsleben nicht zu denken. Es waren Umwälzungen, welche mehr zerstörten, als aufbauten. Doch wurden unter den Stößen und Reibungen, welche das nimmermüde Reformiren und Aendern in allen Staatseinrichtungen und nach allen Richtungen hin veranlaßte, die schlummernden Kräfte im Volke geweckt und zumal das gewerbliche Leben erhielt, sowohl auf dem Lande als in der Hauptstadt, mehr und mehr Geltung und Rührigkeit. Betteln und Allmosenempfangen wurden eingeschränkt, der arbeitsfähige Müssiggang zur Arbeit angehalten. Dem geistigen Leben ward besserer Vorschub. Schon die erste preußische Verwaltung brachte dem Schulwesen heilsame Reformen. Namhafte Männer wurden an die umgestalteten Gymnasien berufen, und die alten Lehrer, welche sich dem Streben und den Studien der neuern Zeit nicht befreunden konnten, beseitigt. – Das gesellige Leben in Hildesheim erhielt durch den Wechsel der Verwaltungen frische und neue Zuthaten; protestantische Staatsdiener der höhern wie der niedern Ordnung, welche Berlin, Kassel, Hannover nacheinander schickten, brachten neue Gewohnheiten, feinere Sitten und freiere Gedankenbewegung in die bürgerliche Gesellschaft. Der Athem des Zeitgeistes hauchte die uralte Stadt an, und wenn sie auch in der Zeit, als die französischen Intendanten administrirten, oder Hildesheim wie eine Kriegseroberung von ungewisser Dauer und Bestimmung gouvernirt wurde, viel zu dulden und zu leiden hatte, so hatte das doch auch wieder die gute Folge, daß man bürgerlich und religiös verträglicher gegen einander wurde, und daß der Druck gemeinschaftlicher Leiden die Widersprüche im Verkehr leichter ausglich und verwischte.
So ist denn das uralte Hildesheim nicht alternd und hinfällig geworden unter den Stürmen und den Wandlungen, welche ihm die Zeit gebracht hat, sondern es blüht noch und wächst von Jahr zu Jahr. Es hat jetzt eine Bevölkerung von 16,000, die in 2000 Häusern wohnt. Im Kern der Stadt herrschen die Formen des Alterthums; die Neuzeit spiegelt sich in dem jüngern Stadttheile ab, den manches ausgezeichnet schöne Gebäude ziert. – Hildesheim ist der Sitz eines Bischofs und der Oberbehörden des Fürstenthums. Es hat ein katholisches und ein protestantisches Consistorium, ein Seminar, ein protestantisches und ein katholisches Gymnasium, eine Gewerbschule und mehre Vereine für wissenschaftliche Zwecke. In einem geistlichen Staate, der größtentheils selbst aus geschenkten Besitzungen entstanden war, konnte es nicht an Quellen zu milden Zwecken fehlen. Daher eine außerordentliche Menge wohlthätiger und Armen-Anstalten (man zählt deren zwanzig), und sie hatten das Glück, daß sich ihre Fonds, unter allen Wechseln der Herrschaft, erhielten.
Hildesheim bietet mit seinen 18 Kirchen und mittelalterlichen Denkmälern dem Freunde der Kunst und Geschichte reichen Stoff zur Betrachtung. Der ehrwürdige Dom allein, noch aus der Karolinger Zeit, mit Ludwigs des Frommen Grabmal, mit der Irmensäule, den Schnitzereien, Gemälden etc. kann einen Tag fesseln.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/179&oldid=- (Version vom 13.2.2025)