Die Herbstfrische
[595] Die Herbstfrische. Die Hochsaison der Badeorte hat ihr Ende erreicht. Der Menschenstrom, welcher aus den überhitzten Stadtmauern in die frische Waldesluft oder an die Seeküsten geflüchtet war, kehrt allmählich in die Städte zurück. Mit der Sommerfrische ist es nun für dieses Jahr vorbei; aber diejenigen, welche noch der Erholung bedürfen, brauchen nicht zu denken, daß es zu spät sei, eine Erholungsreise anzutreten. Im Gegentheil! Jetzt erst beginnt die schönste Jahres- und die eigentliche Reisezeit.
Die Herbstwitterung zeichnet sich durch ihre Beständigkeit aus. Die Herbstluft ist kühl und regt zu Fußwanderungen an; sie erfrischt den Körper mehr, als dies die heiße Lust des Sommers vermag, und stärkt ihn in wunderbarer Weise gegen krankhafte Einflüsse. Das Reisen ist in den Monaten September und Oktober auch billiger als im Juli und August, wo die Hochsaisonpreise herrschen. Man hat das Alles nicht immer beachtet und bis jetzt die Vorzüge der Herbstfrische viel zu wenig gewürdigt. Die Tage sind in dieser späteren Jahreszeit nicht so kurz, wie man glaubt; man muß sie nur richtig auszunützen wissen. Im September dauert der Tag noch immer 13½–12 Stunden; im Oktober 11½–10 Stunden. Der Herbstfrischler braucht nur mit dem Sonnenaufgang ins Freie zu gehen, und er hat bis zum späten Abend den schönsten Naturgenuß; denn der Herbst trägt bei uns ein farbenprächtiges Kleid, und der buntgefärbte Wald, von goldenem Sonnenglanz durchwoben, ist nicht minder schön als der junge grüne Wald im Wonnemonat.
Gegen die kühle Witterung findet man in passender Kleidung den besten Schutz, und eine Decke und ein Ueberzieher an einem Schnallriemen tragen sich im Herbste leichter als im Hochsommer. Nur eine Gefahr birgt die Herbstfrische in sich: die langen Abende. Sie verlocken leider Viele, in den Gaststuben zu sitzen und den Tabaksqualm zu athmen; sie treiben den Herbstfrischler in allerlei gesellschaftliche Vergnügungen, welche die guten Folgen des Aufenthaltes in Wald und Feld wieder aufheben. Mit diesen Unsitten muß der Herbstfrischler brechen und lieber eine längere Nachtruhe genießen; dann wird sich der Erschöpfte im Herbst rascher und besser erholen als im Sommer. Die Herbstfrische verdient auch darum besonders gewürdigt zu werden, weil die Zahl derjenigen, welche auf sie angewiesen sind, eine sehr große ist. Gerade die Sommerhitze spannt die Meisten ab und erzeugt in ihnen das Bedürfniß einer Erholung; an viele Andere werden gerade in den Sommermonaten höhere Anforderungen gestellt, da sie ihre verreisten Kollegen vertreten müssen; nun, sie können dafür den Herbst ausnützen, und außerdem fallen ja in den Herbst die Michaelisferien, welche das Reisen den weitesten Kreisen erleichtern.
Und noch eins! Man glaube nicht, daß es gleich nöthig sei, viele Wochen auf Urlaub zu gehen, und daß ein kürzerer Aufenthalt in freier Natur nur wenig oder gar nicht nütze. Gegen die Krankheit unsrer Zeit, gegen die „Nervenschwäche“, haben sich bereits kurze Reisen aufs Land von nur wenigen Tagen Dauer sehr erfolgreich gezeigt; und gegen gewöhnliche Erschöpfung wirken sie Wunder. Nur zu wahr sind die Worte, welche der Badearzt Dr. Adams veröffentlicht hat: „Die Frühjahrsreise ist eine Art Heilmittel gegen die vom Winter gesetzten Nachtheile. Die Sommerreise ist nur eine Unterbrechung der nachtheiligen Einflüsse, eine willkommene und angenehme zeitweilige Ausspannung und Erfrischung. Richtet man aber seine Reise im Herbst ein, so gewinnt man eine wahre hygienische Vorbeugung: die Nachtheile des Sommers werden ausgeglichen und für den Winter wird neue Frische und Widerstandsfähigkeit eingeheimst.“ Darum rufen wir auch unsern Lesern zu: wer es irgend kann, wähle für seine Reise und Erholung die Herbstzeit! *