Die Veteranen der Paulskirche
Die Veteranen der Paulskirche.
Als am 18. Mai vor fünfzig Jahren das erste Deutsche Parlament in der Frankfurter Paulskirche eröffnet ward, leuchtete manch weißes und graues Haupt Ehrfurcht gebietend zwischen den blonden und dunklen Scheiteln in der Versammlung auf, und mit Stolz blickten die Vertreter eines jüngeren Geschlechts auf diese Veteranen der nationalen Freiheitsbewegung. „Mein Kopf ist voll und mein Herz möchte zerspringen in meiner Brust,“ schrieb in heiß aufwallender Begeisterung einer aus dieser Jugend am folgenden Tag in die Heimat. „Die Männer, deren Wirken ich durch die Jahre angestaunt, die mir auf den hehren Höhen der Wissenschaft wie in den blumigen Auen der Dichtkunst Gegenstand der Verehrung und Quelle freudiger Erhebung waren, diese Männer stehen mir nun Aug’ in Auge gegenüber; ich spreche sie in vertraulicher Unterredung, ich höre sie, wenn das begeisternde Wort ihren Lippen entströmt.“
Die damaligen „Veteranen der Paulskirche“, deren Ruhm so viel dazu beitrug, der „Verfassunggebenden Nationalversammlung zu Frankfurt a. M.“ das ihr zunächst überall in so hohem Maße eingeräumte Ansehen zu sichern, hat die „Gartenlaube“, mit Arndt und Jahn anfangend, in den Aufsätzen „Wie das erste Deutsche Parlament entstand“ durch Wort und Bild ihren Lesern vergegenwärtigt. Dort sind den letzteren auch die tonangebenden Führer der großen Volksbewegung vors Auge gestellt worden, deren höchster Erfolg dies Parlament und sein von sämtlichen deutschen Regierungen bestätigtes Recht war, für das neu zu gründende Reich eine freie Verfassung zu schaffen. Sie alle sind nun längst dahingegangen und die unvergängliche Spur von ihren Erdentagen gehört ganz der Geschichte an. Von jener Jugend aber, die zu ihnen damals in der Paulskirche mit Verehrung emporschaute, hat ein freundliches Geschick eine kleine Schar am Leben erhalten. Ihnen, als den uns überbliebenen unmittelbaren Zeugen, die für uns heute die „Veteranen der Paulskirche“ sind, sei nun zum Erinnerungstag der Eröffnung des Parlaments ein Gedenkblatt gewidmet. Was diese Männer dem Vaterlande und dem Deutschtum damals und später geleistet haben, ist gar gut imstande, uns von der geschichtlichen Bedeutung der Frankfurter Nationalversammlung einen lebensvollen Begriff zu geben. In der Reihe dieser Hochbetagten, deren jüngster 75 Jahre alt ist, deren ältester schon im 89. Jahre steht, finden wir die Hauptparteien der Nationalversammlung vertreten und ihre Mehrzahl gehört den beiden Großstaaten an, deren unversöhnlicher Rangstreit das Verfassungswerk der Paulskirche um seine Verwirklichung brachte.
Die Lose dieses Verhängnisses hatte das Schicksal bereits unter den Stürmen der Märzbewegung geworfen. Bis zu Metternichs Sturz war Oesterreich das stärkste Hindernis der „Heidelberger“ Reform des „Deutschen Bunds“ in freier Verfassung gewesen. Weil Oesterreich mit seinem überwiegend außerdeutschen Länderbesitz den Schwerpunkt seiner Politik in das Ausland verlegte, gerade deshalb war geplant worden, das fast reindeutsche Preußen zur Vormacht in dem neuen Bundesstaat zu machen. Dann aber hatte der Sieg der Märzbewegung in Wien, das kluge Einlenken des Erzhauses den Forderungen des Volks gegenüber, die alten natürlichen Sympathien der süddeutschen Stämme für Oesterreich mächtig belebt, während der unheilvolle Verlauf der Märztage in Berlin die Gagernsche Politik zu Gunsten der preußischen Führung scheitern machte. Gagern selbst und die Mehrzahl der „Heppenheimer“, welche im Parlament den Kern des Centrums bildeten, gaben ihre preußenfreundliche Politik zwar nicht auf, aber sie hielten mit derselben zurück, so lange sich unter ihren Gegnern der preußische König selber befand. Dahlmann hatte in seinem Verfassungsentwurf für die Siebzehner-Kommission des Bundestags noch vor Eröffnung des Parlaments einen deutschen Fürsten als erbliches Reichsoberhaupt vorgeschlagen und in einem Briefe an Friedrich Wilhelm IV näher begründet, warum nur das mächtigste reindeutsche Fürstenhaus zu dieser führenden Stellung berufen sei. In seiner Antwort erklärte der König bestimmt, die neue deutsche Kaiserkrone gebühre allein dem jedesmaligen Haupte des Erzhauses Oesterreich, doch fügte er später hinzu: wenn Oesterreich durch feierliche Zurückweisung der „teutschen Krone“ klar bekenne, daß Metternichs Geist in ihm noch herrscht, dann werde er es für Pflicht halten, „diese Schmerzenskrone“ anzunehmen, ja nach ihr zu greifen.
Aus dieser Erklärung Friedrich Wilhelms IV erklärt sich die Politik, welche die führenden Geister der Bundesreform im Parlament dann einschlugen und innehielten, bis Oesterreich sich wirklich auf den Boden von Metternichs undeutscher Bundespolitik wieder stellte. Auf ihr beruhte der erfolgreiche „kühne Griff“, den Heinrich v. Gagern als erster Präsident der Nationalversammlung unternahm, indem er den Erzherzog Johann unter Zustimmung Preußens für die Wahl des Reichsverwesers in Vorschlag brachte, auf ihr beruhte, daß er und sein Anhang die Wahl Schmerlings zum Reichsministerpräsidenten unterstützte, auf ihr ferner Dahlmanns Idee, in der Reichsverfassung des Parlaments den selbständigen Eintritt von Deutschösterreich in den neuen Bund vorzusehen, während die nichtdeutschen Staaten der Habsburgischen Monarchie nur noch in Personalunion, d. h. durch den gemeinschaftlichen österreichischen Kaiser mit Deutschland verbunden bleiben sollten. Welckers „Trias“ mit ihrem Direktorium der drei mächtigsten deutschen Fürsten, sein „Turnus“, nach welchem der Kaiser von Oesterreich und der König von Preußen alle sechs Jahre in der Centralgewalt abwechseln sollten, waren Versuche, Oesterreich für den reindeutschen Bundesstaat zu gewinnen.
Während aber die Abgeordneten der Paulskirche bis in den Herbst des Jahres 1848 eifrig dabei waren, der im März errungenen Freiheit in den „Grundrechten“ des deutschen Volks Gesetzesform zu geben, fand Oesterreich Zeit und Kraft, das erschütterte alte Regierungssystem wieder aufzurichten. Nach Windischgrätz’ Siegen über die Revolution in Prag und Wien sagte sich die Militärdiktatur des Fürsten Schwarzenberg von aller Rücksicht auf das Frankfurter Parlament los und verbat sich durch die Erklärung von Kremsier jede Bundesreform, welche die alten Vorrechte der österreichischen Krone in Deutschland irgendwie schmälern könnte. Nun bekam Gagern für seine Politik freie Hand. Der Reichsverweser sah sich genötigt, das Ministerium Schmerling aufzugeben – Gagern trat an die Spitze eines neuen, während Simson das Präsidium in der Paulskirche erhielt. Der neue Reichsministerpräsident wahrte mit Energie die Unabhängigkeit der Nationalversammlung von dem neuen Regimente in Oesterreich und gab die Losung aus, der neue deutsche Bundesstaat
[301][302] müsse ohne Oesterreich mit einem preußischen Oberhaupt an der Spitze ins Leben treten. Die Haltung Schwarzenbergs gegen das Parlament wurde immer feindseliger. Da stellte Welcker am 12. März 1849 den Antrag, die fertig durchberatene Reichsverfassung in Bausch und Bogen anzunehmen, die erbliche Kaiserwürde dem König von Preußen zu übertragen und diesen zum sofortigen Antritt der kaiserlichen Gewalt einzuladen. Durch Heinrich Simons Vermittelung kam zwischen der „Erbkaiserpartei“ des Centrums und einer Gruppe der Linken ein Kompromiß zu stande, der es ermöglichte, daß Welckers Antrag am 28. März zum Beschluß der Versammlung erhoben wurde. So war Friedrich Wilhelm IV zum Deutschen Kaiser gewählt, aber nur als Erwählter der sämtlichen übrigen deutschen Fürsten, nicht bloß als Erwählter des Volks, wollte dieser die „Schmerzenskrone“ annehmen. Sein romantisches Herrscherbewußtsein lehnte sich auf gegen das kühne Unternehmen des Parlaments; auch wußte er, daß die Durchführung desselben den Krieg mit Oesterreich bedeute, und Krieg wollte er nicht. Einige Tage nach dem Empfang der Frankfurter Kaiserdeputation sagte er zu Beckerath, der ihm zur Annahme der Krone mit lebhaften Worten riet: „Wenn Sie Ihre Worte an Friedrich den Großen hätten richten können, der wäre Ihr Mann gewesen; ich bin kein großer Regent.“ Oesterreich aber rief seine Abgeordneten aus der Paulskirche zurück. Bald folgte Preußen dem Beispiel. Das Schicksal des „Rumpfparlaments“ in Stuttgart besiegelte die Katastrophe des mit so stolzen Hoffnungen begrüßten Versuchs der Nation, aus eigner Kraft und auf friedlichem Wege ihr Staatswesen neu zu gründen.
Von der begeisterten Stimmung, mit welcher die Abgeordneten Deutschösterreichs in die Paulskirche zogen, bildet jener Brief einen lebendigen Nachhall, dessen erste Sätze wir oben mitgeteilt haben. Der Schreiber desselben war der jüngste der sämtlichen 586 Volksvertreter, Dr. Karl Stremayr aus Graz; ihm ist es heute mit noch zwei weiteren Oesterreichern, dem Wiener Moritz v. Mayfeld und dem Salzburger August Prinzinger, vergönnt, das Jubiläum des ersten Deutschen Parlaments zu begehen. Sie sind die letzten von dem glänzenden Aufgebot, welches das Deutschtum Oesterreichs unter Anastasius Grüns, des Grafen Auersperg, Führung in die Paulskirche sandte. In ihnen begrüßen wir drei überlebende Teilnehmer an dem erst so aussichtsreichen Kampf für die „großdeutsche“ Idee, für den sehnsuchtsvollen Wunsch, daß Arndts „So weit die deutsche Zunge klingt!“ Verwirklichung finde in dem neu zu gründenden Reich. Sie zählten zu den Rednern, von denen Uhland später am Schluß dieses Kampfes mit so inniger Empfindung sagte, auch wenn sie gegen ihn gesprochen hätten, sei es ihm gewesen, als ob er eine Stimme von den Tirolerbergen vernehme oder das Adriatische Meer rauschen höre. Mayfeld hatte die Wiener Märztage und den Sturz Metternichs unmittelbar miterlebt, er war der Wiener Akademischen Legion beigetreten und hatte sich in ihr hervorgethan, ehe er in Waidhofen an der Thaja ins Parlament gewählt wurde. Mit ihm, mit Stremayr und Prinzinger begrüßte auch die Mehrzahl ihrer Landsleute die Wahl des Erzherzogs Johann zum Reichsverweser sowie die Erhebung Schmerlings zum Reichsminister als erste Schritte zu einer dauernden Lösung der brennenden Oberhauptsfrage in einem für ihre Wünsche günstigen Sinn. Als Mitglieder des linken Centrums waren Mayfeld und Stremayr Gesinnungsgenossen Giskras, der mit so glänzender Beredsamkeit den Eintritt Deutschösterreichs in den neuen Bundesstaat befürwortete. Ihnen allen zerstörte Schwarzenbergs Reaktionspolitik mit rauher Gewalt den schönen Traum von einem großen einigen Reich, das alle deutschen Stämme umfassen sollte.
Wie so viele der Männer, die in der Paulskirche ihre politische Schulung erhielten, sind auch unsere drei Oesterreicher in ihrer Heimat zu hervorragender Wirksamkeit und Stellung gelangt. Stremayr, der heute im 75. Jahre steht, kam, nachdem er in seiner Vaterstadt Graz Universitätsbeamter gewesen, 1868 auf Giskras Berufung als Ministerialrat nach Wien in das Ministerium des Innern. Von 1870 bis 1880 war er österreichischer Kultusminister. Schon vorher hatte er in Steiermark als Mitglied des Landesausschusses eine fruchtbare Thätigkeit auf dem Gebiete des Unterrichtswesens und der Humanitätsanstalten entfaltet. 1875 erfolgte durch ihn die Gründung der deutschen Universität zu Czernowitz. Bis zu seinem Austritt aus dem Ministerium Taaffe hat er erfolgreich für den einheitlichen Bestand der alten Prager Universität und gegen deren Teilung in eine deutsche und eine tschechische Hochschule gekämpft. Im Jahre 1891 wurde er zum ersten Präsidenten des Obersten Gerichts- und Kassationshofes in Wien ernannt. – Auch Moritz v. Mayfeld, heute ein Einundachtzigjähriger, widmete sich nach seiner Heimkehr aus Frankfurt dem Staatsdienst, dem er schon vorher, seit 1840, angehört hatte. Er bekleidete in Ober- und Niederösterreich mancherlei Regierungsämter, bis er 1880 als Statthaltereirat in Pension ging. Er lebt im Genusse eines gesegneten Alters in Schwanenstadt. – Dr. August Prinzinger in Salzburg, von Geburt ein Bayer, der jedoch frühe nach Salzburg kam, ist der älteste der drei Oesterreicher; blickt er doch bereits auf mehr als 86 Lebensjahre zurück. 1846 wurde er Advokat in St. Pölten in Niederösterreich; hier wurde er auch ins Parlament gewählt, wo er der gemäßigten Linken sich anschloß. Nach der Rückkehr aus Frankfurt ließ er sich in Salzburg als Advokat nieder, wo er verblieb, Gemeinderat und Landtagsabgeordneter wurde und neben seinem Beruf auch eine rege litterarische Thätigkeit auf dem Gebiete der deutschen Sprach- und Altertumskunde entfaltete. 1859 beteiligte er sich an der Gründung der Gesellschaft für Salzburgische Landeskunde, deren Vorstand er 1874 bis 1884 war. Seit 1880 lebt er als Privatmann, seinen wissenschaftlichen Neigungen hingegeben, auf seinem Landsitz in Salzburg.
Ein vierter und letzter Süddeutscher in unserer Veteranengalerie ist der Bayer Johann Nepomuk Sepp. Mit allen Fasern seines Wesens ein Altbayer von echtem Schrot und Korn, gehörte Sepp im Frankfurter Parlament zu den konservativen Elementen, deren Stellung von ihrer Zugehörigkeit zur katholischen Kirche bedingt war. 1816 in Tölz geboren, hatte er in München Theologie studiert, wobei Döllinger und Görres besonderen Einfluß auf ihn ausübten. Voll streitbaren Geistes schrieb er gegen Strauß und Renan sein „Leben Jesu“. Nachdem er 1845 und 1846 die heiligen Stätten Palästinas und Syriens bereist hatte, erhielt er an der Münchner Universität die Professur der Geschichte. Mit seinen Kollegen Lasaulx, Phillips, Döllinger gehörte er im folgenden Jahr zu den Männern, welche gegen den unheilvollen Einfluß der Lola Montez auf König Ludwig I mannhaft ankämpften. Die Popularität, die er hierdurch und die ihn danach treffende Maßregelung gewann, trug ihm die Wahl in das Frankfurter Parlament ein. Hier war er, wie fast alle seine engeren Landsleute, ein eifriger Großdeutscher. Ein mitten aus den Kämpfen über Großdeutsch und Kleindeutsch entsprossenes Lied Sepps ward von einer der bewegtesten Scenen in der Geschichte der Paulskirche angeregt. Simson war eben Gagerns Nachfolger auf dem Präsidentensitz geworden, Gagern, als neuer Ministerpräsident, hatte sein Programm entworfen und verteidigt, das den notgedrungenen Bruch mit der österreichischen Regierung bezweckte. Bei der Abstimmung hatte der greise Sänger des Liedes vom deutschen Vaterland, Arndt, sein Votum als Fünfter abzugeben. Zum größten Befremden aller Großdeutschen sprach er ein lautes „Ja!“ Eine Bewegung des Staunens ging durch den Saal und von der Linken erhob sich der Ruf „Das ganze Deutschland soll es sein!“ Unter dem Eindruck dieser Scene dichtete Sepp ein neues Vaterlandslied, welches die Motive des Arndtschen Liedes aufnahm und die Frage „Was ist des Bayern, Schwaben, Franken, Sachsen, Preußen Vaterland?“ im großdeutschen Sinne beantwortete. Als aber das neue Deutsche Reich sich doch auf „kleindeutscher“ Grundlage entwickelte, als Preußen die Führung in Deutschland gewann und die Kriegserklärung Napoleons III an König Wilhelm den Deutschen Gelegenheit bot, die so lange ersehnte Einheit im gemeinsamen Kampf gegen Frankreich zu erstreiten, da war es Sepp, der im bayrischen Landtag einer der einflußreichsten Verfechter der nationalen Sache war. Am denkwürdigen 19. Juli 1870 trug seine „im furor teuronicus“ dort gehaltene Rede nicht wenig dazu bei, daß der Kredit für die Kriegführung von einer großen Mehrheit mit einer patriotischen Begeisterung bewilligt wurde, wie sie dann das bayrische Heer hinaus ins Feld zu den Siegen von Weißenburg, Wörth, Sedan begleitete.
Wie von der „Rechten“ der Nationalversammlung ist auch von der entschiedenen „Linken“ nur ein einziger noch am Leben. In Hugo Wesendonck, den die Katastrophe der Nationalversammlung als Flüchtling nach Amerika verschlug, haben wir [303] einen Veteranen der demokratischen Partei in der Paulskirche vor uns, als deren Führer erst Robert Blum und nach des letzteren tragischem Tode Karl Vogt wirkte. Ein warmblütiger Rheinländer, wurde Wesendonck, der beim Ausbruch der Märzbewegung in Düsseldorf Advokat war, vom Geiste derselben mächtig ergriffen. An dem Adressensturm der rheinischen Städte nach Berlin war er hervorragend beteiligt. Im Frankfurter Vorparlament nahm er, wie wir sahen, eine vermittelnde Stellung zwischen der radikalen Richtung Heckers und der konstitutionellen Majorität ein. Von Düsseldorf in die Nationalversammlung gewählt, vertrat er in der Linken neben dem feierlichen Pathos Blums, dem satirischen Witz Karl Vogts, dem leidenschaftlichen Feuer Ludwig Simons und Trützschlers thatkräftigem Ungestüm die ruhige Logik des geschulten Juristen. Mit beharrlicher Konsequenz wahrte er den Standpunkt, daß ein Vereinbaren mit den Fürsten das ganze Einheitswerk gefährden müsse, daß, unbeschadet des Fortbestands der konstitutionellen Monarchie in den Einzelstaaten, die Centralgewalt eine demokratische Form erhalten müsse und daß zur Durchführung dieser Aufgabe es absolut nötig sei, die Truppen auf die Centralgewalt und die Reichsverfassung zu vereidigen. Auch aus seiner Seele war Uhlands berühmtes Wort gesprochen: „Es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem vollen Tropfen demokratischen Oeles gesalbt ist.“ Bei der Reichsverweserwahl stimmte Uhland in diesem Sinne für Gagern, während die Mehrzahl von Wesendoncks Freunden unter W. Jordans Führung ihre Stimme dem Ehrenhaupte der Linken, dem greisen Adam v. Itzstein, gaben. Uhland wünschte „einen Mann an der Spitze, der in der ganzen Größe bürgerlicher Einfachheit durch den Adel freierer Gesinnung auch die rohe Gewalt zu bändigen, die verwilderte Leidenschaft in die rechte Strömung zu lenken verstände“. In diesem Wunsche wurzelten die „republikanischen“ Hoffnungen der Idealisten in der Frankfurter „Linken“. Wesendonck, der heute 81 Jahre zählt, hat in diesen Tagen seinen Freunden eine litterarische Jubiläumsgabe, „Erinnerungen aus dem Jahr 1848“, überreicht. Die kleine Schrift ist in New York erschienen, wo ihr Verfasser 1860 die noch bestehende Germania-Lebensversicherung gründete, deren Berliner Zweiganstalt er gleichfalls ins Leben rief. Er spricht in jenen Blättern mit großer Liebe von seinen damaligen Mitkämpfern. Auch die Oberhauptfrage streift er darin. „Es war,“ sagt er, „von vornherein unmöglich – sobald die Republik ausgeschlossen war – einen anderen als einen preußischen Fürsten an die Spitze Deutschlands zu stellen.“
Der Partei, die diesen Gedanken in der Paulskirche zum Siege führte, der „Erbkaiserpartei“, gehören alle weiteren Veteranen an, die noch unter den Lebenden weilen. Es sind ihrer zehn, und unter ihnen befindet sich auch der Führer der Frankfurter Deputation, welche dem König in Berlin am 3. April 1849 die Kaiserkrone antrug, Eduard v. Simson, Gagerns Nachfolger als Präsident der Nationalversammlung.
Simson, dessen feiner Takt und würdevolles Wesen die Mission der Kaiserdeputierten trotz ihres Mißerfolges auf der vollen Höhe erhielt, hat noch oft im Leben Gelegenheit gehabt, diese Eigenschaften als Präsident zu entfalten, die ihm schon in der Paulskirche die Sympathien aller Parteien eintrugen. Als er von seiner Vaterstadt Königsberg ins Frankfurter Parlament gewählt wurde, war er dort Tribunalsrat und ein Professor der Rechtswissenschaft von Ruf. Der politischen Richtung, die er in der Paulskirche vertrat und die ihn zum Gesinnungsgenossen von Gagern und Dahlmann und zum Mitglied des rechten Centrums machte, ist der jetzt fast 88jährige allezeit treugeblieben. Im Unionsparlament zu Erfurt war er Präsident des Volkshauses. Nach dem Scheitern der Union stand er im preußischen Abgeordnetenhaus mit an der Spitze der Opposition. 1860 und 1861 war er Präsident dieser Kammer. In gleicher Würde sah ihn der konstituierende und der erste ordentliche Reichstag des Norddeutschen Bundes, und am 18. Dezember 1870 war es ihm, dem „Achtundvierziger“, vergönnt, die Adresse des Reichstages, welche dem siegreichen König Wilhelm die deutsche Kaiserwürde antrug, diesem in Versailles zu überreichen. Auch der erste deutsche Reichstag wählte Simson zum Präsidenten. Eine gleich glänzende Laufbahn war ihm auf dem Gebiete des praktischen Juristen beschieden. Nachdem er längere Zeit dem Appellationsgericht in Frankfurt a. O. vorgestanden hatte, wurde er 1879 bei Gründung des Deutschen Reichsgerichts in Leipzig an dessen Spitze berufen, in welcher Stellung er bis vor wenigen Jahren aufs segensreichste gewirkt hat.
Eine hervorragende Rolle fiel in der Paulskirche auch dem Leipziger Historiker Karl Biedermann zu. Auch er war ein Mitglied der Kaiserdeputation, auch ihm war das präsidiale Talent gleichsam angeboren. Daß er schon im Vormärz ein Bahnbrecher der Idee der preußischen Führung und ein Mitglied des „Vorparlaments“ war, haben wir in den vorausgehenden Aufsätzen berichtet. In dem wirklichen Parlament gehörte er zu den Mitgliedern des linken Centrums, die sich zu gunsten der Erbkaiseridee im „Augsburger Hof“ und im „Weidenbusch“ zusammenschlössen. Er hat in diesen Klubs wiederholt das Amt des Präsidenten bekleidet. Während der ganzen Dauer des Parlaments war er einer der Schriftführer, kurz vor seinem Austritt wurde er noch Vicepräsident der Versammlung. Im sächsischen Landtag bekämpfte er dann lebhaft die Reaktion; dem ersten deutschen Reichstag gehörte er auch an. Karl Biedermann, der seit 1838 Professor der Geschichte an der Universität Leipzig ist, in dieser Zeit auch immer ein eifriger Publizist war, ist recht eigentlich als der Historiker der Erbkaiserpartei zu bezeichnen. Im Geiste derselben schrieb er das Werk „Dreißig Jahre deutscher Geschichte 1840–70“ und noch andere gehaltvolle Bände. Auch die soeben erschienene interessante Jubiläumsschrift „Das erste Deutsche Parlament“ des fast 86jährigen Politikers ist von diesem Geiste getragen.
Wesentlich jünger ist sein Kollege Professor Rudolf Haym in Halle, der mit 26 Jahren in die Paulskirche eintrat. Zu Grünberg in Schlesien geboren, war er Privatgelehrter in Halle, als er für den Mansfelder Kreis nach Frankfurt gewählt ward. Sein noch während der Tagung entstandenes Werk „Die Deutsche Nationalversammlung“ zeigt ihn als begeisterten Anhänger Gagerns. Er wurde dann in Halle Professor für Philosophie und neuere deutsche Litteratur und war 1858 bis 1864 Redakteur der „Preußischen Jahrbücher“. Seine biographisch kritischen Werke über Wilhelm v. Humboldt, Hegel, Schopenhauer, die romantische Schule und Herder sind Schöpfungen eines geistvollen Mannes und bekämpfen jene mystische Romantik, deren höchster politischer Ausdruck Friedrich Wilhelm IV gewesen ist.
Von den weitschauenden Handelsherren des Rheinlands, die im ersten preußischen „Vereinigten Landtag“ für ein konstitutionelles Leben und die Durchführung des Zollvereins eintraten, ist der Kölner Mevissen noch am Leben. Als Mitgründer der „Rheinischen Zeitung“, als einen Teilnehmer an der Heppenheimer Versammlung haben wir ihn früher erwähnt. In der Paulskirche zählte er zum rechten Centrum; mit Mathy und Bassermann war er einer der Unterstaatssekretäre im Reichsministerium, und zwar an der Seite des Handelsministers Duckwitz. An dem großartigen Aufschwung, den das Rheinland auf industriellem Gebiete seit 1848 genommen, hatte Gustav v. Mevissen, der heute 83 Jahre zählt, einen namhaften Anteil.
In dem Reichsministerium für Handel saß auch Wilhelm Jordan, der Dichter. Seine erfolgreiche Thätigkeit als Sekretär des Marineausschusses im Parlament, welcher die Gründung einer ersten deutschen Flotte herbeiführte, trug ihm die Berufung in die Marineabteilung des Handelsministeriums ein. Wilhelm Jordan gehörte anfänglich zur Linken. In Königsberg, wo er studierte, hatte Jacoby stark auf ihn gewirkt. Als Mitglied der Schriftstellerkolonie Leipzigs war er mit Blum befreundet, und der Freisinn, der sich in seinen ersten Dichtungen kundgab, hatte seine Ausweisung aus Sachsen zur Folge. In der Paulskirche, wo er einen Berliner Wahlkreis vertrat, war er einer der glänzendsten Redner. Als er sich infolge seiner antipolnischen Rede in der Polendebatte mit der Linken entzweit hatte, wurde er in den Reihen des Centrums mit Freuden aufgenommen. In seinen epischen Dichtungen „Demiurgos“ und „Nibelunge“ sowie in seinen lyrischen Gedichten findet sich ein voller poetischer Nachhall jener Entschlüsse, die ihn, den liberalen Ostpreußen, zur Erbkaiserpartei damals trieben. Daß große Neugestaltungen in der Geschichte Männer der That fordern, und daß auch die Geschichte dem Gesetz organischer Entwicklung gehorcht, diese Erkenntnissätze wurden zu Leitsternen für sein poetisches Schaffen. [304] Jordan gründete sich in Frankfurt a. M. ein Dichterheim, in welchem er kürzlich seinen 79. Geburtstag in voller Rüstigkeit gefeiert hat.
Ist Wilhelm Jordan der letzte aus der Paulskirche, der an dem begeisterten Vorgehen des Parlaments zur Gründung einer deutschen Flotte praktischen Anteil nahm, so hat die Nation in dem Bremenser Großkaufmann Hermann Henrich Meier einen Mann zu verehren, der, nachdem jene deutschen Flottenpläne kläglich gescheitert waren, aus eigner Kraft Großes für den gewaltigen Aufschwung der deutschen Schiffahrt gethan hat. H. H. Meier, der nur kurze Zeit in der Paulskirche saß – er wurde erst Anfang April 1849 Abgeordneter, als Ersatzmann für Dröge – schloß sich dort der Gagernschen Partei an. Als Gründer der mächtigen Dampfschiffahrtsgesellschaft „Norddeutscher Lloyd“, dessen Vorsitzender er seit 1857 ununterbrochen gewesen ist, als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger hat er sich unvergängliche Verdienste erworben. Auch als Vertreter Bremens im Konstituierenden und im ersten Norddeutschen Reichstag, dann als Mitglied des Deutschen Reichstags hat er mit seinem energischen Geist stets dafür gewirkt, daß heute die deutsche Flagge auf den Meeren ebenso geehrt ist, wie sie vor fünfzig Jahren mißachtet war. Am 16. Oktober 1809 geboren, ist H. H. Meier der Nestor unter den heutigen Veteranen der Paulskirche.
Von den letzten Zehn der Erbkaiserpartei haben wir noch den Kurator der Universität Halle, W. Schrader, den Professor a. D. Backhaus in Görlitz, den preußischen Provinzialsteuerdirektor a. D. Schultze in Freiburg i. B. und den Gerichtspräsidenten a. D. Schorn in Bonn zu nennen. Wilhelm Schrader, der Sohn eines Dorfschullehrers der Provinz Sachsen, steht heute im 81. Jahre. Er war Konrektor des städtischen Gymnasiums in Brandenburg, als er daselbst in die Paulskirche gewählt ward. Wenige Jahre später wurde er zum Provinzialschulrat in Königsberg ernannt. Seine Leistungen, im besondern das Werk „Die Verfassung der höheren Schulen“, trugen ihm 1883 die Berufung zum Kurator der Universität Halle ein, in welcher Stellung er noch heute wirkt. – Professor Hermann Dietrich Backhaus, der 80jährige, stammt aus dem Fürstentum Waldeck. Er vertrat seine Heimat im Parlament als ein Mitglied des linken Centrums. 1849 bis 1851 leitete er die Verhandlungen der Ständekammer in Arolsen. Während der Reaktionszeit war er Oberlehrer an der landwirtschaftlichen Lehranstalt zu Beberbeck, dann praktischer Landwirt in Schlesien. 1872 folgte er dem Rufe als ordentlicher Professor nach Kiel, wo er 1877 auch die Vorlesungen über Volkswirtschaft an der Marineakademie übernahm. – Adolph Schultze ist zwar in Spandau geboren, wuchs aber in Schlesien auf. Nachdem er erst die Laufbahn des Richters eingeschlagen hatte, trat er 1840 in Breslau zur Verwaltung über. Als er 1848 in die Paulskirche gewählt ward, war er Oberzollinspektor zu Liebau in Schlesien. Später kam er als Rat ins Finanzministerium nach Berlin, 1865 wurde er preußischer Zollvereinsbevollmächtigter in Frankfurt a. M. und 1867 Provinzialsteuerdirektor für Hessen-Nassau in Kassel, welches Amt der jetzt 82jährige bis 1886 verwaltete. – Karl Schorn, der seine juristische Laufbahn als Landgerichtskammerpräsident zu Koblenz beschloß und heute im achtzigsten Jahr steht, gehörte zum linken Centrum. In seiner Heimat Essen wurde er als Ersatzmann Jakob Grimms gewählt, der frühzeitig aus dem Parlament austrat. Während des Kriegs von 1870/71 war er Präsident des Kriegsgerichts in Metz.
Es sind nur wenige, die als Veteranen der Paulskirche heute mit uns die Erinnerung an die Eröffnung des Parlaments feiern! Mit Wehmut werden sie dabei des morgenschönen Zukunftstraumes ihrer Mannesjugend gedenken. Aber wahrlich auch mit freudigem Stolz können sie auf ihre Teilnahme an dem ersten Deutschen Parlamente, das die deutschen Grundrechte feststellte und die Reichsverfassung vom 12. März beschloß, zurückblicken. Als eine großartige Kundgebung der Vaterlandsliebe wirkt es im Gedächtnis der Nachwelt fort, als ein begeisterndes Vorbild für jedes idealgerichtete Streben, dessen oberstes Gesetz das Wohl des Volkes ist!
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