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Die Lage Englands

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Autor: Friedrich Engels
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Titel: Die Lage Englands
Untertitel:
aus: Deutsch-Französische Jahrbücher; S. 152–181.
Herausgeber: Arnold Ruge, Karl Marx
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Entstehungsdatum: 1843/44
Erscheinungsdatum: 1844
Verlag: Bureau der Jahrbücher
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Erscheinungsort: Paris
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Quelle: Scans auf Commons
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[152]
DIE LAGE ENGLANDS.
von
FRIEDRICH ENGELS IN MANCHESTER.




Past and Present by Thomas Carlyle, London 1843.




Unter all den dicken Büchern und dünnen Brochüren, die im vergangenen Jahre zur Belustigung oder Erbauung der „gebildeten Welt“ in England erschienen sind, ist die obige Schrift die einzige, die des Lesens werth ist. Alle die bändereichen Romane mit ihren traurigen und lustigen Verwicklungen, alle die erbaulichen und beschaulichen, gelehrten und ungelehrten Commentare über die Bibel - und Romane und Erbauungsbücher sind die zwei Stapelartikel der englischen Literatur - Alles das könnt Ihr ruhig ungelesen lassen. Vielleicht findet Ihr einige geologische oder ökonomische, historische oder mathematische Bücher, die ein Körnchen Neues enthalten - aber das sind Sachen, die man studirt, aber nicht liest, das ist trockne Fachwissenschaft, dürre Herbarienwirthschaft, Pflanzen deren Wurzeln aus dem allgemeinen menschlichen Boden, aus dem sie ihre Nahrung zogen, längst losgerissen sind. Ihr mögt suchen wie Ihr wollt, Carlyle’s Buch ist das Einzige, das menschliche Saiten anschlägt, menschliche Verhältnisse darlegt, und eine Spur von menschlicher Anschauungsweise entwickelt.

Es ist merkwürdig, wie sehr die höhern Klassen der Gesellschaft, so was der Engländer „respectable people,“ „the better sort of people“ etc. nennt, in England geistig gesunken und erschlafft sind. Alle Energie, alle Thätigkeit, aller Inhalt sind dahin; der Landadel geht auf die Jagd, der Geldadel schreibt Hauptbücher, und, wenn es hoch kommt, treibt sich in einer ebenso leeren und schlaffen Literatur herum. Die politischen und religiösen Vorurtheile, erben sich von Generation zu Generation fort; man bekommt jetzt alles leicht gemacht und braucht sich gar nicht um Prinzipien mehr zu plagen, [153] wie in früheren Zeiten; sie fliegen Einem jetzt schon in der Wiege fix und fertig zu, man weiss nicht woher. Was braucht man weiter? Man hat eine gute Erziehung genossen, d. h. man ist in der Schule mit den Römern und Griechen ohne Erfolg geplagt worden, im Uebrigen ist man „respektabel,“ d. h. besitzt so und so viel Tausend Pfund, und hat sich also um weiter gar nichts zu bemühen, als um eine Frau, wenn man noch keine hat.

Und nun vollends der Popanz, den die Leute „Geist“ nennen! Wo soll in einem solchen Leben Geist herkommen, ja, wenn er käme, wo soll er ein Unterkommen finden bei ihnen? Da ist alles chinesisch festgesetzt und abgezirkelt — wehe dem, der die engen Grenzen überschreitet, wehe, dreimal wehe dem, der gegen ein altehrwürdiges Vorurtheil anstösst, neunmal wehe ihm, wenn dies Vorurtheil ein religiöses ist. Da gibt es für alle Fragen nur zwei Antworten, eine Whigantwort und eine Toryantwort; und diese Antworten sind von den weisen Oberceremonienmeistern beider Parteien längst vorgeschrieben; ihr habt gar keine Ueberlegung und Weitläufigkeiten nöthig, es ist Alles fix und fertig, Dicky Cobden oder Lord John Russell hat das gesagt und Boby Peel oder der „Herzog“ par excellence, nämlich der von Wellington, hat so gesagt, und dabei bleibts.

Ihr guten Deutschen müsst Euch alle Jahre von den liberalen Zeitungsschreibern und Volksvertretern vorsagen lassen, was die Engländer für wunderbare Leute und unabhängige Männer seien, und alles das durch ihre freien Institutionen, und das sieht sich aus der Entfernung ganz gut an. Die Debatten der Parlamentshäuser‚ die freie Presse, die stürmischen Volksversammlungen, die Wahlen, die Juries verfehlen ihren Effekt auf Michels limides Gemüth nicht, und in seiner Verwunderung nimmt er all den schönen Schein für baare Münze. Aber am Ende ist doch der Standpunkt des liberalen Zeitungsschreibers und Volksvertreters noch lang nicht hoch genug, um einen umfassenden Ueberblick zu gewähren, sei es über die Entwicklung der Menschheit oder auch nur die einer einzigen Nation. Die englische Verfassung ist ihrer Zeit ganz gut gewesen und hat manches gute gethan, ja seit 1828 hat sie angefangen, an ihrer besten That, nämlich an ihrer eignen Zerstörung zu arbeiten - aber das, was ihr der Liberale zuschreibt, das hat sie nicht gethan. Sie hat die Engländer nicht zu unabhängigen Männern gemacht. Die Engländer d. h. die gebildeten Engländer, nach denen man auf dem Continent den Nationalkarakter beurtheilt, diese Engländer sind die verächtlichsten Sklaven unter der Sonne. Nur der auf dem [154] Continent unbekannte Theil der englischen Nation, nur die Arbeiter, die Paria’s Englands, die Armen sind wirklich respektabel, trotz all ihrer Rohheit und all ihrer Demoralisation. Von ihnen geht die Rettung Englands aus, in ihnen liegt noch bildsamer Stoff; sie haben keine Bildung, aber auch keine Vorurtheile, sie haben noch Kraft aufzuwenden für eine grosse nationale That - sie haben noch eine Zukunft. Die Aristokratie - und diese schliesst heutzutage auch die Mittelklassen ein - hat sich erschöpft; was sie von Gedanken-Gehalt aufzuwenden hatte, ist bis in die letzten Konsequenzen verarbeitet und praktisch gemacht, und ihr Reich geht mit grossen Schritten seinem Ende entgegen. Die Konstitution ist ihr Werk und die nächste Folge dieses Werks war, dass es seine Urheber mit einem Netze von Institutionen umgarnte, in dem jede freie geistige Bewegung unmöglich gemacht ist. Die Herrschaft des öffentlichen Vorurtheils ist überall die erste Folge sogenannter freier politischer Institutionen, und diese Herrschaft ist in dem politisch freisten Lande Europas, in England, stärker als sonst irgendwo - Nordamerika ausgenommen, wo durch das Lynchgesetz das öffentliche Vorurtheil als Macht ist Staate gesetzlich anerkannt ist. Der Engländer kriecht vor dem öffentlichen Vorurtheil, opfert sich ihm täglich auf - und je liberaler er ist, desto demüthiger schmiegt er sich in den Staub vor diesem seinem Götzen. Das öffentliche Vorurtheil in den „gebildeten Kreisen“ ist aber entweder torystisch oder whigisch, höchstens radikal - und das selbst riecht schon nicht mehr ganz fein. Geht einmal unter gebildete Engländer, und sagt, Ihr seid Charlisten oder Demokraten - man wird an Eurem gesunden Verstande zweifeln, und Eure Gesellschaft fliehen. Oder erklärt, Ihr glaubtet nicht an die Gottheit Christi, und Ihr seid verrrathen und verkauft; gesteht vollends, das Ihr Atheisten seid, und man thut am andern Tage als kenne man Euch nicht. Und der unabhängige Engländer, wenn er, was selten genug vorkommt wirklich einmal zu denken anfängt, und die Fesseln des mit der Muttermilch eingesognen Vorurtheils abschüttelt, selbst dann hat er nicht den Muth seine Ueberzeugung frei herauszusprechen, selbst dann heuchelt er sich für die Oeffentlichkeit eine wenigstens tolerirte Meinung an und ist nur zufrieden, wenn er unter vier Augen zuweilen mit einem Gleichgesinnten gerade aus sprechen kann.

So sind die gebildeten Klassen in England allem Fortschritt verschlossen, und werden nur durch den Andrang der arbeitenden Klasse noch etwas in Bewegung gehalten. Es ist nicht zu erwarten, [155] dass das literarische tägliche Brot dieser altersschwachen Bildung anders beschaffen sei, als sie selbst. Die ganze fashionable Literatur dreht sich in einem ewigen Kreise und ist gerade so langweilig und unfruchtbar, wie die blasirte und ausgesogene fashionable Gesellschaft.

Als Strauss Leben Jesu und sein Renommee über den Kanal kam, da wagte es kein anständiger Mann, das Buch zu übersetzen; kein angesehener Buchhändler, es zu drucken. Endlich übersetzte es ein sozialistischer Lecturer (für diesen agitatorischen Kunstausdruck gibt es kein deutsches Wort) - also ein Mann in einer der unfahionabelsten Lebenstellungen von der Welt - ein unbedeutender sozialistischer Buchdrucker druckte es in Heften, jedes zu einem Penny, und die Arbeiter von Manchester, Birmingham und London bildeten das einzige Publikum für Strauss in England.

Wenn übrigens von den beiden Parteien, in die sich der gebildete Theil der Engländer spaltet, Eine einen Vorzug verdient, so sind dies die Tories. Der Whig ist bei der sozialen Lage Englands zu sehr selbst Partei, um ein Urtheil haben zu können; die Industrie, dieses Centrum der englischen Gesellschaft, ist in seinen Händen und bereichert ihn; er findet sie tadellos und hält ihre Ausdehnung für den einzigen Zweck aller Gesetzgebung, denn sie hat ihm seinen Reichthum und seine Macht gegeben. Der Tory dagegen, dessen Macht und Alleinherrschaft durch die Industrie gebrochen worden ist, dessen Prinzipien durch sie erschüttert worden sind, hasst sie und sieht in ihr höchstens ein nothwendiges Uebel. Daher bildete sich jene Sektion philanthropischer Tories, deren Hauptführer Lord Ashley, Ferrand, Walter, Oastler etc. sind, und die sich die Vertretung der Fabrikarbeiter gegen die Fabrikanten zur Pflicht gemacht haben. Auch Thomas Carlyle ist ursprünglich ein Tory, und steht dieser Partei noch immer näher als den Whigs. Soviel ist gewiss, ein Whig hätte nie ein Buch schreiben können, das halb so menschlich wäre wie „Past and Present.“

Thomas Carlyle ist in Deutschland durch seine Bemühungen, den Engländern die deutsche Literatur zugänglich zu machen, bekannt geworden. Seit mehreren Jahren beschäftigt er sich hauptsächlich mit der sozialen Lage Englands, - er der einzige der Gebildeten seines Landes, der das thut! - und schrieb schon 1838 ein kleineres Werk: Chartism. Damals waren die Whigs im Ministerium, und proklamirten mit vielem Pomp, dass das gegen 1835 entstandene „Gespenst“ des Chartismus vernichtet sei. Der Chartismus war die natürliche Fortsetzung [156] des alten Radikalismus, der durch die Reformbill für einige Jahre beschwichtigt und seit 1835/36 mit neuer Kraft und in gechlossenern Massen als je vorher wieder aufgetreten war. Diesen Chartismus glaubten die Whigs unterdrückt zu haben, und Thomas Carlyle nahm davon Veranlassung, die wirklichen Ursachen des Chartismus, und die Unmöglichkeit ihn zu vertilgen, ehe diese Ursachen vertilgt seien, zu entwickeln. Der Standpunkt dieses Buchs ist zwar im Ganzen derselbe wie in „Past and Present“, aber mit etwas stärkerer torystischer Färbung, die indess vielleicht bloss in dem Umstand begründet ist, dass die Whigs als herrschende Partei der Kritik am nächsten lagen. Jedenfalls enthält „Past and Present“ alles, was in dem kleineren Buche steht, klarer, entwickelter und mit ausdrücklicher Bezeichnung der Konsequenzen, und überhebt uns also der Kritik des Chartismus.

„Past und Present“ ist eine Parallele zwischen dem England des zwölften und dem des neunzehnten Jahrhunderts, und besteht aus vier Abtheilungen, überschrieben: Proömium ; der Mönch der Vorzeit; der Arbeiter der Neuzeit; Horoskop. - Gehen wir der Reihe nach durch diese Abtheilungen; ich kann der Versuchung, die schönsten der oft wunderbar schönen Stellen des Buchs zu übersetzen, nicht widerstehen - Die Kritik wird schon für sich selbst sorgen.

Das erste Kapitel des Proömiums heisst: „Midas.“

„Die Lage Englands - - gilt mit Recht für eine der drohendsten und überhaupt fremdartigsten, die je in der Welt gesehen wurden. England ist voller Reichthum aller Art, und doch stirbt England vor Hunger. Mit ewig gleicher Fülle grünt und blüht der Boden Engands, wogend mit goldenen Aernten, dicht besetzt mit Werkstätten, mit Handwerkszeug aller Art, mit fünfzehn Millionen Arbeitern, die die stärksten, klügsten und willigsten sein sollen, die unsere Erde je besass; diese Männer sind hier; die Arbeit, die sie gethan, die Frucht, die sie geschaffen haben, ist hier im Ueberfluss, überall in üppigster Fülle - und siehe, welch unselig Gebot, wie eines Zauberers, ist ausgegangen und sagt: Rührt es nicht an, ihr Arbeiter, ihr arbeitenden Herren, ihr müssigen Herren; Euer keiner soll es anrühren‚ Euer keiner soll es geniessen - dies ist bezauberte Frucht!“

Auf die Arbeiter fällt dies Gebot zuerst. 1842 zählte England und Wales 1,430,000 Paupers, von denen 222,000 in Arbeitshäusern - Armengesetz-Bastillen nennt sie das Volk - eingesperrt sitzen. - [157] Dank der Humanität der Whigs! - Schottland hat kein Armengesetz, aber Arme in Masse. - Irland, beiläufig, kann sich der ungeheuren Zahl von 2,300,000 Paupers rühmen.

„Vor den Assisen zu Stockport (Cheshire) wurden eine Mutter und ein Vater angeklagt und schuldig befunden der Vergiftung dreier ihrer Kinder, um dadurch einen Begräbnissclub um drei Pfund acht Schillinge, zahlbar beim Tode jedes Kindes, zu betrügen, und die amtlichen Autoritäten, sagt man, deuten an, dass der Fall nicht der einzige ist, dass es vielleicht besser sei, dies nicht genauer zu untersuchen. - - Solche Beispiele sind gleich dem höchsten Berggipfel, der am Horizont emportaucht - drunter liegt eine ganze Berggegend und noch nicht aufgetauchtes Land. - Eine menschliche Mutter, ein menschlicher Vater sagen untereinander: Was sollen wir thun, um dem Hungertode zu entgehen? Wir sind tief gesunken, hier in unserm dunkeln Keller, und Hülfe ist fern. - O, in Ugolino’s Hungerthurm geschehen ernste Dinge, der vielgeliebte kleine Godda ist todt hingefallen an des Vaters Knieen! - Die Stockporter Eltern denken und sagen: Unser armer kleiner hungriger Tom, der den ganzen Tag nach Brod schreit, der nur Uebles und nichts Gutes in dieser Welt sehen wird - wenn er mit einem Male aus der Noth käme - und wir andern vielleicht erhalten würden? Es ist gedacht, gesagt, zuletzt gethan. Und nun Tom todt ist und alles ausgegeben und verzehrt, kommt jetzt der arme kleine hungrige Jack an die Reihe, oder der arme kleine hungrige Will? - O was für eine Ueberlegung der Wege und Mittel, das! - In belagerten Städten, in dem äussersten Ruin des unter dem Zorn Gottes gefall’nen Jerusalems, war geweissagt worden: die Hände der elenden Weiber haben ihre eigenen Kinder sich zur Speise bereitet. Die düstre Phantasie des Hebräers konnte keinen schwärzern Schlund des Elends sich vorstellen, das war das letzte des entwürdigten, gottverfluchten Menschen - und wir hier, im modernen England, in der Fülle des Reichthums - kommen wir dahin? Wie geht das zu? Woher kommt das, weshalb muss dem so sein?

Dies geschah 1841. Ich mag hinzufügen, dass vor fünf Monaten in Liverpool Betty Eules aus Bolton gehangen wurde, die drei eigene und zwei Stiefkinder aus derselben Veranlassung vergiftet hatte.

So viel Dir die Armen. Wie sieht’s mit den Reichen aus?

„Diese erfolgreiche Industrie mit ihrem strotzenden Reichthum hat bis jetzt noch Niemand reich gemacht, es ist behexter Reichthum und gehört Niemandem. Wir können Tausende ausgeben, wo [158] wir sonst Hunderte anlegten - aber wir können nichts Brauchbares dafür kaufen. - Mancher isst feinere Leckereien, trinkt theurere Weine, — aber was für ein grösserer Segen ist da? Sind sie schöner, besser, stärker, braver? Sind sie nur, was sie „glücklicher“ nennen?“

Der arbeitende Herr ist nicht glücklicher, der faulenzende Herr, d. h, der adlige Grundbesitzer, ist nicht glücklicher - „für wen denn ist dieser Reichthum, Englands Reichthum? Wen segnet er, wen macht er glücklicher, schöner, weiser, besser? Bis jetzt Niemand. Unsre erfolgreiche Industrie hat bis jetzt keinen Erfolg; in der Mitte üppiger Fülle verhungert das Volk; zwischen goldenen Mauern und vollen Scheunen fühlt sich Keiner sicher und zufrieden. - Midas schmachtete nach Gold, und beschimpfte den Olymp. Er bekam Gold, so dass Alles was er berührte, Gold werde - und das half ihm mit seinen langen Ohren wenig. Midas hatte die himmlische Musik missbeurtheilt. Midas hatte Apollon und die Götter beschimpft, und die Götter bewilligten ihm seinen Wunsch und ein Paar lange Ohren dazu, auch ein gutes Anhängsel, - welch eine Wahrheit in diesen alten Fabeln!“

„Wie wahr,“ fährt er im zweiten Kapitel fort, ist die andre alte Fabel von der Sphynx: „Die Natur ist die Sphynx, eine Göttin, aber noch nicht ganz befreit, noch halb in der Thierheit, der Geistlosigkeit steckend - Ordnung, Weisheit auf der einen Seite, aber auch Dunkelheit, Wildheit, Schicksalsnothwendigkeit. Die Sphynx-Natur - deutscher Mystizismus, sagen die Engländer, wenn sie dies Kapitel lesen - hat für jeden Menschen und jede Zeit eine Frage - glücklich der, der sie richtig beantwortet; wer sie nicht oder falsch beantwortet, fällt dem thierisch-wilden Theil der Sphinx anheim, statt der schönen Braut findet er eine reissende Löwin. Und so ist es mit Nationen auch: könnt Ihr das Räthsel des Schiksals lösen? Und alle unglücklichen Völker, wie alle unglücklichen Individuen haben die Frage falsch beantwortet, den Schein für die Wahrheit genommen, die ewigen inneren Thatsachen des Universums für die äusserlichen vergänglichen Erscheinungsformen fahren lassen; und das hat England auch gethan. England ist, wie er sich später ausdrückt, dem Atheismus anheimgefallen, und seine jetzige Lage ist die nothwendige Folge davon. Wir werden später davon zu sprechen haben, einstweilen ist bloss zu bemerken, dass Carlyle das Gleichniss der Sphynx, wenn es in dem obigen pantheistisch-altschelling’schen Sinn zugelassen werden soll, noch etwas weiter hätte ausführen [159] können, - die Lösung des Räthels ist heute, wie in der Sage, der Mensch, und zwar die Lösung im allerweitesten Sinne. Auch das wird seine Erledigung finden.“

Das nächste Kapitel gibt uns die folgende Schilderung der Manchester-Insurrektion vom August 1812:

„Eine Million hungriger Arbeiter standen auf, kamen alle heraus auf die Strasse, und - standen da. Was sonst sollten sie thun? Ihre Unbilden und Klagen waren bitter, unerträglich, ihre Wuth dagegen war gerecht; aber wer verursacht diese Klagen, wer will abhelfen? Unsre Feinde sind, wir wissen nicht wer oder was; unsre Freunde sind, wir wissen nicht, wo? Wie sollen wir jemand angreifen, jemand erschiessen oder uns von jemand erschiessen lassen? O, wenn dieser verfluchte Nachtalp, der unsichtbar unser und der Unsrigen Leben auspresst, nur eine Gestalt annehmen, uns als syrkanischer Tiger, als Behemoth des Chaos, als der Erzfeind selbst entgegen treten wollte! in irgend einer Gestalt die wir sehen, der wir ihn fassen könnten!“

Das war aber eben das Unglück der Arbeiter in der Sommerinsurrektion von 1812, dass sie nicht wussten, gegen wen sie kämpfen sollten. Ihr Uebel war ein sociales - und sociale Uebel lassen sich nicht abschaffen, wie man das Königthum oder die Privilegien abschafft. Sociale Uebel lassen sich nicht durch Volkscharten kuriren, und das fühlte das Volk - sonst wäre die Volkscharte heute das Grundgesetz von England. Sociale Uebel wollen studirt und erkannt sein, und das hat die Masse der Arbeiter bis jetzt noch nicht gethan. Die grosse Frucht des Aufstandes war, dass die Lebensfrage Englands, die Frage nach dem definitiven Loos der arbeitenden Klasse, wie Carlyle sagt, auf eine für jedes denkende Ohr in England hörbare Weise gestellt wurde. Die Frage kann jetzt nicht mehr umgangen werden, England muss sie beantworten oder untergehen.

Uebergehen wir die Schlusskapitel dieses Abschnitts, übergehen wir einstweilen auch den ganzen Folgenden, und nehmen wir gleich den dritten Abschnitt, der von dem „Arbeiter der Neuzeit“ handelt, um eine Schilderung der Lage Englands, wie sie ins Proömium angefangen wurde, ganz beisammen zu haben.

Wir haben, fährt Carlyle fort, die Religiosität des Mittelalters weggeworfen, und Nichts dafür bekommen; wir haben „Gott vergessen, wir haben unsre Augen verschlossen für die ewige Wesenheit der Dinge, und sie nur offen gehalten für den betrügerischen Schein der Dinge; wir beruhigen uns dabei, dass dies Universum [160] innerlich ein grosses unbegreifliches vielleicht ist, und äusserlich augenscheinlich ein grosser Viehstand und ein Arbeitshaus, mit bedeutenden Küchengebäuden und Esstischen, wo, wer weise ist, einen Platz findet; alle Wahrheit dieses Universums ist ungewiss, nur der Gewinn und Verlust, nur das Magenfutter und der Beifall sind und bleiben dem praktischen Menschen einleuchtend. – Kein Gott existirt mehr für uns; Gottes Gesetze sind ein „Prinzip der grösstmöglichen Glückseligkeit,“ ein Parlamentskniff geworden; der Himmel ist eine astronomische Uhr, ein Jagdterrain für Herschel’sche Teleskope geworden, wo man auf wissenschaftliche Resultate und Sentimentalitäten jagt; in unsrer und des alten Ben Jonsons Sprache: der Mensch hat seine Seele verloren und fängt jetzt an ihren Mangel zu merken. Das ist in Wahrheit der wunde Fleck, das Centrum des allgemeinen socialen Krebsgeschwürs. – Es gibt keine Religion, es gibt keinen Gott, der Mensch hat seine Seele verloren und sucht umsonst nach einem Salz gegen die Verfaulung. Umsonst in der Hinrichtung von Königen, in französischen Revolutionen, in Reformbills, in Manchester Insurrektionen, in alle dem ist kein Heilmittel. Der faule Aussatz, für eine Stunde erleichtert, kommt in der nächsten stärker und verzweifelter wieder.“ –

Da aber die Stelle der alten Religion nicht ganz unbesetzt bleiben konnte, so haben wir ein neues Evangelium an ihrer Statt bekommen, ein Evangelium, das der Hohlheit und Inhaltslosigkeit des Zeitalters entspricht – das Evangelium des Mammon. Der christliche Himmel und die christliche Hölle sind, jener als zweifelhaft, diese als unsinnig aufgegeben – und ihr habt eine neue Hölle bekommen; die Hölle des modernen Englands ist das Bewusstsein, „nicht voranzukommen, kein Geld zu verdienen!“ – Wahrlich, mit unserm Mammonsevangelium sind wir zu sonderbaren Folgerungen gekommen! Wir nennen es Gesellschaft, und doch richten wir überall die totalste Trennung und Isolirung ein. Unser Leben ist nicht gegenseitige Unterstützung, sondern gegenseitige Feindseligkeit, unter gewissen Kriegsgesetzen, „vernünftige Konkurrenz,“ und so weiter. Wir haben durchaus vergessen, dass baare Zahlung nicht das einzige Band zwischen Mensch und Mensch ist. „Meine hungernden Arbeiter?“ sagt der reiche Fabrikant. „Hab ich sie nicht, wie recht und billig, im Markt gemiethet? Hab ich ihnen nicht meine vertragsmässige Schuldigkeit bei Heller und Pfennig bezahlt? Was hab ich sonst noch mit ihnen zu schaffen? Wahrlich, Mammonskultus ist ein trauriger Glaube!“ –

[161] „Eine arme irische Wittwe in Edinburg bat um Hülfe einer wohlthätigen Anstalt für sich und ihre drei Kinder. An allen Anstalten wurde sie abgewiesen; Kraft und Muth versagten ihr; sie sank nieder im Typhusfieber, starb, und inficirte ihre ganze Gasse mit der Krankheit, so dass siebenzehn andere, in Folge dessen starben. Der menschliche Arzt, der diese Geschichte erzählt - Dr. W. P. Alison - fragt dabei: würde es nicht ökonomischer gewesen sein, dieser Frau zu helfen? Sie bekam das Fieber und tödtete Eurer siebenzehn! - Sehr sonderbar. Die verlassene irische Wittwe wendet sich an ihre Mitgeschöpfe: seht, ich komme hülflos um, Ihr müsst mir helfen, ich bin Eure Schwester; Bein von Eurem Bein, Ein Gott schuf uns! Sie aber antworten: Nein, unmöglich; du bist unsere Schwester nicht. Aber sie beweist ihre Schwesterschaft; ihr Fieber tödtet sie; sie waren ihre Brüder, obwohl sie es läugneten. Wann musste man diesen Beweis noch niedriger suchen?“

Carlyle, beiläufig gesagt, ist hier im Irrthum; eben so wie Alison. Die Reichen haben kein Mitleiden, kein Interesse für den Tod der „Siebenzehn.“ Ist es nicht ein öffentliches Glück, dass die „überzählige Bevölkerung“ um siebenzehn vermindert wird? Wenn es nur ein paar Millionen wären, anstatt lumpiger „siebenzehn,“ so wäre das um so viel besser. - Das ist das Raisonnement der englischen reichen Malthusianer.

Und dann das andre, noch schlimmere Evangelium des Dilettantismus, das eine Regierung geschaffen hat, die nichts thut, das den Menschen allen Ernst genommen hat, und sie treibt, das scheinen zu wollen, was sie nicht sind - das Streben nach „Glückseligkeit,“ d. h. nach gutem Essen und Trinken, das die krasse Materie auf den Thron erhoben und allen geistigen Inhalt zerstört hat; was soll bei allem dem herauskommen?

Und was sollen wir sagen zu einer Regierung, wie die unsrige, die ihren Arbeitern eine Anklage der „Ueberproduktion“ entgegenhält? Ueberproduktion, ist das nicht der Punkt? Ihr verschiedenen fabrizirenden Individuen, Ihr habt zu viel produzirt! Unsere Anklage ist, dass Ihr mehr als zweihunderttausend Hemden für die Blösse der Menschheit gemacht habt. Auch die Beinkleider die Ihr verfertigtet, von Baumwollensammet, Kasimir, schottisch Plaid, von Nanking und wollen Tuch, sind sie nicht mannigfaltig? Hüte und Schuhe, Stühle zum Sitzen und Löffel zum Essen - ja, und goldene Uhren produzirt Ihr, Juwelensachen, silberne Gabeln, Kommoden, Chiffonnièren und gepolsterte Sophas - o Himmel, [162] alle Commercial Bazars und Howel and James’s können eure Produkte nicht bergen; Ihr habt produzirt, produzirt, produzirt - wer Euch anklagen will, möge nur um sich sehen; Millionen Hemden und leere Beinkleider hangen da zum Zeugniss wider Euch. Wir klagen Euch der Ueberproduktion an; Ihr seid schuldig des schweren Verbrechens, Hemden, Hosen, Hüte und Schuhe und so weiter in schaudererregendem Ueberfluss produzirt zu haben. Und jetzt ist eine Stockung in Folge dessen, und Eure Arbeiter müssen verhungern.“

„My Lords und Gentlemen, wes klagen Sie jene armen Arbeiter an? Sie, My Lords und Gentlemen, waren ernannt dafür zu sorgen, dass keine Stockungen einträten; Sie hatten darauf zu sehen, dass die Vertheilung des Lohns für die gethane Arbeit ordentlich vor sich gehe, dass kein Arbeiter ohne seinen Lohn, sei es in Geldmünzen, sei es in hanfnen Galgenstricken, bliebe; das war Ihr Amt von undenklicher Zeit her. Diese armen Spinner haben viel vergessen, was nach dem innern ungeschriebenen Gesetz ihrer Stellung sie hätten bedenken sollen - aber welch geschrieben Gesetz ihrer Stellung haben sie vergessen? Sie waren angestellt, Hemden zu machen. Die Gemeinde befahl ihnen: macht Hemden - und hier sind die Hemden. Zu viel Hemden? Wahrlich, das ist neu, auf dieser verrückten Welt, mit ihren neun hundert Millionen nackter Leiber! Aber, My Lords und Gentlemen, ihnen befahl die Gemeinde: seht zu, dass diese Hemden wohl vertheilt werden - und wo ist die Vertheilung? Zwei Millionen hemdloser oder schlechtbehemdeter Arbeiter sitzen in Armengesetz-Bastillen, fünf Millionen andere in Ugolino’schen Hungerkellern; und dem abzuhelfen, sagen Sie: steigert unsre Renten! Sie sagen triumphirend: Ihr wollt Anklagen zusammenflicken, Ihr wollt uns Ueberproduktion vorwerfen? Wir nehmen Himmel und Erde zu Zeugen, dass wir gar Nichts produzirt haben. In den weiten Reichen der Schöpfung, ist kein Hemd, das wir gemacht hätten. Wir sind unschuldig an der Produktion; im Gegentheil, Ihr Undankbaren, was für Berge von Dingen haben wir nicht zu „consumiren“ gehabt! Sind diese Berge nicht verschwunden vor uns, als ob wir Straussenmägen hätten und eine Art göttlicher Fähigkeit des Verzehrens? Ihr Undankbaren; seid Ihr nicht gewachsen unter dem Schatten unsrer Flügel? Eure schmutzigen Fabriken, stehen sie nicht auf unserm Grund und Boden? Und wir sollen Euch unser Korn nicht zu dem Preise verkaufen können, der uns gefällt? Was, denkt Ihr, würde aus Euch [163] werden, wenn wir, die Besitzer des Bodens von England, beschlössen, gar kein Korn mehr wachsen zulassen?“

Diese Anschauungsweise der Aristokratie, diese barbarische Frage: was würde aus Euch werden, wenn wir nicht so gnädig wären, Korn wachsen zu lassen, hat die „wahnsinnigen und erbärmlichen Korngesetze“ produzirt; die Korngesetze, die so wahnsinnig sind, dass man gar keine Argumente gegen sie vorbringen kann, als solche, „die einen Engel im Himmel und auch einen Esel auf Erden zum Weinen bringen müssen.“ Die Korngesetze beweisen, dass die Aristokratie noch nicht gelernt hat, kein Unheil anzurichten, still zu sitzen, gar Nichts zu thun, geschweige denn, etwas Gutes zu thun, und doch wäre dies nach Carlyle ihre Pflicht; „sie ist durch ihre Stellung, verpflichtet, England zu leiten und zu regieren, und jeder Arbeiter im Arbeitshause hat das Recht, sie vor allem Andern zu fragen: Warum bin ich hier? Seine Frage wird gehört im Himmel, und wird sich auch hörbar machen auf Erden, wenn sie nicht beachtet wird. Seine Anklage ist gegen Sie, My Lords und Gentlemen; Sie stehen in der ersten Reihe der Angeklagten, Sie, kraft der Stellung, die Sie einnehmen, haben ihm zuerst zu antworten! - Das Schicksal der faulenzenden Aristokratie, wie ihr Horoskop in Korngesetzen u.s.w. zu lesen ist, ist ein Abgrund, der Einen mit Verzweiflung füllt! Ja meine rosigen fuchsjagenden Brüder, durch eure frischen, schmucken Gesichter, durch eure Korngesetz-Majoritäten, sliding-scales, Schutzzölle, Bestechungswahlen und kentische Triumpffeuer entdeckt ein denkendes Auge schauerliche Bilder des Sturzes, zu schauerlich für Worte, eine Mene Mene Handschrift - guter Gott, erklärte nicht eine französische nichtsthuende Aristokratie, kaum ein halb Jahrhundert verfloss seitdem, ebenso: wir können nicht existiren; nicht fortfahren uns standesmässig zu kleiden und zu paradiren; der Grundzins unserer Besitzungen reicht nicht aus, wir müssen mehr haben, als das, wir müssen von Steuern eximiert sein und ein Korngesetz haben, um unsern Grundzins zu steigern. Das war 1789, vier Jahre weiter - habt Ihr von der Gerberei zu Meudon gehört, wo die Nakten sich Hosen von Menschenhaut machten? Möge der barmherzige Himmel das Omen abwenden; mögen wir weiser sein, damit wir weniger elend werden!“

Und die arbeitende Aristokratie verfängt sich in den Vogelnetzen der faulenzenden Aristokratie, und kommt mit ihrem „Mammonismus“ zuletzt auch in eine schlimme Lage; „die Leute auf dem [164] Kontinent scheint es, exportiren unsre Maschinerie, spinnen Baumwolle und fabriziren für sich selbst, treiben uns aus diesem Markt und dann aus dem. Traurige Nachrichten, aber lange noch nicht die traurigsten. Das Traurigste ist, dass wir unsre nationale Existenz, wie ich habe sagen hören, abhängig sehen sollten von unsrer Fähigkeit, Baumwollenstoffe, einen Heller die Elle wohlfeiler zu verkaufen als alle andere Völker. Ein sehr schmaler Stand für eine grosse Nation, das! Ein Stand, den wir, wie mir scheint, trotz aller möglichen Korngesetzabschaffungen, auf die Dauer nicht werden erhalten können. - Keine grosse Nation kann auf einer solchen Pyramidenspitze stehen, sich höher und höher schraubend, auf der grossen Zehe balancirend. Kurz, dies Mammonsevangelium, mit seiner Hölle des Nichtsverdienens, Nachfrage und Zufuhr, Konkurrenz, Handelsfreiheit, laissez faire und der Teufel hol’ das Uebrige, fängt allmählich an das erbärmlichste Evangelium zu werden, das je auf der Erde gepredigt wurde. - Ja, wenn die Korngesetze morgen aufgehoben wären, so ist damit noch nichts am Ende, es ist bloss Raum gemacht, um Dinge aller Art anzufangen. Die Korngesetze fort, den Handel frei gemacht, so ist es gewiss, dass die jetzige Lähmung der Industrie verschwinden wird. Wir werden wieder eine Periode der Handelsunternehmungen, des Sieges und der Blüte haben, das würgende Band der Hungersnoth um unsern Nacken wird loser werden, wir werden Raum zum athmen und Zeit zum besinnen und bereuen haben - eine dreimal kostbare Zeit, um, wie für unser Leben, für die Reform unsrer bösen Wege zu kämpfen, unser Volk zu erleichtern, zu unterrichten, zu regeln; ihm etwas geistige Nahrung, etwas wirkliche Leitung und Regierung, zuzuwenden - es wird eine unbezahlbare Zeit sein! Denn unsre neue Periode der Blüte wird und muss auf die alte Methode von „Konkurrenz und der Teufel hol’ das Uebrige zuletzt sich doch wieder nur als ein Paroxysmus erweisen, und wahrscheinlich als unser letzter. Denn verdoppelt sich in zwanzig Jahren unsre Industrie, so ist auch unsre Bevölkerung in zwanzig Jahren verdoppelt; wir werden so weit sein, wie wir waren, nur unser doppelt so viele, und doppelt, ja zehnmal so unbändig. - Wehe, in was für Gegenden sind wir auf dieser unsrer Wanderung durch die Weile der Zeiten gerathen, wo die Menschen umherwandeln, wie gaivanisirte Leichen, mit gedankenlosen, stieren Augen, ohne Seele, nur mit einer biebermässigen Industriefähigkeit und einem Magen zur Verdauung! Die abgemagerte Verzweigung der Baumwollfabriken, Kohlenbergwerke und Chandos’schen Ackerbautaglöhner in diesen [165] Tagen ist schmerzlich anzuschauen, aber lange nicht so schmerzlich dem Denkenden, als diese brutale gottvergessene Gewinn- und Verlustphilosophie und Lebensweisheit, die wir überall ausschreien hören, in Senatssitzungen, Disputirclubs, leitenden Artikeln, von Kanzeln und Rednerbühnen herab, als das Ultimatevangelium und ehrliche Englisch des menschlichen Lebens!“

„Ich habe die Kühnheit, zu glauben, dass zu keiner Zeit, seit den Anfängen der Gesellschaft, das Loos der stummen, abgearbeiteten Millionen so durchaus unerträglich gewesen ist, wie jetzt. Nicht der Tod, oder selbst der Hungertod, macht den Menschen elend; wir Alle müssen sterben, unser Aller letzter Ausgang ist in einem Feuerwagen des Schmerzes; aber elend zu sein und nicht zu wissen, warum, sich siech zu arbeiten für Nichts und wieder Nichts, abgearbeiteten und müden Herzens, und doch isolirt, verwaist zu sein, eingegürtet von einem kalten, universellen Laissez-faire, langsam zu sterben all’ unser Leben lang, eingemauert in eine taube, todte unendliche Ungerechtigkeit, wie in den verfluchten Bauch eines Phalarisstiers - das ist und bleibt für ewig unerträglich für alle gottgeschaffenen Menschen. Und wir wundern uns über eine französische Revolution, eine „grosse Woche,“ einen englischen Chartismus? Die Zeiten, wenn wir’s recht bedenken, sind wahrlich beispiellos.“

Wenn in solchen beispiellosen Zeiten die Aristokratie sich zur Lenkung des allgemeinen Wesens unfähig erweist, so ist es eine Nothwendigkeit, sie auszustossen. Daher die Demokratie. „Zu welcher Ausdehnung die Demokratie jetzt schon gelangt ist, wie sie mit ominöser, stets wachsender Eile voran schreitet, kann Jeder sehen, der seine Augen für irgend ein Gebiet der menschlichen Verhältnisse öffnen will. Von dem Donner napoleonischer Schlachten bis zum Geplärre um eine offene Gemeindeversammlung in St. Mary Axe verkündigt Alles Demokratie.“ Aber was ist Demokratie am Ende? Nichts als der Mangel an Herren, die Euch regieren könnten, und die Ergebung in diesen unvermeidlichen Mangel, der Versuch, ohne sie fertig zu werden. - Niemand unterdrückt Dich, Du freier und unabhängiger Wähler, aber unterdrückt Dich nicht dieser stupide Portertopf? Kein Adamssohn befiehlt Dir zu kommen oder zu gehen - aber dieser absurde Topf, schweres Nass (Heavy-wet) der kann und thut es! Du bist der Leibeigne nicht Cedriks des Sachsen, aber Deiner eignen thierischen Lüste, und Du sprichst von Freiheit? Du totaler Dummkopf! - - Die Vorstellung, dass Jemandes [166] Freiheit darin besteht, seine Stimme bei der Wahl zu geben und zu sagen: siehe, ich auch habe jetzt mein Zwanzigtausendstel eines Sprechers in unserer Nationalschwatzanstalt, werden mir nicht alle Götter günstig sein?“ - Diese Vorstellung ist eine der spasshaftesten in der Welt. Vollends die Freiheit, die dadurch erkauft wird, dass Ihr Euch gegenseitig isolirt, nichts mit einander zu thun habt, ausser durch baar Geld und Hauptbücher, diese Freiheit wird zuletzt sich als die Freiheit des Verhungerns für die arbeitenden Millionen zeigen, als die Freiheit des Verfaulens für die faulen, nichtsthuenden Tausende und Einheiten; Brüder, nach Jahrhunderten konstitutioneller Regierung wissen wir noch wenig, was Freiheit ist und was Sklaverei ist. Aber die Demokratie wird ihren freien Lauf haben, die arbeitenden Millionen, in ihrem Lebensbedürfniss, in ihrem instinktmässigen leidenschaftlichen Verlangen nach Leitung, werden die falsche Leitung wegwerfen, und für einen Augenblick hoffen, dass Nichtleitung ihnen genügen wird; aber nur für einen Augenblick. Die Unterdrückung durch Eure falschen Oberen mögt Ihr wegwerfen; ich tadle Euch nicht, ich bedaure und ermahne Euch blos; aber das gethan und das grosse Problem bleibt noch ungelöst; das Problem, Leitung durch Eure wahren Oberen zu finden.

„Die Leitung, wie sie jetzt besteht, ist freilich erbärmlich genug.“ Bei dem neulichen Bestechungscomite des Parlaments schien es die Meinung der gesundesten praktischen Köpfe zu sein, dass Bestechung nicht zu vernichten sei, und dass wir gut oder übel ohne reine Wahlen uns durchzuschlagen suchen müssten. - - Ein Parlament, das sich als gewählt und wählbar durch Bestechung proklamirt, was für Gesetzgebung kann davon kommen! Bestechung bedeutet nicht nur Käuflichkeit, sondern Unehrlichkeit, unverschämte Betrügerei; eherne Gefühllosigkeit gegen Lüge und Anstiftung von Lügen. Seid doch ehrlich, eröffnet im Downing-Street ein Wahlbureau, mit einem Städtetarif: so viel Bevölkerung bezahlt so viel Einkommensteuer, Werth der Häuser so viel, wählt zwei Abgeordnete, wählt einen Abgeordneten, zu haben für so viel baar Geld: Ipswich so viel tausend Pfund, Nottingham so viel, - da habt Ihrs doch hübsch ehrlich durch Kauf, ohne die Unehrlichkeit, ohne die Schamlosigkeit, ohne die Lüge! - - Unser Parlament erklärt sich für gewählt und wählbar durch Bestechung. Was soll aus einem solchen Parlament werden? Wo nicht Belial und Beelzebub dies Weltall regieren, so bereitet sich solch’ ein Parlament für neue Reformbills. Wir wollen lieber den Chartismus oder jedes andere System versuchen, als [167] damit zufrieden sein! Ein Parlament, das mit einer Lüge auf der Zunge beginnt, wird sich selbst auf die Seite schaffen müssen. Taglich und stündlich rückt irgend ein Charlist, irgendein bewaffneter Cromwell heran, um solch einem Parlament anzuzeigen: „Ihr seid kein Parlament. Im Namen des Allerhöchsten - packt Euch!“

Das ist die Lage Englands nach Carlyle. Eine faulenzende, grundbesitzende Aristokratie, die „noch nicht einmal gelernt hat, still zu sitzen und wenigstens kein Unheil anzustiften,“ eine arbeitende Aristokratie, die im Mammonismus versunken ist, die, wo sie eine Versammlung von Leitern der Arbeit, von „Industriefeldherren“ sein sollte, nur ein Haufe von industriellen Bucaniers und Piraten ist, ein durch Bestechung gewähltes Parlament, eine Lebensphilosophie des blosen Zusehens, des Nichtsthuns, des Laissez-faire, eine ausgeschlissene bröcklige Religion, eine totale Auflösung aller allgemein menschlichen Interessen, eine universelle Verzweiflung an der Wahrheit und der Menschheit, und in Folge dessen eine universelle Isolirung der Menschen auf ihre rohe Einzelnheit, eine chaotische, wüste Verwirrung aller Lebensverhältnisse, ein Krieg Aller gegen Alle, ein allgemeiner geistiger Tod, Mangel an „Seele,“ d. h. an wahrhaft menschlichem Bewusstsein: eine unverhältnissmässig starke arbeitende Klasse, in unerträglichem Druck und Elend, in wilder Unzufriedenheit und Rebellion gegen die alte soziale Ordnung, und daher eine drohende, unaufhaltsam voranrückende Demokratie - überall Chaos, Unordnung, Anarchie, Auflösung der alten Bande der Gesellschaft, überall geistige Leere, Gedankenlosigkeit und Erschlaffung. - Das ist die Lage Englands. So weit werden wir, wenn wir einige Ausdrücke, die durch Carlyle’s partikularen Standpunkt hereingekommen sind, abrechnen - ihm vollkommen Recht geben müssen. Er, der Einzige der „respektabeln“ Klasse, hat seine Augen wenigstens für die Thatsachen offen gehalten, er hat wenigstens die unmittelbare Gegenwart richtig aufgefasst, und das ist wahrlich für einen „gebildeten“ Engländer unendlich viel.

Wie sieht es mit der Zukunft aus? So wie jetzt bleibt es nicht und kann es nicht bleiben. Wir haben gesehen, Carlyle hat, wie er selbst gesteht, keine „Morrisonspille,“ kein Universalmittel für die Heilung der sozialen Uebel. Auch darin hat er Recht. Alle Sozialphilosophie, so lange sie noch ein paar Sätze als ihr Endresultat aufstellt, so lange sie noch Morrisonspillen eingibt, ist noch sehr unvollkommen; [168] es sind nicht die nackten Resultate, die wir so sehr bedürfen, als vielmehr das Studium; die Resultate sind nichts ohne die Entwicklung, die zu ihnen geführt hat, das wissen wir schon seit Hegel, und die Resultate sind schlimmer als nutzlos, wenn sie für sich fixirt, wenn sie nicht wieder zu Prämissen für die fernere Entwicklung gemacht werden. Aber die Resultate müssen auch temporär eine bestimmte Form annehmen, müssen durch die Entwicklung aus der vagen Unbestimmtheit zu klaren Gedanken sich gestalten, und können dann allerdings bei einer so rein empirischen Nation, wie die Engländer sind, die „Morrisonspillen“-Form nicht vermeiden. Carlyle selbst, obwohl er viel Deutsches in sich aufgenommen hat und der krassen Empirie ziemlich fern steht, würde wahrscheinlich einige Pillen bei der Hand haben, wenn er weniger unbestimmt und unklar über die Zukunft wäre.

Einstweilen erklärt er, dass alles unnütz und fruchtlos sei, so lange die Menschheit im Atheismus beharre, so lange sie ihre „Seele“ sich noch nicht wieder verschafft habe. Nicht dass der alte Katholizismus in seiner Energie und Lebenskraft wiederherzustellen oder nur die jetzige Religion aufrecht zu erhalten sei - er weiss sehr wohl, dass Rituale, Dogmen, Litaneien und Sinaidonner nicht helfen können, dass aller Sinaidonner die Wahrheit nicht wahrer und keinem vernünftigen Menschen bange macht, dass man über die Religion der Furcht längst hinaus ist, aber die Religion selbst muss wiederhergestellt werden, wir sehen selbst, wohin uns „zwei Jahrhunderte atheistischer Regierung“ - seit der „gesegneten“ Restauration Karls II — gebracht haben, und wir werden auch allmählig einsehen müssen, dass dieser Atheismus anfängt, ausgetragen und verschlissen zu werden. Wir haben aber gesehen, was Carlyle Atheismus nennt, nicht sowohl den Unglauben an einen persönlichen Gott, sondern den Unglauben an die innere Wesenhaftigkeit, an die Unendlichkeit des Universums, den Unglauben an die Vernunft, die Verzweiflung am Geist und an der Wahrheit; sein Kampf geht nicht gegen den Unglauben an die Offenbarung der Bibel, sondern gegen den „schrecklichsten Unglauben, den Unglauben an die Bibel der Weltgeschichte.“ Diese ist das ewige Gottesbuch, in dem jeder Mensch, so lange ihm Seele und Augenlicht nicht erloschen sind, Gottes Finger schreibend sehen kann. Diese zu verspotten, ist ein Unglaube, gleich keinem andern, ein Unglaube, den Ihr bestrafen würdet, nicht mit Feuer und Scheiterhaufen, aber doch mit dem entschiedensten Befehl, zu schweigen, [169] bis man etwas Besseres zu sagen habe. Weshalb sollte das glückliche Schweigen durch Getöse gebrochen werden, um nur solch Zeug auszuschreien? Wenn die Vergangenheit keine göttliche Vernunft in sich hat, sondern blos teuflische Unvernunft, so vergeht sie auf ewig, sprecht nicht mehr von ihr; uns, deren Väter alle gehangen worden, ziemt es schlecht, von Stricken zu schwatzen! „An die Geschichte aber kann das moderne England nicht glauben.“ Das Auge sieht von allen Dingen nur soviel, als es nach seiner ihm, inhärenten Fähigkeit sehen kann. Ein gottloses Jahrhundert kann keine gotterfüllten Epochen begreifen. Es sieht in der Vergangenheit (dem Mittelalter) nur leere Zwietracht, die allgemeine Herrschaft der rohen Gewalt, es sieht nicht, dass am Ende Macht und Recht zusammenfallen, es sieht blosse Dummheit, wilde Unvernunft, eher für Bedlam als für eine menschliche Welt passend. Woraus denn natürlich folgt, dass dieselben Eigenschaften in unserer Zeit zu herrschen fortfahren sollten. Millionen festgebannt in Bastillen; irische Wittwen, die ihre Menschheit durch Typhusfieber beweisen; es ist immer so gewesen, oder schlimmer; was verlangt Ihr anders? Was anders ist die Geschichte gewesen, als die Aussaugung verstockter Dummheit durch erfolgreiche Quacksalberei? Kein Gott war in der Vergangenheit, nichts als Mechanismus und chaotisch-bestialische Götzen; wie soll der arme „philosophische Geschichtschreiber,“ dem sein eigen Jahrhundert so ganz gottverlassen ist, den Gott in der Vergangenheit sehen?

Aber so ganz verlassen ist unsre Zeit doch nicht. Ja, in unsrem armen zersplitterten Europa selbst, haben sich nicht in diesen neuesten Zeiten religiöse Stimmen erhoben, mit einer neuen, und zugleich der ältesten Religion, unbestreitbar den Herzen aller Menschen? Einige kenne ich, die sich nicht Propheten hiessen oder glaubten, aber die in Wahrheit wieder einmal volltönende Stimmen waren aus dem ewigen Herzen der Natur, Seelen ewig ehrwürdig allen, die eine Seele haben. Eine französische Revolution ist ein Phänomen; als Ergänzung und geistiger Exponent derselben ist mir ein Dichter Goethe und eine deutsche Litteratur auch ein Phänomen. Wenn die alte weltliche oder praktische Welt in Feuer aufgegangen ist, ist dann nicht hier die Weissagung und das Morgenroth einer neuen geistigen Welt, der Mutter von weit edleren, weiteren, neuen, praktischen Welten? Ein Leben antiker Hingebung, antiker Wahrheit und antiken Heldensinns ist wieder möglich geworden, ist hier wirklich sichtbar für den modernsten Menschen, ein Phänomen, in [170] aller seiner Ruhe keinem andern zu vergleichen! Da sind Anklänge einer neuen Sphärenmelodie, hörbar aufs Neue durch all den unendlichen Jargon und die Dissonanzen des Dings, das man Litteratur nennt,“

Goethe, der Prophet der „Religion der Zukunft“, und ihr Cultus - die Arbeit. „Denn es liegt ein ewiger Adel, ja eine Heiligkeit in der Arbeit. Und wäre er noch so verfinstert, seines hohen Berufes vergessen, so ist doch immer noch Hoffnung da, für einen Menschen, der wirklich und ernstlich arbeitet; in der Faulheit allein ist ewige Verzweiflung. Arbeit, noch so mammonisirt, noch so erniedrigt, bleibt doch eine Verbindung mit der Natur; der treibende Wunsch, seine Arbeit gethan zu bekommen, wird mehr und mehr der Wahrheit und den Bestimmungen und den Gesetzen der Natur zuführen. - - Eine unendliche Bedeutung liegt in der Arbeit; der Mensch vollendet sich durch sie. Faule Moräste werden weggeräumt; schöne Saatfelder erstehen an ihrer Stelle, und prächtige Städte, und vor Allem zuerst hört der Mensch selbst auf, ein fauler Morast und eine seuchenschwangere Wüste zu sein. Bedenkt, wie selbst in den niedrigsten Arten der Arbeit die ganze Seele des Menschen in eine gewisse Harmonie versetzt wird, so wie er sich an die Arbeit gibt! Zweifel, Verlangen, Kummer, Unruhe, Unwille, Verzweiflung selbst, alle diese, wie Höllenhunde belagern die Seele des armen Tagarbeiters, wie jedes andern, aber er greift mit freiem Muth sein Tagwerk an, und sie alle weichen murrend zurück in ihre fernen Höhlen. Der Mensch ist nun Mensch; die heilige Glut der Arbeit in ihm ist wie ein reinigend Feuer, worin alles Gift, und selbst der verpestendste Qualm in einer hellen heiligen Flamme verbrennt. - - Gesegnet ist, wer seine Arbeit gefunden hat; er verlange nach keinem anderen Segen. Er hat eine Arbeit, einen Lebenszweck; er hat ihn gefunden, er verfolgt ihn, und nun fliesst sein Leben dahin, ein freiströmender Kanal, gegraben durch den abgestandenen Nothsumpf der Existenz, ableitend das abgestandne Wasser von der entferntesten Binse, den verpestenden Sumpf in eine grüne fruchtbare Wiese verwandelnd. Arbeit ist Leben; Du hast im Grunde keine andere Kenntniss, als die Du Dir durch Arbeit erworben hast, das Uebrige ist all Hypothese, Stoff zum Schulgezänk in den Wolken, in endlosen logischen Strudeln flutend, bis wir es versuchen und fixiren. Zweifel aller Art kann nur durch Thätigkeit gelöst werden. - - Wunderschön war der Spruch der alten Mönche: Laborare, est orare, Arbeit ist Cultus. [171] Aelter als alles gepredigte Evangelium, war dies ungepredigte unausgesprochene, aber unauslöschliche, ewige Evangelium; arbeite, und finde Befriedigung in der Arbeit. O Mensch, liegt nicht in Deinem innersten Herzen ein Geist thätiger Anordnung, eine Kraft der Arbeit; brennend wie ein schmerzlich glimmend Feuer, das Dir keine Ruhe lässt, bis Du es entfaltest, bis Du es in Thatsachen ringsumher niederschreibst? Alles Ungeordnete, Wüste sollst Du geordnet, geregelt, ackerbar machen, Dir gehorsam und Dir Frucht tragend. Wo Du Unordnung findest, - da ist Dein ewiger Feind; greif ihn rasch an, unterjoche ihn; entreiss ihn der Herrschaft des Chaos, bring ihn unter Deine, der Intelligenz und Göttlichkeit Herrschaft! Vor Allem aber, wo Du Unwissenheit, Dummheit, Verthierung, findest, greif’ sie an, sag’ ich Dir, schlage sie, weise, unermüdlich, ruhe nicht so lange Du lebst und sie lebt, schlage zu, schlage, im Namen Gottes; schlage! Du sollst wirken, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann. - Alle wahre Arbeit ist heilig; Schweiss des Angesichts, Schweiss des Gehirns und des Herzens, einschliessend eines Kepler Berechnungen, eines Newton Medidationen; alle Wissenschaften, alle gesprochenen Heldenlieder, alles gethane Heldenthum, Märtyrerthum, bis zu jenem „Todeskampf des blutigen Schweisses,“ den alle Menschen göttlich genannt haben. Wenn das nicht Cultus ist, zum Teufel dann allen Kultus. Wer bist Du, der über sein Leben saurer Arbeit klagt? Klage nicht, Dir ist der Himmel streng, aber nicht unfreundlich, eine edle Mutter, wie jene spartanische Mutter, die ihrem Sohne den Schild gab: Mit ihm oder auf ihm! Klage nicht; auch die Spartaner klagten nicht. - - Ein Ungeheuer ist in der Welt, - der Faulenzer. Was ist seine Religion, als dass die Natur ein Phantom, dass Gott eine Lüge ist und der Mensch und sein Leben eine Lüge.“

Aber auch die Arbeit ist in den wilden Strudel der Unordnung und des Chaos hineingerissen, das reinigende, aufklärende, entwickelnde Prinzip ist der Verwickelung, Verwirrung und Finsterniss anheimgefallen. Dies führt auf die eigentliche Hauptfrage, auf die Zukunft der Arbeit.

„Was für eine Arbeit wird es sein, was unsere Freunde auf dem Continent, schon ziemlich lange und etwas absurd danach umhertappend, „Organisation der Arbeit“ nennen. Das muss aus den Händen absurder Windbeutel genommen, und tüchtigen, weisen, arbeitsamen Männern übergeben werden; es sogleich zu beginnen, auszuführen [172] und durchzuführen, wenn Europa - wenigstens wenn England noch lange bewohnbar bleiben soll. Wenn wir unsre hochedlen Korngesetz-Herzoge ansehen, oder unsre geistlichen Herzoge und Seelenhirten, „mit einem Minimum von vier Tausend fünfhundert Pfund jährlich,“ so werden unsre Hoffnungen freilich etwas gedämpft. Aber Muth! Es gibt noch manchen braven Mann in England. Du unbezähmbarer Fabriklord, ist nicht auch in Dir noch einige Hoffnung? Du bist bis jetzt ein Bucanier gewesen; aber in dieser ernsten Braue, in diesem unbezähmbaren Herzen, das Baumwolle besiegen kann, liegen da nicht vielleicht noch andre, zehnmal edlere Siege?“ - „Seht um Euch, Eure Wellenheere sind alle in Meuterei, Verwirrung, Verlassenheit; am Vorabend eines Untergangs in Flammen, am Vorabend des Wahnsinns! Sie wollen nicht weiter marschiren nach dem Prinzip von Sechspence täglich und Nachfrage und Zufuhr; sie wollen nicht, und haben ein Recht dazu. Sie sind fast in den Rachen des Wahnsinnes gejagt; seid Ihr vernünftiger. Diese Leute werden nicht länger, als ein verworrener und verwirrender Pöbel marschiren, sondern als eine geschlossne geordnete Masse, mit wirklichen Führern an ihrer Spitze. Alle menschlichen Interessen, alle gemeinschaftlichen Unternehmungen mussten auf einer gewissen Entwicklungsstufe organisirt werden, und jetzt verlangt das grösste aller menschlichen Interessen, die Arbeit, nach Organisation.“

Um diese Organisation durchzuführen, um wahre Lenkung und wahre Regierung an die Stelle falscher Lenkung zu setzen, verlangt Carlyle nach einer „wahren Aristokratie,“ nach einem „Heroencultus,“ und stellt es als das zweite grosse Problem auf, die αριςτοι, die Besten ausfindig zu machen, deren Leitung „die unvermeidliche Demokratie mit der nothwendigen Souverainetät zu verbinden.“

Aus diesen Auszügen geht der Standpunkt Carlyle’s ziemlich klar hervor. Seine ganze Anschauungsweise ist wesentlich pantheistisch, und zwar deutsch-pantheistisch. Die Engländer haben keinen Pantheismus, sondern bloss Skeptizismus; das Resultat alles englischen Philosophirens ist die Verzweiflung an der Vernunft, die eingestandene Unfähigkeit, die Widersprüche, auf die man in letzter Instanz gerathen ist, zu lösen, und in Folge dessen auf der einen Seite ein Rückfall in den Glauben, auf der andern die Hingebung, an die reine Praxis, ohne sich weiter um Metaphysik u. s. w. zu bekümmern. Carlyle ist darum mit seinem aus der deutschen Litteratur stammenden Pantheismus auch ein „Phänomen“ in England, und ein für die [173] praktischen und skeptischen Engländer ziemlich unbegreifliches Phänomen. Die Leute starren ihn an, sprechen von „deutschem Mystizismus,“ von verrenktem Englisch; Andre behaupten, es sei doch am Ende Was dahinter, sein Englisch sei zwar ungewöhnlich, aber doch schön, er sei ein Prophet u. s. w. - aber keiner weiss recht, was er aus dem Ganzen machen soll.

Uns Deutschen, die wir die Voraussetzungen für Carlyle’s Standpunkt kennen, ist die Sache klar genug. Reste torystischer Romantik und menschliche Anschauungen aus Goethe auf der einen, das skeptisch-empirische England auf der andern Seite, diese Factoren reichen hin, um aus ihnen Carlyle’s ganze Weltansicht abzuleiten. Carlyle ist, wie alle Pantheisten, noch nicht über den Widerspruch hinausgekommen, und der Dualismus ist bei Carlyle um so schlimmer, da er zwar die deutsche Literatur, aber nicht ihre nothwendige Ergänzung, die deutsche Philosophie kennt, und alle seine Anschauungen daher auch unmittelbar, intuitiv, mehr schellingisch als hegelisch, sind. Mit Schelling, - d. h. dem alten, nicht dem Offenbarungsschelling, hat Carlyle wirklich eine Masse Berührungspunkte; mit Strauss, dessen Anschauungsweise ebenfalls pantheistisch ist, trifft er im „Heroenkultus“ oder „Kultus des Genius“ zusammen.

Die Kritik des Pantheismus ist in der letzten Zeit in Deutschland so erschöpfend ausgeführt worden, dass wenig mehr zu sagen bleibt. Feuerbachs Thesen in den „Anekdotis“ und B. Bauers Schriften enthalten alles hieher Gehörige. Wir werden uns also darauf beschränken können, einfach die Konsequenzen aus Carlyle’s Standpunkt zu ziehen, und zu zeigen, dass er im Grunde nur eine Vorstufe zum Standpunkte dieser Zeitschrift ist.

Carlyle klagt über die Leerheit und Hohlheit des Zeitalters, über die innere Verfaulung aller sozialen Institutionen. Die Klage ist gerecht; aber mit dem einfachen Klagen ist es nicht abgethan; um dem Uebel abzuhelfen, muss die Ursache desselben aufgesucht werden; und hätte Carlyle dies gethan, so würde er gefunden haben, dass diese Zerfahrenheit und Hohlheit, diese „Seelenlosigkeit,“ diese Irreligion und dieser „Atheismus“ ihren Grund haben in der Religion selbst. Die Religion ist ihrem Wesen nach die Entleerung des Menschen und der Natur von allem Gehalt, die Uebertragung dieses Gehalts an das Phantom eines jenseitigen Gottes, der dann wiederum den Menschen und der Natur in Gnaden etwas von seinem Ueberfluss zukommen lässt. So lange nun der Glaube an dies jenseitige Phantom kräftig und lebendig ist, so lange kommt [174] der Mensch auf diesem Umwege wenigstens zu etwas Gehalt. Der starke Glaube des Mittelalters verlieh auf diese Weise der ganzen Epoche allerdings eine bedeutende Energie, aber eine Energie, die nicht von Aussen kam, sondern schon in der menschlichen Natur lag, wenn auch noch unbewusst, noch unentwickelt. Der Glaube wurde allmählig schwach, die Religion zerbröckelte vor der steigenden Kultur, aber noch immer sah der Mensch nicht ein, dass er sein eignes Wesen als ein fremdes Wesen angebetet und vergöttert hatte. In diesem bewusstlosen und zugleich glaubenslosen Zustande kann der Mensch keinen Inhalt haben, muss er an der Wahrheit, an der Vernunft und Natur verzweifeln, und diese Hohlheit und Inhaltslosigkeit, die Verzweiflung an den ewigen Thatsachen des Universums wird so lange dauern bis die Menschheit einsieht, dass das Wesen, was sie als Gott verehrt hat, ihr eignes, ihr bisher unbekanntes, Wesen war, bis - doch was soll ich Feuerbach abschreiben.

Die Hohlheit ist längst da gewesen, denn die Religion ist der Akt der Selbstaushöhlung des Menschen; und Ihr wundert Euch, dass sie jetzt, nachdem der Purpur, der sie verdeckte, verblichen, nachdem der Dunst, der sie einhüllte, gestorben ist, dass sie jetzt zu Eurem Schrecken ans Tageslicht tritt?

Carlyle klagt ferner - dies ist die nächste Folge aus dem Vorhergehenden - das Zeitalter der Heuchelei und der Lüge an. Natürlich, die Hohlheit, und Entnervung muss doch durch Staffage, ausgestopfte Gewänder und Fischbeinschienen anständig verhüllt und aufrecht gehalten werden. Auch wir greifen die Heuchelei des jetzigen christlichen Weltzustandes an; der Kampf gegen sie, unsere Befreiung von ihr und die Befreiung der Welt von ihr sind am Ende unser einzig Tagewerk; aber weil wir durch die Entwickelung der Philosophie zur Erkenntniss dieser Heuchelei gekommen, und weil wir den Kampf wissenschaftlich führen, darum ist uns das Wesen dieser Heuchelei nicht mehr so fremd und unverständlich, wie es für Charlyle allerdings noch ist. Diese Heuchelei führen wir auch auf die Religion zurück, deren erstes Wort eine Lüge ist - oder fängt die Religion nicht damit an, dass sie uns etwas Menschliches zeigt und behauptet, das sei etwas Uebermenschliches, Göttliches? Weil wir aber wissen, dass alle diese Lüge und Unsittlichkeit aus der Religion folgt, dass die religiöse Heuchelei, die Theologie der Urtypus aller andern Lügen und Heuchelei ist, so sind wir berechtigt, den Namen der Theologie auf die gesammte [175] Unwahrheit und Heuchelei der Gegenwart auszudehnen, wie dies zuerst durch Feuerbach und B. Bauer geschehen ist. Carlyle möge ihre Schriften lesen, wenn er zu wissen wünscht, woher die Unsittlichkeit kommt, die alle unsre Verhältnisse verpestet.

Eine neue Religion, ein pantheistischer Heroenkultus, Kultus der Arbeit sei zu stiften oder müsse erwartet werden; Unmöglich; alle Möglichkeiten der Religion sind erschöpft; nach dem Christenthum, nach der absoluten, d. h. abstrakten Religion, nach der „Religion als solcher“ kann keine andere Form der Religion mehr aufkommen. Carlyle sieht selbst ein, dass das katholische, protestantische, oder jedes beliebige andere Christenthum unaufhaltsam dem Untergange entgegengeht; wenn er die Natur des Christenthums kennte, so würde er einsehen, dass nach ihm keine andre Religion mehr möglich ist. Auch der Pantheismus nicht! Der Pantheismus ist selbst noch eine von seiner Prämisse nicht zu trennende Konsequenz des Christenthums, wenigstens der moderne, spinocistische, schellingische, hegelische und auch der Carlyle’sche Pantheismus. Der Mühe, den Beweis hierfür zu liefern, überhebt mich wiederum Feuerbach.

Wie gesagt, auch uns ist es darum zu thun, die Haltlosigkeit, die innere Leere, den geistigen Tod, die Unwahrhaftigkeit des Zeitalters zu bekämpfen; mit allen diesen Dingen führen wir einen Krieg auf Leben und Tod, ebenso wie Carlyle, und haben weit mehr Wahrscheinlichkeit des Erfolgs für uns, als er, weil wir wissen, was wir wollen. Wir wollen den Atheismus, wie ihn Carlyle schildert, aufheben, indem wir dem Menschen den Gehalt wiedergeben, den er durch die Religion verloren hat; nicht als einen göttlichen, sondern als einen menschlichen Inhalt, und die ganze Wiedergabe beschränkt sich einfach auf die Erweckung des Selbstbewusstseins. Wir wollen alles, was sich als übernatürlich und übermenschlich ankündigt, aus dem Wege schaffen, und dadurch die Unwahrhaftigkeit entfernen, denn die Prätension des Menschlichen und Natürlichen, übermenschlich übernatürlich sein zu wollen, ist die Wurzel aller Unwahrheit und Lüge. Deswegen haben wir aber auch der Religion und den religiösen Vorstellungen ein für allemal den Krieg erklärt, und kümmern uns wenig darum, ob man uns Atheisten oder sonst irgendwie nennt. Wenn indess Carlyle’s pantheistische Definition von Atheismus richtig wäre, so wären nicht wir, sondern unsere christlichen Gegner die wahren Atheisten. Uns fällt es nicht ein, die „ewigen [176] inneren Thatsachen des Universums“ anzugreifen; im Gegentheil , wir haben sie erst wahrhaft begründet, indem wir ihre Ewigkeit nachwiesen und sie vor der allmächtigen Willkühr eines in sich selbst widersprechenden Gottes sicher stellten. Uns fällt es nicht ein, „die Welt, den Menschen und sein Leben, für eine Lüge“ zu erklären; im Gegentheil, unsere christlichen Gegner begehen diese Unsittlichkeit, wenn sie die Welt und den Menschen von der Gnade eines Gottes abhängig machen, der in Wirklichkeit nur durch die Abspiegelung des Menschen in der wüsten Hyle seines eigenen unentwickelten Bewusstseins erzeugt wurde. Uns fällt es nicht ein, die „Offenbarung der Geschichte“ zu bezweifeln oder zu verachten, die Geschichte ist unser Eins und Alles, und wird von uns höher gehalten, als von irgend einer andern, früheren, philosophischen Richtung, höher selbst als von Hegel, dem sie am Ende auch nur als Probe auf sein logisches Rechenexempel dienen sollte. Der Hohn gegen die Geschichte, die Nichtachtung der Entwicklung der Menschheit ist ganz auf der andern Seite; es sind wiederum die Christen, die durch die Aufstellung einer aparten „Geschichte des Reiches Gottes“, der wirklichen Geschichte alle innere Wesenhaftigkeit absprechen und diese Wesenhaftigkeit allein für ihre jenseitige, abstrakte und noch dazu erdichtete Geschichte in Anspruch nehmen, die durch die Vollendung der menschlichen Gattung in ihrem Christus die Geschichte ein imaginäres Ziel erreichen lassen, sie mitten in ihrem Laufe unterbrechen und nun die folgenden achtzehn hundert Jahre schon der Konsequenz halber für wüsten Unsinn und baare Inhaltslosigkeit ausgeben müssen. Wir reklamiren den Inhalt der Geschichte; aber wir sehen in der Geschichte nicht die Offenbarung „Gottes,“ sondern des Menschen, und nur des Menschen. Wir haben nicht nöthig, um die Herrlichkeit des menschlichen Wesens zu sehen, um die Entwicklung der Gattung in der Geschichte, ihren unaufhaltsamen Fortschritt, ihren stets sicheren Sieg über die Unvernunft des Einzelnen, ihre Ueberwindung alles scheinbaren Uebermenschlichen, ihren harten, aber erfolgreichen Kampf mit der Natur, bis zur endlichen Erringung des freien, menschlichen Selbstbewusstseins, der Einsicht von der Einheit des Menschen mit der Natur, und der freien, selbstthätigen Schöpfung einer auf rein menschliche, sittliche Lebensverhältnisse begründeten neuen Welt - um alles das in seiner Grösse zu erkennen, haben wir nicht nöthig, erst die Abstraktion eines „Gottes“ herbeizurufen, und ihr alles Schöne, Grosse, Erhabene und wahrhaft Menschliche zuzuschreiben; [177] wir brauchen diesen Umweg nicht, wir brauchen dem wahrhaft Menschlichen nicht erst den Stempel des „Göttlichen“ aufzudrücken, um seiner Grösse und Herrlichkeit sicher zu sein. Im Gegentheil, je „göttlicher,“ d. h. unmenschlicher etwas ist, desto weniger werden wir es bewundern können. Nur der menschliche Ursprung des Inhalts aller Religionen rettet ihnen hier und da noch etwas Anspruch auf Respekt; nur das Bewusstsein, dass selbst der tollste Aberglaube doch im Grunde die ewigen Bestimmungen des menschlichen Wesens enthalte, wenn auch in noch so verrenkter und verzerrter Form, nur dies Bewusstsein rettet die Geschichte der Religion und namentlich des Mittelalters vor der totalen Verwerfung und vor dem ewigen Vergessen, was sonst allerdings das Schicksal dieser „gottvollen“ Geschichten sein würde. Je „gottvoller,“ desto unmenschlicher, desto thierischer, und das „gottvolle“ Mittelalter produzirte allerdings die Vollendung menschlicher Bestialität, Leibeigenschaft, jus primae noctis u. s. w. Die Gottlosigkeit unseres Zeitalters, worüber Carlyle so sehr klagt, ist eben seine Gotterfülltheit. Hieraus wird auch klar, weshalb ich oben den Menschen als die Lösung des Sphynxräthsels angab. Die Frage ist bisher immer gewesen: Was ist Gott? und die deutsche Philosophie hat die Frage dahin gelöst: Gott ist der Mensch. Der Mensch hat sich nur selbst zu erkennen, alle Lebensverhältnisse an sich selbst zu messen, nach seinem Wesen zu beurtheilen, die Welt nach den Forderungen seiner Natur wahrhaft menschlich einzurichten, so hat er das Räthsel unserer Zeit gelöst. Nicht in jenseitigen, existenzlosen Regionen, nicht über Zeit und Raum hinaus, nicht bei einem der Welt inwohnenden oder ihr entgegengesetzten „Gott“ ist die Wahrheit zu finden, sondern viel näher, in des Menschen eigener Brust. Des Menschen eigenes Wesen ist viel herrlicher und erhabener, als das imaginäre Wesen aller möglichen „Götter,“ die doch nur das mehr oder weniger unklare und verzerrte Abbild des Menschen selbst sind. Wenn also Carlyle nach Ben Jonson sagt, der Mensch habe seine Seele verloren und fange jetzt an ihren Mangel zu merken, so würde der richtige Ausdruck dafür sein: der Mensch hat in der Religion sein eigenes Wesen verloren, sich seiner Menschheit entäussert, und merkt jetzt, nachdem die Religion durch den Fortschritt der Geschichte wankend geworden ist, seine Leerheit und Haltlosigkeit. Es ist aber keine andre Rettung für ihn, er kann seine Menschheit, sein Wesen nicht anders wieder erobern, als durch eine gründliche Ueberwindung aller religiösen Vorstellungen, und [178] eine entschiedene, aufrichtige Rückkehr, nicht zu „Gott,“ sondern zu sich selbst.

Alles das steht auch in Goethe, dem „Propheten,“ und wer offene Augen hat, der kann es heraus lesen. Goethe hatte nicht gern mit „Gott“ zu thun; das Wort machte ihn unbehaglich, er fühlte sich nur im Menschlichen heimisch, und diese Menschlichkeit, diese Emanzipation der Kunst von den Fesseln der Religion macht eben Goethe’s Grösse aus. Weder die Alten, noch Shakspeare, können sich in dieser Beziehung mit ihm messen. Aber diese vollendete Menschlichkeit, diese Ueberwindung des religiösen Dualismus kann nur von dem in ihrer ganzen historischen Bedeutung erfasst werden, dem die andre Seite der deutschen Nationalentwicklung, die Philosophie, nicht fremd ist. Was Goethe erst unmittelbar, also in gewissem Sinne allerdings „prophetisch“ aussprechen konnte, das ist in der neuesten deutschen Philosophie entwickelt und begründet. Auch Carlyle trägt Voraussetzungen in sich, die konsequenter Weise zu dem oben entwickelten Standpunkt führen müssen. Der Pantheismus ist selbst nur die letzte Vorstufe zur freien, menschlichen Anschauungsweise. Die Geschichte, die Carlyle als die eigentliche „Offenbarung“ hinstellt, enthält eben nur Menschliches, und nur durch einen Gewaltstreich kann ihr Inhalt der Menschheit entzogen und auf Rechnung eines „Gottes“ gebracht werden. Die Arbeit, die freie Thätigkeit, in der Carlyle ebenfalls einen „Kultus“ sieht, ist wieder eine rein menschliche Angelegenheit und kann auch nu auf gewaltsame Weise mit „Gott“ in Verbindung gebracht werden. Wozu fortwährend ein Wort in den Vordergrund drängen, das im besten Falle nur die Unendlichkeit der Unbestimmtheit ausdrückt und noch dazu den Schein des Dualismus aufrecht erhält? ein Wort, das in sich selbst die Nichtigkeitserklärung der Natur und Menschheit ist?

So viel für die innerliche, religiöse Seite des Carlyle’schen Standpunktes. Die Beurtheilung der äusserlichen, politisch-sozialen knüpft sich unmittelbar hieran; Carlyle hat noch Religion genug, um in einem Zustande der Unfreiheit zu bleiben; der Pantheismus erkennt immer noch etwas Höheres an, als den Menschen als solchen. Daher sein Verlangen nach einer „wahrhaften Aristokratie,“ nach „Heroen;“ als ob diese Heroen im besten Falle mehr sein könnten als Menschen. Hätte er den Menschen als Menschen in seiner ganzen Unendlichkeit begriffen, so würde er nicht auf die Gedanken gekommen sein, die Menschheit wieder in zwei Haufen Schafe und [179] Böcke, Regierende und Regierte, Aristokraten und Canaille, Herren und Dummköpfe zu trennen, so würde er die richtige soziale Stellung des Talents nicht im gewaltsamen Regieren, sondern im Anregen und Vorangehen gefunden haben. Das Talent hat die Masse von der Wahrheit seiner Ideen zu überzeugen, und wird sich dann nicht weiter um die ganz von selbst folgende Ausführung derselben zu plagen haben. Die Menschheit macht den Durchgang durch die Demokratie wahrlich nicht desshalb, um zuletzt wieder da anzukommen, von wo sie ausging. — Was Carlyle übrigens von der Demokratie sagt, lässt wenig zu wünschen übrig, wenn wir das so eben Angedeutete, die Unklarheit über das Ziel, den Zweck der modernen Demokratie, ausschliessen. Die Demokratie ist allerdings nur Durchgangspunkt, aber nicht zu einer neuen, verbesserten Aristokratie, sondern zur wirklichen, menschlichen Freiheit; eben so wie die Irreligiosität des Zeitalters zuletzt zur vollkommenen Emanzipation von allem Religiösen, Uebermenschlichen und Uebernatürlichen, nicht aber zu dessen Wiederherstellung leiten wird.

Carlyle erkennt die Unzulänglichkeit von „Konkurrenz, Nachfrage“ und „Zufuhr, Mammonismus“ u. s. w. an, und ist weit entfernt, die absolute Berechtigung des Grundbesitzes zu behaupten. Warum nun nicht den einfachen Schluss aus allen diesen Voraussetzungen gezogen, und das Eigenthum überhaupt verworfen? Wie will er die „Konkurrenz,“ „Nachfrage und Zufuhr“, Mammonismus u. s. w. vernichten, so lange die Wurzel von alle dem, das Privateigenthum, besteht? „Organisation der Arbeit“ kann dazu nichts thun, sie kann ohne eine gewisse Identität der Interessen gar nicht durchgeführt werden. Warum nun nicht konsequent durchgegriffen, die Identität der Interessen, den einzig menschlichen Zustand proklamirt und dadurch allen Schwierigkeiten, aller Unbestimmtheit und Unklarheit ein Ende gemacht?

Carlyle erwähnt in allen seinen Rhapsodien der englischen Sozialisten mit keiner Sylbe. So lange er auf seinem jetzigen, gegen die Masse der Gebildeten Englands allerdings unendlich weit vorausgeschrittenen, aber immer noch abstrakt-theoretischen Standpunkt stehen bleibt, wird er sich mit ihren Bestrebungen freilich nicht besonders befreunden können. Die englischen Sozialisten sind rein praktisch und schlagen desshalb auch Masregeln, Kolonisation der Heimath u. s. w. in etwas Morrisons pillenmässiger Form vor; ihre Philosophie ist echt englisch, skeptisch, d. h. sie verzweifeln an der Theorie und halten sich für die Praxis an den Materialismus, auf [180] den ihr ganzes soziales System basirt ist; alles das wird Carlyle wenig zusagen, aber er ist eben so einseitig wie sie. Beide haben den Widerspruch nur innerhalb des Widerspruchs überwunden; die Sozialisten innerhalb der Praxis. Carlyle innerhalb der Theorie, und auch da nur unmittelbar, während die Sozialisten über den praktischen Widerspruch entschieden und durch das Denken hinausgekommen sind. Die Sozialisten sind eben noch Engländer, wo sie bloss Menschen sein sollten, sie kennen von der philosophischen Entwicklung des Kontinents nur den Materialismus, nicht auch die deutsche Philosophie, das ist all ihr Mangel, und sie arbeiten direkt auf die Auflösung dieser Lücke hin, indem sie auf die Aufhebung der Nationalunterschiede hinarbeiten. Wir brauchen gar so eilig nicht zu sein, ihnen die deutsche Philosophie aufzudrängen, zu der sie von selbst kommen werden und die ihnen jetzt wenig nützen könnte. Jedenfalls sind sie aber die einzige Partei in England, die eine Zukunft hat, so schwach sie auch verhältnissmässig sein mögen. Die Demokratie, der Chartismus muss sich bald durchsetzen, und dann hat die Masse der englischen Arbeiter nur die Wahl zwischen dem Hungertode und dem Sozialismus.

Für Carlyle und seinen Standpunkt ist die Unkenntniss der deutschen Philosophie nicht so gleichgültig. Er ist für sich deutscher Theoretiker, und dabei doch durch seine Nationalität an die Empirie gewiesen; er steht in einem schreienden Widerspruch, der nur dadurch zu lösen ist, dass er den deutsch-theoretischen Standpunkt bis zu seiner letzten Konsequenz, bis zur totalen Versöhnung mit der Empirie fortentwickelt. Carlyle hat nur noch Einen, aber, wie alle Ehrfahrung in Deutschland gezeigt hat, einen schweren Schritt zu thun, um über den Widerspruch, in dem er sich bewegt, herauszukommen. Es ist zu wünschen, dass er ihn thue, und obwohl er nicht mehr jung ist, wird er ihn doch wohl thun können, denn der Fortschritt, den sein letztes Buch zeigt, beweist, dass er noch nicht aus der Entwicklung herausgetreten ist.

Nach allem Diesem ist Carlyle’s Buch einer deutschen Uebersetzung zehntausendmal eher werth, als alle die Legionen englischer Romane, die täglich und stündlich nach Deutschland importirt werden, und ich kann zu einer solchen Uebersetzung nur rathen. Aber unsre Fabrikübersetzer mögen ihre Finger nur davon halten! Carlyle schreibt ein apartes Englisch, und ein Uebersetzer, der nicht tüchtig Englisch und Anspielungen auf englische Verhältnisse versteht, würde die lächerlichsten Schnitzer machen -

[181] Nach dieser, etwas allgemeinen Einleitung werde ich in den nächsten Heften dieser Zeitschrift genauer auf die Lage Englands und ihren Kern, die Lage der arbeitenden Klasse eingehen. Die Lage Englands ist von der unermesslichsten Bedeutung für die Geschichte und für alle andern Länder; denn in sozialer Beziehung ist England allerdings allen andern Ländern weit voraus.

F. ENGELS.