Herbstfrischen und ihre Bedeutung
[674–675]
O geh am sanften Scheidetage des Jahrs zu
guter Letzt hinaus
Und nenn ihn Sommertag und trage den letzten
schwer gefundenen Strauß!
Bald steigt Gewölk und schwarz dahinter der
Sturm und sein Genoß, der Winter,
Und hüllt die Flocken Feld und Hau.
Ein weißer Mann, ihr Lieben, haschet die Freuden
im Vorüberfliehn!
Natur, wie schön in jedem Kleide, auch noch im
Sterbekleid, bist du!
Der Sommer ist dahin! Wie viel selige Stunden, wie viel glückliche Tage hat er wiederum Tausenden gebracht, die in Berg und Thal, in Wald du Feld, an Gestaden und Inseln frisch und frei schwelgten unter dem Schatten der Eichen und Tannen, umrahmt vom vielfarbigen Blumenkranze, umrauscht vom Gemurmel kristallheller Bäche, umklungen vom Gesange der Vögel! Ob aber alle Hoffnungen und Wünsche in Erfüllung gegangen sind? O nein! Der ernst dareinschauende dort erzählt eben seinem hochaufgerichteten Schulkameraden, wie auch er sich jahrelang schon darauf gefreut, auch einmal aus der Sommerschwüle der Stadt in die weite, freie Natur hinausschweifen zu können, wie aber die Kosten einer solchen Reise in der „Hochsaison“, der „Ferienzeit“ weit, weit über die bescheidenen Mittel seiner Eltern hinausgingen. – Das blaßwangige Fräulein dort spricht es betrübt aus, wie auch sie mit Vater und Mutter, Bruder und Schwester schon den ganzen Winter lang den alljährlichen Sommerausflug auch diesmal geplant und zurechtgelegt hatte, bis auf einmal das Familienhaupt plötzlich erklärte: „Für diesmal geht es nicht, heuer heißt es zu Hause bleiben, denn die Miete ist um so und so viel in die Höhe gegangen, die kleinen, angenehmen Zettelchen hingegen, so sich auf deutsch ‚Coupons‘ nennen, sind gewaltig rückwärts konzentriert, wollte sagen konvertiert worden.“ – Und was schauen die gnädige Frau so mürrisch drein? Ist es wirklich wahr, daß schon all Ihre Saisontoilette fertig, die Koffer und Körbe gepackt waren, als – häßlich genug – die „Neue Preußische“ und die „Kölnische“ die sprühenden Russenartikel schrieben, – dann auch noch der Koburger seine Balkanreise antrat, und Sie dadurch um Fahrt und Sommererholung gebracht wurden?
Die Damen dort in den tiefschwarzen Kleidern brauchen wir nicht erst zu fragen. In ihren Mienen steht zu lesen: Ja, auch unsere Sommerpläne waren geschmiedet, da aber – mußte ich den geliebten Gatten unter den grünen Rasen betten, – da verlor ich für immer den Augentrost, mein herziges Kind! – Wohl hätten wir es dringend nötig, draußen, am Busen der heilenden Natur, die Wunden mit neuem Lebensbalsam zu betröpfeln, doch der Sommer ist hin, verblüht sind die Rosen, es welken die Blätter, auch das traute Schwalbenpaar über unserem Fenster hat also, ein ganzes Jahr vorbei: „Bald steigt Gewölk und schwarz dahinter der Sturm und sein Genoß, der Winter!“
Und doch nicht vorbei! „Ein weiser Mann, ihr Lieben, haschet die Freuden im Vorübergehen!“
Wer hätte die alljährlich zunehmende Massenwanderung in die Sommerfrische noch vor einem Menschenalter für möglich gehalten, damals, wo in schwerfälliger Postkutsche nur müde, bleichsüchtige Mädchen und schwache, hohlwangige Kranke [676–677] den Heilquellen und Kurorten zurollten, um an bewährten Wassern Gesundheit zu suchen! Ja, dazumal hieß es allein: „In den Wassern das Heil!" während heutzutage die Devise: "In der Luft die Gesundung!“ immer lauter erklingt. Luft- und Bewegungskuren bilden jetzt für weite Volkskreise unbestritten ein hochwertiges, oft unersetzbares Mittel zur Erhaltung bestehender Arbeitskraft, sowie zur Wiedererlangung verloren gegangener Gesundheit.
In welch eingehender Weise hat der letzte deutsche Kongreß für innere Medizin das Thema der Luft- und Höhenbehandlung der Schwindsucht erörtert! Wie große Wichtigkeit muß gegenwärtig der Klimatologie zuerkannt werden, wenn der im September d. J. in Washington zusammengekommene internationale Kongreß für ärztliche Wissenschaften unter zehn Gegenständen der Tagesordnung die folgenden fünf behandelte:
1) Bedeutung des Studiums der Klimatologie in ihrer Beziehung zur ärztlichen Wissenschaft.
2) Welches sind die charakteristischen Merkmale eines bestimmten Klimas?
3) Einflüsse des Klimas auf die Menschen, wie es sich in Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit zeigt.
4) Die Frage der Acclimatisation.
5) Nutzen der See- und Gebirgssanatorien vom Sandpunkte der Vorbeugung und Verhütung konstitutioneller Krankheiten!
Wenn nun die Luft unter gewissen günstigen Voraussetzungen ein stärkendes, heilkräftiges Agens darstellt, ist sie es dann wirklich bloß während der wenigen Sommerwochen, verliert sie mit dem Welken der Blätter und dem Reifen der Trauben zur sonnigen Herbstzeit ihren Leben und Frische spendenden Charakter, also, daß dann niemand mehr nach ihr sich zu sehnen braucht? Ist es wirklich so, oder ist vielleicht die Herbstzeit und die Herbstluft, also die bis tief in den November hinein, nicht genügend auf ihren Wert geprüft worden, wird sie am Ende gar falsch beurteilt?
Gibt es nicht auch Menschen übergenug, die im Sommer erst ermatteten und erkrankten, die also erst im September und Oktober das Bedürfnis nach einer Stärkung und Erfrischung wahrnehmen, aber gerade ebensosehr wie die anderen im Mai und Juni? Und wenn es solche gibt, sollen diese nur allein auf Pillen und Mixturen, auf Hydro- und Elektrotherapie angewiesen sein, gelten für sie nicht mehr die tröstenden Worte: In der Luft Genesung!
Das ein Bedürfnis nach Ruge und Erholung infolge der Sommerschwüle vorhanden ist, beweisen allein schon das Institut der Herbstschulferien. Daß ferner die Zahl der Erholungsbedürftigen von Jahr zu Jahr steigt, das geht unter anderem deutlich aus den Spalten der Tagesblätter hervor. So hat der Preußische Minister der öffentlichen Arbeiten unter dem 17. Juni d. J. bezüglich des Ferienurlaubs der im Ressort beschäftigten Beamten folgendes Reskript erlassen: „Die an mich gelangenden Anträge con Beamten um Bewilligung von außgedehntem Urlaub aus Gesundheitsrücksichten haben neuerdings einen außerordentlichen Umfang angenommen. – Die Wahrnehmung, daß namentlich jüngere Beamte wegen geschwächter Nerven und allgemeiner Körperschwäche u.s.w. sich den Geschäften zu entziehen genötigt sind, veranlaßt mich“ u.s.w.
Es gibt bereits zahlreiche ärztliche Stimmen, die im Sinne meines Themas laut geworden sind. So sagt G. Beard in seinem Buche über „Nervenschwäche“ folgendes: „Kurze Erholungsreisen von wenigen Tagen, namentlich auf das Land, bei ruhiger Lebensweise und Fernbleiben von Geschäften sind häufig von dem besten Erfolge bei Patienten, die stark erschöpft und angegriffen sind. Oft bedarf es dabei gar nicht einmal einer gänzlichen Unterbrechung der gewohnten Lebensweise.“
Und Dr. v. Krafft-Ebing schreibt: „Die Bedeutung der Ferien und des Landaufenthaltes für die Erhaltung der geistigen Leistungsfähigkeit ist noch lang nicht in dem Maße gewürdigt, als es nötig wäre. Wer nach einer solchen Frisch gestärkt zurückkehrt, leistet weit mehr als vorher und wird viel später pensionsbedürftig. Wie ganz anders fühlt sich der arme ‚weiße Sklave der Zivilisation‘ auf dem Lande, in Gottes freier Natur! Schade nur, daß so wenig (!) Wochen im Jahre der Kulturmensch menschenwürdig leben kann, daß der knapp bemessene Urlaub, die Rücksicht auf den Geldbeutet und schulpflichtige Kinder schon nach kurzer Zeit dazu nötigen, die Stadt mit ihren gesundheitlichen Schädlichkeiten wieder auszusuchen.“
Fordern solche Aussprüche nicht geradezu auf, die Gunst der klimatischen Verhältnisse des Herbstes, in welchen doch auch die Michaelisferien fallen klarzulegen?
Weiter brachte 1886 in Nr. 15 der „Gesundheit, Zeitschrift für öffentliche und private Hygiene“, Prof. Reclam in Leipzig einen wahren und lehrreichen Feuilletonartikel über die "Vorzüge der Herbstreise", in welchem es heißt: "Die Reisemonate werden bestimmt teils die Mode, teils durch den äußeren Zwang. Die vornehme Welt tritt gewöhnlich schon im Mai ihre Wallfahrt nach Italien an. Die Neulinge sind meist sehr erstaunt, wenn sie in Neapel oder Genua den Frühling gelegentlich ebenso kühl und regnerisch finden, wie er bei uns ist, und dort mehr frieren, als hier bei uns gefroren haben würden -- Im Juni sind die menschlichen Zugvögel am seltensten; der Juni ist aber für das Gebiet des Deutschen Reiches bei gutem Wetter der eigentliche Wonnemonat. – im Juli beginnt die Völkerwanderung. Er ist der Monat der Schulferien und Bäder sind überfüllt. Wer für einen anderen Monat Zeit zum Reisen gewinnt, der wähle sich den Herbst."
Im September und bis Mitte Oktober ist die wahre Reisezeit. Das gleichmäßige Wetter des Herbstes regt durch seine größere Kühle zu ausgedehnteren Fußwanderungen an und gewährleistet eine Erfrischung und Kräftigung des Körpers und des Geistes, eine Vorbeugung vor künftigem Krankwerden wie kein anderes Hilfsmittel. Die Fußwanderung droht beinahe der Vergessenheit anheimzufallen, wenn nicht alljährlich wenigstens eine Herbstreise dazu auffordert. Es ist so erfrischend, bei schöner Herbstbeleuchtung in die klare Ferne zu blicken und in der buntgefärbten Landschaft sich zu ergehen. Die Länge des Tages beträgt im September 13½–12 Stunden. Im Oktober hat der Tag noch 11½–10 Stunden; er verkürzt sich im November auf 9½–8½ Stunden. Mit Sonnenaufgang verlasse man das Zimmer und benutze den ganzen Vormittag zu einem Ausfluge, oder man dehne denselben bald auf den ganzen Tag aus, sorge aber, daß man vor Sonnenuntergang wieder zu Hause ist. Dann mahnt der Appetit zu 'frühem' Abendbrote, und in dem tagsüber wohlgelüfteten Zimmer gibt man sich nach den Tagestrapatzen abends und in der Nacht einer erquickenden 10–12stündigen Ruhe hin. Neu gekräftigt begrüßt man am anderen Tage die erfrischende Morgenlust und beginnt sein Tagewerk: "das Wandern" von neuem.
Eine solche Erholungs- und Erquickungsreise gewinnt unter dem Einflusse günstigen Wetters im Herbst eine gesundheitlich viel richtigere Tageseinteilung, als wenn man seine „Sommerfrische“ in diejenige Zeit legt, welche eben ihr Name aufweist.
Der Herbst hat ferner den Vorzug, daß er durch sein kühleres Wetter zu den nötigen Leibesübungen anregt, deren energische, kurgemäße Durchführung ja für den Stadtbewohner und Stubenhocker von enorm hohem Wert ist, während zugleich eine ruhige Umgebung und minder zahlreiche Gesellschaft gequälten Nerven gewünschten Vorteil bringt.
Ganz wesentlich milder stellt sich das Klima im Herbst und Winter dort dar, wo ein durch hohe Bergzüge geschütztes Höhenthal zugleich nach einer Seite offen ist un zwar nach der tiefer liegenden Ebene zu. Dann streicht nämlich dauernd, wie der tagtägliche Beweis ergibt, die kühlere, schwerere und darum sich senkende Luft langsam und unmerklich nach dem tieferen Flachlande ab, und die Temperatur hält sich erwiesenermaßen in einem solchen Höhenthale konstant um mehrere Grade höher.
Wer nun wirklich beabsichtigt, im Herbste. d. h. also bis gegen Mitte November, in eine „Herbstfrische“ zu gehen, kann doch wohl zu seinem Reiseziele nur Baden-Baden, Wiesbaden, Meran oder ähnliche ge- und bekannte Herbstkurorte aufsuchen? Durchaus nicht, sondern es ist ihm auch anzuraten, die relativ große Milde der geschützt gelegenen Höhenthäler, z.B. des schlesischen Iser- und Riesengebirges, auszunutzen.
Daß die Idee „Herbstfrischen“ in weiten Kreisen Beachtung gefunden hat, geht daraus hervor, daß in der That bereits eine große Anzahl Aerzte sich aufgemacht hat, um die Wahrheit des Lobgesanges auf den Herbst zu prüfen. Ebenso beweisen dies zahlreiche Zuschriften, von denen ich nur die des Herrn Sanitätsrates Dr. Ebell aus Berlin anführen will, in der es heißt:
„Ihr Schriftchen über ‚Herbstfrischen‘ habe ich mit großem Interesse gelesen. Da ich seit über 15 Jahren auf vielfältigen Reisen im Frühjahr und Herbst die Wahrheit dessen, was Reclam, v. Krafft-Ebing, Beard und Sie selbst anführen, erprobt habe, so kann ich Sie nur beglückwünschen, weitere Kreise darauf aufmerksam gemacht zu haben.
„Von Flinsberg (hier ist Verf. Badearzt. D R.) und seinen mannigfachen Kurmitteln habe ich seit vielen Jahren in einer Reihe von Patientinnen die besten Heilerfolge gesehen. Ich glaube, daß der Herbstaufenthalt besonders die Entwickelungschlorose mit vorübergehenden Amenorrhöen unter kräftiger Ernährung, Bädern, Bergsteigen, ativer und passiver Gymnastik die besten Resultate geben muß und, wie ich beobachtet habe, thatsächlich gibt.“
Ich aber schließe mit den Anfangsworten: "Drum geh am sanften Scheidetage des Jahrs zu guter Letzt hinaus! Bald steigt Gewölk und Schwarz dahinter der Sturm und sein Genoß, der Winter, und hüllt in Flocken Feld und Haus!"