Die Gartenlaube (1892)/Heft 9
Der Klosterjäger.
(1. Fortsetzung.)
Durch lange Gänge, in denen stille Mönche an dem Jäger vorüberwanderten, lautlos seinem Gruß dankend, und über eine steile Wendeltreppe gelangte Haymo in die Wartestube des Vogtes. Die Stube hatte noch ein zweites Treppenhaus und Thor gegen den Marktplatz, damit die Bauern, die Weiber und Hörigen, die Kaufleute und Kriegsknechte, welche dem Vogt ein Anliegen vorzutragen hatten, die klösterliche Schwelle nicht überschreiten mußten. Der einzige Schmuck des großen Raumes war ein mächtiges Kreuz aus Untersberger Marmor und ein rohes, grell bemaltes Schnitzwerk, den heiligen Augustinus darstellend. Auf den Steinbänken, welche sich rings um die Wände zogen, saß ein halb Dutzend Leute, zumeist Salzkäufer aus der Fremde. Durch die geschlossene Thür der Vogtstube klang eine zankende Stimme. Herr Anselmus Schluttemann, der Klostervogt, war heute wieder übler Laune. Das heißt, in solcher Laune war Herr Schluttemann jahraus, jahrein. Das machten aber nicht die Geschäfte des Klosters — Gott bewahre! Herr Schluttemann brachte diese Laune von Hause mit herein in die
[262] Amtsstube. Wer mit Frau Cäcilia, die der Vogt seine „gestrenge Hausehre“ zu nennen pflegte, nur einmal in seinem Leben zu schaffen hatte, der begriff auch wohl, daß Herr Schluttemann täglich zum mindesten fünf geschlagene Stunden im Kellerstüblein des Klosters sitzen mußte, um sein Hauskreuz zu vergessen. Das gelang ihm nur, wenn er nach der zehnten Bitsche in eine Stimmung gerieth, in welcher er alles vergaß, überhaupt alles, und ganz besonders das Nachhausegehen. Pünktlich mit sinkender Nacht schickte Frau Cäcilia die Knechte. Mit dem Herrn Vogt war um diese späte Stunde nicht mehr zu reden. Das heißt, Frau Cäcilia redete wohl – Anselmus aber hörte nicht. Doch was der folgende Morgen brachte, das war so Tag um Tag die Ursache zu Herrn Schluttemanns übler Laune. Zwischen dem Erwachen und der Morgensuppe war Frau Cäcilia unbesiegbar. Und so mußten es die Klosterbauern und Salzkäufer in der Amtsstube büßen, daß des Herrn Vogtes „gestrenge Hausehre“ voll Haaren einen ganzen Urwald, nicht auf dem edlen Haupte, wohl aber auf den Zähnen trug.
Kaum eine Stunde war vergangen, seit Herr Sehluttemann im Sturmschritt ... er selbst nannte diese Eile „lobesamen Diensteifers“ . . . seinem häuslichen Herd entflohen war, um sich in die Amtsstube zu retten. Da war in seiner Laune noch die erste Ofenwärme. Die Thür zitterte vom Hall seiner Stimme wie der Resonanzboden einer Brummgeige.
Haymo lauschte diesem Stubengewitter, und ihm wurde ganz bang zu Muthe. Er hatte wohl ein reines Gewissen, aber zwei gestohlene Steinböcke und dazu die Laune des Herrn Vogts, das konnte ein böses Viertelstündlein absetzen. Er stellte den Bergstock in eine Ecke und ließ sich nieder. Allein gleich wieder sprang er auf, freudig betroffen. Ihm gegenüber, schüchtern eingedrückt in einen Winkel, saß Gittli, das Körbchen mit den Schneerosen auf ihrem Schoß. Und wie schmuck sie sich aufgeputzt hatte! Das war wohl ihr Feiertagsgewand: ein blaues Röcklein mit grüner Borte, ein schwarzes Mieder, zwar ohne Silberschmuck, aber knapp und kleidsam. Wie frischgefallener Schnee war das Linnen, das die Arme und den Hals umschloß. Die schwarzen Haare waren in zwei dicke Zöpfe geflochten und gleich einem Krönlein um die Stirn gelegt. Dazu noch der im Mieder steckende Primelnstrauß, der sie mit seinen goldgelben Blüthen lieblicher schmückte, als es irgend ein blitzendes Geschmeide vermocht hätte.
Haymo ging mit raschen Schritten auf das Mädchen zu.
„Grüß’ Dich Gott, Gittli!“
Sie nickte nur und schaute lächelnd zu ihm auf.
„So gieb mir doch Deine Hand! Wir haben uns ja ewig lang nicht gesehen!“
„Ewig lang! Ich weiß gar nimmer, war’s heuer, oder war’s voriges Jahr . . . oder gar erst heute in der Früh.“ Und kichernd legte sie ihr kleines schmales Händchen in seine braune Jägerhand.
„Wie hast denn geschlafen heut’ nacht?“
„Wie ein Mankerl[1]! Aber beim Aufwachen, Du, da war’s kalt! Ich hab’ mich schier kaum zusammenklauben können aus dem Heu! Und dann bin ich gelaufen wie ein Härmlein[2], nur daß ich wieder warm geworden bin. Ja, drunten erst am See . . .“ Sie stockte. Ein halb ängstlicher, halb sinnender Ausdruck malte sich in ihren Zügen. „Gelt, Du hast ihn auch gesehen . . .“ Sie blickte scheu um sich, und ihre Stimme dämpfte sich zum Flüstern, „den selbigen, den Schwarzen? Ich bin völlig erschrocken! Du! Ich fürcht’ mich nicht so leicht . . . aber der! Ich glaub’, der kommt mir noch im Traum vor! Hast ihn angeschaut? Gelt, ein Gesicht wie ein Gestorbener!“ Ein Gruseln flog über Gittlis Schultern.
„Dirn’,“ sagte Haymo ernst, „wenn Du von mir einen Rath hören willst, dann geh’ ihm aus dem Weg, dem Schwarzen! Aber sorgen brauchst Dich nicht. Da sei Du ganz ruhig! Ich laß Dir nichts geschehen.“
Sie schaute zu ihm auf mit traulichem Blick und sagte: „Das weiß ich!“ Doch als sie den raschen Druck verspürte, mit dem er ihre Finger umschloß, befreite sie hastig, fast erschrocken ihre Hand.
Haymo wurde roth bis über die Stirn. Nach einer Weile fragte er. „Weswegen bist denn da hergekommen? Was willst denn?“
Sie saß verlegen mit gesenkten Augen, und erwiderte leise: „Die Schneerosen will ich dem Kloster bringen. Und ... und mit dem Vogt soll ich reden von meines Bruders wegen. Aber ich werde wohl noch lang verweilen müssen.“ Sie überflog mit einem Blick die Reihe der Wartenden. „Und ich sollt’ schon lang wieder daheim sein. Weißt, ich hab’ ein krankes Bäslein, und meine Schwäh’rin ist siech und kann nicht schaffen.“
„Nein, Gittli, da darfst nimmer warten! Komm’ nur!“ Er nahm sie bei der Hand, und obwohl sie sich unter stammelnden Worten sträubte, zog er sie mit sich gegen die Thür der Vogtstube. „Leut’!“ rief er die Wartenden an. „Die Dirn’ da hat zwei Kranke daheim und kann nimmer warten. Gelt, ja sie darf zuerst hinein?“
Eine Antwort bekam er nicht. Aber nur deshalb, weil im gleichen Augenblick die Thür von innen aufgerissen wurde. Drinnen sah man einen Bauern stehen, der verlegen seinen Filzhut zwischen den Fingern drehte; und vor ihm, mit weit gespreizten Beinen, stand Herr Schluttemann, der Vogt, eine derb gedrungene Gestalt in einem Koller aus braunem Hirschleder, eine steife Krause um den Hals. Wie zwei Dolche stachen die Schnauzbartspitzen aus seinem dunkelrothen Gesicht, und die borstigen Haupthaare starrten wirr durcheinander wie die Stoppeln eines Aehrenfeldes, auf dem eine Herde geweidet hat. War das etwa die Frisur, mit welcher Frau Cäcilia Herrn Schluttemann aus ihren Händen entlassen hatte?
„Wir sind fertig, Eggebauer, fertig miteinander!“ schrie der Vogt und schüttelte den Kopf wie ein Roß, das nimmer ziehen will. „Ihr seht, da warten die Leute. Ich habe noch mehr zu thun, als mit Euch zu hecheln. Weiter! Weiter! Die Thür steht offen, und ich kann den Zug nicht leiden.“
„Herr Vogt,“ stotterte der Bauer, „wenn ich den Acker schon nimmer haben soll, dann habt doch Erbarmen mit meinem armen Weib und . . .“
„Euer Weib hat die Krapfenkrankheit!“ donnerte Herr Schluttemann. „Mit drei Ellen um den Bauch herum hab’ ich kein Erbarmen! Euer Weib soll die Schmalznudeln und den Meth lassen, soll Schlappermilch essen und Schwarzbrot, dann braucht sie kein Bibergail und kein Herzkreuzl vom Steinbock. Das sind Medikamenta für andere Leute! Punktum!“
Der Eggebauer stand vor der Thür, er wußte nicht wie; es war ihm nur einen Augemblick so vorgekommen, als hätte ihn Herr Schluttemann beim Kragen gefaßt. Und während der Bauer wie ein begossener Pudel dem Ausgang zutrollte, hatte der Vogt schon ein neues Opfer seiner Laune gefunden: den Jäger.
„Soooo?“ gröhlte Herr Schluttemann und machte, denn er wollte höhnisch sein, eine tiefe Reverenz. „Belieben schon da zu sein?“
„Ja, Herr Vogt,“ sagte Haymo und schob das Mädchen, das an allen Gliedern zitterte und mit jedem Athemzug die Farbe wechselte„ vor sich hin. „Aber da ist eine Dirn’ . . .“
„Natürlich!“ Herr Schluttemann machte mit ausgebreiteten Armen eine noch tiefere Reverenz. „Seine fürstlichen Gnaden von der Wildschur belieben sich in der Klosterküche festzupflanzen. Der Vogt kann ja warten! Natürlich! Da muß man erst Pastetlein speisen, Saibling’ und Forellen!“
„Nein, Herr Vogt,“ sagte Haymo lächelnd, „es war Hecht und Biberschwanz. Aber da ist eine Dirn’ . . .“
Herr Schluttemann stutzte und richtete sich straff in die Höhe. „Biberschwanz?“ wiederholte er, und sein ganzes Wesen war auf einen Streich verwandelt; im freundlichsten Ton der Neugier fragte er: „Heute giebt’s Biberschwanz?“
„Ja, Herr Vogt! Aber da ist eine Dirn’ . . .“
„Dirn’! Dirn’!“ Herr Schluttemann hatte sich wiedergefunden. Er schnaubte und zeigte das Weiße im Auge. Gittlis lieblicher Anblick rührte ihn nicht; er hatte ja ein Theilchen von jener Hälfte des menschlichen Geschlechtes vor sich, zu welcher Frau Cäcilia gehörte! und das war Ursache genug für den Ton, in dem er Gittli anschnauzte: „Was will das Weibsbild?“
Gittli rührte die Lippen, aber sie brachte keinen Laut aus der Kehle.
„Also? Wird’s bald? Was will man?“
[263] „So rede doch, Gittli!“ mahnte Haymo. „Mußt Dich nicht fürchten! Der Herr Vogt ist ein lieber und guter Mann! Rede nur frisch weg!“
„Ich will … etwas … bringen ...“ stotterte das Mädchen.
„Bringen? Dem Kloster? Herein damit!“ Ein Griff des Herrn Schluttemann, und Gittli stand im Zimmer des Vogtes. Sie wollte noch einen hilfesuchenden Blick zu Haymo zurückwerfen, aber hinter ihr war schon die Thür geschlossen. Scheu blickte sie um sich her. Ein großer Raum mit hohen Schränken an allen Wänden. Zwischen den beiden Fenstern ein Bild: der beiligc Georg, der den Drachen ersticht. In der Mitte ein Tisch mit Lehnstühlen.
In solch einen Stuhl hatte Herr Schluttemann sich geworfen und hielt nun die Hände verschlungen und die Beine gestreckt.
„Also! Was bringt man?“
Gittli näherte sich zögernd, nahm den Deckel von ihrem Körblein und hielt es dem Klostervogte hin.
Herr Schluttemann guckte hinein und rollte die Augen, daß man zweimal das Weiße sah. Er hatte in dem Körblein zum mindesten ein Dutzend frischer Eier vermuthet oder einen Ballen Butter. „Dummes Zeug!“ schnauzte er Gittli an, daß sie erschrocken zusammenfuhr und schier das Körblein fallen ließ. „Was soll denn das? Soll ich mir das Gras vielleicht auf den Hut stecken?“
Gittlis Augen wurden feucht, und mit leiser, kaum noch vernehmlicher Stimme sagte sie: „Morgen ist Charfreitag!“
„Das weiß ich! Oder glaubt man, ich kenne den Kalender nicht?“
„Und das sind Schneerosen. Ich selbst habe sie herunter geholt von den Schneehalden in der Röth’ … und … sie gehören für das heilige Grab unseres lieben Herrn.“
Herr Schluttemnnn dämpfte seine Entrüstung. „So? So? Das ist schön, das ist christlich!“ brummte er. „Stell’ das Körblein nur auf den Tisch. Ich will es dem Bruder Meßner schicken. So! Und jetzt Gottes Dank! Und Gott befohlen!“
Er machte einen bezeichnenden Wink nach der Thür; Gittli aber rührte sich nicht; ihr Gesicht war kreideweiß vor Angst, und mit einem flehenden Blick suchte sie Herrn Schluttemanns Augen.
Der Vogt wurde stutzig; er drehte den Kopf auf die Seite und kam auf das Mädchen zugegangen. mit so drohenden Augen, daß Gittli scheu ein Paar Schritte zurückwich.
„Man will vielleicht noch etwas? Hoho! Ich merke schon! Das also ist die christliche Frömmigkeit! Heeh? Das Kraut da war nur ein Vorwand, um hereinzukommen?“
„Nein, nein, Herr Vogt …“ stammelte Gittli mit versagender Stimme.
„Keine Widerred’!“ kam es wie ein Donnerkeil unter dem gesträubten Schnauzbart herausgefahren. „Was will man? Also? Wird’s bald oder nicht?“
Gittli schaute mit angstvollen Augen auf, sie wollte sprechen, aber ehe sie noch das erste Wörtlein herausbrachte, kamen ihr die dicken Thränen, und bitterlich schluchzend bedeckte sie mit beiden Händen das Gesicht.
„Natürlich! Natürlich! Jetzt wird geheult!“ Herr Schluttemann durchmaß mit langen Schritten die Stube und hob die Arme gegen den Himmel. „Herr Du mein Gott, Du hast die Weibsleut’ auch in Deinem Zorn erschaffen! Heulen! Gleich heulen! So machen sie’s alle! Alle! Alle!“ Ob er wohl im stillen hinzufügte: nur Frau Cäcilia nicht? Breitspurig blieb er vor Gittli stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Also? Hat man bald ausgeheult? Soll ich bald hören, was man will?“
„Ach, Herr Vogt,“ kam es unter Thränen und Schluchzen heraus, „mein Bruder kann das Lehent[3] nicht zahlen!“
„Da haben wir’s!“ Schmetternd fiel die Faust des Herrn Schluttemann auf die Tischplatte. „Der saubere Bruder will nicht zahlen, und das feine Schwesterlein stolziert herum, aufgeputzt wie ein Burgfräulein!“
Gittli warf einen erschrockenen Blick über ihre Gestalt, mit zitternden Händen zerdrückte sie das Primelnsträußlein vor dem Mieder und stammelte in Thränen: „Nein, nein, Herr Vogt! Ich bin doch ein blutarmes Ding. Seht doch die Schuhe an, die hab’ ich mir selbst genäht; und das Röcklein trag’ ich vier Jahre schon, und die Borte da, die ist ja nur angestückelt und das Mieder hat mir die Eggebäuerin geschenkt, weil ihre Zenza draus herausgewachsen ist. Und das Linnen da … das hab’ ich mir doch selbst gewaschen!“
Die Augen des Herrn Schluttemann begannen verdächtig zu zwinkern. Das that aber der Gewalt seiner Stimme keinen Eintrag: „Natürlich! Und da hat man wieder ein Pfund Seife verschmiert.“
„Nein, nein. Herr Vogt, ich hab’s in der Sonne bleichen lassen.“
„Sooo? Natürlich! Die liebe gute Sonne muß auch schon herhalten für die Eitelkeit der Weibsleut’! Und ich, der Vogt, muß mich abgeben mit solchen dummen Geschichten! Warum ist Dein Bruder nicht selbst gekommen? Warum will er nicht zahlen?“
„Ach, Herr Vogt, mein Bruder muß ja von früh bis in die sinkende Nacht im Sudhaus stehen. Und er möchte doch zahlen, wenn er nur könnte. Aber er hat ein krankes Kind daheim, und sein Weib ist siech geworden, wie der Winter kam. Dreimal in der Woche muß die Zchwäh’rin Fleisch essen, und neulich haben wir Wein kaufen müssen, weil sie gar so schwach und elend ist!“
„So? So?“ knnrrte Herr Schluttemann. „Und warum kommt man nicht zu mir und holt sich einen Armenzettel? Und warum geht man nicht zum Armenvater und holt sich Fleisch und Wein und kräftige Süpplein? Das Kloster hat’s doch, und das Kloster giebt! Donnerwetter noch einmal! Warum nicht?“
„Ach, Herr Vogt ...“ und Thräne um Thräne glitt über Gittlis zuckende Wangen, „ich hätt’ es ja gerne schon gethan! Thät’ ich doch alles für die Schwäh’rin und das liebe Bäslein. Aber der Bruder will’s nicht haben. Er sagt immer, daß er ja doch ein Mensch ist, der schaffen und verdienen kann. Und ein Kriegsmann ist er doch auch einmal gewesen. Und er will’s nicht leiden, daß ich mich unter die Bettelleute stelle, und … und er könnt’ es nicht hören, wenn uns die Leute Hungerleider schimpfen und Schnappsäcke!“
„So? So? Natürlich! Noth und Elend hint’ und vorne! Aber stolz! Nur stolz! Und die Nase hinauf in den Wind! Das wär’ mir das Richtige! Warte nur, warte, ich will Deinem Bruder den Hochmuth austreiben! Sag’ Deinem Bruder: wenn er nicht zahlt am Ostermontag, dann setzt es ein Donnerwetter! Das Lehen laß’ ich ihm wegnehmen und geb’s einem andern. Ja, das thu’ ich! Gott soll mich strafen!“
Gittli erblaßte, und ihre Kniee drohten zu brechen.
Herr Schluttenann aber wetterte weiter: „Das wär’ mir das Wahre! Nicht zahlen wollen! Natürlich! Da käme dann einer um den andern, zuerst die Lehnsleute, und dann die Zinsbauern, und dann die Salzkäufer … und die frommen Patres und Fratres, die doch auch leben müssen, könnten sich den Hals zubinden und Luft schnappen! Oho!“ Herr Schluttemann wollte der Tischplatte eins versetzen mit der Faust, doch mitten im Schwunge hielt er inne; auch Gittli erschrak und fuhr mit der Hand an die Kehle, als ginge ihr der Athem aus. Sie hatten beide zu gleicher Zeit bemerkt, daß sie nicht mehr zu zweit in der Stube waren.
Vor ihnen stand die hohe Gestalt eines Priesters; über dem schwarzen Talar, dessen weißes Skapulier mit violetter Stickerei gesäumt war, hing an goldener Kette ein funkelndes Kreuz, halb verschleiert durch die dünnen Strähnen des grauen Bartes; ein kleines violettes Käpplein deckte den Scheitel; unter der knöchernen, hart modellierten Stirne ragten die buschigen Brauen hervor wie Dächlein über den Augen; aber das Antlitz hatte keinen finsteren Zug; es war männlich ernst und dennoch milde.
Herr Schluttemann verbeugte sich; denn dieser Priester vor ihm, das war Herr Heinrich von Inzing, der Propst von Berchtesgaden.
„Reverendissime!“ sagte Herr Schlutteman, und verbeugte sich abermals. „Kein Ende, Reverendissime, kein Ende mit Zorn und Aerger! Die Luft könnte einem ausgehen vor Gift und Galle! Da ist nun wieder so eine Dirn’ …“
„Ich habe selbst gehört!“ fiel Herr Heinrich ein, winkte den Vogt zu sich in die Fensternische und sagte in fließendem Latein: „Mich dünkt, Ihr seid zu rauh mit den Leuten, Herr Vogt.
[264][265] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [266] Seht das arme Ding nur an, es giebt kein Tröpflein Blut und zittert am ganzen Leibe.“
Das rothe Gesicht des Herrn Schluttemann schwoll wie der Kamm eines gereizten Gockels. „Bitte, in aller Weisheit zu bedenken, Reverendissime,“ sagte er in einem Latein, bei dessen bedenklichem Klang Herr Heinrich nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte, „bitte zu bedenken, daß man den Leuten die Fuchtel zeigen muß. Sonst ist man verloren und betrogen alle Stund’!“
„Auch ich liebe die falsche Milde nicht. Allein auch Strenge muß geübt werden mit Maß und Ziel!“ Herr Heinrich musterte Gittli mit einem ruhigen Blick … sie erbebte vor dem dunklen Glanz dieser Augen wie Espenlaub im Abendwinde und duckte sich und zog das Köpfchen ein, als möchte sie sich so klein machen wie ein Mäuschen. Herr Schluttemann wollte sprechen, der Propst aber winkte ihm zu schweigen und sagte, immer noch in lateinischer Sprache: „Der Bruder dieses Dirnleins ist der Sudmann Wolfratus? Ich kenne den Mann, er hat ein furchtloses muthiges Herz. Als wir das letzte Mal unter den Wänden des Watzmann jagten, holte er einen weidwunden Steinbock von der schwindelnden Wand herunter, die kein andrer zu betreten wagte. Forschet nach, Herr Vogt, ob das Mägdlein die Wahrheit gesprochen bat! Trifft den Mann kein Verschulden, dann soll ihm das Lehent erlassen sein für dieses Jahr. Höret Ihr aber, daß dieser Wolfratus ein Säufer ist und ein Würfelspielcr, dann büßet ihn mit aller Strenge! Und jetzt schicket das Dirnlein heim und lasset den Jäger kommen.“ Herr Heinrich wandte sich zum Fenster, von welchem aus man einen herrlichen Blick genoß über Thal und Berge.
Zitternd und bangend war Gittli die ganze Zeit gestanden; der Klang der fremden Sprache hatte sie noch mehr verwirrt, noch ängstlicher gemacht; ihr furchtsam lauschendes Ohr hatte unter den ihr unverständlichen Lauten zweimal den Namen ihres Bruders aufgefangen, und nach den bärbeißigen Drohungen, die Herr Schluttemann ausgestoßen, glaubte nun das arme Ding nicht anders, als daß mit dieser lateinischen Zwiesprach’ ihres Bruders Schicksal und Strafe beredet wurden und beschlossen wäre: zahlen … oder das Lehen verlieren und verjagt werden von Haus und Hof. Ihre Angen wurden heiß, aber sie konnte nicht mehr weinen; an ihrer Kehle würgte die Angst, und ihr war, als stünde sie versteinert am ganzen Leib und vermöchte keinen Finger mehr zu rühren. Sie wich auch keinen Schritt zurück, als Herr Schluttemann jetzt mit dunkelrothem Gesicht und rollenden Augen auf sie zugeschossen kam; nur ihre thränenfeuchten Lider öffneten sich noch weiter, und ihre Lippen zuckten.
„Marsch jetzt, fort mit Dir!“ knurrte der Vogt, welcher trotz der Vermahnung, die ihm geworden war, seiner Würde nichts vergeben wollte. „Und sage Deinem Bruder, wenn er nicht kommt am Ostermontag, dann schick’ ich die Knechte!“ Da sich Gittli noch immer nicht rührte, versetzte ihr Herr Schluttemann einen gelinden, durchaus nicht ernst gemeinten Puff; sie zuckte aber doch zusammen, als wäre das Richtschwert über ihr geschwungen worden. Wortlos wandte sie sich um und schlich der Thür zu, Schrittlein um Schrittlein. Dieser Abschied währte Herrn Schluttemann zu lange, er faßte Gittli am Arm, schob sie hurtig vor sich her, und da die lateinische Lektion, die er empfangen, sein Wohlwollen für den Sudmann Wolfratus gerade nicht gemehrt hatte, konnte er sich nicht enthalten, dem Mädchen noch ins Ohr zu brummen: „Und sag’ ihm nur, daß ich einstweilen meinen Stecken in Salzwasser legen will, damit er besser pfeift … huitt!“ Das war nun freilich wieder nicht gar so schreckhaft gemeint; denn in Wahrheit hatte Herr Schluttemann bis zur Stunde noch kein lebendes Wesen geprügelt, nur Tote: nämlich die „Schwarzreiter“, die geräucherten Saiblinge, welche geklopft werden mußten, bevor man ihnen die rauchgeschwärzte Haut vom rosigen Fleische zog.
Aber Gittli sah und hörte mit den Augen und Ohren eines Kindes, und was sie hörte, jagte ihr den Schreck in alle Glieder, und was sie sah, war trostlose Finsterniß. Noch ein Puff, und sie stand vor der Thür.
Haymo, der draußen gelauert hatte wie der Teckel vor dem Dachsbau, trat ihr hastig entgegen.
„Bist schon fertig, Gittli? Und hast Du …?“ Da sah er ihr verstörtes, thränennasses Gesicht und ihre kummervollen Augen. Das ging ihm ins Herz wie ein Messerstich, und über seine Lippen fuhr es mit erschrockenem Laut: „Gittli! Was ist Dir?“
Sie schüttelte nur traurig das Köpfchen und entwand sich seinen Händen.
„Gittli!“ stammelte er und wollte ihr Nacheilen; aber da klang aus der Amtsstube die Stimme des Herrn Schluttemann: „Haymo! Wo steckst Du denn? Herr Heinrich wartet!“
Einen Blick noch, heiß und sorgenvoll, warf Haymo dem Mädchen nach; dann wandte er sich aufseufzend der Thür zu, zog die Kappe und trat zögernd ein.
Als Gittli ins Freie trat, that ihr der helle Glanz der Sonne in den Augen weh. Und so müde war sie, so zerschlagen an allen Gliedern, daß sie sich eine Weile an die Mauer lehnen mußte. Dann raffte sie sich auf, trocknete das nasse Gesicht mit den Armen und floh davon wie ein gescheuchtes Reh, über den Marktplatz, den Klosterberg hinunter und dem Sudhaus entgegen. Vor dem Thor aber hielt sie stille und besann sich. Nein! Weshalb es dem Bruder jetzt schon sagen? Sie wollte ihm den Kummer ersparen bis zum Abend; er erfuhr ja noch immer frühe genug, was ihm drohte.
Ueber die Brücke eilte sie einem Sträßlein zu, welches, bachaufwärts, am Ufer der rauschenden Albe dahinführte. Nach kurzer Weile gelangte sie zu einem umhegten Garten, in dessen Mitte, von kümmerlichen Obstbäumen umgeben, ein kleines armseliges Häuschen stand. Zwei enge Stübchen, ein schmaler Raum, welcher Flur und Küche zugleich war, und ein kleiner Schuppen – mehr hatte das bemooste Schindeldach vor Sturm und Regen nicht zu schützen. Das Haus mit dem Garten war Klostergut, welches Wolfrat Polzer, der Sudmann, seit zehn Jahren zu Lehen hatte. Seine Heimath war ein niederbayerisches Dorf; als fünfzehnjähriger Bursche war er von Hause weggelaufen, der eisernen Haube zulieb. Das Kriegshandwerk hatte ihn tüchtig umher geworfen, von Burg zu Burg, von Stadt zu Stadt. Zuletzt hatte er bei der reisigen Schar des Erzbischofs von Salzburg gestanden und unter dem Heerbann Friedrichs des Schönen die Schlacht bei Ampfing[4] mitgeschlagen. Dann war er des Hauens und Stechens müde geworden und in die Heimath zurückgekehrt. Während des gleichen Jahres noch hatte er in einer Seuche, welche nach all dem Brennen und Morden das Land heimsuchte, den Vater und die Mutter an einem Tag verloren; da führte ihm der Zufall einen Salzkärrner in den Weg, der im Auftrag des entlegenen Klosters gesunde und kräftige Leute für das Salzwerk zu werben hatte. Wolfrat ließ sich bereden, und auf dem Salzkarren traf er in Berchtesgaden ein; doch kam er nicht allein; er brachte die fünfjährige Schwester mit, und zumeist um dieses Kindes willen geschah es, daß Wolfrat das erste freie Lehen erhielt. Unter den Sacknäherinnen des Salzhauses fand er ein verwaistes Mädchen, das dem finsteren, verschlossenen Mann gut wurde; er hatte sie einmal vor Mißhandlung geschützt, als ihr ein fremder Fuhrmann das allzu schlagfertige Nein, das sie auf eine zudringliche Frage zur Antwort gegeben, mit der Peitsche vergelten wollte. Ein Jahr später wurden sie Mann und Weib. Sie fingen zu Dreien an, Wolfrat, Sepha und Gittli, hielten fest zusammen und waren mit ihrem kargen, stillen Los zufrieden; erst kam ein Knabe, darauf ein Mädchen, und dann kamen Krankheit, Sorgen und Noth. In diesen schlimmen Zeiten wurde Gittli der gute Geist des kleinen Hauses; ihr sanftes Wesen milderte den verdrossenen Groll des Bruders, ihr herzlicher Frohsinn tröstete und erheiterte das kranke Weib, und bei ihren fünfzehn Jahren schaffte sie wie eine Alte, damit die kümmerliche Wirthschaft nicht ganz zerfiel, und sorgte mit so hingebender Liebe für die beiden Kleinen, daß die Kinder fast zärtlicher an ihr als an der Mutter hingen.
Von dem Gang, den sie ins Kloster gethan, brachte sie ein recht schweres Herz mit heim. Doch als sie am geflochtenen Gartenhag das hölzerne Thürchen öffnete, wurde der große Kummer, der sie bedrückte, gemildert und verdrängt durch die Sorge im kleinen. Mit forschenden Angen schaute sie umher; hier schien alles in bester Ordnung; die sieben Hennen stolzierten [267] über den Rasen, scharrten glucksend in den Maulwurfshügeln und schüttelten das Gefieder in der Sonne; friedlich grasten die beiden Ziegen im Bogen um die Bäume, an welche sie mit langen Stricken gebunden waren. Jetzt gewahrte sie im Gras ein ploderndes Hemdlein, aus welchem zwei in der Luft schlenkernde Beinchen hervorragten; ein fünfjähriger blonder Knabe lag bäuchlings auf den Rasen gestreckt und grub und wühlte mit beiden Händchen in der schwarzen Erde, als gält’ es, einen Schatz ans Tageslicht zu fördern.
„Ja Lippele,“ rief Gittli, „ja was machst denn da?“
„Mausi fangen!“ flüsterte der kleine Maulwurfsjäger geheimnißvoll und wollte sein Graben und Wühlen von neuem beginnen.
Gittli aber zankte: „Ja bist denn gescheit? Da hinliegen auf den kalten Boden! Gleich stehst auf!“
Lippele erhob sich schmollend, und da schlug das Mädchen entsetzt die Hände ineinander.
„Ja Lippele! Aber, aber! Wie schaust denn aus! Ja schau Dich nur an! Sooo! Da wird die Dittibas’ gleich weinen!“ Dittibas’ . . . diesen Namen hatte der lallende Kindermund erfunden, der es nicht fertig brachte, „Base Gittli“ zu sagen.
Die Dittibas’ wird weinen! Das war für Lippele die wirksamste aller Drohungen. Er verzog das Mäulchen zu einem Pfännlein, streckte die Aermchen mit gespreizten Fingern auseinander und schaute mit starren Augen an sich hinunter. Dem langen Hemdlein, welches sein ganzes Gewand war, hätte es der schärfste Blick nicht mehr angesehen, daß es Gittli am Morgen weiß und frisch aus der Truhe genommen hatte. Und diese Hände! Und ein Gesicht dazu, als hätte Lippele den Versuch gemacht, die Maus mit den Zähnen aus der Erde herauszubeißen!
„O mein Gott, mein Gott!“ jammerte Gittli. „Gelt? Jetzt schaust? Jaaa! Und die Dittibas’ kann morgen wieder am Wasser stehen und Pfaidi[5] waschen! Gleich sagst es jetzt: was bist Du für ein Bubi?“
„Suggibubi!“ bekannte Lippele mit rühmenswerther Selbsterkenntniß, während seine Augen sich nit Thränen füllten.
„Gelt, ja!“ pflichtete Gittli bei, faßte das Bürschlein am Ellbogen und ging der offenen Hausthür zu, so rasch, daß Lippele mit Hopfen und Stolpern kaum nachzukommen vermochte.
Es war eine ärmliche Stube, welche sie betrat, mit dem dürftigsten bäuerlichen Hausrath bestellt; aber alles sauber in stand gehalten. Tisch und Bänke blank gescheuert. Hinter dem weißgetünchten Lehmofen stand das große Doppelbett, und in dem Winkel zwischen Bett und Mauer ruhte Sepha, das Weib des Sudmannes, in einem aus Weidenruthen geflochtenen Lehnstuhl. Sie schien zu frieren, denn ein dickes Tuch war um ihre Schultern geschlungen und eine Lodendecke über den Schoß gebreitet. Das blonde Haar war gelöst und hing in dünnen, mattschimmernden Strähnen um das bleiche, verkümmerte Gesicht mit den stillen, krankhaft glänzenden Augen. An ihrer Haltung sah man die Schwäche; ganz zerfallen lag sie zwischen den Lehnen des Stuhles, den ihr Wolfrat an einem freien Tag geflochten hatte, da ihr das Liegen so schlecht bekam.
Eine Kranke als Krankenwärterin! In den mit grober Leinwand bezogenen Kissen des Bettes lag ein dreijähriges Mädchen; in üppigen Ringeln floß das goldblonde Haar rings um das kleine süße Gesichtchen, dessen Wangen in fieberhafter Röthe brannten. Die dünnen, zitternden Fingerchen spielten über der Bettdecke mit den schon halb verwelkten Primeln und Veilchen, welche Gittli dem Kinde gebracht hatte, bevor sie das Haus verließ.
Und als das Mädchen nun die Thür öffnete, leuchteten die Augen des Kindes freudig auf. „Dittibas’!“ lispelte es und streckte ihr die Aermchen entgegen.
„Ja, mein Mimmidatzi, ich komm’ schon!“ sagte Gittli mit zärtlichem Lächeln und Nicken. Sie stellte den kleinen Verbrecher, den sie gefangen herbeigeführt, mitten in die Stube. „Schau nur, Schwäh'rin, wie das Bürschlein wieder ausschaut!“
Ueber Sephas Züge flog ein mattes Lächeln. Und als der kleine Schlingel gewahrte, daß sein Aussehen die Mutter nicht schelten, sondern lachen machte, schrie er jauchzend auf, als hätte er eine stolze Heldenthat zu verkünden, und wie eine toll gewordene Hummel surrte er tanzend durch die Stube.
Gittli hatte sich auf das Bett gesetzt; sie hielt das Kind umfangen, das ihren Hals mit seinen dünnen Aermchen fest umklammerte, so aneinander geschmiegt, Wange an Wange gelehnt, wiegten sie sich hin und her, und die Kleine sang dazu mit schmeichelnden Lauten.
Durch das niedere Fenster fiel ein leuchtender Sonnenstrahl, der in dem trüben Raume tausend fliegende Stäubchen flimmern machte. Wollte nach hartem Winter der Frühling nun auch Einkehr halten unter diesem Dach? An der Zeit wär’ es wohl gewesen! . . .
Gittli machte sich an die Arbeit. In ihrer kleinen Kammer vertauschte sie das „gute“ Gewand mit ihrem abgetragenen rothen Röcklein. Erst las sie draußen im Garten die den Hühnern ausgefallenen Federn zusammen, damit das kranke Kind eine neue Kurzweil hätte. Dann kam Lippele in die Kur. Gittli kniete auf den Dielen, neben sich eine kleine Holzwanne mit kaltem Bachwaser; mit einem linnenen Lappen bearbeitete sie dem kleinen Burschen Gesicht und Hände, daß ihm die Haut zu glühen begann. Ließ er nur einen Muckser hören, dann hieß es gleich: „Schön brav sein, Lippele, oder die Dittibas’ thut weinen!“
Sepha schaute ihr eine Weile schweigend zu; dann sagte sie: „Hast den Herrn Vogt daheim gefunden?“
„Ja freilich.“
„Ist er gut mit Dir gewesen? Und . . . hat er eine Freid’ gehabt mit den Röserln?“
„,Das glaub’ ich!“ sagte Gittli, während sie sich tief über die Wanne beugte, um den Lappen auszuringen. „Ah, ah, hat er gesagt, die sind aber schön! Ja, Du . . . so schöne hab’ ich schon bald nicht gesehen, hat er gesagt! Komm her, Lippele!“
„So? So? . . . Umd was hast denn sonst noch mit ihm geredet?“
„So halt . . . wie man halt redet . . . von allerhand . . . ja! Aber weißt, gar lang hab’ ich mich ja nicht verhalten dürfen! Was da die Leut’ warten . . . einer am andern!“
Eine Weile war Stille; dann wieder sagte Sepha, mit scheuem Klang in der Stimme: „Geh’, sag’ mir’s, Gittli . . . hast sonst gar nichts zu schaffen gehabt beim Herrn Vogt?“
„Ja was denn?“ fragte Gittli und schüttelte den Kopf.
„Ich mein’ halt so . . .“ Sepha athmete schwer. „Gittli . . . sag’ mir’s . . . hat der Polzer das Lehent schon beisammen?“
„Aber freilich!“ lachte Gittli, doch mit abgewandtem Gesicht, denn sie fühlte, daß sie roth wurde bis über die Stirn.
„Gott sei Dank!“ Und ein befreiender Seufzer löste sich aus Sephas Brust.
Lippeles Kur war beendigt; er wurde noch in sein starrendes Lederhöschen gesteckt wie die Grille in ihr Häuschen; und dann hieß es: „So, Lippele, brav – jetzt bist aber wieder schön!“ Er bekam einen Kuß, als Dreingabe noch einen Klaps und sprang zur Thür hinaus, um die Verwandlung in seinen Urzustand mit frischem Eifer zu beginnen.
Gittli trug die Wanne aus der Stube. Draußen blieb sie schwer athmend stehen und schüttelte in rathlosem Kummer ihr Sorgenköpfchen.
Nun mußte sie die bescheidene Mahlzeit herrichten. Hinter dem Haus lag ein mächtiger Stoß dürren Holzes; den hatte Gittli während des Winters zusammengetragen; hier stand sie jetzt und zerbrach über dem Knie die morschen Aeste; immer wieder ließ sie die Hände sinken und starrte vor sich hin. Wie sollte sie es dem Bruder sagen, wenn er heimkam nach Feierabend? Und wenn er es wußte ... wo sollte er Hilfe finden? Da schoß ihr eine heiße Welle zum Herzen. Einen wußte sie . . . der würde helfen, das hätte sie beschwören mögen ... Haymo, der Klosterjäger! Weshalb ihr gerade dieser Eine in den Sinn kam? Sie wußte keine Antwort auf diese Frage. Aber das Herz war ihr mit einmal ganz leicht geworden! Und wie glatt und einfach der Weg war! Ein einziges Wörtlein zu Haymo . . . und Haymo sprach ein Wörtlein mit Herrn Heinrich . . . und Herr Heinrich konnte doch dem Haymo nichts abschlagen! Ihr war, als sähe sie den Jäger schon daherkommen, lachend und mit beiden Armen winkend: „Gittli! Gittli! Ich hab’ mit ihm geredet, und er hat gesagt, Dein Bruder soll sich Zeit lassen mit dem Lehent und soll zahlen, wann er kann! Sorg’ Dich nimmer! Ich hab’ alles gerichtet! Gelt, weißt schon, ich laß Dir nichts geschehen!“
[268] Gittli fuhr sich mit der Hand über die Augen. War sie denn wach oder träumte sie? Nur gedacht hatte sie an ihn . . . und dort kam er schon, als hätten ihre Gedanken ihn gerufen! Raschen Ganges wanderte er das Sträßchen einher, das am Hag vorüber führte. Wohl verschwand er immer wieder zwischen Büschen und hinter Bäumen, aber sie hatte ihn ja von weitem schon erkannt. Jetzt trat er auf den freien Weg heraus . . . und nun mußte das „Wörtlein“ gesprochen werden. Sie preßte die Hände auf die fliegende Brust, sie faßte sich ein Herz und . . . und versteckte sich hinter dem Holzstoß. Hier stand sie, zitternd an allen Gliedern, lugte nur ein klein wenig zwischen den vorragenden Aesten hindurch und sah, wie Haymo langsam den Hag entlang ging; jetzt blieb er stehen und spähte nach jedem Fenster, in alle Winkel des Gartens. Und da kam es Gittli vor, als wäre sein Gesicht gar traurig und ernst. Sie sah noch, wie er verdrossen den Kopf schüttelte; dann kehrte er sich ab, schulterte den Bergstock und wanderte weiter. Hinter den Stämmen der Linden und Ulmen, welche die Straße geleiteten, verschwand er.
Zögernd trat Gittli hinter dem Holzstoß hervor. Ihr war, sie wußte nicht wie . . . ähnlich vielleicht, wie dem Lippele zu Muth gewesen war, als Gittli zu ihm gesagt hatte: Ja Lippele, wie schaust denn aus! Was hatte sie nur gethan! Den Bruder verkauft und verrathen, wo es sie nur ein Wörtlein gekostet hätte, ihn zu retten! Sie hatte die gute Stunde verpaßt! Weshalb nur, weshalb? Der Athem versagte ihr, und sie meinte fast zu ersticken. Wer sollte dem Bruder jetzt noch helfen? Haymo stieg zu Berge . . . wann würde sie ihn wohl wieder sehen? Lange, lange nicht! Es sei denn, daß sie selbst zu ihm hinaufstiege in die Röth’ . . . am Ostersonntag. Weshalb aber solange warten? Jetzt gleich . . . Haymo war ja noch nicht gar so weit, und sie hätte ihn wohl bald mit ihren flinken Füßen eingeholt! Ein paar Schritte flog sie dahin, dann wieder blieb sie stehen, zitternd, schlug die Hände vor das Gesicht, kehrte um und warf sich schluchzend über das dürre Holz . . .
Gar weit konnte Haymo noch nicht sein . . . so hatte Gittli wohl gedacht. Wie nah er aber war, das ahnte sie doch nicht. Dann, als er am Hag des benachbarten Gartens vorüberschritt, mit ernst sinnenden Augen vor sich hinblickend, flog ihm plötzlich ein kleiner Strauß von Primeln mitten auf die Brust. Betroffen blieb er stehen, schaute verdutzt auf das zur Erde gefallene Sträußchen nieder und sandte einen spähenden Blick in die Hecke, aus der es hervorgeflogen war. Hinter den mit zarten, blaßgrünen Blättchen bedeckten Zweigen schimmerte es roth , und ein leises Kichern schlug an das Ohr des Jägers.
Haymos Augen blitzten freudig auf, rasch hob er das Sträußchen von der Erde, steckte es neben der Adlerfeder auf die Kappe, sprang auf die Hecke zu und theilte lachend mit beiden Armen das Gezweig.
Vor ihm aus der Erde kauerte ein junges dralles Mädchen, das hübsche aber ländlich derbe Gesicht umrahmt von dicken, blonden Flechten. Kichernd und mit zuthulichen Augen blickte sie zu Haymo auf, streckte jedoch dabei abwehrend die Hände gegen ihn, als wäre sie eines lustigen Ueberfalles gewärtig.
Haymo schien indessen für die Gunst der Gelegenheit kein Auge zu haben. Die Wahrnehmung, daß der rothe Schimmer von einem mit silbernen Kettchen umschnürten Mieder herrührte und nicht von einem gewissen Röcklein, mochte ihm nicht sonderlich willkommen sein. Die rathlose Miene, die er zeigte, schien das Mädchen halb zu ärgern, halb zu ergötzeu. Sie richtete sich auf, verschränkte die Arme und lachte ihm ins Gesicht.
„Hast Du den Buschen geworfen?“ fragte er.
Sie lachte nur und zeigte ihm die weißen Zähne; doch als er sich ohne Gruß von ihr wenden wollte, sagte sie hastig: „So eine Frag’! Wenn der Buschen nicht fliegen kann von selber, wird ihn wohl eine geworfen haben, die nicht weit ist!“
„So weit vielleicht, wie Du von mir?“
Sie zuckte. die Schultern und trat dicht an die Hecke heran.
Haymo maß das Mädchen mit verwunderten Augen. „Du mußt aber nicht viel Arbeit haben!“
„Warum?“
„Ich mein’ halt, daß Du wohl den ganzen Tag dazu brauchen mußt, bis Du so viel Blümeln findest, daß Du jedem, der da vorbeigeht, einen Buschen an den Kopf werfen kannst.“
„An den Kopf?“ lächelte sie. „Ich mein’, er wär’ ein bißl tiefer geflogen. Und . . . es könnt’ auch sein, daß ich nicht für jeden einen Buschen hab’!“
„So?“
„Ja!“ Sie streckte den Arm über die Hecke und faßte wie in Neugier den Kolben der Armbrust. „Ein schönes Schießzeug hast! Bist wohl auch ein guter Schütz?“
„Kann schon sein!“ meinte er und trat einen Schritt zurück.
„Aber manchmal trifft auch eine Dirn’ . . . mitten hin auf den richtigen Fleck . . . und brancht keinen Bolzen dazu.“
„So?“
„Sooo? Sooo?“ spottete sie, während der unverhehlte Aerger um ihre Brauen zuckte. „Sind bei Dir die Wörtlein allweil so kostspielig?“
Jetzt mußte Haymo lachen. „Gott bewahr’! Nur in der Charwoch’, weißt, in der größten Fasten.“
„Sparst Dir’s halt auf für den Feiertag, gelt? Freilich, beim Ostertanz kann’s einer brauchen, die vielen Wörtlein . . . und die lang aufgehobenen, das sind die besten.“ Sie blitzte ihn an mit ihren kecken Augen. „Kommst auch gewiß zum Tanz?“
„Wenn ich wüßt’, daß die richtige Tänzerin kommt.“ Haymos Blicke spähten seitwärts durch die Bäume.
„Sie kommt schon . . . brauchst Dich nicht sorgen drum!“
„Meinst?“ fragte Haymo mit raschem Wort; dann schüttelte er den Kopf. „Wie kannst denn Du wissen . . .?“
„Ja, sie hat mir’s selber gesagt,“ erwiderte das Mädchen mit scherzender Wichtigkeit. „Sie hat ja nicht gar so weit zu mir!“
Das stimmte; denn wenn ihn der Bub’, den er auf der Achenbrücke mit der Frage nach dem Haus des Sudmanns angehalten, nicht irrgewiesen hatte, dann wohnte Gittli dort drüben unter jenem nachbarlichen Dach.
In freudiger Bewegung faßte Haymo die Hand des Mädchens. „Sie hat es Dir selber gesagt? Dann sag’ ihr wieder, daß ich komm’! Ganz gewiß! Und dank’ schön für die Botschaft!“
„Zenza! Zenza!“ rief von dem stattlichen Bauernhause her eine ungeduldige Stimme.
„Ich komm’ schon!“ und flüsternd wandte sich das Mädchen wieder zu Haymo. „Mußt ihr aber auch einen Buschen bringen zum Feiertag . . .“
„Den schönsten, den ich find’ . . . Schneerosen!“
Sie schüttelte lachend den Kopf. „Die mag ich nicht! Die sind mir alles zu kalt! Mußt schon wärmere suchen . . . für mich! Und steck’ mir den Buschen vor Tag an das Kammerfenster . . . dann trag’ ich ihn auf dem Kirchgang. Schau hinüber, das zweite Fenster neben der Thür’!“
„Zenza! Zenza!“ rief’s wieder vom Hause her.
„Ich komm’ schon!“ Und kichernd sprang sie davon, auf halbem Weg noch einmal zurückwinkend mit der Hand.
Haymo stand und machte ein Paar Augen, als wäre das Blaue vom Himmel gefallen und ihm gerade auf den Kopf. „So? So meinst Du’s?“ brnmmte er. Dann plötzlich lachte er hell auf und ging mit eiligen Schritten seines Weges weiter. Als die Straße zwischen Bäumen und Strauchwerk an das Ufer der Albe lenkte, hörte Haymo hinter sich die singende Stimme des Mädchens:
„Ich weiß mir ein’ hübschen grünen Wald,
Dort laufen drei Hirschlen wohlgestalt’,
Dort lausen drei Hirschlen hübsch und fein,
Die freuen dem Jäger sein Herzelein.“
Lauschend blieb Haymo stehen, und die Stimme sang weiter:
„Ich weiß mir ein’ hübschen grünen Wald,
Dort laufen drei Rehlen wohlgestall’,
Eins schwarz und eins braun, eins geel wie Gold,
Möcht’ wissen, welches der Jäger wollt’!“
„Ich könnt’s Dir schon sagen, . . . wenn ich nur möcht’!“ lachte Haymo lustig vor sich hin und wollte sich zum Gehen wenden. „Jetzt hätt’ ich aber bald vergessen . . .“
Er nahm die Kappe vom Kopf, riß das Primelnsträußchen herunter und warf es in den Seebach, dessen tanzende Wellen es verschlangen wie ein springender Ferch die schillernde Mücke.
Der Nachmittag verging, und mit dem Feierabend kam Wolfrat nach Hause. Es war der Sudmann, den Haymo unter dem Thor des Salzhauses gesehen hatte; nun trug er zu der Leinenhose noch ein grobes Hemd und einen mürben Janker. Vor der Thür legte er die Holzschuhe ab und trat barfüßig in die Stube, in der es schon dunkel war.
„Bist Du’s, Polzer?“ klang die leise Stimme des Weibes.
„Ja , Seph’!“ erwiderte er, seine Stimme zum Flüstern dämpfend; dann trat er zu Sepha und strich ihr mit der schweren Hand über den Scheitel. „Was machst denn, Hascherl?“
„Wohl wohl, es muß halt gehen!“
„Bist in der Sonnzeit ein bißl draußen gesessen?“
„Wohl wohl, Polzer.“
Er beugte sich über das Bett. „Schlaft’s schon?“ Sie nickte nur. Sachte ließ er sich auf den Bettrand nieder und fühlte mit dem Rücken der Hand an die Wange des schlummernden Kindes. „Völlig brennen thut’s!“ Noch tiefer neigte er sich und trank den heißen Athem, der ihm entgegenströmte. Dann richtete er sich auf und fragte: „Wo schafft die Dirn’?“
„Sie feuert.“
Er erhob sich und verließ die Stube. Draußen in der Küche fand er Gittli beim flackernden Herdfeuer.
„Warst bei ihm?“ fragte er.
Gittli nickte, und die Thränen kamen ihr in die Augen.
„So red’ doch . . . will er mir Zeit lassen?“
Sie schüttelte den Kopf; sprechen konnte sie nicht. Und ihr Schweigen sagte ihm mehr, als er aus hundert Worten hätte hören können. Er wurde bleich bis in die Lippen, griff mit zitternder Hand nach einem dürren Ast und stocherte im Feuer umher. „Der Fitzmeier,“ sagte er nach einer Weile mit schwankender Stimme, „der hat an Michaeli das Lehent auch nicht zahlen können, und am andern Tag haben sie ihn ausgekehrt aus der Stub’.“
„Geh, wie magst Dich denn auf gleichstellen mit so einem!“ sagte Gittli fast zornig. „So ein schlechter Mensch!“
„Gut oder schlecht, nur scheppern muß es, scheppern!“ Er stieß mit heiserem Lachen die Fäuste in die Hosensäcke und beutelte die leeren Taschen. „Jetzt hat der Simmerauer dem Fitzmeier sein Lehen . . . und der Sutter-Franzi wartet auch schon, bis eins ledig wird.“ Er wandte sich ab und verließ die Küche. Auf der Schwelle fragte er über die Schnlter zurück. „Wo ist der Bub’?“
Im gleichen Augenblick kam Lippele zur Hausthür hereingestürmt. Mit beiden Armen griff Wolfrat zu und riß das Bürschlein an seine Brust empor. Lippele sträubte sich greinend gegen diese rauhe Zärtlichkeit; er hatte ja auch eine wichtige Botschaft zu bringen: der Eggebauer habe nach dem Vater gefragt und der Vater solle heut’ noch hinüberkommen.
„Der auch?“ murmelte Wolfrat. „Freilich, einschichtig ist noch nie eine Sorg’ gekommen. Schockweis’, schockweis’ . . . so wird’s wohl sein müssen!“ Er stellte den Knaben auf die Erde, schob ihn zur Stubenthür hinein und verließ das Haus.
Wolfrat brauchte sich nur uber den Gartenhag zu schwingen; denn der Eggebauer war sein Nachbar und ein schwerer dazu: der hatte volle Truhen und Kasten, vier Rosse im Stall und über die zwanzig Kühe; freilich, für den Klostervogt war das noch lang keine Ursach’ zum Respekt – das hatte Herr Schluttemann heut bewiesen.
Der Bauer schien den Sudmann schon erwartet zu haben, denn er stand unter der Hausthür, die Daumen in den breiten Ledergurt eingehängt.
„Grüß’ Gott, Eggebauer!“
„Grüß’ Gott auch, Polzer!“
„Mußt nicht harb sein, Bauer,“ sagte Wolfrat, jedes Wort hervorwürgend, „es ist unrecht von mir, daß ich mich erst hab’ rufen lassen ... ich hätt’ von selber kommen sollen, denn ich weiß ja, daß ich Dir in die Hand versprochen hab’, das Geld in der Palmwoch’ heimzuzahlen . . .“
„Was willst?“ brummte der Bauer. „Hab’ ich drum gefragt?“
Wolfrat schaute freudig betroffen auf.
„Behalt’ das Geld, solang Du willst. Ich brauch’s nicht. Bist ein armer Teufel, aber eine ehrliche Haut ... bei Dir ist’s gut aufgehoben. Und ich bin eine mitleidige Seel’ und hab’ mich gefreut, daß ich Dir hab’ helfen können.“
Eine Hoffnung schoß in Wolfrat heiß empor. „Bauer, wenn Du so zu mir redest,“ sagte er mit stammelnden Worten, „nachher möcht’ ich gleich statt einem ‚Vergelt^s Gott‘ ein ‚Bitt’ schön‘ sagen. Eggebauer! Ich kann das Lehent nicht zahlen! . . . Wenn Du mir helfen möchtest!“
Der Eggebauer spitzte die Ohren, was er hörte, schien er gar nicht ungern zu vernehmen. „Ich könnt’ schon . . . wann ich möcht’!“ sagte er schmunzelnd. „Und wer weiß, vielleicht mag ich!“
„Bauer!“ Und Wolfrat hatte schon mit zitterndem Druck des Bauern Hände gefaßt.
„Laß aus! Laß aus!“ wehrte der Bauer lachend. „Und . . . wir reden noch drüber. Damit Du aber siehst, was ich für einer bin und wie gut ich’s mit Dir mein’: ich weiß ein paar gute Heller zu verdienen, und da bist gleich Du mir eingefallen.“
„Verdienen! Mein Gott, Bauer, ich möcht’ ja schaffen wie ein Narr. Aber ich muß ja von früh bis auf den Abend im Sudhaus werken.“
„Was ich mein’, das kannst auch schaffen in der Nacht. Es ist ja sternscheinige Zeit. Nach Feierabend packst es an, neun Stund’ brauchst dazu und kannst fertig sein, vor das Glöckl im Sudhaus läutet. Und wenn Du’s machst in der Samstagnacht, da kannst auch länger brauchen . . . am Ostersonntag brennt kein Feuer im Sudhaus.“
„Und was wär’ das, was ich schaffen soll?“
„Zenza!“ rief der Bauer in den Flur zurück. „Bring’ die Latern’.“
Nach einer Weile erschien die Tochter des Bauern unter der Hausthür, in der Hand die Laterne mit brennendem Licht. Der Bauer nahm sie. „Komm’!“ sagte er und ging dem Sudmann voran einer Scheune zu.
In dem großen fensterlosen Raum herrschte schon tiefes Dunkel. Wolfrat staunte: so spät im Frühjahr, und die Scheune strotzte noch von Heu und Garben.
„Da schau!“ sagte der Bauer und hob die Laterne.
Wolfrat stand betroffen; scheu griff er nach dem Hut und entblößte das Haupt. Ueber einem Häufen Heu lag ein lebensgroßes Schnitzwerk: das Bild des Erlösers mit ausgebreiteten Armen. Es fehlte nur das Kreuz. Das Schnitzwerk war mit frischen Farben bemalt, die Locken braun, die Augen blau, die Glieder bleich wie Schnee, und aus allen Wunden, unter jedem Stachel der Dornenkrone rannen die rothen Tropfen. Der flackernde Schein der Kerze warf über das Bildniß ein Zittern und Zucken von Licht und Schatten, daß es fast zu leben und sich zu bewegen schien.
„Den sollst hinauftragen auf meine Alm in der Röth’ und sollst ihn aus Kreuz schlagen!“ sagte der Bauer. „Ich hab ihn bei mir überwintert, damit er nicht zu Grund’ geht im Schnee. Aber jetzt fangt das Gras zu wachsen an, jetzt muß er hinauf und auf mein Sach’ schauen. Schwer tragen hast freilich an ihm, aber schau, ich hah Dir da eine Kraxe hergestellt, die liegt Dir gut auf dem Buckel ... da spürst ihn nur halber! Und jetzt red’ . . . willst?“
Ja, Bauer, in der Samstagnacht,“ sagte Wolfrat. „Und aufpacken will ich ihn gleich!“
„Brav, brav!“ nickte der Eggebauer.
Wolfrat hob zur Probe die Kraxe auf den Rücken, um abzumessen, wie hoch er das Schnitzwerk hinaufschnüren müsse, damit es ihn mit den Füßen nicht im Gehen behindere. Dann legte er sich die Stricke zurecht und kleine Heubüschel, mit denen er das Schnitzwerk unterlegen mußte, damit die frische Farbe von den Kanten der Kraxe nicht abgeschürft würde.
„Gelt,“ sagte der Eggebauer, „hast ein rechtes Kreuz bei Dir daheim?“
Wolfrat nickte nur.
„Mein Gott, mein Gott, schaut bei mir auch nicht viel besser aus!“
„Wie geht’s denn der Bäuerin?“
Der Bauer seufzte. „Schlecht, schlecht! Wär’ mir schon lieb, wenn sie bald wieder gesunden thät! Das Weib ist soviel ungut und zuwider und jagt mir die Seel’ aus dem Leib’.“
[271] „Ist halt ein Krankes, Bauer, da muß man Geduld haben!“
„Ja, ja, metzenweis! Aber jeden Wehdam[6] von ihr, den kriege ich zehnfach zu spüren. Und Salben! Und Trankln! Und Geschichten! Mein Gott, ja, mir wär’ ja alles recht, wann’s nur was helfen thät’. Und jetzt meint der Bader, daß gar nichts anders mehr die Bäuerin auf die Füß’ bringt als nur ein Herzkreuzl von einem Steinbock. Aber wo soll ich’s denn hernehmen? Jetzt war ich heut beim Klostervogt, hab’ geglaubt, er verkauft mir eines . . . aber der hat mich schön gestampert. So ’was wär’ nur für die Herrenleut’, sagt er! Als ob eine Bäuerin nicht grad so gern leben thät’ wie eine Ritterin! Und das Weib zieht mir schiergar die Haut vom Leib. Gleich zehn Schilling thät ich zahlen für ein Herzkreuzl! Aber wo soll ich denn eins hernehmen . . . Was meinst?“
Wolfrat schaute auf, und die Blicke der beiden trafen sich. Nun wußte der Sudmann, wie es der Bauer meinte. Schweigend machte er sich wieder an seine Arbeit; aber die Hände zitterten ihm. Zehn Schilling! Und mit acht Schilling wäre das Lehent bezahlt! Und dazu noch ein paar Fläschlein rothen Tiroler für die Seph’ und Fleisch zur Suppe, und vom feinsten Kälbernen einen tüchtigen Schnitz, der ausgab auf fünf Mahlzeiten für das Kind! Und ein paar Heller blieben immer noch übrig für eine weitere Woche! Ach du lieber Gott, was hatte der Teufel, der den Wolfrat zu versuchen kam, ein gutes, gutes Herz!
Aus dem Hause klang die fröhlich singende Stimme der Zenza. „Hehehehe!“ lachte der Eggebauer. „Die kann’s auch schier nimmer erwarten, bis Sonntag ist. Die spürt den Feiertag heut schon in den Füßen. Gehst auch zum Ostertanz, Polzer?“
„So eine Frag’, Bauer! Wenn einmal getanzt wird an ‚Vierzehn Nothhelfer‘ . . . nachher geh’ ich vielleicht!“
„Hehehehe! Die Dirn’ ist völlig närrisch vor Freuden! Meinetwegen! Soll sich einen aussuchen unter den jungen Mannsleuten! Hehehehe! Vielleicht gefällt ihr der neue Klosterjäger! Der kommt auch! Grad jetzt, wie er draußen vorbeigegangen ist, hat er es ihr versprochen . . . daß er ganz gewiß kommt am Sonntag . . . in aller Früh schon!“ Es schien dem Eggebauer gar viel daran gelegen, daß seiner Zenza zum mindesten dieser eine Tänzer sicher war; denn jedem Worte, das er sprach, gab er einen Druck, als wär’s ein Schilling, den man auf den Tisch zählt. Und genau so, wie man die letzten Münzen, um seiner Sache sicher zu sein, noch einmal nachzählt, so wiederholte er die letzten Worte. „Ja . . . in aller Früh schon!“
Wolfrat hatte sich hastig aufgerichtet und schaute den Bauer, der ihm lustig zuzwinkerte, mit funkelnden Augen an; dann wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn und schaffte weiter. Mit beiden Armen hob er das schwere Christusbild empor, um es auf die mit weichen Heubüscheln gepolsterte Kraxe zu legen. Aber wie unsicher seine Hände waren! Fast wäre das Schnitzwerk seinen Armen entglitten; dabei riß ihm ein Stachel der Dornenkrone eine blutige Schrunde in die Wange. Er wischte das Blut weg und besah seine Hand. Und da war ihm, als hätte jemand zu ihm gesprochen, ganz leise und dicht am Ohr . . . nicht der Eggebauer, sondern ein Dritter. Aber sie waren doch nur zu zweien! Er schüttelte den Kopf und griff nach den Stricken; allein durch das Herz ging es ihm wie ein kalter Schauer.
„Sei so gut und laß mir den Herrgott nicht fallen!“ lachte der Eggebauer. „Der ließ mir ja kein Halmerl Gras nimmer wachsen auf meiner Alm! Hehehehe!“
Wolfrat gab keine Antwort. In fester Spannung schnürte er die Stricke über das hölzerne Bild, daß es auf der Kraxe keinen Ruck mehr that.
Der Eggebauer schaute nicht auf Wolfrats Hände, nur immer in sein Gesicht. „Deinem Weib geht’s ja besser, wie ich von der Zenza hör’,“ sagte er nach einer Weile. „Ja, ja, gut Essen und Trinken mußt ihr halt geben, nachher klaubt sie sich schon wieder zusammen, wenn das Frühjahr wärmer wird. Aber was macht denn das kleine Katzerl, das liebe? Da schaut’s schlecht aus, hör’ ich!“
Wolfrat nickte nur, aber seine Brust hob sich, als wollte sie springen.
„So ein festes und gesundes Kind . . . wie über so ein Kind nur so ’was kommen kann!“ sagte der Eggebauer und schüttelte den Kopf. „Wie hat’s denn angefangen?“
Mit stockenden Worten schilderte Wolfrat den Beginn und die Zeichen der Krankheit.
„Du, Polzer, das ist heilig dieselbige Krankheit, an der im vorigen Winter das Jüngste vom Klostervogt schier draufgegangen wär’ . . . der Totengräber hat schon gewartet . . . ja . . .“
„Ich bin fertig, Bauer!“ unterbrach Wolfrat mit heiserer Stimme den Sprechenden.
„Brav, brav!“ Der Eggebauer ging auf die Kraxe zu, rüttelte an dem Schnitzwerk und fühlte überall hin, wo es auflag. „Ich mein’, es thut’s . . . Aber hohl liegen thut er, schau! Geh, nimm einen festen Buschen Heu und stopf’ drunter hinein, was geht! Ja, Polzer, völlig im Verlöschen war das Kindl schon, und kein Mensch hätt’ sich mehr gedacht, daß der arme Wurm noch einmal aufkommt. Was hast denn . . .?“
Wolfrat war auf den Heuhaufeu zugegangen, um aufzunehmen, was seine Arme fassen konnten. Da hatte er etwas Hartes im Heu gegriffen und hervorgezogen. Eine Armbrust! Ueber Wolfrats Züge flog ein irres Lächeln.
„Bauer? Wie kommt das Schießzeug da her?“
„Wie wird’s herkommen?“ lächelte der andre. „Füß’ hat’s keine, so wird’s wohl einer hergelegt haben. Ja, Polzer . . . daß ich sag’ . . . und wie die Leut’ schon geglaubt haben, jetzt und jetzt hat das letzte Stündl geschlagen für das arme Kind, da haben sie ihm zur Letzt noch ’was eingegeben . . . und was sagst? . . . geholfen hat’s! Wie ein Wunder! Ja, und heut’ springt das Kindl wieder umeinander, frisch und fest wie ein Huiserl![7] Wär’ schad drum gewesen, wenn es hätt’ verfaulen müssen!“
Wolfrat stand mit aschfahlem Gesicht und hielt die Armbrust umklammert, als wollte er ihren Schaft zerquetschen unter seinen eisernen Fingern.
„Und was war’s, Bauer, was dem Kind geholfen hat?“
„Schweißbluh’ von einem Steinbock!“
Wolfrat wandte sich ab. Mit ruhiger Hand prüfte er die Sehne und das Schloß der Armbrust, nickte befriedigt, umwickelte die Waffe dicht mit Heu und schob sie auf der Kraxe in den hohlen Raum unter dem Schnitzwerk. Nun erhob er sich, schüttelte die Heufäden von seinem Gewand und sagte: „In der Samstagnacht, Bauer! Um Feierabend komm’ ich und hol’ den Herrgott.“
„Brav, Polzer! Hilf mir, und Du hilfst Dir selber!“
„Und wenn ich komm’ . . . und bring’s?“
„Was ich gesagt hab’! Ich bin der Eggebauer!“ Er streckte die Hand, und Wolfrat schlug ein mit festem Druck.
Als der Sudmann sein Haus erreichte, stand Gittli wartend in der finsteren Thür.
„Aber geh’, wie kannst denn so lang ausbleiben?“ schmollte sie. „Die Seph’ hat sich schon gelegt. Komm’! Ich hab’ Dein Essen heraußen auf dem Herd’ stehen, weißt, drin in der Stub’ könnt’ das Kindl wieder wach werden!“
Er ging in die Küche und setzte sich an den Herd, auf welchem die letzten Kohlen schon zu erlöschen begannen; nur noch ein rother Schimmer füllte den Raum. Gittli wollte sich an seine Seite setzen; er aber schob sie von sich und sagte: „Geh’ schlafen, Dirn’!“
Sie schüttelte das Köpfchen, denn sie wollte mit ihm von der Hilfe sprechen, die sie sich ausgesonnen. Aber kaum begann sie vom Lehent zu reden, da sagte er: „Leg’ Dich nur schlafen und sorg’ Dich nimmer! Ich hab’ das Lehent . . . der Eggebauer leiht mir das Geld!“
Gittli war sprachlos vor Freude; nur die Hände schlug sie ineinander; dann rannte sie davon, huschte in die Stube, tappte sich zum Bett und fiel der Seph’ um den Hals.
„Er hat’s! Er hat’s!“
Das Weib verstand sofort, was Gittli meinte. „Gelt, daß er’s noch nicht gehabt hat?“
„Ich hab’ Dir ja nur die Sorg’ ersparen wollen!“ flüsterte Gittli.
„Woher hat er’s denn?“
„Der Eggebauer hat’s ihm geliehen.“
„Ist das ein guter Mensch!“ weinte Seph’ und faltete die Hände. So heiß ist für den Eggebauer wohl noch nie gebetet worden, außer von ihm selbst vielleicht.
[272] Gittli hauchte einen Kuß auf die heiße Stirn des schlummernden Kindes und schlüpfte in ihre Kammer. Wie sie in den Kissen lag, da weinte sie und kicherte, immer eins ums andre. Als sie ruhiger wurde, sprach sie das gewohnte Vaterunser – und noch ein zweites als Dreingabe; das hatte ja der liebe Gott heute verdient, denn er allein nur hatte diese zwei guten, guten Menschen erschaffen, den Eggebauer und den Haymo. Und von ihnen beiden war Haymo gewiß noch der bessere! Daß es bei ihm gar nicht zum Helfen kam, das war doch nicht seine Schuld! Sie wollte dem Eggebauer gewiß nichts abzwacken von seinen Verdiensten! Aber der Haymo … der hätte dem Bruder das Geld nicht nur geliehen, nein, geschenkt! … Hätt’ er’s denn aber auch gehabt?
Gittli mußte lachen, als sie in ihrer Gedankenreihe zu diesem Ende kam. Sie streckte sich vergnügt, verschränkte die Hände unter dem Köpfchen und summte das Lied von der Schneerose vor sich hin:
„Auf steiler Höh’
Tief unterm Schnee ...“
Als sie zu der Stelle kam, an der es heißt:
„Im Herzen tief
Ein Blümlein schlief
Gar lieblich und an Schönheit reich ...“
da verstummte sie. Was für ein Blümlein war das? Sie hatte das nur immer so hingesungen. Jetzt zum ersten Mal kam ihr diese Frage! Was für ein Blümlein war das?
So lag sie mit offenen Augen und träumte in die Nacht hinein …
Und draußen in der Küche saß Wolfrat beim neu entfachten Feuer und schnitzte aus einem Birnbaumzweige den Bolzen für die Armbrust. Als Spitze gab er ihm den scharfgefeilten Zinken einer Gabel.
Vergangene Zeiten erwachten bei dieser Arbeit; das war ja nicht der erste Bolz, der aus seinen Händen kam. Die Bilder und Abenteuer seiner Jugend und seiner Kriegsjahre zogen an ihm vorüber. Einmal hob er den Kopf und schaute mit langsamen Augen gegen die Wand, hinter welcher Gittlis Kammer lag … und dabei spielte ein seltsam verlorenes Lächeln um seine Lippen. Neben dem Herde sah er Federn liegen; mit ihnen fiederte er den Pfeil. Es waren die Federn, mit denen das „Mimmidatzi“ gespielt hatte, bevor es entschlummert war.
Meiner Heimath.
Was ich am tiefsten lieb’ auf dieser Welt,
Ist meine Heimath, – ist mein Vaterhaus.
Wohl zog ich vor nicht allzulanger Frist
Erwartungsvoll in gold’ne Ferne aus, –
Sie hielt mir alles, was sie mir versprach,
Entrollte Wunder dem erstaunten Blick,
Doch fand mein Herz hier seine Heimath nicht,
Das blieb daheim, das dachte stets zurück!
Nicht reich an Reizen ist mein Vaterland,
Und zauberschön sah mich die Fremde an.
Hier lockte eines Bergsees tiefes Grün,
Dort strebten stolze Felsen himmelan,
Das Alphorn klagte sehnsuchtsvoll und tief,
Schneeweiß hob manches Berghaupt sich empor –
Fürwahr, es gab wohl Herrliches zu schau’n,
Wohin sich auch der trunk’ne Blick verlor!
Und hob sich vor Entzücken dann die Brust,
Und wuchs die Seele, all’ der Schönheit voll,
Hört’ ich ein leises Mahnen immer doch
Und wußte wohl, was es bedeuten soll:
Ihr grünen Wiesen, – all’ das weite Land, –
Du meiner Heimath einfach-ernst Gesicht, –
Du blauer Wogenzug am Ostseestrand, –
Des Nordens Kind läßt seine Treue nicht!
Voll Dank und Freude zog ich damals aus, –
Voll Dank und Freude kehr’ ich auch zurück.
Ein reich’ Erinnern bring’ ich mit nach Haus,
Das ist ein unverlierbar reines Glück.
Dir, schöne Fremde, sag’ ich meinen Dank,
Du botest reich mir deine Schätze aus,
Doch was ich lieb’ am tiefsten auf der Welt,
Ist meine Heimath, – ist mein Vaterhaus!
Marie Bernhard.
Aus Thüringens Waffenkammer.
Mit Zeichnungen von R. Starcke.
Weithingestreckt im Thale der muntern Lauter, dicht an der südlichen Abdachung des Thüringer Waldgebirges liegt die Stadt Suhl am Fuße des Domberges, gleich anziehend durch ihre herrliche Lage, wie bedeutsam durch ihre uralte Waffenindustrie.
Der älteste Nahrungszweig Suhls war allerdings nicht das Waffenschmieden, sondern die Salzgewinnung, welcher die Stadt auch ihren Namen verdankt; aber schon im 15. Jahrhundert wird urkundlich eines Eisenhammers zu Suhl Erwähnung gethan – der Bergbau auf Eisen ward hier bereits im 14. Jahrhundert erfolgreich betrieben, und da sich das gewonnene Material vorzüglich zur Herstellung von Harnischen, Schwertern und Hellebarden eignete, so dürfte Suhl schon damals eine hervorragende Rüstkammer Deutschlands gewesen sein. Als dann das Schießpulver erfunden wurde und die Feuergewehre ihren Einzug hielten, da war natürlich die Zeit der Panzer und Hellebarden vorüber. In Suhl jedoch besann man sich nicht lange, einer Neuerung, welche eine gänzliche Umänderung des Waffenwesens im Gefolge hatte, Rechnung zu tragen. Suhl und Lüttich werden als die ersten Orte in Europa genannt, wo man sich mit der Herstellung von Gewehren beschäftigte.
Die neue Wandlung ging jedoch sehr allmählich vor sich. Erst als Karl V. seine spanischen und italienischen Truppen mit der Muskete ausrüstete, kam diese Kriegswaffe allgemeiner zur Anwendung, und so erklärt es sich auch, daß erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts Urkunden und Berichte eine größere Bedeutung der Suhler Gewehrfabrikation erkennen lassen. Von jener Zeit ab jedoch verbreitete sich ihr Ansehen immer weiter und am Anfang des Dreißigjährigen Krieges stand es auf seiner höchsten Höhe.
Es konnte nicht ausbleiben, daß dieser schrecklichste aller Kriege den Thüringer Waffenschmieden einen geradezu glänzenden Absatz verschaffte. Aber auch die Kehrseite sollten sie kennenlernen. Nachdem bereits im Jahre 1631 kaiserliche Kriegsvölker alle vorhandenen Waffenvorräthe gewaltsam hinweggeschleppt hatten, erschienen am 15. Oktober 1634 unter Führung des Feldobersten Isolani Kroatenbanden raubend und plündernd vor Suhl und steckten es am folgenden Tage an allen vier Ecken in Brand. Bis drei Uhr nachmittags war der beste Theil der vorher so blühenden Stadt nur noch ein rauchender Aschenhaufen; in sieben Stunden waren 769 Bürgerhäuser, zwei herrschaftliche Gebäude, zwei Rathhäuser, drei Mühlen, ein Malzhaus, das Hospital, vier Eisenhämmer und Rohrschmieden, sämmtliche Schulen und Lehrerwohnungen, Pfarrhäuser und zwei Kirchen mit neun Glocken vom Feuer verzehrt, und nur noch einige fünfzig der Stadt entlegene armselige Hütten waren stehen geblieben.
Die Folgen dieses Unglücks waren fürchterlich; Mangel und üble Ausdünstungen erzeugten Seuchen, und viele Menschen starben an Hunger und Krankheit dahin, mit der alten Waffenindustrie war es scheinbar ganz zu Ende. Aber was der Krieg genommen hatte, das gab er auch wieder. Suhl erstand neu aus Schutt und Asche und die Ueberlebenden kehrten unverzagt zu ihrer Arbeit zurück. Und leider waren die Zeiten derart, daß nach Kriegswaffen immer starke Nachfrage herrschte; auch der Westfälische Friede hatte daran nichts geändert, denn allerwärts rüstete man sich aufs neue, und zahlreiche Bestellungen aus aller Herren Ländern brachten Suhl bald zu neuer Blüthe. „Fürsten und Herren kamen nicht selten in eigner Person dahin, weil die Gewehrfabrikation in Hinsicht auf ihre Ausdehnung und Großartigkeit einzig in Europa war,“ sagt ein Chronist.
Die Geschichte der Waffenfabrikation Suhls hängt eng mit der Kriegsgeschichte Europas zusammen; je toller es in der Welt herging, desto besser ging es den Suhlern, und wenn anderwärts die schonungslose Kriegsfurie wüthete und den friedfertigen Landmann um Hab und Gut brachte, dann hatte man in Suhl gute Tage, schmiedete neue Waffen und freute sich des lohnenden Verdienstes.
„Wat den Eenen sien’ Uhl, is den Annern sien’ Nachtigal,“ sagt Fritz Reuter – und hier traf dieses Sprichwort in aller Schärfe zu.
Nach dem Hubertusburger Frieden trat endlich eine lange Geschäftsstockung ein, die zu einer recht empfindlichen Nothlage führte; wohl schufen die Napoleonischen Kriege wieder Arbeit in Hülle und Fülle, aber es waren mittlerweile auch anderwärts zahlreiche Waffenfabriken errichtet worden, so daß Suhl sich diesem bedeutenden Wettbewerb gegenüber nicht mehr recht auf der alten Höhe behaupten konnte. Die Erfindung des Perkussionsschlosses brachte wieder etwas Leben, da hauptsächlich Suhl es war, welches zunächst Luxus- und Jagdgewehre mit demselben [274] ausstattete; aber der alte flotte Betrieb schien dahin zu sein. Da endlich half die preußische Armeeverwaltung. Sie drang im Jahre 1835 darauf, daß für die Ausführung ihrer Aufträge ein einheitlicher Fabrikbetrieb eingerichtet werde, worauf sich die mit Militärlieferungen betrauten Firmen zur Anlage einer richtigen Gewehrfabrik vereinigten, welche im Jahre 1838 eröffnet wurde. Hieran schloß sich im Jahre 1840 die Errichtung einer Lehranstalt für Militärbüchsenmacher, welche vom Staate bereitwillig und reichlich unterstützt wurde, so daß Suhl nunmehr wiederum in seinem alten Glanze sich sonnen konnte. Und nicht nur in Suhl allein, auch in den umliegenden Ortschaften, wie z. B. in Mehlis, Zella St. Blasii und Heinrichs, sowie in den Seitenthälern des Thüringerwaldes wurde die Gewehrfabrikation eifrig betrieben, und niemand dachte daran, daß dies einmal anders werden könne.
Schon aber stieg am Horizont die Wolke auf, welche der neuen Blüthe abermals verderblich werden sollte. In einem kleinen Städtchen im nördlichen Thüringen saß ein unbekannter Schlosser in seiner verschwiegenen Kammer und tüftelte – und was er sich ausgetüftelt und erdacht, das probierte er in seiner Werkstätte mit Feile und Hammer jahrelang geduldig aus. Es war eine großartige, neue Idee, und bald erfuhr es die Welt, daß der Schlosser Dreyse in Sömmerda ein Gewehr erfunden habe, das von hinten geladen und dessen geheimnißvolle Patrone mit einer Nadel entzündet werde; und sie erfuhr gleichzeitig, daß dieses „Zündnadelgewehr“ in der preußischen Armee eingeführt werden solle. Da der Erfinder selbstverständlich auch den Auftrag erhielt, die Anfertigung dieser neuen Gewehre zu übernehmen, so mußte Suhl sich seinen Absatz im Ausland suchen und an Sömmerda seine bisherige Führerschaft abtreten, welche dann wiederum nach dem französischen Kriege auf Mauser in Oberndorf überging. Daß auch dieser bereits wieder abgelöst ist, darf als bekannt vorausgesetzt werden.
Suhl aber gab seine Sache nicht verloren, wenn auch die Gewehrarbeiter vorübergehend recht schlechte, ja geradezu traurige Zeiten durchmachen mußten. Eine Industrie, welche seit Jahrhunderten von Vater auf Sohn sich vererbt hat, kann wohl zeitweise daniederliegen, aber nicht gänzlich untergehen, vollends nicht, wenn die Leiter derselben es verstehen, den Fortschritten der Zeit Rechnung zu tragen. Das ist auch in vollem Maße geschehen. Denn noch weit mehr als bei den Armeegewehren wechselten die Systeme bei den Jagdgewehren; ihre Zahl ist heute Legion, und selbst der erfahrenste Fabrikant würde dieselben nicht alle zu übersehen vermögen. Das aber ist der Stolz der Suhler Fabrikation, daß sie zur Zeit alle bekannten Systeme von Jagdgewehren umfaßt und ihre Erzeugnisse nach allen Weltgegenden versendet – auf diesem Felde hat sie ihren Weltruf nicht nur wieder hergestellt, sondern noch vergrößert.
Suhl ist gegenwärtig eine Stadt von ungefähr 12 000 Einwohnern, von denen sich reichlich die Hälfte mit der Gewehrfabrikation und ihren Nebenarbeiten ernährt. Es sind gegen sechzig Gewehrfabriken vorhanden, darunter drei große, welche Maschinenbetrieb haben, acht mittlere und über vierzig kleinere, welche theilweise in einfache Hausindustrie übergehen. Und gerade die letztere ist von größter Wichtigkeit, da sie die Anfertigung aller nur erdenklichen Arten von Schußwaffen ermöglicht, im Gegensatz zum Maschinenbetrieb, welcher nur bei der Herstellung größerer Mengen von gleichartigen Gewehren seinen Vortheil findet.
Die Anfertigung der blanken Waffen, welche ehemals neben der Gewehrfabrikation in Schwung war, hat mehr und mehr aufgehört, da Bajonette nicht mehr üblich sind und Säbel früher überhaupt nur nebenher gemacht wurden. Wir beschränken uns daher im folgenden auf die Schilderung der Fabrikation von Schußwaffen und bitten den Leser, mit uns an Ort und Stelle die Herstellung derselben sich anzusehen. Die freundliche Aufnahme, welche wir bei den Herren Gebrüder Meffert finden, giebt uns dazu die beste Gelegenheit.
Der wichtigste Theil jeder Schußwaffe ist der Lauf, der gegenwärtig fast ausschließlich aus Gußstahl angefertigt wird; das Material dazu wird zu Suhl in besonderen von der Gewehrfabrikation getrennten Rohrschmieden bearbeitet, in welchen die Rohre bereits annähernd auf das Kaliber gebohrt und außen, je nach der beabsichtigten Verwendung, entweder achtkantig abgefräst oder rund abgedreht werden. Die echten Damastläufe dagegen werden aus Belgien, vorzugsweise aus Nessouvaux und Trooz, bezogen.
Die roh zugerichteten Läufe werden nun zunächst durch eine Gewaltprobe auf ihre Haltbarkeit untersucht, um dann vom Rohrmacher zur Aufnahme des Verschlußstückes vorbereitet zu werden. Dieses letztere, ein sehr wesentlicher Theil des Gewehrs, welcher mit ganz besondrer Sorgfalt gearbeitet sein muß, wird lediglich durch Handarbeit hergestellt und von dem Systemmacher an den Lauf angepaßt. Danach wandert das Stück zum Monteur, welcher Schloß und Abzugsblech anpaßt, die nöthigen Schraubenlöcher bohrt und sodann alle Theile dem Schäfter übergiebt. In der Hand dieses Mannes fängt das Werk allmählich an, Gestalt zu gewinnen. Das rohe Stück Schaftholz wird mit Meißel, Messer und Säge ungefähr in die gewünschte Form gebracht, worauf die Eisentheile sauber eingepaßt und eingelassen werden. Zur Zeit wird zu Schaft und Kolben nur noch Nußbaumholz verwendet, welches man aus Italien, der Schweiz und der Pfalz bezieht; letzteres ist das beste. Hat der Schäfter seine Arbeit vollendet, namentlich auch den Schaft roh mit der Feile bearbeitet, „eingeschäftet“, dann geht das Ganze wieder an den Monteur zurück. Dieser vergleicht alle äußeren Schrauben auf ihre Genauigkeit, paßt die geschmiedeten Hähne auf, feilt sie aus und richtet das Schloß, den Abzug und die inneren Stahltheile zu, stellt also das Ganze fertig zum Gebrauch, nachdem mittlerweile der Lauf innen schußfertig gemacht worden ist. Dies geschieht bei den Schrotläufen, indem man sie glatt ausbohrt und schmirgelt, bei den Kugelläufen, indem man sie mit Zügen versieht, welche sehr vorsichtig mit dem Handbohrzeug eingeschnitten werden. Ist nun alles soweit vorgeschritten, dann wird das Visierzeug aufgesetzt, die Kugelform angepaßt und das Gewehr zum Schießstand gebracht, wo es zunächst mit einer anderthalbfachen Ladung auf die Haltbarkeit von Lauf und Verschlußstück erprobt und dann mit der Gebrauchsladung auf seine Leistungsfähigkeit in Bezug auf Streuung und Durchschlagskraft der Geschosse geprüft und eingeschossen wird. Die etwa vorgefundenen Mängel und Fehler werden hierauf beseitigt und das Gewehr wandert nunmehr noch einmal in die Werkstatt des Schäfters zum „Ausschäften“; Schaft und Kolben werden jetzt sorgfältig verfeilt und verputzt, mit feinem Sandpapier abgerieben, mit Bimsstein, Oel und Leder geglättet und mit Leinöl getränkt und poliert. Zu allerletzt kommt noch die sogenannte „Fischhaut“ an die Reihe. Man macht den Kolbenhals künstlich rauh, weil dies wesentlich zur sichern Handhabung des Gewehres beiträgt.
Soll ein Gewehr noch besondere Verzierungen erhalten, so wandern die einzelnen Stücke zum Graveur, der, ein Künstler in seinem Fache, die wunderbarsten und feinsten Zieraten in Gold, Silber und Elfenbein anzubringen versteht. Hat er seine Arbeit beendet, so kommt das Härten an die Reihe. Es werden zu diesem Zwecke die Eisentheile von acht bis fünfzehn auseinandergenommenen Gewehren vom „Einsetzer“ in einen großen eisernen Kasten so eingepackt, daß die stärkeren Theile nach außen, die schwächeren nach innen zu liegen kommen; die Zwischenräume füllt man, da jedes Stück abgeschlossen von den anderen liegen muß, mit gebrannter Lederkohle aus und bringt diesen sogenannten „Einsatz“ in ein Holzkohlenfeuer, wo er je nach seiner Größe zwei bis drei Stunden zubringen muß, bis er allmählich ohne Luftzutritt die Rothglühhitze erreicht hat. Nun wird der Kasten herausgehoben und schnell in einen großen, mit reinem kalten Wasser angefüllten Behälter ausgeschüttet, wobei jedoch sehr darauf geachtet werden muß, daß kein Theil den andern berührt, sich verbiegt oder zerschlägt, und daß keine Luft zutritt. Die Eisentheile erhalten durch diese Behandlungsweise einen höheren Härtegrad und eine schöne, dunkelmarmorierte Farbe; wird letztere mehr hechtgrau gewünscht, so bringt man die Stücke in verdünnte Salzsäure und hierauf in heißes Seifenwasser, wonach sie gut abgetrocknet und abgefettet werden.
Nun erst geht das Gewehr seiner endgültigen Fertigstellung entgegen. Sind alle Theile poliert, graviert und gehärtet, die Läufe gebräunt oder matt geschmirgelt, so werden sie in einer Werkstätte abgegeben, wo alles sauber gereinigt, nochmals nachgesehen und sodann zusammengesetzt wird.
Aber noch ist für den Fabrikanten nicht alles gethan. Er begnügt sich nicht damit, ein fertiges Gewehr einfach zu versenden oder auf Lager zu legen, er will sich persönlich von der Güte und Brauchbarkeit seines Fabrikats überzeugen. Er unterwirft daher sämmtliche Gewehre einer eingehenden Schießprobe, zu welchem Zwecke er sich seinen eignen, mit allen Erfordernissen der [275] Neuzeit ausgestatteten Schießstand hält. Ein fast ununterbrochenes Schießen ist darum auch das schon von fernher hörbare Wahrzeichen Suhls. Im übrigen steht auf Grund eines Reichsgesetzes vom 1. April 1892 ab die Haltbarkeit der Gewehrläufe und Verschlüsse noch außerdem unter Staatskontrolle, so daß dem Jäger volle Gewähr für unbedingt sichere Waffen geboten wird.
Es bleibt uns zum Schlusse nur noch übrig, einen Blick auf das Lager fertiger Schußwaffen zu werfen, wobei wir uns ungefähr einen Begriff von dem Reichthum an Gewehrarten machen können. Neben den zahlreichen Jagdflinten mit den mannigfaltigsten Verschlußsystemen fallen uns zunächst Doppelgewehre mit verschiedenem Kaliber auf. Es sind dies sogenannte Büchsflinten, für deren Schrotlauf man die alte weite Bohrung beibehalten hat, während der gezogene Kugellauf den Ansprüchen der Neuzeit Rechnung trägt und für kleinkalibrige Geschosse eingerichtet ist. Hat man auch bei unseren inländischen Jagdgewehren das Repetiersystem noch nicht eingeführt, so nähern sich ihm doch die dreiläufigen Gewehre, die sogenannten „Drillinge.“ Der dritte Lauf befindet sich unter den beiden oberen Läufen, an der Stelle, wo bei den alten Vorderladern der Ladestock steckte, und eine besondre Einrichtung des Schlosses ermöglicht es, daß zum Abfeuern der drei Läufe nur zwei Hähne nöthig sind. Je nach Wunsch und Bestellung sind entweder die beiden oberen Läufe weit und glatt gebohrte Schrothläufe, während der untere ein kleinkalibriger Büchsenlauf ist, oder sind umgekehrt die beiden oberen Läufe gezogen und der untere ein Schrotlauf. Diese Konstruktionen sind ganz neu und noch wenig bekannt.
Besondere Ansprüche stellen ferner unsere afrikanischen Kolonien, und man hat sich in Suhl beeilt, denselben gerecht zu werden. Noch vor wenigen Jahren hat wohl kein Mensch daran gedacht, daß unsere immerhin beschränkten Jagdverhältnisse sich derartig ändern würden, daß man auf „deutschem“ Gebiet Löwen, Elefanten, Rhinocerosse und andres Edelwild zur Strecke bringen würde. Für diese Löwenjagden nun sowie für die Erlegung der Dickhäuter sind besonders stark und schwer gebaute Gewehre erforderlich, da sie eine sehr kräftige Pulverladung aufnehmen müssen. So ein Elefanten-Doppelgewehr wiegt sechzehn Pfund, und das Geschoß sieht aus wie eine kleine Granate; es ist ein Stahlgeschoß mit Bleimantel und sitzt auf einer Pulverladung von fünfzehn bis zwanzig Gramm. Es ist selbstverständlich, daß man ein solches Monstrum von Gewehr nicht wie eine gewöhnliche Büchse handhaben kann, da der Rückstoß beim Abfeuern so stark ist, daß der Schütze selbst in Gefahr geräth; deshalb wird auch der Kolben in der Regel mit einer Guttaperchapolsterung versehen, welche diesen Rückstoß mildern soll. Uebrigens führt Suhl auch schnellfeuernde Präcisionswaffen für die ostafrikanische Schutztruppe.
Wir stehen am Schlusse unserer Wanderung.
Für alle, welche der geschilderten Industrie fern stehen, ist ein derartiger Besuch nicht nur höchst belehrend, sondern er wirkt auch erzieherisch auf uns ein. Zweierlei Empfindungen haben wir aus Suhl mit hinweggenommen: Respect vor der deutschen Arbeit und Achtung vor dem einfachen Arbeiter in der blauen Bluse, der da mit rauher, aber geschickter Hand so bewundernswerthe Dinge vollbringt. Möchte der Leser und das nachempfinden!
[276]
Octavia.
Der Staatsminister Lucius Annäus Seneca und der Garde-Befehlshaber Burrus – die beiden vornehmsten Rathgeber Neros
und die eigentlichen Regenten des römischen Weltreichs – hatten bei
der Ermordung der Agrippina, wie man zu sagen pflegt, fünf gerade
sein lassen und sich die grausige That, deren zielbewußte Urheberin
Poppäa Sabina war, als politisch nothwendig zurecht gelegt.[8]
Aus den nämlichen Gründen der Staatsraison machten sie nach erfolgter Beseitigung der Kaiserin-Mutter keinerlei Anstrengung, dem wachsenden Einfluß Poppäas auf Neros fernere Lebensführung entgegenzutreten. Dieser Einfluß nämlich erschien den damaligen Begriffen zufolge, außerordentlich harmlos, ja dem Wohl der Gesammtheit heilsam und förderlich. Poppäa Sabina, die langsam und weit ausholte, ehe sie den entscheidenden Wurf that, spielte mit vollendeter Meisterschaft die Rolle des liebenden Weibes, dem es lediglich um die Person des Geliebten zu thun ist, das nur beglücken, ergötzen, zerstreuen und selbstlos dienen will, ohne nach äußerem Vortheil, nach Herrschaft, Glanz oder Reichthum zu fragen. Es war, als habe sie vornehmlich eins im Auge: dem Drange des Kaisers nach freiester, innerer Entwicklung, nach Ausgestaltung seiner ureigensten Individualität, nach zwanglosem Daseinsgenuß auf allen Gebieten thunlichst Vorschub zu leisten. Je mehr sich der Fürst jedoch in den schäumenden Strudel des Lebens stürzte, um so weniger war die Gefahr vorhanden, daß er den beiden Männern, die damals am Steuer des Reiches saßen und dieses Steuer, trotz allem, was man im einzelnen ihnen vorwerfen mag, mit starkem Griffe und zum Segen der ganzen Bevolkerung handhabten, die Rechnung verderben und die erprobte altrömische Staatsweisheit durch persönliche Einfälle und selbstherrliche Launen durchkreuzen würde.
Poppäa verfolgte bei ihrer systematisch betriebenen Verstrickung des Kaisers in das Gespinst eines würdelosen Genußlebens freilich ganz andere Pläne. Sie wollte sich unentbehrlich machen; der Kaiser sollte ihr altes zu danken haben – sogar die Sättigung seiner künstlerisch ästhetischen Eitelkeit; er sollte sich um so leidenschaftlicher an sie festketten, als sie ihm praktisch bewies, daß ihre Fesseln nicht drückten, sondern ihm Raum ließen, da und dort schmetterlingsartig herumzuschwärmen, ohne dann bei der Rückkehr zu ihr ein verstimmtes und grollendes Antlitz zu finden. Im Gegentheil: der Born ihrer Großmuth und Güte schien unerschöpflich, so daß die kalt berechnende Gauklerin gerade in diesem Punkte für den leichtsinnigen Fürsten einen sehr vortheilhaften Gegensatz bilden mußte zu der stillen, erhabenen Trauer seiner Gemahlin, der edlen Octavia.
Poppäa, die klar begriff, daß die Entfremdung Neros von allem Ernsten und Würdevollen auch die Nachhaltigkeit seiner Entfremdung von Octavia verbürge, knüpfte zunächst bei einer an sich durchaus unbedenklichen Neigung des Kaisers an – bei seiner ausgesprochenen Vorliebe nämlich für hellenisches Wesen. Griechische Sprache, Kunst, Philosophie und Kultur hatten damals für Rom vielleicht noch größre Bedeutung als im verflossenen Jahrhundert für uns der Einfluß Frankreichs. Der Satiriker Juvenal hat dieser „Gräcomanie“ einen häufig citierten Exkurs gewidmet. In den Atrien – Salons – wurde früh bei den Morgengesellschaften (die Routs der klassischen Römer fanden unmittelbar nach Sonnenaufgang statt) oft mehr Griechisch gehört als Lateinisch. Liebende, die sich der Verskunst beflissen, richteten ihre Strophen häufiger an die Adresse einer griechischen zoë kai psyche („mein Leben und meine Seele!“) als an die einer nationalrömischen lux („mein Licht!“). Ja selbst die lateinschreibenden Dichter von Ruf, Horaz an der Spitze, ahmten die griechische Ode, das griechische Liebes- und Trinklied nach. Kein Wunder also, daß Nero, der am wenigsten römische aller Cäsaren, gleichfalls unter dem Banne dieser Mode stand und das „omnia graece“ („Alles auf Griechisch!) des Juvenal buchstäblich wahr machte.
Vor allem schwärmte er – wie das gesammte Alterthum bis in die späteren Jahrhunderte, wo dann Virgil zum klassischen Dichter gestempelt ward – für die Heldengedichte Homers. Und hier begegnen wir einem Zuge, in welchem sich Nero mit dem unsterblichen Phantasiegebilde des großen Cervantes, dem sinnreichen Junker Don Quixote von der Mancha, berührt. Wie dieser Hidalgo durch die fortgesetzte Lektüre längst überholter Ritterromane derart erregt und verstört wurde, daß er die Wirklichkeit völlig vergaß und sich anschickte, die „glorreichen Thaten“ eines Amadis von Gallien und eines Spiegelritters durch eigne Leistungen auf dem Gebiete des fahrenden Ritterthums in den Schatten zu stellen, so glaubte auch Nero, durch Poppäa in dieser Thorheit bestärkt, gewisse Gepflogenheiten der sagenhaften Heroen Homers ins Kaiserlichrömische übertragen zu können. Weil die Kriegshelden der Ilias – hellenischer Sitte gemäß – die Kunst des Wagenlenkens betreiben, eine Kunst, die auch später in Griechenland hochangesehen und geachtet war, hielt sich Nero, trotz der stark widerstrebenden Auffassung der Italiker, für berufen, diesen höchst unlateinischen Sport eifrig zu pflegen.
Burrus und Seneca, die sonst in der leidenschaftlichen Hingabe Neros an die Verwirklichung extravaganter Ideen nichts unerwünschtes erblickten, waren doch Römer genug, um diesen geradezu unerhorten Gelüsten ernsthaft entgegenzutreten. Sie hielten dem Kaiser vor, eine Obliegenheit, die man in Rom seit unvordenklicher Zeit ausschließlich durch Sklaven habe besorgen lassen, schicke sich nicht für den Beherrscher des Weltreichs; man könne nicht gleichzeitig Cirkuskutscher und Imperator sein. – Aber was half’s? Die schöne, in allen Künsten der Koketterie erfahrene Poppäa blies die ganze Moral der beiden Staatsmänner mit einem einzigen Hauche ihres blühenden Mundes über den Haufen. „Man gönnt Dir’s nicht; man strotzt von elendem Neide!“ raunte sie schmeichlerisch. „Spotte Du ihrer Kleinlichkeit und handle, wie es Dir gut dünkt! Wieß Es soll eine Schande sein, öffentlich einen Wagen zu lenken? Aber lenkt nicht Helios-Apollo den Sonnenwagen frei und leuchtend vor aller Welt – er, der unsterbliche Gott?“
Und richtig: Nero kam den Ministern mit dem unglaublichen Einwurf, auch Helios-Apollo sei Wagenlenker!
Nun gaben sie seufzend nach und ließen ihrem verschrobenen Herrn unweit des vatikanischen Hügels einen Hofcirkus bauen, wo er nach kurzer Frist unter dem donnernden Beifall der „Freunde“, das heißt der Höflinge auftrat.
Dieser Applaus aber scheint ihm ein wenig gar zu donnernd gewesen zu sein. Es verhielt sich damit wie mit den Schießerfolgen eines längst zu seinen Vätern versammelten deutschen Bundesfürsten, dem gelegentlich einer Schützenfeier der Jubelhanswurst flott hinter der Scheibe heraufsprang, während doch das Gewehr in den Händen des fürstlichen Schützen versagt hatte. Die römischen Höflinge klatschten auch dann, wenn die Pferde gestürzt waren oder die hohe Person des Lenkers beim Anprall der Räder wider die Zielsäule über Bord flog. So beschloß denn der Kaiser, dem Beispiel des Helios-Apollo folgend, die Oeffentlichkeit zu erweitern und dem gesammten Volke den Eintritt in den Hofcirkus freizugeben. Jetzt erst, da auch das „große Publikum“ Bravo brüllte – für den Pöbel war es ja in der That ein Genuß, die Vorurtheile der guten Gesellschaft so in den Staub getreten zu sehen – jetzt erst fühlte sich Nero völlig befriedigt und lebte fortan dem Glauben, der ausgezeichnetste Rosselenker und Cirkusfahrer aller Jahrhunderte und aller Volker zu sein.
Bald jedoch dürstete Nero nach Lorbeerkränzen auf anderen künstlerischen Gebieten. Poppäa hatte schon früher ihm eingeredet, die griechischen und lateinischen Verse, die er zum Preise ihrer Schönheit geschmiedet, ja vielleicht selbst komponiert und zur Leyer gesungen hatte, seien die Offenbarungen eines Genies; der Vortrag zumal überbiete an Glanz und Herrlichkeit alles, was man in Rom jemals von Sängern und Virtuosen vernommen habe. Nun regte sich in dem Kaiser der Ehrgeiz, derartige Leistungen ins Große zu treiben und zunächst vor der Hofgesellschaft als Meister des Lieds und der Schauspielkunst aufzutreten. Er ließ einen geeigneten Raum des Palastes zur Bühne verwandeln und eröffnete nun eine Reihe musikalisch-dramatischer Vorstellungen der tollsten Art, bei denen sich – um der geheimen Kritik des naserümpfenden Hochadels den Stachel zu nehmen – hervorragende Männer des ersten Standes, Beamte in ausgezeichneten
[277][278] Stellungen, ehemalige Konsuln, ja selbst Frauen und Mädchen aus edlem Geschlecht betheiligen mußten. Nach allem, was Tacitus über dies Treiben berichtet, war es durchaus der Geist der Poppäa, der hier seine Orgien feierte. Unziemlichkeiten, die für die mitwirkenden Damen des Adels geradezu kompromittierend waren, machten den Grundstock des Repertoires aus. Die Zuschauer bestanden, abgesehen von der Hofgesellschaft, aus Gardesoldaten, die sich weidlich ergötzten. Auch Burrus, ihr Oberbefehlshaber, mußte sich widerwillig bequemen, das mit anzuschauen, was Poppäa Sabina griechische Leichtlebigkeit, Freiheit und Kunst nannte, während es doch vom Standpunkt des alten Römerernstes unwürdig und verächtlich war.
Bei Gelegenheit einer solchen Vorstellung mag es gewesen sein, daß Poppäa zum ersten Male auf den Gedanken kam, dieser Burrus werde am Ende doch ihren Plänen wider die Rechte Octavias einen Block in den Weg schleudern. Der eben erwähnte Geschichtschreiber meldet, Burrus habe den Vorführungen des Hoftheaters zwar pflichtschuldigst Beifall gespendet – wie man sich selbst da „achtungsvoll“ unterzeichnet, wo man keinerlei Achtung empfindet – innerlich aber sei er voll Schmerz und Trauer gewesen. Dem ungewöhnlichen Scharfblick Poppäas kann die Gezwungenheit im Verhalten des Prätorianer-Befehlshabers nicht entgangen sein, denn Burrus war in der Kunst des Heuchelns lange nicht so geschult wie die Mehrzahl der Aristokraten. Seine maßvolle Opposition gegen die griechischen Anwandlungen des Kaisers hatte Poppäa ohnehin mißtrauisch gemacht. Jedenfalls rührt schon aus dieser Zeit die heimliche Feindschaft Poppäas gegen den Mann her, der sich dann später – allein unter allen Beamten des Reiches – den Muth nahm, für die Interessen Octavias einzutreten und der von Poppäa betriebenen Ehescheidung des Kaisers entgegen zu arbeiten. „Gieb ihr dann wenigstens ihre Mitgift – den Thron – zurück!“ soll er einmal in großer Erregung zu Nero gesagt haben, als dieser ihm eine verschämte Andeutung machte.
Daß Burrus, dessen Machtstellung an der Spitze der Prätorianer sehr in Berechnung zu ziehen war, den Einfluß Poppäas nicht über eine gewisse Grenze hinaus dulden würde, muß, wie gesagt, der schändlichen Intriguantin damals schon deutlich gewesen sein. Die logische Folge dieser Erkenntniß war der verzehrende Wunsch, den gefährlichen General auf die Seite zu schaffen.
Hierfür gab es zwei Möglichkeiten. Zunächst den Weg der Entlassung. Der aber konnte bei der hohen Verehrung, die Burrus im prätorianischen Lager genoß, leicht zu einer politischen Umwälzung führen. Die Prätorianer konnten beispielsweise erklären: „Wir geben den Burrus nicht her; wenn sich der Kaiser mit Burrus nicht mehr vertragen kann, so giebt es ja Prätendenten genug, die mit Vergnügen die Krone aus unseren Händen empfangen.“ Schon Agrippina hatte bekanntlich dem Kaiser mit einer Revolution der Prätorianer gedroht. In der That, wer die Leibwache für sich hatte, war so gut wie Herr des Reiches. Niemand aber konnte voraussagen, für wen sich bei einem Bruch zwischen Burrus und Nero die Garde entscheiden würde.
Das war also äußerst bedenklich.
So blieb nur der zweite Weg – der längst beliebte Brauch römischer Hofkreise: eine Verständigung mit der Giftmischerin Locusta, ein Gegenstück zu den vergifteten Pilzen, mit denen einst Agrippina den Kaiser Claudius unter die Götter versetzt hatte ...
Vorläufig konnte die „Frage Burrus“ indessen dahinstehen. Noch hielt Poppäa Sabina die Zeit nicht für gekommen, das letzte entscheidende Wort zu sprechen. Sie überhastete nichts, um desto zuverlässiger an das Ziel zu gelangen. Ihr Talent bestand vor allem auch darin, durch das zu wirken, was man heutzutage „Suggestion“ nennt. Ohne daß der Kaiser es merkte, träufelte sie dem Verblendeten ein, was ihr gut dünkte, und empfing dann mit freudigem Staunen als seinen Vorschlag, was doch ursprünglich ihr eigenstes und persönlichstes Wollen gewesen war. So hatte sie es mit dem Rennsport gehalten, mit Neros Leidenschaft für Sängerthum und Schauspielerei, für wüste Gelage und Liebeshändel; so hielt sie es auch mit dem Angelpunkt ihres ganzen Plans. Er selber sollte auf die Idee kommen, Octavia bilde das Haupthinderniß seiner Mühseligkeit, ein Ehebündniß mit ihr, Poppäa, dagegen bedeute den Gipfel alles Begehrenswerthen.
Ein Zechgenosse und Freund des Nero, der Sicilianer Sophonius Tigellinus, der damals am Hofe die Rolle eines nichtamtlichen Vergnügungskommissärs spielte, unterstützte Poppäas ehrgeizige Bestrebungen. Er war vom Kaiser mit besonderer Huld überhäuft worden, weil er ein ausgezeichneter Pferdekenner und zudem der Besitzer eines glänzenden Marstalls war. Mit einem Instinkt, der dem Spürgeist Poppäas nahe kam, sah er sofort ein, daß im Palaste der Sport die sicherste Leiter zu Einfluß und Macht bildete. Wie schöne Seelen sich finden, so finden sich auch gemeine und selbstsüchtige. Nach kurzer Frist schon hatte Poppäa mit Tigellinus ein Schutz- und Trutzbündniß abgeschlossen, dessen gemeinsames Ziel die moralische Knechtung des Kaisers, die Verdrängung der besseren Elemente vom Hofe, die Thronbesteigung Poppäas um jeden Preis und die Beleihung des Tigellinus mit dem einflußreichsten und wichtigsten Posten des Reiches war. Tigellinus, vielleicht mehr noch als Poppäa Sabina, hat den Kaiser planmäßig versumpft und alles, was in der Brust des einst so vielversprechenden Jünglings noch wie ein Schimmer von Würde, von sittlichem Ernste, von Pflichtgefühl aussah, durch den abscheulichen Schlamm seines Beispiels und seiner Lehren muthwillig ausgelöscht. Er war der Haupturheber jenes entsetzlichen Wahns, der für das spätere Privatleben Neros so charakteristisch ist – des Wahns nämlich, dem Imperator sei alles erlaubt, die Gesetze seien nur für die Unterthanen. Tigellinus predigte ihm die mißverstandene Weisheit des Epikur: „Genieße, schwelge, prasse, kühle den Brand jeder Leidenschaft, unbekümmert um das, was da kommt, unbekümmert vor allem um das Weh deiner Mitmenschen! Was deinem Lustgefühl widerstreitet, zermalme! Es ist dein Feind, es ist schlechthin das Uebel!“
Inzwischen nahm die Gräcomanie des Kaisers immer größere Verhältnisse an. Ein Jahr nach Eröffnung des Hoftheaters verfiel Nero auf die Idee, den altgriechischen „Kampf der Wagen und Gesänge“ in der so gänzlich ungriechischen Atmosphäre der Siebenhügelstadt wieder aufleben zu lassen. Ungriechisch war diese Atmosphäre im höchsten Grade, trotz der Modeherrschaft des Griechischen. Wie Friedrich der Große zwar französisch „parlierte“ und den „admirablen“ Voltaire nach Potsdam berief, aber nichtsdestoweniger den Herren Franzosen bei Roßbach die „charmanten Pantalons“ ausklopfte und für die kriegsuntüchtige Weichlichkeit der französischen Offiziere eine kerndeutsche Verachtung hegte, so trank man zu Rom zwar gern die geistigen Weine von Hellas, aber die Griechen selbst standen in Mißkredit und die isthmischen und olympischen Spiele dünkten dem gravitätischen, etwas steifleinenen Römer ein Firlefanz, dessen ein wirklicher Mann sich zu schämen hätte. Trotz dieser Abneigung wurde das Fest der „Neronien“ Thatsache. Was Nero früher allein oder doch nur mit einer beschränkten Anzahl von Mitarbeitern in Scene gesetzt hatte, das drängte sich jetzt dem römischen Volke als Nationalfest auf. Senatoren und Ritter mußten in Masse sich an dem Wettstreit betheiligen, der alle Gebiete des Sports und der Kunst umfaßte, vom poetischen Vortrag bis zum Ringkampf und zur Fehde der Boxer, von der Uebung des Redners bis zur Leistung des Pferdeknechts. Die Unkosten für die „Neronien“ trug die Staatskasse. Alle fünf Jahre sollte dies neue Fest wiederholt werden. Der Kaiser natürlich startete mit, oh, und mit welcher Begeisterung!
Als die „Neronien“ zum ersten Male gefeiert wurden, erhielt Nero, wie man’s nicht anders erwarten durfte, den Hauptpreis als Redner und Lyriker.
Und nun ereignete sich jener abgeschmackte Senatsbeschluß, der in der Seele Poppäas die Ueberzeugung erwecken mußte, daß die Gesellschaft Roms nun wirklich reif sei für das Empörendste. Die hohe Körperschaft nämlich, die innerlich über das nach römischer Anschauung geradezu skandalöse Verhalten des Kaisers schäumte, ließ sich dazu herbei, wegen der „Siege des Herrschers“, der dem Lorbeerkranz der ewigen Roma ein neues, glorreiches Blatt hinzugefügt habe, Gebete und Dankopfer zu beschließen und den Befehl zu ertheilen, die Verse des Kaisers sollten mit goldenen Buchstaben auf kostbare Pergamentrollen geschrieben und dem capitolinischen Jupiter – in dessen Tempel man tagte – gewidmet werden!
Im zweiten Jahre nach den erzählten Vorgängen ward Rom eines Morgens durch die Nachricht erschreckt, der Prätorianer-General Burrus sei nach kurzer Erkrankung verstorben, und die römischen Schriftsteller geben uns zu verstehen, Nero selbst habe ihn vergiften lassen. Wenigstens habe ein starker Verdacht obgewaltet. Eine Vergiftung nahm man um deswillen an, weil Burrus an einer [279] furchtbaren Schwellung des Schlundes zu Grunde ging, die, wie man glaubte, zwar nicht von dem Gift, wohl aber von dem Gegengift herrührte, das ihm die Aerzte gereicht hatten.
Wenn die Urheberschaft Neros thatsächlich feststünde – die Berichte des Tacitus lassen dem Zweifel Raum - so wäre doch jedem Unbefangenen klar, daß Poppäa den Fürsten auch hier, wie bei der Ermordung der Kaiserin-Mutter, zur Begehung der Unthat veranlaßt hätte. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist jedoch ihre unmittelbare Urheberschaft, ohne des Kaisers Vorwissen. Der uralte Grundsatz, bei der Erforschung der Thäterschaft in erster Linie zu fragen: „Wem gereicht das Verbrechen zum Vortheil?“ („cui bono?“), leitet uns mit zwingender Logik auf diese schreckliche Frau, die an Skrupellosigkeit in der Wahl ihrer Mittel selbst von der furchtbaren Agrippina kaum übertroffen wurde. Welches Interesse hätte auch der Kaiser an der Beseitigung eines Mannes gehabt, der unbeirrt durch die Abwege, auf denen sich die Person des Herrschers herumtrieb, den Thron gegen alle Verschwörungen schirmte, die Treue der Prätorianer stärkte, die Reichsgeschäfte mustergültig verwaltete und den Gesetzen überall Achtung verschaffte?
Für Nero war der Ehebund mit Poppäa durchaus keine Lebensfrage; nur sie steuerte hartnäckig diesem Ziele entgegen, und wenn sie den Kaiser auch stark im Sinn ihrer Wünsche beeinflußt hatte, einen Mord und dazu noch den Mord seines treusten Beschützers war diese Hochzeit nicht werth. Daß Poppäa hingegen den Burrus zu fürchten hatte, ward schon angedeutet. Octavia stand bei den Gardesoldaten in hohem Ansehen; der stille Gram, der ihr liebliches Antlitz wie ein Schein der Verklärung umwob, rührte und warb ihr begeisterte Anhänger. Ein der Octavia feindlich gestimmter Nachfolger des Burrus konnte die Sympathien der Prätorianer zu Gunsten Poppäas beeinflussen. Er konnte die Garde durch zweckmäßige Versetzungen, Einstellungen und Rekrutierungen umgestalten. Poppäa allein also hatte vom Sterben des Burrus einen handgreiflichen Vortheil.
Nun war auch der Augenblick gekommen, dem jungen Kaiser die militärischen Vorzüge des Tigellinus zu rühmen. Poppäa that dies mit der ihr eignen Unwiderstehlichkeit, und Nero ließ sich denn auch wirklich bestimmen, den aalglatten, tückischen Agrigentiner an Stelle des Burrus zum kommandierenden General der Prätorianer zu machen, vorerst in Gemeinschaft mit Faenius Rufus, dessen Einfluß Tigellinus jedoch allmählich zu untergraben wußte.
Mit der Ernennung des Tigellinus zum Führer der Leibwache hatte der Kaiser öffentlich dargethan, daß die Epoche der Alten vorüber sei und daß eine Herrschaft der schrankenlosesten Selbstherrlichkeit, der unverschämtesten Tyrannei beginnen solle. Der Staatsminister Lucius Annäus Seneca fühlte dies augenblicklich heraus. Ohne die starke Hand seines Kollegen Burrus glaubte er sich der Führung des Steuers nicht mehr gewachsen. Er reichte seine Entlassung ein – unter dem schicklichen Vorwand philosophischer und litterarischer Studien. Ehrenhalber glaubte der Kaiser sich zwar eine Zeitlang sträuben zu müssen: schließlich jedoch gab er dem Wunsche seines ehemaligen Lehrers mit großer Genugthuung Folge.
So waren denn für Poppäa Sabina die Pfade glücklich geebnet. Gemeinschaftlich mit dem neuen Garde-General Tigellinus erwog sie die einzuleitenden Schritte, um endlich die verhaßte Octavia aus dem Sattel zu heben. Meineidige Denunzianten waren im Rom der Cäsaren wohlfeil wie Brombeeren. Das edle Verschwörerpaar sorgte also zunächst für die erforderlichen Belastungszeugen, unterbreitete die erkauften Aussagen dem Kaiser und bestimmte ihn, auf Grund dieser schamlosen Verleumdungen den Ehescheidungsprozeß gegen die Kaiserin anzustrengen. So tief wurzelte immerhin die Furcht der Poppäa vor dem Rächeramt des öffentlichen Gewissens, daß sie nicht wagte, die Ehe Octavias durch einen Akt offenkundiger Willkür zu lösen, wie dies dem Lebensprogramm des Kaisers sonst doch entsprochen hätte. Der Schein sollte erweckt werden, als ernte Octavia den gesetzmäßigen Lohn einer Schuld.
Auch hier zeigte sich nun, daß die Niedertracht im Kampf mit der Reinheit oft des Geschickes ermangelt und gerade da unter dem Banne der Verblendung steht, wo sie der Klarheit des Urtheils und der wägenden Schlauheit am meisten bedürfte. Die Verleumdungen nämlich, die man gegen Octavia vorbrachte, waren so schlecht ersonnen, so plump, so aller Wahrscheinlichkeit bar, daß in ganz Rom kein Mensch daran glaubte. Man beschuldigte das makellose Geschöpf – die einzige Lichtgestalt in der qualmenden Atmosphäre des Hofes, das Urbild zartfühlender Sittenreinheit und Weiblichkeit – man beschuldigte sie der strafbarsten Untreue gegen ihren Gemahl!
Es bleibe dahingestellt, ob Nero bei der Erfindung dieser Nichtswürdigkeit mitwirkte oder sie nur als ein Gegebenes stillschweigend hinnahm. Für die sittliche Würdigung des Verblendeten ist eins so verhängnißvoll wie das andere. Der Nero von jetzt besaß keine Aehnlichkeit mehr mit dem zwar eitlen und ziemlich charakterschwachen, aber doch ehrlichen und begeisterten Jüngling, der nach dem Tode des Claudius den Thron bestieg.
Der Scheidungsprozeß, der vor dem Senat als höchstem Gerichtshof in Scene ging, endete, wie zu erwarten stand. Die Unschuld der Kaiserin wurde erhärtet – gleichwohl erfolgte ihre Verurtheilung.
Die Haussklaven Octavias, die man, altrömischem Brauch zufolge, bei ihrer Vernehmung der Folter unterwarf, zeigten mehr sittliche Größe und Heldenmuth als die schweifwedelnden Senatoren, die, ihrer besseren Ueberzeugung zum Trotze, ein wehrloses Weib öffentlich brandmarkten.
Ein Theil dieser Sklaven gab zwar unter den furchtbaren Martern, denen sie stundenlang ausgesetzt wurden, alles zu, was der Ankläger Tigellinus in sie hineinfragte; die Mehrzahl jedoch hielt muthig stand und betheuerte mit lauter Stimme die Reinheit ihrer geliebten Herrin, obgleich doch ein kurzes sogenanntes Geständniß den Qualen ein Ziel gesetzt hätte. Eine von diesen Heldengestalten – eine Frau Namens Pythias – fand sogar im Ueberschwang ihrer Entrüstung die Kraft, dem Tigellinus eine Beleidigung in das Antlitz zu schleudern, deren Wucht ihn erbleichen machte.
Die Treue und Standhaftigkeit, mit der diese Niedriggeborenen unter Preisgebung ihrer gesunden Gliedmaßen für Octavia eintraten, hätte allein schon ausreichen müssen, den Senat bei der Ehre zu packen und die Herzen dieser „versammelten Väter“ zur energischen Abweisung der Verleumder zu zwingen. Aber das war eine Rotte feigzitternder Buben, die dort auf den Prunksesseln im capitolinischen Tempel thronte – nur noch das Schattenbild eines längst schon verfaulten und elend zu Grunde gegangenen Mannesthums.
Die Rolle des öffentlichen Gewissens spielte diesmal das Volk – und vor allem die Frauen.
Kaum war es nämlich ruchbar geworden, daß der Senat die Ehe des Kaisers mit Octavia getrennt und die „Verbrecherin“ nach Campanien verbannt habe, wo sie künftig „ihres schändlichen Wandels wegen“ unter militärische Aufsicht gestellt werden sollte, als in Rom, ohne jede Verabredung, rein aus dem verwundeten Rechtsgefühl der Massen heraus, eine förmliche Revolution ausbrach.
„Von den letzten Schifferhütten am Hange des Aventin bis hinaus nach den Villen des Gartenbergs und nach der milvischen Brücke – überall gewahrte man Frauen als Mittelpunkte bewegter Gruppen, Frauen im Gewande der Kleinbürger, leidenschaftlich und herb in ihrer wilden Beredsamkeit, aber auch vornehme Damen in schneeigfluthender Palla, das grellrothe Flammeum über den kunstvoll geschürzten Haaren, würdevoll, anmuthig in jeder Bewegung. Die Gemahlin des jämmerlichen Senators legte Verwahrung ein wider das lügenhafte Verdikt ihres Gatten; das Weib des verachteten Henkersklaven wider die Missethaten der Folterer. – Und so gestachelt von all den hunderttausend Stimmen der Frauen, die sich im heiligsten ihrer Gefühle tödlich verwundet sahen, zogen die kühnsten unter den Männern zuletzt in tosender Schar vor das Palatium und verlangten mit Donnerstimme die Rückberufung Octavias.“
Der Kaiser wurde durch diese Kundgebung eingeschüchtert – oder ein letztes Gefühl der Scham übermannte ihn. Selbst der Einfluß Poppäas erwies sich zunächst als machtlos. Nero erklärte den Beschluß des Senats für hinfällig und sandte Kuriere aus, um Octavia zurückzuholen.
Die Wirkung dieses Entschlusses auf die Bevölkerung Roms war unbeschreiblich.
Endlose Jubelrufe schallten über das Forum und verbreiteten sich wie ein Steppenbrand bis in die äußersten Vororte.
„Heil der Octavia!“ klang es vieltausendfältig – und da man inzwischen erkannt hatte, wer die eigentliche Veranstalterin des unerhörten Skandalprozesses gewesen war, mischten sich unter das „Heil der Octavia!“ grimmige Schmähworte gegen Poppäa. Abermals wie auf Verabredung regten sich allenthalben geschäftige Hände, um die Standbilder Octavias mit Blumen und Kranzgewinden zu schmücken, während die Büsten und Säulen, die sich [280] Poppäa beim Kaiser erschmeichelt hatte, vom Sockel gestoßen, verstümmelt, beschmutzt, ins Wasser gestürzt oder zum Anger der Missethäter geschleift wurden.
Poppäa Sabina tobte vor Wuth. so nahe am heißersehnten Ziele, sah sie nun alles wieder in Frage gestellt. Wenn sich morgen die Prätorianer ebenso einmüthig und nachdrücklich wider sie aussprachen wie heute das Volk, so konnte sie ruhig ihr Bündel schnüren und irgendwo in der Verborgenheit einer sang- und klanglosen Villeggiatur Rast halten von den verwegenen Träumen der Weltherrschaft. Nur ein rascher und rücksichtsloser Griff nach dem Aeußersten konnte ihr die halb schon verlorene Stellung zurückerobern. Es mußte gehandelt werden um jeden Preis – Octavia mußte fallen, wie einst Agrippina gefallen war; die bloße Verbannung reichte jetzt nicht mehr aus.
Von diesem Gedanken erfüllt, wandte sich Poppäa an ihren altbewährten Helfershelfer, den Flottenbefehlshaber Anicetus. Sie heischte von dem feilen Gesellen, der an Erbärmlichkeit und Niedertracht selbst den neuen Prätorianer-General übertraf, eine todbringende List im Stil jenes Prunkschiffes, das die Kaiserin-Mutter hatte ertränken sollen. Anicetus gab zu bedenken, daß ein solcher Gewaltakt, wenn er entdeckt würde, eine blutige Wiederholung des kaum überstandenen Aufruhrs herbeiführen konnte. Auch mag sich der Frevler im Besitz der vielen Millionen, die ihm die Tötung der Agrippina eingebracht hatte, zu froh und behaglich gefühlt haben, um seine üppige Existenz noch einmal aufs Spiel zu setzen. Da drohte ihm Poppäa mit der Enthüllung seiner – bis jetzt durch die Gerüchte vom Selbstmord der Agrippina bemäntelten – Unthat. Beweise dafür, daß er gedungen war, hätte er schwerlich beibringen können, alle Verantwortung wäre sonach an ihm, dem Werkzeug, hängen geblieben, während Poppäa selber durch Nero gedeckt war. Er sah das ein, und so fügte er sich.
Nach umständlicher Verhandlung kamen die beiden zu dem Entschluß, die ungeschickte Erfindung, die man zuerst gegen Octavia versucht hatte, durch eine zweite, glaubhaftere zu ersetzen und diesmal den Kaiser da anzupacken, wo er am zugänglichsten war: bei der Sorge um seinen Thron.
Es läßt sich hier kaum feststellen, wie weit Nero getäuscht wurde oder mit eingeweiht war. Nach allem, was wir bis dahin erzählt haben, bleibt es psychologisch wahrscheinlich, daß Poppäa der Thatkraft Neros der jungen Kaiserin gegenüber mißtraute und es für zweckmäßig hielt, ihm Furcht einzuflößen. In diesem Falle hätte der Kaiser also geglaubt, Octavia wolle sich für die erlittene Schmach rächen – was im Gegensatz zu der abgeschmackten Beschuldigung jenes ersten Prozesses immerhin denkbar gewesen wäre. Andererseits spricht auch manches dafür, daß Nero mit im Rathe gesessen und die Komödie des Anicetus gebilligt hat. In dieser Epoche war der entartete Claudier zu allem fähig.
Folgendermaßen ging man zu Werke. Anicetus machte bei einem Trinkgelage in scheinbarer Unvorsichtigkeit allerlei Andeutungen, aus denen hervorgehen sollte, er sei ein begeisterter Anhänger der schönen Octavia, stehe bei ihr persönlich in höchster Gunst und theile den Ingrimm des Volkes gegen die aufdringliche Poppäa. Verhaftet und zur Rede gestellt, spielte er den Verblüfften, der alles entdeckt wähnt, und legte, um Gnade flehend, ein „offenes Geständniß“ ab. Ja, er stand mit der jungen Kaiserin auf dem vertrautesten Fuße, ja, er war ein glühender Feind Neros und seiner Regierung; ja, er hatte sich mit Octavia verschworen, die misenische Kriegsflotte, deren Befehl er führte, aufzuwiegeln, um den Kaiser zu stürzen.
Das klang immerhin etwas glaubhafter als jene erste Beschuldigung. Die Absicht Octavias, den Tyrannen, der sie so schmachvoll entehrt und gepeinigt hatte, vom Throne zu stoßen, mußte gerade demjenigen Theil der Bevölkerung einleuchten, der noch sittliche Kraft genug besessen hatte, um sich jüngst über das unerhörte Urtheil des Senats aufzuregen. Anicetus galt vielleicht in den Augen dieser Getäuschten für den heroischen Perseus, der sich anheischig macht, die unglückliche Andromeda vor dem Drachen zu retten; denn, wie gesagt, die Blutschuld des Admirals war noch unbekannt.
Die Sache verlief denn auch völlig programmgemäß, ohne daß sich ein Sturm der Entrüstung erhob wie das erste Mal ...
Octavia ward vorläufig nach der Insel Pandataria im Tyrrhenischen Meere verbannt; gleich danach aber – wie es scheint, durch einen Akt unkontrollierbarer Kabinettsjustiz – zum Tode verurtheilt.
Ein paar zuverlässige Centurionen der Leibgarde betraute man mit der Vollstreckung.
Als die Kriegsleute auf Octavia zutraten und ihr mittheilten, daß sie nun sterben müsse, brach sie laut aufjammernd in die Kniee. „Unter glühenden Thränen flehte sie um ihr Leben, sie, die unglückliche, die Enterbte, für die Leben und Leiden doch eins war.“
Es ist ein außerordentlich rührender Zug in dem sanften mädchenhaften Charakterbilde Octavias, daß sie nichts von dem majestätischen Heroismus besaß, den die große Verbrecherin Agrippina beim Sterben bekundet hatte, den Arria bewies, als sie den Dolch sich in die Brust drückte und dann die blutende Waffe ihrem verurtheilten Gatten darbot mit den lächelnden Worten „Siehe, es schmerzt nicht!“ Octavias kaum zwanzigjährige Jugend, die vielleicht immer noch hoffte, bäumte sich auf; sie wollte, trotz allem, was sie gelitten, die Sonne noch schauen, die ringsumher soviel Wonne und Glück bestrahlte, wenn auch die Dulderin selbst bitterwenig davon genossen hatte. Vater, Mutter und Bruder waren ihr früh durch gewaltsamen Tod geraubt worden; ihre Ehe mit Nero war eine unablässige Folter gewesen; zuletzt hatte man ihr schuldloses Haupt mit Schande und Schmach überhäuft –: überall Kummer, Elend, Verzweiflung ... Und dennoch klammerte sich ihr trauerndes Herz mit der Kraft einer fiebernden Todesfurcht an dies werthlose Dasein; dennoch blieb sie durchaus ohne Fassung, selbst als sie wahrnahm, daß die Bewaffneten hier nur ein Amt hatten, keinen persönlichen Willen.
Die Art und Weise, wie sich die Centurionen ihres scheußlichen Auftrags entledigten, spricht dafür, daß die Erscheinung des lieblichen, hilflosen Wesens die Gemüther sogar dieser Henker zur Weichheit stimmte. Im Gegensatz zu der Brutalität, mit der sich die Kreaturen Poppäas in der Villa zu Bauli auf die Kaiserin-Mutter warfen, sie mit Stockschlägen mißhandelten und dann blind drauf losstießen, verfuhren die Prätorianer hier beinahe zartfühlend. Octavia wurde mit aller Schonung gefesselt und nach dem Warmbad ihrer Villa gebracht. Im Caldarium öffnete man ihr die Pulsadern – eine Todesart, die in der Kaiserzeit auch bei Selbstmorden sehr gewöhnlich war und für die mildeste und schmerzloseste galt. Jetzt noch sträubte sich die Natur des Opfers; das Blut entströmte ihr mit erschreckender Langsamkeit, so daß einer der Centurionen, von Mitleid ergriffen, dem Jammer ein Ende machte, indem er die Sterbende unter das Wasser drückte.
„Noch etwas Grausenhafteres folgte,“ sagt der Geschichtschreiber Tacitus. Das Haupt der Ermordeten nämlich wurde der rachedurstigen Feindin nach Rom gebracht. Man sieht, Poppäa war eine höchst gelehrige Schülerin Agrippinas, die sich die gleiche fürchterliche Genugthuung bei der Abschlachtung ihrer Gegnerin Lollia bereitet hatte.
Und nun erhob sich, um das Maß der Niedertracht voll zu machen, als Chorus zu dem blutigen Trauerspiel der Senat. Diese entartete Körperschaft huldigte damals dem Grundsatz: „Für jede Mordthat ein Dankgebet.“ So beschlossen denn die versammelten Väter Opfer in allen Tempeln zur Bekundung der Nationalfreude über die gnadenvolle Errettung des Kaisers aus den Intriguen Octavias!
Poppäa war nun am Ziel ihrer Wünsche. Ihrer Verbindung mit dem Gemahl der Ermordeten stand nichts mehr im Wege. Wer ihr am Hof noch bedenklich schien, ward entlassen oder mit Gift und Dolch aus der Welt geschafft. Das wankelmüthige Volk hatte längst vergessen, daß es die Standbilder dieser bluttriefenden Frevlerin einst in den Staub gezerrt. Es jauchzte der neuen Kaiserin zu wie einst der zurückberufenen Octavia. Es nahm theil an den schmachvollen Orgien, die Nero in wilder Verhöhnung des Rechts und der Sitte aus dem Kaiserpalast hinaus auf die Straße trug. Poppäa war die eigentliche Regentin des Reiches. Ihre fürchterliche Moral durchdrang wie ein schleichendes Gift die ganze Gesellschaft. Mehr und mehr brachte sie in dem Kaiser jenen wahnwitzigen Dämon zur Reife, der aus dem Abgrund der Weltgeschichte uns angrinst wie der Traum eines Fieberkranken. Sie ahnte nicht, daß sie nach kurzer Frist selbst – und zwar bunchstäblich – unter den Fußtritten dieses Scheusals verenden sollte, im letzten Augenblick noch von dem Wahne gefoltert, daß es der Geist der Octavia sei, der dies wohlverdiente Unheil auf sie herabgefleht.
Weltflüchtig.
Die Frau des Kommandanten überwachte eine Zeitlang den
Unterricht, den Bettina ihren Kindern gab, nach acht Tagen
aber sagte sie zu ihrem Manne: „Frau Monk ist nicht nur eine
ausgezeichnete Lehrerin, die genau weiß, was sie will, und die
den Lerneifer der Kinder erstaunlich anzuregen versteht, sie wirkt
auch durch ihr ganzes Wesen, durch ihre sanfte, edle Art im besten
Sinne auf den Charakter unserer Kleinen ein. Glaub’ mir, Schatz,
wenn ich in meiner Jugend eine solche Erzieherin gehabt hätte, dann
würdest Du heute eine viel bessere Frau besitzen – als Du verdienst.“
Der Kommandant lachte und nahm sich vor, Bettina das aus freien Stücken anzubieten, um was sie ihn hatte bitten wollen. Er lenkte eines Abends das Gespräch auf Ewald und dessen Zukunftspläne, und als Bettina ihm gestand, daß ihr Mann seine Fehler bereue und sich glücklich schätzen würde, wieder in das alte Dienstverhältniß eintreten zu können, nickte er ihr freundlich zu und antwortete: „Wenn Monk mit guten Vorsätzen kommt, soll er mir willkommen sein. Bitte, senden Sie ihn morgen zu mir.“
Ewald leistete dieser Aufforderung pünktlich Folge, fand seinen ehemaligen Vorgesetzten sehr wohlwollend gestimmt und nahm, nach kurzer Verständigung, mit Eifer die altgewohnte Beschäftigung wieder auf. Als drei Wochen später bei stürmischem Wetter ein hoher Regierungsbeamter die maritimen Einrichtungen an den Küstenorten besichtigte und sich einen besonders zuverlässigen Lotsen für die Fahrt erbat, gab ihm der Kommandant Ewald mit. Dieser rechtfertigte die getroffene Wahl so gut, daß ihm die Beförderung zum Oberlotsen in nahe Aussicht gestellt wurde.
Da ihm nun auch Bettina stets mit gleichmäßiger Freundlichkeit begegnete, so hätte sich Ewald der glücklichen Wendung der Dinge ungetrübt freuen können, wenn nur das Aussehen seiner Frau ihm nicht Sorgen gemacht hätte. Ihr Gesicht wurde schmal, unter den Augen zeigten sich tiefe Schatten. Auch der Frau des Kommandanten fiel diese Wandlung auf und sie bewog Ewald, den Arzt um Rath zu fragen. Dieser kam zur Klause, beobachtete die junge Frau und erkundigte sich in väterlicher Weise nach ihrem Ergehen.
„Ich bin wohlauf, lieber Doktor,“ versicherte sie lächelnd.
Der aber schüttelte den Kopf und entgegnete: „Ihr Aussehen straft Sie Lügen.“
Der theilnehmende Mann sprach wiederholt in der Klause vor, und als Ewald endlich wissen wollte, was seiner Frau fehle, sagte er offen: „Ein körperliches Leiden kann ich nicht entdecken, es muß ein tiefer Kummer auf ihr lasten und ihre Kraft verzehren. Aber darüber sollten Sie besser unterrichtet sein als ich!“
Ewald sah den Doktor mit starren Augen an und murmelte nach einer Weile: „Also das ist’s, das –“
„Beobachten Sie Ihre Frau und versuchen Sie, ihr möglichst viel Zerstreuung zu verschaffen. Ich habe so das Gefühl, als müsse die Leidende erst wieder lernen, aus vollem Herzen zu lachen bevor an Genesung zu denken ist. Ihre Arznei heißt Frohsinn, und die ist leider in keiner Apotheke zu haben.“
Ewald blieb in großer Bestürzung zurück; ihm dämmerte langsam das Bewußtsein auf, daß Bettina sich verzehren werde in dem Bestreben, ihrer Liebe zu entsagen. Er begann, sie genau zu beobachten, und erkannte, daß sie im Hause kaum einen Blick hatte für die Außenwelt. Es lag etwas Träumerisches in ihrem Wesen; wenn jemand sie plötzlich anredete, schrak sie zusammen und erst allmählich belebten sich dann ihre Augen. Abends machte sie in der Regel einen längeren Spaziergang und wählte stets den Pfad, der zum Höwt hinausführte. Ewald, der ihr in der Dämmerung wiederholt heimlich folgte, bemerkte, daß sie stundenlang bei der Buche verweilen konnte, den Blick regungslos nach dem Schlosse Lindström hinübergerichtet. Einmal hatte er sich in ihre Nähe geschlichen. Sie kauerte am Fuße des Baumstammes auf der Erde, die Hände um die Knie geschlungen, den Kopf gegen die rauhe Baumrinde gelehnt. So starrte sie hinaus ins Weite. Als sie sich endlich erhob, kam ein Laut des Schmerzes von ihren Lippen: sie streckte beide Arme aus gegen das Schloß, mit einer Bewegung, als erwarte sie von dorther die Erlösung.
Bei dieser Beobachtung ging Ewald ein Schauer durchs Herz. Er wagte es nicht, sie anzureden, und kehrte erst spät ins Haus zurück. Unheimliche Vorstellungen bedrückten ihn; zum ersten Male seit langer Zeit floh ihn der Schlaf. Nach Mitternacht schlich er sich zum Stübchen seiner Frau hin und legte das Ohr an die Thür. Und in der Stille der Nacht vernahm er Laute, die ihn erbeben machten – Bettina weinte da drinnen, als breche ihr das Herz.
Eine mitleidige Wallung bewegte sein Inneres, schon erhob er die Hand, um gegen die Thür zu pochen, sie zu versichern, daß er nicht ihr Unglück wolle, sie ziehen lasse, da gab ihm die Selbstsucht den Gedanken ein: laß ihr Zeit, sie wird’s schließlich doch verwinden!
In dieser leisen Hoffnung bestärkte ihn am nächsten Morgen Bettinas Wesen. Sie kam lächelnd aus der Küche, sprach freundlich mit ihm über Wirthschaftsangelegenheiten und nahm anscheinend in heiterer Stimmung ihre gewohnten Arbeiten auf.
Aber auf die Dauer gelang es ihr nicht, ihrer selbst Herr zu bleiben. Vielleicht wäre ihr das möglich gewesen im zerstreuenden Getriebe einer Weltstadt – in dem einsamen Küstenort verzehrte sie sich in Sehnsncht nach dem Geliebten. Ihre Noth stieg, als ihr eines Tages eine Zeitung in die Hände fiel, in welcher von London aus ein Bericht stand über die großen Erfolge, welche Rott mit seinem hinreißenden Spiele dort davongetragen hatte. Warum, schrie es in ihrem Herzen auf, warum kann ich nicht an seiner Seite sein! Mit fiebernder Leidenschaft klagte sie ihr Schicksal an, raste gegen sich selbst, die in thörichter Ueberspanntheit geglaubt hatte, in der Flucht heraus aus der Welt, in der sie aufgewachsen war, ihr Glück, ihre Befriedigung zu finden. Nächtelang saß sie auf ihrem Lager und suchte die nagenden Gedanken zu verscheuchen – umsonst! Sie kehrten wieder und bohrten sich in ihr Gehirn, bis sie der Kopf schmerzte und tolle, wahnsinnige Pläne vor ihr auftauchten. Mit Grauen sah sie dem Winter entgegen. War es schon unerträglich, die langen Nächte, gefoltert vom Elend, schlummerlos verbringen zu müssen, so [282] verzweifelte sie völlig beim Gedanken an die endlosen Abende in dem frostigen Hause, wo der ungeliebte Mann an ihrer Seite sitzen würde und sie ihr müdes Gehirn anstrengen müßte, um irgend eine Unterhaltung zu ersinnen.
In den ersten Tagen des November sollte die Vermählung der Gräfin Lindström mit dem Baron Leblanc stattfinden. Ende Oktober war Bettina eines Morgens nach Groß-Küstrow hinübergesegelt, um allerlei Vorräthe einzukaufen. Schwer bepackt schritt sie gerade über die Fahrstraße zu ihrem Boote zurück, als dicht hinter ihr Pferdegetrappel vernehmbar wurde. Zur Seite tretend, wandte sie sich nach dem herankommenden Wagen um und bemerkte zu ihrem Schrecken, daß ihre Stiefmutter und Graf Trachberg die Insassen waren. Die Blicke der ersteren waren achtlos über die Fußgängerin hingeglitten, im Gesicht des Grafen aber blitzte es auf. Bettina sah, daß er sie erkannte, und scheu kehrte sie sich ab, bis die Kutsche vorbeigerollt war.
Zwei Tage später, als Bettina eben den Kindern des Lotsenkommandanten Klavierunterricht ertheilte, wurde die Thür zum Salon weit aufgerissen und die Hausfrau führte Gäste herein. Bettina erhob sich rasch, aber beim Anblick der Eintretenden erschrak sie so heftig, daß sie sich auf das Klavier stützen mußte, welches sie hatte verlassen wollen. Die Gräfin Lindström war gekommen, um dem Kommandanten und dessen Gattin ihren Verlobten sowie ihre Gäste, den Grafen und die Gräfin Trachberg, vorzustellen. Die Schloßherrin begrüßte Bettina sehr herzlich, theilte ihr mit, daß auch Rott am nächsten Tage eintreffen werde, um an der Hochzeit theilzunehmen, und stellte ihr den Baron Leblanc vor. Ehe die Ueberraschte sich von ihrer Bestürzung erholt hatte, stand sie schon den Trachbergs gegenüber. Graf Guido stotterte erröthend einige unverständliche Worte zur Begrüßung, Rosita aber ergriff Bettinas Arm und führte sie zu einer Fensternische.
„Fürchte nicht, daß ich hierher gekommen bin, um Dir Vorwürfe zu machen,“ sagte sie flüsternd. „Dein Aussehen beweist mir, wie schwer Du die Verblendung hast büßen müssen. Ich bin nicht unversöhnlich und begreife das bittere Gefühl, welches Dich in diesem Augenblick beherrscht. Du hast die schwere Kränkung, welche mein Gatte Dir bereitete, noch nicht verwunden. Vielleicht wird es Dir eine kleine Genugthuung gewähren, wenn ich Dir gestehe. auch ich bin an seiner Seite nicht so glücklich geworden, wie ich es erwarten durfte. Ach, der Gatte ist immer ein ganz andrer als der Verlobte. Aber ein Verlangen ist mir wenigstens an Guidos Seite erfüllt worden. In den Kreisen seiner Standesgenossen habe ich mir eine Stellung errungen, auf die ich stolz sein darf. Um so mehr bedauere ich Dich, daß Du von alledem abgeschlossen bist, alles entbehren mußt, was das Leben schön und begehrenswerth macht. Giebt es denn kein Mittel, Dich wieder zu befreien? Habe Vertrauen und offenbare mir Deine Lage! Du weißt, wie gern ich Dir immer beistand, wenn es in meiner Macht lag. Sprich, mein Herz!“ Sie bot ihr freundlich die Hand, allein ihre Erwartung, daß die blasse, junge Frau nun in Klagen ausbrechen und rasch die dargebotene Hilfe annehmen werde, erfüllte sich nicht.
„Ich danke Dir,“ entgegnete Bettina ruhig, „danke Dir herzlich, liebe Mama – Du gestattest doch, daß ich Dich noch so nenne? Aber was mir das Schicksal auferlegt hat, das muß ich allein tragen. Du kannst mir so wenig helfen wie irgend ein andrer Mensch auf dieser Welt. Auch entbehre ich das nicht, was Dich beglückt.“
Sie kehrten beide zur Gesellschaft zurück, wo die Hausfrau eben Bettinas Vorzuge als Lehrerin gerühmt hatte.
„Zu meiner Freude erfahre ich, daß Sie Ihr musikalisches Talent nicht verkümmern lassen,“ rief Gräfin Lindström, sich Bettina zuwendend. „Ich wünschte, mein Verlobter könnte Sie singen hören – der Verwöhnte würde erkennen, daß wir hier an der See nicht ganz in Wildniß leben. Bitte, bitte, ein Lied!“
Der Gräfin schlossen sich so viele Stimmen an, daß Bettina dem Drängen Folge leisten mußte, obgleich sie am liebsten geflohen wäre. Sie wollte nicht schwach ober launenhaft scheinen, und so setzte sie sich ans Klavier und begann ein Lied von Brahms. Aber sie vermochte ihre Aufregung nicht zu bezwingen, nur ein Zerrbild dessen kam zum Vorschein, was sie geben wollte.
Mit einer Dissonanz brach sie ab und rief erregt: „Ich kann nicht mehr singen, Frau Gräfin. Auf der Düne von Massow erstirbt jede Blume, vor allem die der Poesie.“
Der letzte Satz sollte scherzhaft klingen, allein die Bitterkeit des Tones brach dennoch durch.
Als sie sich verabschieden wollte, erhoben sich auch die Gäste, um sich zur Landungsstelle des Boots zu begeben. Unterwegs wußte es Graf Guido so einzurichten, daß er an Bettinas Seite kam, während die Damen und der Baron in lebhafter Unterhaltung voranschritten. Er legte seine Hand auf den Arm der Begleiterin und flüsterte ihr zu: „Sie sind unglücklich geworden, Bettina; Ihr abgehärmtes Gesicht, Ihr Gesang ließ mich ahnen, was Sie gelitten haben. Ich beklage Ihr verfehltes Leben und würde viel darum geben, wenn sich das wieder gut machen ließe, was ich, unter dem Drucke widriger Verhältnisse, an Ihrem Herzen gefrevelt habe. Wenn Sie je meiner Hilfe bedürfen –“
„So werde ich mich selbstverständlich an meinen Stiefpapa wenden,“ erwiderte sie mit leichtem Spotte und entzog ihm ihren Arm. „Ihre väterliche Güte thut mir wohl, aber halten Sie sich versichert, daß Sie sich über die Quelle meines Unglücks täuschen. Das, was Sie an meinem Herzen frevelten, ist längst vergeben und vergessen.“
Sie war am Seitenweg zur Klause angekommen und verabschiedete sich von ihren Begleitern. Hastig legte sie die kurze Strecke bis zu ihrem Hause zurück; von den Erlebnissen der letzten Stunde im Innersten erregt, trat sie auf die Veranda; müde ließ sie ihren Blick über die Küste schweifen – sie sah, wie Gräfin Lindström mit ihren Gästen ihr Boot bestieg, das sich langsam in Bewegung setzte. Die sinkende Herbstsonne vergoldete das Fahrzeug, als es mit geschwellten Segeln über die leuchtende Fluth glitt. Bettina bemerkte, wie Frau Rosita noch zu dem einsamen Landhaus herüberblickte und den Kopf schüttelte.
„Ja, ja,“ sagte sie mit bitterem Lächeln und faltete die Hände, „die Gräfin Trachberg kann freilich das Räthsel meines Daseins nicht fassen. Sie weiß die Segel klug zu stellen und wähnt sich auf glücklicher Fahrt. Aber wir treiben alle dem uferlosen Meere des Vergessens entgegen, das ist ihre Furcht und – mein Trost.“
Die Hochzeitsfeierlichkeiten auf Schloß Lindström waren verrauscht, die Neuvermählten nach dem Süden abgereist; auch die Mehrzahl der Gäste war zugleich mit ihnen aufgebrochen. Nur einige Jagdliebhaber blieben zurück, welchen der alte Baron Leblanc, der Schwiegervater der Gräfin, allerlei Sport in Aussicht gestellt hatte, und – Franz Rott. Ihn hielten Erinnerung und Sehnsucht wie mit Zauberfesseln an der einsamen Küste fest.
Weder die Künstlerfahrt nach England noch der Jubel des Hochzeitsfestes hatte seine Gefühle für die geliebte Frau zum Schweigen bringen können. Einsam streifte er durch die herbstlichen Wälder, er suchte die Stellen wieder auf, wo er mit Bettina geträumt und geplaudert hatte. Aber wie verwandelt war alles – dahin der Sommer, fahles Laub raschelte unter seinen Füßen, kein warmer Sonnenschein, nur düsterer Nebel und rauher Herbststurm! Das Leben erstorben, erstorben auch sein Glück! – –
Am letzten Tage, den er auf Schloß Lindström zu verweilen gedachte, wurde er früh durch den Lärm der aufbrechenden Jagdgesellschaft aus dem Schlafe geweckt. In der Nacht hatte ein wilder Sturm gerast, und obgleich es noch heftig stürmte, so begaben sich die Herren doch mehrere Stunden landeinwärts, wo in den wildreichen Forsten ein Kesseltreiben stattfinden sollte. Als Rott das Speisezimmer betrat, war es leer, und er mußte sein Frühstück allein verzehren. Der Diener, welcher ihm aufwartete, trat ans Fenster und sagte. „Das war ein grausiger Sturm heute nacht. Haben der Herr Rott das Brausen gehört? Vor Massow soll ein Vollschiff gestrandet sein – so behauptet wenigstens der Gärtner Jakob – ich kann aber nichts sehen, es ist noch nicht hell genug. Wenn das Schiff auf die verflixte Seehundsbank gerathen ist, dann Gnade Gott der Bemannung! Bei dem Sturme können die Lotsen mit dem Rettungsboot nicht hinaus, und die Wogen schlagen alles in Stücke, denn der Wind steht just auf dem Höwt.“
[283] „Bitte, holen Sie mir das Fernrohr, Friedrich.“ Rott beendete rasch sein Frühstück, und als ihm der Diener das Instrument überreichte, trat er auf die Terrasse und blickte nach Massow hinüber. Trotz des heftigen Windes und der trüben Beleuchtung erkannte er über dem Gischte der Wogen einen dunklen Körper, welcher dicht vor dem Hbwt zu liegen schien. „Ist noch ein Pferd im Stalle?“ fragte er den Diener, welcher ihm gefolgt war.
„Gewiß, Herr Rott, der Goldfuchs steht immer zu Ihrer Verfügung.“
„So lassen Sie ihn satteln! Ich möchte nach Massow hinüberreiten.“
Rasch holte er Hut und Ueberrock, steckte das Fernrohr ein und schwang sich in den Sattel. Der Fuchs, ein muthiges englisches Jagdpferd, wieherte dem Sturme entgegen, und kaum gab der Reiter die Zügel frei, so jagte das feurige Thier im Galopp die Landstraße hinab.
Der scharfe Ritt brachte den Künstler rasch ans Ziel. Er sprengte durch Massow bis zum Fuße des Höwts, wo er die ganze Bevölkerung des Lotsendorfes am Strande versammelt fand. Sein dampfendes Pferd zügelnd, überblickte er die aufgeregte Menge und sah, daß Ewald und Pischel sich an der Spitze der Lotsen befanden. Auch Bettina war anwesend, sie stand etwas abseits von der Menge auf einer Felsstufe, ein schwarzes Kopftuch umschlang ihr bleiches Gesicht. Als sie den Reiter erkannte, flog es wie ein Freudenschimmer über ihre Züge; ihre Blicke begegneten denen des Geliebten in einem stummen Gruße. Aber im nächsten Augenblick schon hatte sie sich gefaßt, mit einem raschen Entschluß wandte sie sich ab und wieder dem Meere zu, als bereue sie, ihr Gefühl verrathen zu haben.
Rott sprang aus dem Sattel und ersuchte einen halbwüchsigen Fischerjungen, dem er ein Geldstück in die Hand drückte, den Gaul nach dem Gasthof zu führen und ihn dort in den Stall zu stellen; dann trat er auf die Düne und richtete sein Fernrohr auf das gestrandete Schiff.
Es war ein schwer befrachteter Schoner, der richtig auf der Seehundsbank festsaß und in der stürmischen See bereits arge Beschädigungen erlitten hatte. Ein Boot, mit dem die Bemannung Rettungsversuche hätte wagen können, schien nicht mehr vorhanden zu sein. Wahrscheinlich hatten die Wogen den Schiffbrüchigen das Fahrzeug beim Niederlassen gleich aus den Händen gerissen. Hier bedurfte es keiner Nothsignale mehr, um zu erkennen, daß der Schoner mit Mann und Maus untergehen mußte, wenn nicht sofort Hilfe kam. Rott trat auf die von Seewasser triefenden Lotsen zu mit der Frage, warum nichts zur Rettung der Bedrohten gethan werde. Man lachte ihm höhnisch ins Gesicht. „Weil wir nicht hexen können! Wollen Sie das Boot durch die Brandung tragen?“ rief ihm einer entgegen.
Nur Pischel ließ sich auf eine weitere Erörterung ein und erklärte, die Seehundsbank liege zu fern, um dem Schiffe mit dem Raketenapparat beikommen zu können, während die wilde Brandung das Auslaufen völlig unmöglich mache. Sechsmal habe man schon den Versuch wiederholt, und jedesmal sei das Rettungsboot wie eine Nußschale auf den Strand zurückgeworfen worden.
„Hat man dem Lotsenkommandanten noch keine Anzeige gemacht?“ fragte Rott, und Pischel erwiderte, daß der Vorgesetzte gestern nach der Hafenstadt gefahren und noch nicht zurückgekehrt sei.
„So müssen die Unglücklichen dort drüben vor unseren Augen zu Grunde gehen?“
„Wenn de leiwe Gott keen Wunner nich dauht, Herr Rott - -“ entgegnete Pischel achselzuckend und trat zu der Gruppe seiner Kameraden zurück.
Wieder richtete Rott sein Glas auf das Schiff und sah, daß dort im Gischt der Wogen, die über das Verdeck schlugen, einige Männer die Arme emporwarfen, als wollten sie in höchster Noth um Rettung flehen. Er ließ das Glas sinken und stand einen Augenblick schwankend da, dann flammte ein fester Entschluß in seinem Innern auf. Mit raschen Schritten und blitzenden Augen trat er mitten in die Lotsengruppe und rieft „Es ist eine Schmach, daß wir hier müßig stehen, während vor unseren Augen Mitmenschen dem Verderben anheimfallen. Ihr sagt, daß Ihr sechsmal vergeblich versucht habt, das Rettungsboot flott zu machen. Versucht es noch einmal – wir alle wollen Euch unterstützen.“
Ewald schielte von dem Sprecher zu Bettina hinüber, die ihren Standort verlassen und sich der Gruppe genähert hatte. „Ihr kennt die See nicht,“ murrte er, „sonst wüßtet Ihr, daß jeder, der ins Boot springt, sein Leben aufs Spiel setzt, und, wohlgemerkt, nutzlos, ohne Rettung zu bringen.“
„Wissen Sie so gewiß, daß an kein Gelingen zu denken ist?“ Rotts Stimme klang rauh vor Erregung. „Nun wohl, ich will sehen, ob Ihr Lotsen zurückbleibt, wenn ich, ein Unkundiger, mich zur Fahrt bereit erkläre. Und daß Ihr’s wißt: wenn einer von Euch heute in seinem Beruf stirbt, so zahle ich seinen Hinterbliebenen tausend Mark. Gehe ich aber unter, so soll alles, was ich besitze, den Genossen dieser Fahrt oder deren Verwandten zufallen. Noch einmal bitt’ ich Euch, helft!“
Die Lotsen sahen bald auf das erregte Gesicht des Künstlers, bald auf die brüllenden Wogen und konnten trotz Rotts Versprechungen zu keinem Entschluß kommen. „Es steiht ’n Hagelstorm in Aussicht,“ meinte der grauhaarige Gehring, „den möten wi erst afwarten.“
„Nein,“ rief Rott, „Ihr dürft hier nicht erst abwarten. Was geschehen soll, muß sofort geschehen, sonst ist’s zu spät!“
In Ewalds Brust hatte vorhin der Groll gegen Rott den Widerspruch erregt, unter Bettinas Blicken aber mochte er nicht für feige gelten und sein Stolz schlug alle weiteren Bedenken nieder. „Er hat recht,“ rief er in barschem Tone den Genossen zu. „Wir müssen das Aeußerste wagen, eh’ es zu spät wird.“
„Ewald, Ewald!“ schrie die alte Monk und erfaßte des Sohnes Arm, „wat gehen Dir die fremden Lüt an! Hör’ nich up den Musikanten!“
„Zurück, Mutter! Der Musikant hat recht. ’s ist unser Beruf, in Seegefahr das Leben zu riskieren. Vorwärts! Greift an!“
Und jetzt streckten sich fünfzig kräftige Hände nach dem schweren Rettungsboot aus. Einen Augenblick wartete man auf das Rückschlagen der Woge, dann gab Ewald das Kommando, und knirschend flog der Bug in die hochaufspritzende See. Bevor die muthigsten unter den Lotsen sich ins Boot schwingen konnten, ging eine Sturzwelle über alle Köpfe weg und das Fahrzeug wurde hoch emporgeschnellt. Aber mit der Kraft der Verzweiflung klammerten sich die Leute an die Kante, und als der Kiel wieder sank, sprangen fünf beherzte Männer ins Boot, unter ihnen Ewald, der das Steuer, und Rott, der eines der Ruder erfaßte. Wieder gaben die in der Brandung stehenden Fischer dem Fahrzeug unter lautem Zuruf einen Stoß, dann setzten die Ruder ein. Glücklich schoß das Boot durch einen Wogenkamm und ließ die Brandung hinter sich.
Die am Strande Zurückgebliebenen liefen auf den Dünenwall und verfolgten mit ängstlicher Spannung den Lauf des Boots. Bettina wählte abseits von den übrigen ihren Standpunkt auf einem von der Brandung umtosten Vorsprung. Der Sturmwind hatte ihr Kopftuch gelockert und die losen Haarsträhnen umflatterten ihr bleiches, angstvoll erregtes Gesicht. Sie hatte sich ein Fernglas geben lassen und konnte so den Kampf der beherzten Männer mit den Wogen genau verfolgen; aber die Hände zitterten ihr vor Erregung – sie mußte das Glas absetzen. Was mochte das Ende des kühnen Unternehmens sein? Diese Frage stürmte durch ihre Seele. Sie ahnte, daß diese Stunde ihr Schicksal entscheide.
Es schien, als werde das Boot gar nicht oder zu spät ans Ziel gelangen; nur langsam rückte es vorwärts, und bei dem hohen Seegang schlug Woge um Woge über Bord. Ging das so weiter, so mußte sich der Kielraum bald mit Wasser füllen und das Fahrzeug sinken. So oft es hinter einem der Wellenberge verschwand, ging ein Beben durch Bettinas Gestalt; reglos stand sie da, kaum daß sie zu athmen wagte. Erst wenn das Boot wieder auftauchte, holte sie tief Athem und flüsterte ein „Gott sei Dank!“
Minute um Minute verging und immer noch hielt sich das Rettungsboot flott, immer näher und näher kam es den Gestrandeten. Nach einer halben Stunde, die den Zuschauern eine Ewigkeit dünkte, schien es dem Ziele ganz nahe zu sein, denn Bettina bemerkte, wie Ewald aufstand, um das Steuer sicherer führen zu können. Sie begriff, daß durch eine falsche Bewegung im Beilegen das Rettungsboot an der Schiffswand zerschmettert werden konnte. Nur ein Steuermann von großer [284] Erfahrung und Kraft vermochte den Zusammenprall zu vermeiden oder zu mildern. Schon sah Bettina, wie die Gestrandeten sich alle auf einem Punkte des Verdecks zusammendrängten, da ertonte auf der Düne der Schreckensruf des wetterkundigen Gehring: „De Hagelstorm geiht los![“]
Ein Aufschrei der Umstehenden folgte dieser Ankündigung. Bettina blickte entsetzt zum Himmel auf und merkte an der fast schwarzen Wolke, welche von Südost heraufkam, und an den knatternden Windstößen, die ihr voraufgingen, daß etwas Schreckliches im Anzug sei. In der nächsten Minute brauste ein Wirbelsturm daher, der das Schiff in Trümmer schlagen mußte. All ihre Kraft zusammennehmend, setzte Bettina das Glas nochmals an die Augen und suchte die über die See sich breitende Verfinsterung zu durchdringen. Sie erblickte zunächst nur eine hoch aufwirbelnde Schaummasse bei dem Schoner – es war, als ob das Wasser zischend einem Vulkan entsteige; dann schien es ihr, als wenn die Männer im Boote sich an das Fallreep des Schiffes klammerten, und dann fuhr etwas Weißes durchs Dunkel – im nächsten Augenblick peitschte der Sturm das Gesicht der Erschöpften mit einem Schauer von Hagelkörnern, daß sie betäubt in die Knie sank und Schutz suchend die Stirn zur Erde senkte.
Auf die heulenden Windstöße und den Hagel folgte ein Gewitterregen, der das Lotsendorf zu ertränken drohte. Mühsam erhob sich Bettina; der Kopf schmerzte sie, schwer hingen die triefenden Kleider an ihrem Körper. Obgleich sie sich kaum aufrecht erhalten konnte, zwang sie sich doch, alle Vorgänge auf dem Meere genau zu beobachten. Aber bei dem niederfluthenden Regen- gusse war es unmoglich, etwas Genaueres zu sehen, ein grauer Vorhang lag über dem Schauplatz der Katastrophe.
Eine Viertelstunde verzehrender Erwartung verging – endlich ließ der Regen nach; die Wolken lichteten sich und es wurde hell über der See. Kreischend verkündeten die jungen Massower, daß das Boot noch schwimme und auf der Rückfahrt begriffen sei.
Bettina trocknete hastig die Gläser ihres Fernrohrs und suchte das Boot; dabei fielen ihre Blicke zuerst auf die Seehundsbank. Von dem stolzen Schoner war nichts mehr übrig als ein Wrack. Nur das Heck ragte noch über die Wogen, die jetzt die Schiffstrümmer dem Strande zutrugen. So hatte Rott doch recht gehabt, als er vor dem Abwarten des Hagelsturms warnte! Aber wie mochte sich die Entscheidung vollzogen haben? Wer war gerettet, wer vom Meere verschlungen worden? – Bei diesen Fragen überlief Bettina ein kalter Schauer – sie zitterte vor der Möglichkeit, daß ihr Gatte das Opfer seiner kühnen Rettungsthat geworden sein könnte. Mochte er immerhin schwer gegen sie gefehlt haben – in dieser Stunde, in der er sein Leben einsetzte für die Bedrohten, erschien ihr alles, was er ihr zugefügt hatte, so nichtig und klein. Das leidenschaftliche Verlangen nach Freiheit, in dem sie sich zu verzehren drohte, verstummte; nur noch die Angst, ob Ewald nicht draußen sein Grab gefunden, hatte Raum in ihrer Seele. Und nun übermannte sie die Erregung – ein dunkler Schleier legte sich über ihre Augen, sie vermochte nichts mehr zu sehen. Mit einer unsichern Bewegung tastete sie sich zu einem Felsblock und ließ sich darauf nieder. Dann schloß sie die Augen. So saß sie einer Ohnmacht nahe da, mit geschlossenen Lidern, den Kopf auf die Hände gestützt, als plötzlich vom Walle her der bange Aufschrei der alten Monk ertönte: „Min Gott, min Gott, wo is denn uns’ Ewald?“
Unfähig, sich zu erheben, schaute sie zitternd auf das Boot, welches sich dem Strande schon bedeutend genähert hatte, und sah, daß ein andrer Lotse als Ewald das Steuer führte; ein zweiter Blick überzeugte sie, daß sich ihr Mann auch nicht unter den übrigen Insassen des Bootes befand. Mit einem gellen Schrei sprang sie auf und brach sich Bahn durch die lärmende Menschenmenge, welche sich dicht um die Landungsstelle herdrängte. Als sie endlich die vorderste Reihe erreicht hatte, ward das Boot eben auf den Strand gezogen; die Insassen sprangen heraus, nur Rott blieb zurück, knieend über einen regungslosen Körper gebeugt, der lang ausgestreckt mitten im Boote lag. Bettina beugte sich hastig über den Rand des Fahrzeugs und prallte in wortlosem Entsetzen zurück. Sie hatte in das blutüberströmte Antlitz ihres Mannes gesehen – es war das eines Sterbenden. Mit starren, gläsernen Augen lag er da, ohne ein Lebenszeichen zu geben, und erst, als ein halbes Dutzend starker Männer ins Boot sprang und ihn emporhob, kam ein dumpfes Stöhnen aus seiner Brust. Man trug ihn zur Düne hinauf, breitete Segel über die Erde und legte ihn auf dies Sterbebett nieder. Während das geschah, trat Rott zu der wankenden Bettina, und indem er ihr den Arm zur Stütze bot, flüsterte er ihr leise zu: „Fassung, mein Herz, Fassung!“
Sie raffte sich gewaltsam auf; wie das Unglück geschehen sei, fragte sie tonlos. Rott berichtete in fliegender Hast, Ewald habe mit bewundernswerthem Geschick das Rettungsboot so beigedreht, daß zwei von den Ruderern das vom Schoner ausgeworfene Seil hätten erhaschen können. „Während wir nun mit dem Aufgebot unsrer ganzen Kraft das Boot durch Taue an das Schiff fesselten, schwang sich Ewald als erster aufs Verdeck. Hier drängten sich die Matrosen, welche jeden Augenblick den Untergang erwarteten, mit wildem Ungestüm an ihm vorüber und sprangen ins Boot; zwei stürzten ins Meer und ertranken. Zurück blieb nur der Kapitän des Schiffs mit Kind und Frau. Ewald nahm das Kind auf den linken Arm und half dem Kapitän die ohnmächtig gewordene Frau nach der Schiffstreppe schleppen. Doch noch ehe sie diese erreicht hatten, brach der Orkan los – ein furchtbarer Schlag, ein Krach, und Ewald fiel über Deck, schlug mit dem Rücken auf die Kante des Rettungsbootes und sank mit dem Kinde, das er krampfhaft umschlungen hielt, ins Meer. Es gelang uns, ihn zu erhaschen und sammt dem Kinde ins Boot zu ziehen. Droben war der Mast gebrochen, hatte im Sturze den Kapitän und sein Weib erschlagen und Ewald so wuchtig am Hinterkopf und an der rechten Schulter getroffen, daß er betäubt über Bord geschleudert worden war. Seltsamerweise blieb das Kind in seinem Arme unversehrt. Nun hingen wir angstvoll an der Leeseite des sinkenden Schiffes, bis die erste Gewalt des Hagelsturms gebrochen war; dann wagten wir die Rückfahrt, und sie gelang; elf Menschen sind gerettet worden –“
„Erkauft mit Ewalds Blut!“ rief Bettina schaudernd. Sie trat an die Seite des Sterbenden und kniete, in Thränen ausbrechend, neben ihm nieder. Rott wollte ihr folgen, aber die alte Monk sprang mit wüthender Gebärde auf und kreischte ihm zu: „He hätt min Sahn up sin Gewissen!“
Bei diesem Aufschrei der verzweifelten Alten kehrte ein matter Strahl des Lebens in Ewalds Augen zurück. Erwachend sah er erst in das erregte Gesicht der Mutter, dann zu Rott hinüber und flüsterte. „Lat man, Mudding, he is ’n braven Kirl!“
Sein Blick fiel auf die schluchzende Bettina, und wie ein letzter Schimmer der Freude ging es über sein fahles, verwüstetes Antlitz. „Wo ist das Kind?“ fragte er. Pischel brachte den blondhaarigen, blauäugigen Buben. Er betrachtete den Kleinen lange und fragte dann leise, ob des Kindes Eltern gerettet seien. Man berichtete ihm, daß der fallende Mast beide erschlagen habe.
„Betty,“ sagte er, und seine Stimme war wie ein letzter Hauch, „nimm Du ihn zu Dir ... für unser Kind ...“
Er kam nicht weiter; sein Auge wurde starr, ein Zucken ging durch den athletischen Körper – Ewald Monk war verschieden.
Seine Eltern brachen in laute Klagen aus; Bettina wollte sich erheben, um ihnen ein Wort des Trostes zu sagen, allein plötzlich verwischte sich alles um sie her, sie schwankte und wäre zur Erde gestürzt, wenn Rott nicht seine Arme um sie geschlungen hätte. Mit Hilfe des Lehrers brachte er die Bewußtlose nach der Klause, wohin auch das verwaiste Kind geführt wurde; der Zustand Bettinas, die kein Lebenszeichen von sich gab, erfüllte ihn mit qualvoller Sorge; trotz seiner Ermattung warf er sich daher aufs Pferd, um den Kreisphysikus herbeizuholen.
Als dieser am Abend mit Rott die Klause betrat, hatte sich bei Bettina bereits hohes Fieber eingestellt. Der Arzt beobachtete die Kranke eine Weile, strich ihr über das glühende Gesicht, prüfte ihren Puls und sagte dann zu dem Künstler, welcher in ängstlicher Spannung jede seiner Bewegungen verfolgt hatte: „Nervenfieber in der heftigsten Form. Es muß alles für eine gute Pflege der Kranken geschehen, sonst stehe ich für nichts. Der Obhut der alten Monks können wir sie unmöglich überlassen.“
„Wissen Sie nicht in der Nähe eine beständige Krankenpflegerin, Doktor? Ich würde jeden Preis zahlen.“
[285]
[286] „Gewiß, ich kann eine Frau Braun aus der Kreisstadt herübersenden, der wir die Wartung getrost anvertrauen dürfen. Aber ich hätte gern noch jemand, welcher der Kranken nahestünde und für all das sorgte, was nur warme persönliche Antheilnahme bemerkt –“
„Das soll meine Aufgabe sein, lieber Doktor," unterbrach ihn Rott erröthend. „Ich verlasse das Haus nicht eher, als bis ich dem Tod diese Beute abgejagt habe.“
Rott, der dem Sturme so kühn getrotzt hatte, sah am Krankenlager der Geliebten ein, daß es schwerer ist, sich selber zu bezwingen als die entfesselten Elemente. Oft glaubte er, an Bettinas Rettung verzweifeln zu müssen, und dann bedurfte er aller Kraft, um ruhig auszuharren, nicht in wilden Groll auszubrechen. Eine treffliche Stütze fand er glücklicherweise an der Pflegerin, welche ihm der Doktor geschickt hatte. Frau Braun sorgte nicht nur für die Leidende, sondern versah auch den Haushalt, so daß Rott das verwaiste Kind, welches er im Schulhaus untergebracht hatte, zu sich in die Klause nehmen konnte. Er forschte nach den Verwandten des verunglückten Kapitäns und erfuhr, daß nur ein Bruder der Frau in Stettin lebe; der aber war selber so reichlich mit Kindern gesegnet, daß er gern auf Rotts Bitte einging, ihm den kleinen Fritz zur Erziehung zu überlassen.
Den Monks hatte Rott sein Versprechen gehalten und ihnen gleich nach Ewalds Bestattung durch den Lotsenkommandanten tausend Mark einhändigen lassen mit dem Bemerken, daß sie in jeder Nothlage auf ihn zählen dürften. Diese That gewann ihm vollends das Herz der Dorfbewohner, überall bezeigte man ihm aufrichtige Theilnahme und hilfreiches Entgegenkommen, und sogar Kathrein Bräuning erbot sich zu kleinen Dienstleistungen in der Klause.
Zum Glück hatte Rott Ersparnisse gemacht; so konnte er nicht allein die Kosten des Haushalts bestreiten, sondern sich auch als Künstler von allen Vertragspflichten lösen, die er für den Rest des Jahres eingegangen hatte. Er hatte gehofft, Bettina werde vor Ablauf dieser Zeit wieder genesen sein, aber seine heißen Wünsche erfüllten sich nicht. Nach Tagen banger Erwartung ging zwar die Krisis glücklich vorüber, allein der Körper der Kranken war so geschwächt, daß wochenlang die gesunkenen Kräfte sich nicht wieder heben wollten. Endlich, als schon der ewige Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung auch Rotts Gesundheit zu untergraben drohte, begann die Besserung, und während des Weihnachtsfestes konnte Bettina zum ersten Male ihr Lager verlassen. Von Rott und dem Arzte wurde sie in den Salon getragen, wo man sie sanft auf einen Sessel niederließ. Die beiden nahmen ihr gegenüber Platz, und nachdem der Arzt die Genesende, die sich mit sichtlichem Behagen an der Unterhaltung betheiligte, eine Weile beobachtet hatte, erklärte er in munterem Tone jede Gefahr für überwunden. Rott sprang stürmisch auf, umarmte den Ueberraschten und sank dann vor Bettina nieder. „Nun hab’ ich ein Anrecht auf Deinen Besitz, nun bist Du mein für immer!" rief er bewegt.
Und Bettina beugte sich mit verklärtem Lächeln zu ihm nieder. „Dir verdanke ich meine Rettung – wem sollte ich dies neugewonnene Leben lieber schenken als Dir, Franz!“ flüsterte sie und küßte ihn auf die Stirne.
In diesem Augenblick rief eine Kinderstimme von der Schwelle zum Nebenzimmer her. „Papa, Papa!“ und Fritz machte sich von der Hand der Wärterin los, um in Rotts Arme zu eilen. Dieser küßte den kleinen Blondkopf und stellte ihn vor Bettina hin. „Ewalds Erbe und unser Sohn, nicht wahr, Liebste?“ sagte er mit einem hellen Leuchten in seinen männlichen Zügen.
Bettina umschlang den Hals des Kindes und sah es schweigend mit feuchtschimmernden Augen an; der Friede war eingezogen in ihre Seele, jener Friede, der das Herz so übervoll und dennoch den Mund verstummen macht.
Und mit dem Frieden zog das Glück in die Klause ein. Die zärtliche Sorgfalt Rotts, das muntere Lachen des Kindes, die freundlichen Bemühungen der Wärterin, das Haus behaglich zu machen – alles das erquickte Bettina aus tiefstem Grunde und förderte zugleich ihre Genesung. Die Erinnerung an Ewalds Tod trat mehr und mehr zurück und bedrückte ihr Herz nicht mehr, sie gab ihrem ganzen Weseu nur einen ernsteren Halt.
Als sie eines Abends mit Rott vor dem Kaminfeuer saß und ihm gestand, wie schwer sie in Massow gerade die künstlerische Anregung entbehrt habe, kam das Gespräch nochmals auf die inneren Kämpfe, die sie zur Flucht aus den gewohnten Verhältnissen getrieben hatten. Bettina erinnerte sich dabei an das Tagebuch ihres Vaters, sie ließ es sich vom Schreibtisch holen und händigte es Rott ein. „Lies diese Schilderungen,“ sprach sie erröthend, „und Du wirst es nicht verwunderlich finden, daß sie mich gefangen nehmen mußten in einem Augenblick, wo die gesellschaftliche Welt, in der ich lebte, mir nichts als Enttäuschung und Lüge bot. So bin ich geflohen, um hier das Glück zu suchen in der Natur, bei einfachen ursprünglichen Menschen – ich weiß jetzt, daß es ein Irrthum, aber – urtheile selbst, ob es nicht ein sehr begreiflicher war."
Am nächsten Abend schon legte Rott das Tagebnch in Bettinas Hand zurück, und als sie ihn erwartungsvoll anblickte, strich er ihr sanft über das weiche Haar und sagte: „Das Glück ließ Deinen Vater im schönsten Lebensalter eine verlockende Idylle mitten im Weltmeer finden, aber Du hast eines dabei übersehen, Bettina: es war nicht das verlorene Naturparadies, nach welchem sich Dein Vater im Alter zurücksehnte, sondern der Zauber der Jugend und der Liebe. Wir finden die Bedingungen des Glückes nur in uns selbst, allein wir sind so oft geneigt, sie draußen zu suchen, und der Erfolg ist, daß wir Enttäuschung auf Enttäuschung erleben und dann verbittert in die Einsamkeit fliehen. Und gerade dadurch steigern wir nur unser Elend, denn ‚wer sich der Einsamkeit ergiebt, ist bald allein‘.“
„Nun,“ sagte sie lächelnd und ergriff seine Hand, „ich bin in der Einsamkeit doch nicht ganz vereinsamt – das Beste ist mir geblieben.“
Sie sahen sich mit glückstrahlenden Augen an und begannen, mit fast kindlichem Eifer Pläne für die Zukunft zu entwerfen. Anfangs Januar wollte Rott Massow auf mehrere Monate verlassen, um gemeinsam mit Diaz und einer berühmten Pianistin eine Konzertreise durch Spanien auszuführen. „Aber dies wird die letzte Trennung sein, die wir zu überwinden haben,“ sagte er tröstend, „im Herbst schon hat mein Vagabundenleben ein Ende. In Berlin bauen wir unser Nest, dort will ich in ehrbarster Seßhaftigkeit, wie sie einem Ehemann ansteht, als Lehrer thätig sein; und wenn ich Konzertreisen unternehme, dann thu’ ich’s nur gemeinschaftlich mit Dir, mein Herz.“
„Ach, wenn nur dieser Winter erst hinter uns liegen würde!"
„Damit Du Dich nicht gar so einsam fühlst, habe ich Dir eine Überraschung bereitet.“
„Und welche, Franz?“
„Ich werde mich hüten, es Dir zu verrathen! Aber morgen sollst Du eine kleine Freude erleben.“
Es wurde eine große daraus, denn am nächsten Tage kam ein hochbepackter Schlitten aus Groß-Küstrow herüber und hielt vor der Klause. Bettina, welche eben am Erkerfenster saß und dem kleinen Fritz Papierpuppen ausschnitt, sah zu ihrer Verwunderung, daß Rott sofort auf den Schlitten zulief und einer durch Pelze und Shawls völlig unkenntlichen Frau sowie zwei Kindern aus dem Gefährt half. Auch Frau Braun eilte durch den Schnee und war um die Fremde geschäftig.
Bettina wollte sich aus dem Sessel erheben, allein noch reichte ihre Kraft dazu nicht aus. Hilflos starrte sie auf die Thür, vor der sie rasche Tritte vernahm. In der nächsten Minute sprang diese weit auf und mit dem Ausruf: „Bettina, liebste Bettina!" flog Lisa ihr entgegen.
Es war die alte Freundin mit all ihrer früheren Munterkeit. Sie küßte Bettina unter Lachen und Weinen immer und immer wieder. „Ich weiß, was Du gelitten hast,“ sagte sie, „Rott hat mir alles geschrieben. Du siehst noch bleich aus, mein Kind, schrecklich bleich, aber das soll anders werden. Lachen mußt Du mir, fröhlich sein, bis Deine Backen kirschrot werden.“
„O, Du siehst, Lisa, ich lache schon jetzt, so froh macht mich Dein Anblick. Und das sind Deine Kinder? Ach, das ist herrlich, nun hat unser Junge Gespielen!“
[287] Sie streckte Rott, der eben eintrat, mit dankbarem Lächeln die Hand entgegen. „Das hast Du gut gemacht, eine schönere Ueberraschung hättest Du mir nicht bereiten können. – Du bleibst doch bis zum Frühjahr bei mir, Lisa?“
„Wenn Du uns behältst, mit Freuden! Da die ruhelosen Künstler ins romantische Spanien ziehen, so wollen wir hier in Geduld ihre Rückkehr erwarten. Zu zweien wollen wir der Einsamkeit schon trotzen, wir können auch ohne die Männer fröhlich sein. Sie sollen uns nicht als abgehärmte Wesen wiederfinden, denen beständig die Klage auf den Lippen schwebte: ‚Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide.‘“ Und mit silberhellem Lachen wandte sie sich ihren Kindern zu.
Leichten Herzens blickte Rott ihr nach: mit ihr war der Frohsinn in die stille Klause gekommen, nun konnte er beruhigt scheiden.
In den ersten Tagen des Mai kehrten Franz Rott und Garcia Diaz von ihrer spanischen Künstlerfahrt nach Massow zurück. Sie waren nicht erwartet worden und überraschten die beiden Frauen im aufblühenden Garten, wo sie mit den Kindern spielten. Bettina wurde eben von den Kleinen, zu denen sich auch die Töchterchen des Lotsenkommandanten gesellt hatten, über den Rasenplatz verfolgt und rannte gerade auf Rott los – jubelnd flog sie in seine Arme.
Der Heimgekehrte küßte sie beglückt auf beide Wangen und sagte mit einem zärtlichen Blicke in ihr erglühendes Gesicht: „Du hast Deine Jugend wiedergefunden.“
„Kein Wunder, Schatz! Liebe und Freundschaft schaffen ein fröhliches Herz. Ach, wie verändert erscheint mir die Welt in diesem Frühling!“
Auch Diaz begrüßte die Seinen mit überströmender Freude und fand, daß sie alle von Gesundheit förmlich strahlten.
„Uns ist’s auch über Verdienst gut gegangen, lieber Garcia. – Aber was ist das?“ rief Lisa, plötzlich ernst werdend, „Du bist ganz in Schwarz gekleidet und trägst einen Flor am Arme?“
„Verzeih, das habe ich in der Freude des Wiedersehens ganz vergessen. Bei der Rückreise über Madrid fand ich Tante Dolores in den letzten Zügen. Sie starb, nachdem sie mir zwanzigtausend Pesetas vermacht hatte.“
Lisa konnte nicht verhehlen, daß ihre Freude über die Erbschaft größer sei als die Trauer um den Verlust der Tante.
„Ach, Garcia“ sagte sie, „diese Summe könnte uns später über manche schwere Zeit hinweghelfen, wenn wir nur verstehen würden, das Geld zusammenzuhalten. Aber in der Ehe findet nun einmal eine Anpassung der Charaktere statt, und da Du von Rechts wegen mein Herr bist, so habe ich mir leider allmählich auch den Leichtsinn meines Herrn und Gebieters zu eigen gemacht.“
„Aber Lisa, warum sich das Leben schwer machen! Wir haben noch eine Tante und außerdem werden wir in der Lotterie gewinnen, denn ich habe zwei ganze und zehn halbe Lose gekauft.“
„Nun,“ meinte Rott spottend, „das muß ich sagen, Du bist freigebig, Garcia, Du zahlst dem Staate eine hohe Erbschaftssteuer, ohne dazu verpflichtet zu sein.“
„Nicht wahr?“ pflichtete Lisa schmollend bei. „Er verzettelt sein Geld wieder an eitle Hoffnungen. O, dieses unselige Lotteriespiel – wie ich es hasse!“
„Aber Lisa,“ versetzte Garcia schelmisch lächelnd, „Du schiltst immer auf die Lotterie, und was ist das ganze Leben anderes als eine Lotterie? Was regiert die Welt anders als der Zufall?“
„Du hast bei diesem Vergleich nur eines vergessen, Garcia,“ rief Rott, „nämlich den kleinen und doch nicht ganz unwichtigen Umstand, daß in dieser auf Zufall gegründeten Welt dem Menschen der Verstand gegeben ist, um den Zufall hie und da ein bißchen zu korrigieren. Fleiß und Charakter sind zwei Einsätze in dieser Lotterie des Lebens, die recht viel Aussicht auf Gewinn bieten und jedenfalls mehr als Deine verteufeltet Lose. Werde vernünftig, Garcia, sonst wirft der Sturm Dein Schifflein einmal unversehens um!“
„Sei kein Unglücksprophet, Franz,“ unterbrach ihn Bettina einlenkend. „Vorläufig liegen wir alle glücklich hier vor Anker und wollen uns dessen freuen, was uns beschieden ist.“
Mit aufwallender Dankbarkeit lehnte sie sich an Rotts Schulter. Er aber küßte sie auf die Stirne und erwiderte frohgemuth: „Du hast recht, Geliebte. Laßt uns heiteren Blickes der Zukunft entgegengehen, laßt uns so leben und wirken, daß wir mit uns selbst auch andere beglücken! Nicht die Welt zu fliehen sondern ihr zu nützen, ist das rechte Ziel.“
„Andere beglücken – ja, das ist’s,“ sagte Bettina leise. „Wir wollen theilnehmen an fremdem Schicksal – nur indem wir so leben, leben wir in Wahrheit!“
Die „schlagenden Wetter“ und ihre Verhütung.
Ein ernster Beruf ist es, den sich der Bergmann und ganz
besonders der Kohlenbergmann erwählt hat. Gefahren aller
Art umgeben ihn bei seiner mühevollen Arbeit. Während der
Seemann nur dem Winde und den Wellen Trotz bieten muß, ist
der Bergmann außer von Luft und Wasser auch von einbrechendem
Gestein, vom zerschmetternden Sturz in die grausige Tiefe, vom
Feuer der durch Selbstentzündung entflammten Kohle bedroht.
Wenn für irgend einen Stand, so gilt für den Bergmann das
Wort des alten Kirchenliedes:
„Mitten wir im Leben sind
Von dem Tod umfangen.“
Wir wollen den Bergmann auf seiner Reise begleiten.
Die Einfahrt in die Grube wird mit dem Seile ausgeführt. Schweigend treten die schwarzen Gestalten je mit einer Lampe versehen in den Förderkorb, dumpf ertönen die üblichen Schläge auf die Metallplatte, welche dem Maschinenwärter melden, daß er Mannschaften zu fördern hat und deshalb langsamen Gang halten muß. Die Schachtthür wird verriegelt, und lautlos gleitet der Korb in die Tiefe. Jetzt hängt das Leben der ganzen Besatzung an der Haltbarkeit des Drahtseiles, eines Seiles, das man bequem mit der Hand umspannen kann! Wäre nicht alles dunkel, so würde wohl manchen ein Grausen ergreifen, wenn er den unermeßlichen Abgrund - 250 Meter und noch mehr - unter sich erblicken könnte. Aber der Bergmann vertraut auf die Festigkeit des Seiles und im schlimmsten Falle auf die rechtzeitige Wirksamkeit der Fangvorrichtung, die den Korb beim Reißen des Seiles an den Leitbäumen festklemmen wird.
Nach einer Fahrt von einigen Minuten kommen wir auf der „Sohle“ an; wir gehen zunächst der Hauptstrecke nach, dann auf immer engeren Wegen zu dem Arbeitsplatze des Bergmannes. Halb kriechend gelangen wir „vor Ort“, zu der einsamen Stelle, wo er, meist nur von einem Kameraden unterstützt, seine Arbeit zu verrichten hat. Mit mattem Scheine leuchtet ihm das Grubenlämpchen - es droht zu erlöschen, denn heute sind, wie der Bergmann sagt, die „Wetter schlecht“. Nur ab und zu wird die Totenstille unterbrochen durch ein entferntes dumpfes Rollen, welches anzeigt, daß auf der Förderstrecke ein Zug von Grubenwagen vorbeifährt, oder es erdröhnt ein dumpfer Knall, von dem Abschießen einer Sprengpatrone herrührend, mit welcher das Gestein oder die Kohle losgesprengt wird.
Schon beim Einfahren hörten wir ab und zu ein eigenthümliches Rauschen, wie von durchströmendem Wasser. Das ist die „Wasserhaltung“, welche, von mächtigen Dampfmaschinen getrieben, das in der Grube sich ansammelnde Wasser „zu Tage“ fördert. Auf unserm Gange durch die Förderstrecke hatten wir auch Gelegenheit, eine eiserne Dammthür zu sehen, wie sie zum Absperren von Wasserzuströmungen dient. Ein Druckmesser an derselben zeigt uns an, daß das von ihr zurückgehaltene Wasser einen Druck von zwanzig und noch mehr Atmosphären hat. Was würde die Folge sein, wenn durch irgend einen Zufall ein Bruch in der Dammthür oder in der Rohrleitung der Wasserhaltung entstände? Das Grubenwasser würde sich mit unwiderstehlicher Kraft hervorstürzen und alles Lebendige ertränken.
Aber den schlimmsten Feind, der nach amtlichen Nachweisen [288] gegen ein Fünftel der sämmtlichen Unfälle verschuldet, haben wir noch nicht erwähnt, es sind die „schlagenden Wetter“.
Wer je die lange Reihe todesbleicher Opfer schlagender Wetter nebeneinander gebettet sah, dem wird der Anblick unvergeßlich bleiben. Ein schreckliches Bild einer solchen Katastrophe bot kürzlich das Unglück in Anderlues, bei dem über 200 Bergleute eine Beute des Todes wurden. Auch auf den deutschen Zechen, insbesondere auf denen des Oberbergamtsbezirkes Dortmund, welcher die Zechen des Rheinisch-westfälischen Steinkohlengebietes umfaßt, hat sich jener unheimliche Gast häufig eingestellt. Innerhalb der Jahre 1861 bis einschließlich 1887 haben dort 1564 Explosionen schlagender Wetter stattgefunden, bei welchen 3376 Verletzungen und unter diesen 1129 Tötungen vorgekommen sind. Das entspricht einem Todesfall auf je 1167 und einer Verletzung auf je 552 Mann der Gesammtbelegschaft.
Unter den Unglücksfällen haben die 17 Explosionen auf der Zeche „Neu-Iserlohn“ 160 Tote und 61 Verletzte gefordert. Allein bei der Katastrophe vom 15. Januar 1868 zählte man 81 Tote und 10 Verletzte. Bei einer Explosion auf Zeche „Consolidation“ im September 1886 waren 56 Tote und 8 Verletzte, bei einer anderen auf Schacht „Hibernia“ 52 Tote und 4 Verletzte zu beklagen.
Man wird nicht zu hoch greifen, wenn man – das Ausland eingeschlossen – die Gesammtzahl der im laufenden Jahrhundert getöteten Bergleute auf 100 000 und der allein durch schlagende Wetter Umgekommenen auf 15 000 annimmt. Bei einer so erschreckend hohen Zahl ist es wohl erklärlich, daß mit allem Aufwand von Geist und Erfindungskraft daran gearbeitet wird, diesen Unglücksfällen zu steuern. In England, Frankreich, Belgien, Oesterreich, Deutschland, speziell in Preußen und Sachsen, bestehen besondere Kommissionen mit dem Auftrag, die Frage zu studieren und Vorschläge zur Beseitigung der Gefahren zu machen. Die Arbeiten dieser Kommissionen haben nun zwar in erfreulicher Weise die nöthigen Aufklärungen über Entstehung und Verhütung der Schlagwetter zu Tage gefördert und es sind allerlei vortreffliche Sicherheitsvorrichtungen gefunden worden. Aber der stete Umgang mit der Gefahr und die daraus entstehende Gleichgültigkeit der Bergleute, in einzelnen Fällen sogar offenkundige Leichtfertigkeit, tragen die Schuld daran, daß die besten Sicherheitsmaßregeln ihre Wirkung nicht voll zu entfalten vermögen.
Fragen wir nach der Ursache der Explosion schlagender Wetter, so liegt dieselbe, wenn wir die seltener vorkommenden, von Kohlenstaub herrührenden Explosionen außer acht lassen, in der Entzündung der sogenannten Sumpf- oder Grubengase. Diese Gase bestehen gewöhnlich aus einem Theile Kohlenstoff und vier Theilen Wasserstoff. Verbinden sie sich mit einer gewissen Menge Luft, so entsteht eine Mischung, welche mit der größten Heftigkeit explodiert, und zwar am stärksten dann, wenn die Luft etwa neuneinhalb Prozent Grubengas enthält; sowohl bei höherem als bei geringerem Gehalt der Luft an Grubengas nimmt die Gewalt der Explosion ab. Diese selbst wird herbeigeführt, sobald die Mischung mit einer offenen Flamme in Berührung kommt.
Um einen klaren Einblick in das Wesen der Schlagwetter zu bekommen, müssen wir unsere Leser bitten, uns bei einem kleinen Abstecher auf das Gebiet der Chemie zu begleiten. –
Die Luft besteht bekanntlich aus einem Gemisch von Sauerstoff und Stickstoff. Der letztere ist ein träger Geselle, der nur ungern Verbindungen anknüpft oder Freundschaft schließt und lieber für sich bleibt. Nicht so der Sauerstoff, der das Feuer unterhält; er ist stets begierig, mit anderen Stoffen Verbindungen einzugehen.
Mischt sich nun Luft mit Grubengas, so haben wir in dem Gemisch die Bestandtheile Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff und Kohlenstoff zunächst friedlich nebeneinander, und da alle diese Gase sich durch den Geruch nicht bemerklich machen, so ahnen wir gar nicht, in welch gefährlicher Gesellschaft wir uns befinden. Bringen wir aber eine Flamme in das Gemisch, so werden die schlummernden Riesenkräfte wachgerufen und mit einem entsetzlichen Schlage geht die verhängnißvolle Umwandlung vor sich: ein Theil des Sauerstoffes geht an den Wasserstoff, verbrennt diesen zu Wasser, der Rest des Sauerstoffes geht an den Kohlenstoff und verbrennt zu Kohlensäure oder Kohlenoxyd, und der Stickstoff bleibt, was er gewesen ist. Durch diesen Explosionsvorgang wird eine gewaltige Hitze und ein verheerender Luftstoß hervorgebracht, der oft die größten Zertrümmerungen in der Grube zur Folge hat, die Bergleute zerschmettert und tötet. Aber mit der Explosion sind die schlimmen Wirkungen noch nicht erschöpft.
Man weiß, daß zum Athmen Sauerstoff unerläßlich ist; nun ist aber sämmtlicher Sauerstoff durch die chemische Zersetzung bei der Explosion verschwunden, er ist zu Wasser und zu Kohlensäure oder Kohlenoxyd geworden und in dieser Form zum Einathmen nicht mehr geeignet; das etwa noch gasförmig gebliebene Wasser ist dazu ebenfalls nicht brauchbar, ebensowenig die Kohlensäure, und das Kohlenoxyd ist für die Athmung nicht nur nicht nutzbar zu machen, sondern sogar giftig. Die Folge davon ist, daß der Bergmann aus Mangel an geeigneter Luft erstickt oder, wie es in seiner Sprache heißt, das Opfer der „Nachschwaden“ wird. Diese Opfer sind meistens zahlreicher als die der eigentlichen Explosion, des ersten Luftstoßes.
Man nimmt an, daß sich die Grubengase in den Spalten („Klüften“) der Steinkohlenlager allmählich bilden und bei günstiger Gelegenheit, insbesondere bei vermindertem Luftdruck, an den oberen Theilen der Grubengänge ansammeln und sich dort mit gewöhnlicher Luft mischen. Das nächstliegende Mittel, diese Gase zu entfernen, ist die „Wetterführung“. So nennt der Bergmann die Vorrichtungen, die dazu dienen, dem unterirdischen Grubenbau bis zu den äußersten Verzweigungen frische Luft zuzuführen. Zur Wetterführung gehören zwei Haupttheile, die Gebläsemaschine und die Wetterscheidung; von den bei Steinkohlengruben weniger vorkommenden Einrichtungen, wie natürlichem Wetterwechsel, Erwärmung der ausziehenden Wetter, können wir an dieser Stelle absehen. Als Gebläsemaschinen werden jetzt meistens die Ventilatoren benutzt. Es sind dies große, mit schaufelförmigen Flügeln versehene Windräder, welche bis zu 14 m Durchmesser haben und imstande sind, eine bedeutende Luftmenge – bis zu einigen Tausend Kubikmetern in der Minute – in Bewegung zu setzen. Um sich von diesem Raume einigermaßen eine Vorstellung zu machen, erinnere man sich, daß eine schon recht geräumige Wohnstube, von 5 m Länge und Breite und 4 m Höhe erst 100 cbm enthält. Es müßte mithin der Luftinhalt von etwa zwanzig solchen Stuben in einer Minute durch den Ventilator gezogen werden. Die Ventilatoren findet man entweder so angeordnet, daß sie die frische Luft in die Grube hineinblasen (drücken), wobei die schlechte Luft verdrängt wird, oder so, daß sie die schlechte Luft aus dem Innern der Grube absaugen. Zu beiden Zwecken wird die „Wetterscheidung“ benutzt, welche aus einem sich nach allen Punkten des Bergwerks verzweigenden Kanal- oder Röhrennetz besteht. Bei dem „drückenden“ Ventilator muß sich die schlechte Luft ihren Ausweg durch den Wetterschacht suchen, bei dem saugenden tritt die frische Luft durch den Schacht ein. Bei Gruben, welche zur Bildung von Schlagwettern besonders geneigt sind und die man deshalb kurzweg „Schlagwettergruben“ nennt, muß auf die Wetterführung die größte Sorgfalt verwendet und ihr Gang stets genau beobachtet werden, zu welchem Behufe an
[289] verschiedenen Stellen der Grube Apparate zum Messen des Druckunterschiedes oder der Windgeschwindigkeit aufgestellt sind.
Jedoch auch die beste Wetterführung unterliegt unvorhergesehenen Zufällen. Wir wollen nur eine Möglichkeit anführen, bei welcher die tadelloseste Einrichtung ihren Dienst versagen kann: es ist dies das unerwartete Hereinbrechen einer großen Menge von Grubengasen, die sich vielleicht in einer verborgenen Kluft oder einem verlassenen Grubenbau – einem sogenannten „alten Mann“ – angesammelt hatten und denen unversehens der Zugang „an Ort“ geöffnet wurde. Dann ist, wie der Bergmann sagt, ein Bläser vorhanden, und in solchen Augenblicken liegt die Gefahr einer Entzündung der schlagenden Wetter außerordentlich nahe. Es ist also unter allen Umständen stete Vorsicht geboten.
Als eine der ersten Vorschriften in Schlagwettergruben gilt die, daß nicht mit freiem Feuer hantiert werden darf. Sehen muß nun aber der Bergmann bei seinen Arbeiten und dazu ist ihm eine Beleuchtung unentbehrlich! Zum Glück machte der englische Chemiker Davy die Entdeckung, daß eine Wand von geflochtenem Drahte die Verbreitung einer Explosion verhindert, und auf diesen Umstand gründete er die Konstruktion einer Sicherheitslampe, welche die Flamme selbst mit einem Glascylinder umgibt, um die Leuchtkraft möglichst wenig zu beeinträchtigen, während der obere Theil aus einem engmaschigen Drahtgewebe besteht. Bringt man nun die Sicherheitslampe in einen Raum, welcher Schlagwetter enthält, so tritt allerdings auch eine Explosion ein, aber sie ergreift nur denjenigen Theil der Luft, welcher sich innerhalb der Lampe befindet; zugleich ist gewöhnlich die Folge die, daß die Lampe erlischt und der Bergmann so ein Zeichen erhält, daß er sich an einer gefährlichen Stelle befindet, für deren gründliche Lüftung sofort Sorge getragen werden muß. In Schlagwettergruben ist der Gebrauch anderer als der Sicherheitslampen aufs strengste untersagt, und ein ganz besondrer Scharfsinn ist daraus verwendet worden, dem Bergmann das unbefugte Oeffnen der Lampe unmöglich zu machen, sei es durch Anwendung künstlicher Schlösser, deren Schlüssel ein Beamter über Tag aufhebt, oder durch Verwendung elektromagnetischer Verschlüsse, die dem Grubenarbeiter unerreichbar sind. Zum Wiederanzünden erloschener Lampen sind Vorrichtungen vorhanden, die nur von außen in Thätigkeit gesetzt werden können und also ein Oeffnen der Lampen sowohl unnöthig als unmöglich machen. Auch das Reinigen des Dochtes kann von außen her bewerkstelligt werden. Aus Sicherheitsrücksichten ist den Bergleuten ferner ebensowohl das Rauchen verboten wie das Mitführen von Feuerzeug. Trotzdem entstehen die meisten Entzündungen durch leichtsinnige Uebertretung dieser Vorschriften. Wohl sind die Opfer der Katastrophe meist nicht mehr imstande, über die Entstehung eines Unfalls Bericht zu erstatten, aber die stummen Zeugen, das Feuerzeug oder die geöffnete Lampe, sprechen laut genug.
Eine weitere Ursache zu Schlagwetterexplosionen liegt in der Verwendung von Sprengpatronen. Die Kohlen werden für gewöhnlich in der Weise losgelöst, daß man in die feste Kohlenmasse Löcher bohrt, auf deren Grund Sprengpatronen legt und diese durch Zündschnur oder neuerdings auch vielfach auf elektrischem Wege entzündet. Wenngleich man nun auch den über der Patrone befindlichen Theil des Loches mit „Besatz“ füllt, so finden doch noch recht oft die Schlagwetter Gelegenheit, sich mit zu entzünden und es ist nachweisbar, daß ein großer Theil der Explosionen hierauf zurückzuführen ist. Man hat schon viele Versuche gemacht, diese Gefahr zu beseitigen, aber bis jetzt ohne zuverlässigen Erfolg. Man hat die elektrische Zündung verbessert, Reibungszünder versucht, als „Besatz“ Wasser angewandt, allein das alles gab keine Sicherheit. Sprengungen mit gebranntem Kalke und mit Wasserdruck oder mit Keilvorrichtungen schützen zwar gegen Explosionen, führen aber wieder andere Uebelstände herbei, die eine allgemeine Verwendung dieser Verfahrungsweisen unthunlich erscheinen lassen. Die frühere Gepflogenheit, die Grubengase sofort bei ihrem Entstehen und also in kleinen Mengen zu entzünden, indem man in den oberen Räumen der Gänge eine sogenannte ewige Lampe anbrachte, hat man als unpraktisch und sogar gefahrvoll wieder verlassen. Und auch die Versuche, die Grubengase durch chemische Zersetzung unschädlich zu machen, haben zu keinem brauchbaren Ergebniß geführt. Als das beste und einzige Schutzmittel hat sich immer eine gute Wetterführung erwiesen, und auf diese wird daher auch fortan alle Sorgfalt gerichtet werden müssen.
Die Schrecken der schlagenden Wetter werden ins ungeheuerliche gesteigert, wenn sich zu ihnen noch ein Grubenbrand gesellt, wie dies infolge der großen Wärmentwicklung bei der Explosion stets zu befürchten und auch neuerdings in Anderlues wieder der Fall gewesen ist. Wollte man unter solchen Umständen die Wetterführung noch wirken lassen, so würde man den Grubenbrand erst recht anfachen. Das einzige Mittel, den Grubenbau selbst noch zu retten, ist das, die Wasserhaltung zum Stillstand zu bringen, was zur Folge hat, daß die Wasser der Grube sich sammeln und bei ihrem Emporsteigen die Gluthen allmählich ersticken. Natürlich wird dieses äußerste Mittel nur dann ergriffen werden, wenn die Möglichkeit, daß sich noch lebende Menschen in der Grube befinden könnten, vollständig ausgeschlossen ist.
Ein Versuch zur Rettung der vom Schlagwetter betroffenen Bergleute ist, wenn auch mit vielen Gefahren verbunden, doch durchaus unerläßlich; denn es ist niemals ausgeschlossen, daß einzelne noch mit dem Leben davonkommen. Die Rettungsmannschaften erhalten eine Gesichtsmaske mit Schlauchapparat, wie er beim Tauchen üblich ist, oder einen mit gepreßter Lust gefüllten Tornister, von dem aus ihnen die Athmungsluft durch einen Schlauch zugeführt wird. Ein andrer Schlauch führt der Grubenlampe die erforderliche Luft zu. So ausgerüstet, kann sich der Retter an den Ort des Schreckens wagen und mehrere Stunden dort arbeiten. Zur Ehre der Bergleute aber muß es gesagt werden: sie sind in solchen Fällen unermüdlich und wagen unbedenklich ihr Leben, wenn es gilt, einem gefährdeten Kameraden Hilfe zu bringen.
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BLÄTTER UND BLÜTHEN.
Deutsche Singvögel als italienische Delikatesse. Kürzlich sah ich in dem Schaufenster einer Wildbret- etc. Handlung zu Berlin haufenweise Lerchen liegen. Ich ging hinein, sprach mit dem Inhaber des Geschäfts und stellte ihm vor, daß er sich strafwürdig mache, da Lerchen nach dem Reichsgesetz zum Schutze nützlicher Vögel in Deutschland nicht mehr gefangen und feilgeboten werden dürften. Der Mann war einsichtig genug, mir zu danken und die Lerchen sogleich zu entfernen. Seitdem habe ich mich aber mehrfach in den Schaufenstern derartiger Geschäfte umgesehen und daselbst leider gar nicht selten Lerchen, Ortolane, Fett- oder Gartenammern und auch andere Ammerarten gefunden.
Während die Lerchen in früherer Zeit im Königreich Sachsen massenhaft gefangen und von dort aus versendet wurden, während dann, nachdem der Lerchenfang in Sachsen verboten worden war, die „Leipziger Lerchen“ aus dem Königreich Preußen, aus der Umgebung von Halle und Erfurt, kamen – werden sie jetzt als italienische Delikatesse zu uns in den Handel gebracht! Aber damit ist es noch nicht genug!
Eine Handlung in Berlin hat Dutzende von Körben mit vielen Hunderten von Zeisigen, Leinzeisigen, Hänflingen, Grünfinken, Stieglitzen, Edelfinken, Dompfaffen, Lerchen, auch Rothkehlchen, Grasmücken, Zaunkönigen u. a. als Handelsware aus dem Süden bezogen und hält dieselben zum Verkauf für die Küche feil. Man bedenke: Vögel unserer Fluren und Wälder, welche in unsrer Heimath erbrütet und flügge geworden und als Wandergäste nach dem Mittelmeer gezogen sind, werden dort, in Oberitalien, Griechenland und auch im Österreichischen Wälschtirol nicht mehr bloß wie bisher zu vielen Tausenden erlegt und gefangen, sondern auch als „Delikateßware“ wieder zu uns herausgesendet und uns zum Kaufe angeboten! Giebt es einen größeren Hohn auf alle Gesetze und Bestrebungen zum Schutze unserer Vögel als diesen? Sache aller Natur- und Vogelfreunde wird es sein, sich in Eingaben an die zuständigen Stellen zu wenden, damit eine schlimme Lücke in dem Reichsgesetz zum Schutze der für die Bodenkultur nützlichen Vögel beseitigt werde. Jener unerhörte Mißbrauch nämlich, von dem wir gesprochen, ist nach dem Reichsgesetz keineswegs verboten. Die toten Vögel dürfen vielmehr nach dem § 3 in der Zeit vom 16. September bis letzten Februar feilgeboten und verkauft werden, und die Unterdrückung dieses Mißbrauchs ließe sich auf Grund des Reichsgesetzes nur durch den Nachweis erzielen, daß der Fang und die Erlegung vermittelst einer verbotenen Fangweise geschehen sei.
Allerdings ist es allbekannt, daß unsere Vögel auf ihrem Zuge nach dem Süden massenhaft vermittele großer Netze gefangen werden, die verboten sind; wer könnte aber die ungesetzliche Fangweise an den toten Vögeln bei den Verkäufern beweisen?
Angesichts der vermehrten Gefahr, welche sonst den europäischen Wandervögeln droht, sollten alle, die ein warmes Herz für unsere Singvögel in der Brust tragen, dahin streben, daß die Gesetzgebung diesen Auswüchsen der Genußsucht einen festen Damm entgegenstelle.Dr. Karl Ruß.
Abendglocken. (Zu dem Bilde S. 264 und 265.) Abendlich still ruht die weite Fläche des Chiemsees, der letzte rothe Schein ist drüben an der Kampenwand verglommen, und sachte steigt der Mond am dämmernden Himmel empor. Das Tagesgeräusch ist verhallt, kein Schiff mehr weitum zu sehen bis auf den alten Einbaum, der zwei fromme Schwestern nach der Insel Frauenwörth zurückführt. Sie kommen von Uebersee, haben allerhand eingekauft für des Klosters Bedarf, und jetzt sind sie nach des Tages Geschäft und Hitze der Heimkehr in ihr stilles Kloster froh. Ein Glöcklein ertönt von drüben, deutlich trägt das Wasser seinen Schall herüber! Die frommen Frauen erheben sich in lautlosem Gebet, der Fischerhans faltet die schwieligen Hände, das Lisei hält mit Rudern inne – der Tropfenfall davon klingt leise zu dem Glockenton von drüben.
Es ist ein getreues Bild vom Chiemsee, das uns hier der Künstler giebt: Stille und Einsamkeit findet dort der Weltmüde in vollem Maße, und mancher, der an solchem Sommerabend sein Schifflein auf der lautlosen Fluth treiben ließ, wird beim Betrachten unsres Bildes an den Frieden jener Stunde zurückdenken! Br.
Ein verborgenes Schloß in Tirol. (Mit Abbildung S. 281.) Wer einmal zur Herbstzeit das im Schmuck seiner Reben und Kastanienwälder prangende Meran sah, der weiß auch zu erzählen von den altersgrauen Schlössern Tirol, Schönna, Katzenstein, Planta u. a., welche dem wundervollen Landschaftsbild noch den Reiz geschichtlicher Erinnerung hinzufügen. Mindestens die Hälfte der fußwandernden Touristen aber verläßt Meran ohne eine Ahnung davon, daß sein allermerkwürdigstes Schloß von ihnen ungesehen blieb, weil es nicht gleich den anderen auf freier Höhe, sondern versteckt mitten in der Stadt liegt, hinter den „Tuchlauben“, der verkehrsreichen, bogenüberwolbten Hauptstraße.
Man muß schon genauer zusehen, um den Thoreingang zu finden, welcher zu der alten landesfürstlichen Burg führt. Erzherzog Sigismund hat sie sich im 15. Jahrhundert zur Sommerresidenz erbaut, nach ihm hausten hier Kaiser Max und Ferdinand I. mit Familie, sie schätzten alle die „gute Luft“ in Meran, wiewohl sie im Innern ihrer Burg nicht viel davon genossen haben können.
Denn enge ging es hier zu! Schon der schmale Pförtleinsausschnitt im großen Thor muthet seltsam an; durch ihn steigt man in den kleinen Hofraum, wo kaum zwei Berittene wenden konnten. Dann geht es über schräge, hölzerne Treppen und Galerien, die frei unter dem vorspringenden Dache liegen, ins Innere. Alte Wandmalereien und Wappenschilder schmücken die ziegelbelegten Vorplätze, verhältnißmäßig viel Raum nimmt die Hauskapelle ein, dann folgen die wenigen Zimmer, wo sowohl das Ingesinde als die kaiserlichen Kinder in mehrschläfrigen Betten liegen mußten, sollte der Raum überhaupt reichen. Holzvertäfelte Erkersitze an den Fenstern der Wohnzimmer, große Thonöfen in den Ecken, geschnitzte Truhen und Trühelchen geben den Räumen ein anheimelnd behagliches Gepräge. Da und dort steht ein uraltes getriebenes Kupfergefäß; eine Wanduhr ohne Kasten mit seltsamen eisernen Zahnrädern und Gewichten zeigt die erste unbehilfliche Konstruktion der Nürnberger Erfindung. Es ist ein völliger Schritt ins Mittelalter, den man hier thut, und die Empfindung davon umfängt den Besucher mit merkwürdiger Lebhaftigkeit – nicht am wenigsten in der kleinen, armseligen Küche zu ebener Erde, wo eine offene Feuerstelle mit Rauchfang, ein Wasserstein und Schöpfkrug die ganze Einrichtung ausmachen. Kein Backofen! Braten wurden am Spieße gemacht, die Lebküchlein und Gewürzzelten auf Blechen zum Bäcker getragen. –
Und vollends die Spielplätze der Kinder, wenn draußen schlechtes Wetter war, die engen Galerien und Estriche! Auf einer der ersteren saß, als ich das Schloß besuchte, die Kastellanin an ihrer – Nähmaschine wie eine Verkörperung der überall eindringenden Neuzeit ... R. A.
Bernhard Baumeister. Vierzig Jahre sind es am 7. Mai, seit Bernhard Baumeister, ein Liebling der Wiener unter der alten Garde des Burgtheaters, zum ersten Male auf den Brettern dieses Hauses auftrat. Vierzig Jahre – und es klingt heute fast unglaublich, was ehedem Baumeister für Dinge zugemuthet wurden, die seinem Wesen so fern als möglich lagen. Hatte er doch, als er über die Schwelle der Burg trat, den sentimentalen Brackenburg und alle lyrisch flötenden Liebhaber des alten Spielplans zu geben. Noch seltsamer aber war es, daß man mit Baumeister seinerzeit eine Art Musterknaben zu gewinnen dachte, der den hübschen und leichtsinnigen Fritz Devrient ersetzen sollte, welcher sich von seinen Wiener Gläubigern und vom Burgtheater ohne Abschied, aber mit einem stattlichen Vorschuß getrennt hatte. Unser Jubilar mag jetzt nicht ohne Rührung auf jene Zeit zurückblicken, da die aufkeimende Liebe der Wiener zu ihm sich in mehreren Ausgleichsfeldzügen gegen seine Gläubigerscharen bethätigte. Der Frack, welchen ihm der kürzlich verstorbene Burgschauspieler Arnsburg einst zu einer Gastrolle geliehen hatte, wurde dem Künstler, der sich an der Burg immer entschiedener in die Naturburschen- und Lebemännerrollen hineinwuchs, bald zu enge, und Baumeister, über dessen eigentliches Fach die Direktoren der reisenden Gesellschaft in Pommern, der er sich 1846 als achtzehnjähriger Jüngling angeschlossen, der Hoftheater von Schwerin, Hannover und Oldenburg, sowie des Stettiner Stadttheaters unklar gewesen, stand fortan über ein Menschenalter lang fest in den humoristischen Charakterrollen, in denen ihn wohl kein Zeitgenosse auf der deutschen Bühne erreicht hat.
Die Schlichtheit, die Wahrhaftigkeit des Tones, die ihn auszeichnete, befähigte ihn aber auch in der Folge zur Darstellung jener Väterrollen, wie Musikus Miller, Kriegsrath Dallner, in welcher die deutsche Bühne unleugbar sowohl der französischen als der englischen überlegen ist. In dieser Beziehung schließt er sich unmittelbar an die großen Meister in diesem Fache, an Schröder, Iffland, Esslair und Anschütz an. Einer der gründlichsten Kenner des deutschen Theaters, Emil Bürde, schrieb uns hierüber einmal: „Baumeister hat den Ton in der Kehle, nein, nicht in der Kehle, in der Brust, der uns alle die Empfindungen als echt erscheinen läßt, an deren Wahrheit wir in den Rollen dieses Faches unbedingt glauben müssen. Dieser Ton, den Baumeister so unnachahmlich zu gebrauchen versteht, der ihm so überzeugend aus dem Gemüth, dem Herzen kommt, wir bezeichnen ihn am richtigsten mit dem Worte ‚väterlich‘.“
Hierbei darf man allerdings nicht an Väter denken, wie Wallenstein, König Philipp und Lear, die vielmehr dem Heldenfache zuzuweisen sind, sondern an Rollen, die, wie der Klosterbruder in „Nathan dem Weisen“, am meisten den Ton und alle Eigenschaften erfordern, welche für das Fach der Väterrollen entscheidend sind. Als „Klosterbruder“ ohne seinesgleichen auf der deutschen Bühne, zählt Baumeister zu seinen vorzüglichsten Rollen heute den Götz von Berlichingen, den Musikus Miller und den Richter von Zalamea. Was er hier leistet, ist so sehr über jede Anfechtung erhaben und so großartig, daß wir ihm zu seinem Jubeltag nur wünschen, er möchte so selten als nur möglich zu anderen Rollen, wie derjenigen des Illo und ähnlichen, gezwungen werden, auf die ihn seine eigenste Natur einmal nicht hingewiesen hat.
Zwei Gazellen. (Zu dem Bilde S. 285.) Arabische Dichter pflegen seit alter Zeit die Schönen ihrer Heimath mit der Gazelle zu vergleichen. Kein Wunder, denn die Gazelle ist die schönste aller Antilopen, der anmuthigste lebendige Schmuck der Steppen und Wüsten Nordafrikas. Das haben alle Naturforscher, welche die Thierwelt Afrikas in ihrer ungebundenen Freiheit beobachten konnten, unumwunden zugegeben und selbst unser Reh im Vergleich zu der Gazelle plump genannt.
Das in der Steppe so überaus scheue Thier wird, wenn man es jung einfängt, außerordentlich zahm und zutraulich; es folgt auf den Ruf, kommt an den Tisch, um Brot zu erbetteln und sehnt sich nicht nach der Freiheit zurück. In allen Städten Nordafrikas kann man darum zahme Gazellen sehen, die hier die ausgesprochenen Lieblinge der maurischen Frauenwelt bilden.
Maler F. M. Bredt zeigt uns auf seinem anmuthigen Bilde das Innere eines maurischeu Hofes in der alten Piratenstadt Tunis. Hier, innerhalb des Hauses, sind die Töchter des Landes unverschleiert, und ihr Anblick rechtfertigt die Vergleiche der arabischen Dichter. In ihrer schmucken
Haustracht gleicht die junge Maurin wohl der reizenden Gazelle und die Gluth ihrer Augen verräth, daß auch sie eine Tochter der Wüste ist. *
[291] Ein deutscher Pionier der Wissenschaft in Brasilien. (Mit Bildniß S. 288.) Es war im Jahre 1887, als ich bei einem Aufenthalte in Brasilien auch einen Abstecher nach der Kolonie Blumenau am Itajahy in der Provinz Sta. Catharina machte. Mein erster Besuch dort war dem deutschen Naturforscher Dr. Fritz Müller zugedacht, der durch seine darwinistischen Forschungen in weiten Kreisen bekannt ist. Noch auf dem Wege zu dessen Behausung begegnete mir ein alter Herr in weißem Vollbart, mit großem grauen Filzhut, der barfuß, mit aufgestülpter Hose, einen mächtigen Bambusstab in der Hand, elastischen Schrittes einherging.
Nach den Schilderungen, die man mir gemacht, konnte ich keinen Augenblick im Zweifel sein, wen ich vor mir hatte: es war Fritz Müller selbst, der eben im Begriff war, seine Sendungen von der Post abzuholen. Er hieß mich aufs liebenswürdigste willkommen und führte mich ein in sein bescheidenes Heim am Flusse, ein schmuckes Häuschen in einem gut gehaltenen Garten, wo er mit seiner vortrefflichen Gattin und seiner jüngsten Tochter in echt deutscher Gemüthlichkeit lebt.
Wie so mancher bedeutende Naturforscher ist Fritz Müller aus einem protestantischen Pfarrhaus hervorgegangen. Sein Vater war Pastor in Windischholzhausen bei Erfurt, wo Fritz am 31. März 1822 geboren wurde. Der begabte Knabe besuchte zuerst die Volksschule in Mühlberg und erhielt dann von seinem Vater Privatunterricht, so daß er gleich in die Tertia des Erfurter Gymnasiums eintreten konnte. Nach Beendigung seiner Gymnasialstudien beabsichtigte er zuerst, Pharmazeut zu werden, widmete sich aber dann von 1840 an in Berlin und Greifswald der Mathematik und den Naturwissenschaften.
In Berlin übte damals der Anatom und Physiologe Johannes Müller einen ganz außerordentlichen Einfluß aus; er war es ja vor allem, der durch sein „Handbuch der Physiologie des Menschen“ die physikalisch-chemische Schule in der Physiologie begründete. Auch Fritz Müller war ein eifriger Schüler desselben und sagt selbst, die Ansichten dieses unvergeßlichen Lehrers seien lange Zeit die seinigen geblieben. Nachdem er das Oberlehrerexamen abgelegt hatte, trat er 1845 in Erfurt sein Probejahr an, verließ aber bald wieder die Schulstube, denn ihn beseelte ein unwiderstehlicher Drang, in fernen Welttheilen naturwissenschaftliche Studien zu machen. Da ihm indessen seine Mittel dies nicht ohne weiteres erlaubten, so studierte er Medizin, um als Schiffsarzt sein Ziel zu erreichen.
Da kam das Jahr 1848. Auch Fritz Müller war einer von den vielen, die sich an den politischen Kämpfen betheiligten, und dies war wohl auch die Ursache davon, daß er 1852 nach Brasilien auswanderte. Dort gründete eben Dr. Blumenau in der Provinz Santa Catharina die seinen Namen tragende Kolonie. Unser Müller war einer der ersten Ansiedler und so manchen Morgen Urwald hat er selbst mit der Axt gerodet. Doch zog er einige Jahre später nach Desterro, der herrlich gelegenen Hauptstadt von Santa Catharina, um am dortigen Lyceum Mathematik und Naturwissenschaften zu lehren. Da erschien – es war im Jahre 1859 – Darwins Werk über die Entstehung der Arten; es wurde entscheidend für Fritz Müllers fernere Thätigkeit. Die reiche Thierwelt des subtropischen Küstenmeeres lieferte Müller das Material, Darwins Ansichten durch eine möglichst ins einzelne gehende Anwendung auf eine bestimmte Thiergruppe in ihrer Richtigkeit zu prüfen. Er wählte die Klasse der Kruster und legte das Ergebniß seiner Forschungen 1864 in der einzigen in Buchform von ihm erschienenen Veröffentlichung, in der Schrift „Für Darwin“, nieder. Das nur 91 Seiten starke Büchlein enthält nicht nur eine erstaunliche Fülle von Einzelbeobachtungen, sondern auch wichtige allgemeine Gesichtspunkte. Darwin veranstaltete 1868 eine englische Uebersetzung davon und unterhielt bis an sein Lebensende einen ungemein regen und interessanten Briefwechsel mit dem deutschen Naturforscher, der sich in seiner Bescheidenheit nur als den „Handlanger des Meisters“ bezeichnete.
Im Jahre 1865 legte Müller seine Lehrstelle am Lyceum in Desterro nieder und zog sich wieder nach Blumenau zurück. Seine zahlreichen, in deutschen, englischen und portugiesischen Zeitschriften verstreuten, mehr oder minder umfangreichen Mittheilungen zoologischen und botanischen Inhalts sowie seine Briefe an seinen jüngeren Bruder Hermann, der hauptsächlich auf botanischem Gebiet arbeitete, zeigen, was ein Naturforscher auch fern von Museen, Bibliotheken und dem großen Markte des wissenschaftlichen Lebens zu leisten vermag, wenn er auf die Urquelle, auf die Natur allein beschränkt ist. Allerdings gehört dazu ein so außerordentliches Beobachtungsgenie, wie es Fritz Müller besitzt, welchen Darwin den „Fürsten der Beobachter“ nannte.
Müller und ein junger Kaufmann luden mich bei meinem Aufenthalt in Blumenau zu einer Fahrt durch die Kolonie ein. Die drei Tage, während welcher wir in vierspännigem Jagdwagen einen Theil der schönen Schöpfung des Dr. Blumenau durchfuhren, werden mir wegen der mannigfachen interessanten Mittheilungen Müllers und des Zaubers seiner liebenswürdigen Persönlichkeit unvergeßlich sein. Nicht unähnlich seinem Freunde Darwin zeichnet ihn, der als Naturforscher so radikal ist und keine Konsequenzen scheut, eine große Milde des Urtheils wie des ganzen Wesens aus. Das lebende Thier in allen seinen Eigenthümlichkeiten zu beobachten, ist seine besondere Freude; er hat nie ein Gewehr abgeschossen, um ein Thier zu töten, und macht alle seine einsamen Spaziergänge ganz unbewaffnet.
Die brasilianische Regierung hatte den trefflichen Gelehrten als „naturalista viajante“, d. h. als Sammler für das Museum in Rio de Janeiro mit einem allerdings nur unbedeutenden Gehalt angestellt. Vor einiger Zeit ging durch die Tagespresse die Nachricht, daß ihm diese Stelle gekündigt worden sei, da er sich nicht habe entschließen können, von seinem liebgewordenen Blumenau weg nach Rio überzusiedeln. Möge er sich durch die Rücksichtslosigkeit des Adoptivvaterlandes, wo die unerquicklichen politischen Verhältnisse alles beherrschen, die Freude an der Arbeit nicht vergällen lassen, möge ihm die Anerkennung, die ihm das alte Vaterland zollt und die gelegentlich seines siebzigsten Geburtstages vielseitigen Ausdruck fand, ein Ersatz sein! Dr. Vogel.
Das Schulze-Delitzsch-Denkmal in Delitzsch. (Mit Abbildung S. 289.) Im Jahre 1848 wurde der damalige preußische Gerichtsassessor, spätere Kreisrichter Schulze von seinem heimischen Wahlkreis Delitzsch in die preußische Nationalversammlung, nach Auflösung derselben in den Landtag gewählt.
Als Mitglied der Kommission der Nationalversammlung zur Erörterung der sogenannten „Arbeiterfrage“ war Schulze zu der Ueberzeugung gelangt, daß diese Frage nicht durch staatliche Eingriffe, sondern auf dem Wege der freien Association, durch die auf dem Grundsatz der Selbsthilfe beruhende Genossenschaft, wenn nicht vollständig zu lösen, so doch wesentlich zu fördern sei. Es war dies der Ausgangspunkt einer Bewegung, die eine ganz außerordentlich bedeutsame Rolle in dem Wirthschaftsleben der Gegenwart zu spielen berufen war. Denn Schulze ging bald an die praktische Ausführung seiner Ideen, für die er schon früher in seiner Vaterstadt Delitzsch durch Errichtung von Vereinen mannigfacher Art (Turn-, Gesang-, Hilfs- und Unterstützungsvereinen) den Boden vorbereitet hatte; er errichtete im Jahre 1849 in Delitzsch die erste deutsche (Tischler-) Rohstoffgenossenschaft, 1850 die erste deutsche Kreditgenossenschaft, 1852 den ersten deutschen Konsumverein; später kamen Produktivgenossenschaften dazu.
Bald fanden diese Einrichtungen in weiteren Kreisen Anklang, und im Jahre 1859 konnte Schulze-Delitzsch in seinem ersten „Jahresbericht über die auf dem Prinzip der Selbsthilfe der Betheiligten beruhenden deutschen Genossenschaften der Handwerker und Arbeiter“ mittheilen, daß in Deutschland 183 Kreditgenossenschaften und 67 Rohstoffgenossenschaften bestanden; über die anderen Gattungen von Genossenschaften lagen genaue Nachrichten noch nicht vor.
Und wie großartig hat sich seitdem sein Werk entwickelt!
Im Jahre 1890 zählte man im Deutschen Reiche 3910 Kreditgenossenschaften, 1090 Rohstoffgenossenschaften, 294 Werkgenossenschaften zur Beschaffung gemeinsam zu benutzender, in Gewerbe und Landwirthschaft nöthiger theurer Maschinen und Geräthe, 68 Magazingenossenschaften zur Ausstellung der für den Verkauf bestimmten gewerblichen Erzeugnisse der Genossen, 1125 Produktivgenossenschaften, 87 Genossenschaften zu verschiedenen Zwecken (Versicherung, Krankenpflege u. a.), 984 Konsumvereine, 50 Baugenossenschaften, zusammen 7608 Genossenschaften, deren Mitgliederzahl auf 4 Millionen, deren Betriebskapital auf rund 950 Millionen Mark mit 350 Millionen Mark eigenem Vermögen und 600 Millionen Mark fremden, geliehenen Geldern, und deren geschäftlicher Umsatz auf jährlich 4 Milliarden Mark geschätzt werden konnten. Längst haben sich an den Schulzeschen Schöpfungen auch schon Angehörige anderer Klassen betheiligt als derjenigen, aus deren Kreisen sie hervorgegangen waren; sie umfassen heute Angehörige aller Berufsklassen und Stände.
Nach seinem Austritt aus dem Staatsdienst (1851) stellte Schulze seine ganze Kraft in den Dienst der von ihm ins Leben gerufenen Bewegung. Als gewählter Anwalt des nach seinen Rathschlägen errichteten allgemeinen Verbandes der auf Selbsthilfe beruhenden deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften, dem heute gegen 1500 deutsche Genossenschaften angehören, war er der Urheber der deutschen Genossenschaftsgesetzgebung; er schrieb zahlreiche Werke als Leitfäden für die innere Einrichtung der Genossenschaften, er schuf eine umfassende Statistik, er errichtete und leitete eine Zeitschrift für Genossenschaftswesen, die im Verlag von Ernst Keil erschien, wie ja auch die „Gartenlaube“ stets dem Wirken des Mannes die kräftigste Unterstützung lieh. Seine Gedanken fanden Anerkennung und Nachahmung nicht nur in Deutschland, sondern bei den Gebildeten aller Länder.
Was war natürlicher, als daß die deutschen Genossenschaften es als eine heilige Pflicht der Dankbarkeit gegen ihren Begründer und langjährigen treuen Führer betrachteten, ihm ein Denkmal zu errichten, das sein Gedächtniß lebendig erhalte auch unter den nachlebenden Geschlechtern! Das aus Bronze angefertigte Standbild, welches seit September vorigen Jahres den Marienplatz von Schulzes Vaterstadt Delitzsch ziert, ist zweieinhalb Meter hoch; es steht auf einem vierseitigen Sockel von braunem polierten Granit, der auf einem Stufenaufbau von grauem geschliffenen Granit ruht. Der Sockel und seine Unterlage sind dreieinhalb Meter hoch, so daß das Denkmal eine Gesammthöhe von sechs Metern hat; das Modell des Standbildes ist von der Hand eines Delitzscher Landsmannes, des in München ansässigen Bildhauers Weißenfels, während der Guß in der königlichen Erzgießerei in München besorgt wurde; das Postament wurde von der Steinkunstschleiferei von Wölfel und Herold in Bayreuth trefflich ausgeführt.
Der gefeierte Mann selbst steht in einfach schlichter Haltung vor uns, so, als ob er gerade einem Kreise von Zuhörern in ruhiger Auseinandersetzung seine Gedanken entwickelte und als ob er selbst von diesen Gedanken nicht allzuviel Aufhebens machte. Und diese innere Bescheidenheit war ein Grundzug seines Wesens, diese selbstlose Hingabe an das Wohl anderer, die keinen schöneren Lohn kennt als die Liebe und das Vertrauen seiner Nebenmenschen. H. Häntschke.
Die Verstoßung der Hagar. (Zu unserer Kunstbeilage.) Von dem holländischen Maler Adrian van der Werff, welcher am Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts als kurfürstlich pfälzischer Hofmaler theils zu Düsseldorf, theils zu Rotterdam lebte, besitzt die weltberühmte Dresdener Galerie eine ganze Anzahl von Bildern. Es sind ihrer insgesammt zwölf, und eines der schönsten ist „Die Verstoßung der Hagar“, welche unsere heutige Kunstbeilage dem Leser vorführt. Die Vorzüge der künstlerischen Eigenart Adrians van der Werff, die schöne Komposition der Figuren, die lebensvolle Durcharbeitung der Köpfe, die freie Beherrschung der Gewandung, treten auch auf unserer Holzschnittnachbildung trefflich zu Tage; auch die düstere Stimmung des Hintergrundes ist vorzüglich gelungen und versetzt uns ganz in die bange Atmosphäre dieses alttestamentlichen Familiendramas.
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Skataufgabe Nr. 3.
Von K. Buhle.
Nachdem Vorhand das Rothsolo der Mittelhand mit Null ouvert überboten hat, sagt die Hinterhand mit diesen Karten:
Grand an und verliert das Spiel mit Schwarz. Wie sitzen die Karten, und wie ist der Gang des Spiels?
Die Kreuzchen dieser Ringe sind durch Buchstaben zu ersetzen, so daß in jedem Ringe ein achtstelliges Wort entsteht. Die fünf Buchstaben, welche in die kleinen Kreise zu stehen kommen, ergeben den Titel einer Oper. Es bezeichnet: 1. Ring: einen Komponisten, 2. Ring: ein alttestamentliches Buch, 3. Ring: ein arabisches Baudenkmal in Europa, 4. Ring: einen Nebenfluß der Oder, 5. Ring: einen italienischen Dichter, 6. Ring: einen römischen Geschichtschreiber.
Zu verwenden sind: 10 a, 1 b, 1 c, 3 e, 1 g, 2 h, 2 i, 1 j, 3 l, 1 m, 4 n, 1 o, 4 p, 4 r, 1 s, 2 t, 1 u und 1 z.
Magisches Quadrat.
Die Buchstaben in dem Quadrat sind so zu ordnen, daß die senkrechten und die wagerechten Reihen dieselben Wörter ergeben.
Anagrammaufgabe.
1. Ernst, 2. Leba, 3. Ahas, 4. Vase, 5. Arie, 6. Lauf, 7. Geier, 8. Iduna.
Zu jedem dieser Worte ist a) ein Buchstabe hinzuzufügen und dann durch Umstellen der Laute ein neues Wort zu bilden, darauf ist b) in den gefundenen Worte ein Laut zu ändern und durch nochmaliges Umstellen der Buchstaben ein anderes Wort zu formen. Beispiel: Karien = а. Arsenik, b. Spanier.
Die Wörter haben folgende Bedeutung: 1. a. englischer Schriftsteller, b. Vogel; 2. a. Stadt a. d. Saale, b. Art der Telegraphenleitungen; 3. a. bekannter Städtebund, b. Stadt in Rußland; 4. a. portugiesische Festung, b. Prophet; 5. a. germanische Göttin, b. Musikinstrument; б. a. Bergwerk in Schweden, b. Kaliverbindung; 7. a. Rathgeberin des Königs Numa, b. weiblicher Vorname; 8. a. Stadt am Bodensee, b. geographischer Schriftsteller. – Ist alles richtig gefunden, so nennen die Anfangsbuchstaben der a-Gruppe einen deutschen Dichter und die der b-Gruppe sein bekanntestes Werk.
Dominoaufgabe.
A, B, C und D nehmen je sechs Steine auf. Vier Steine mit zusammen 35 Augen bleiben verdeckt im Talon. D hat auf seinen Steinen 4 Augen weniger als A und 2 Augen mehr als C.
A hat:A setzt Vier-Sechs aus und gewinnt dadurch, daß er die Partie bei der fünften Runde mit Eins-Sechs an Eins sperrt. B kann keinen Stein ansetzen; C muß bei der zweiten und vierten Runde passen, so daß er vier Steine mit 22 Augen übrig behält. A und D können stets ansetzen. Die zwei Steine, welche D übrig behält, haben 17 Augen.
Die Augensumme auf den Steinen der Partie beträgt 78. Welche Steine hat B? Welche Steine liegen im Talon? Welche Steine behalten C und D übrig? A. St.
Die Konsonanten des zu suchenden Textes sind durch die Anfangsbuchstaben der Bilder angegeben. Die Vokale sind dem Sinne nach hinzuzufügen.
Durch Zusammensetzung der 17 Theile obenstehender Figuren ist ein symmetrisches Kreuz zu bilden.
Charade.
Den Gefechten und Gelagen
Geht die Erste stets voran,
Meine Zweit’ und Dritte tragen
Manchen Sänger himmelan,
Aber auch ein Meer von Klängen
Strömt von ihren Innern aus,
Und des Ganzen reiche Mengen
Dienen öfters uns zum Schmaus.
Oscar Leede.
Vollständig in 108 Lieferungen zum Preise von 30 Pfennig.
Inhalt: Tannengrün. – Am Kamin. – Erzstufen. – Das Schwalberl. 2 Bände – Mein Eden. 2 Bde. – Alte und neue Geschichten aus Baiern. 8 Bde. – Der bairische Hiesel. – Der Kanzler von Tirol. 4 Bde. – Der Habermeisler. – Süden und Norden. – Almenrausch und Edelweiß. – Friedel und Oswald. 3 Bde. – Im Morgenrot. 2 Bde. – Die Gasselnunen. – Das Münchener Kindel. – Der Bergmirt. – Die Zuwider-Wurzen. – Der Loder. – Der Bauernrebell. 2 Bde. – Mütze und Krone. 5 Bde. – Hund und Katz’. – Konkordia. 5 Bde. – Aufg’setzt. – Ledige Kinder. – Die Türken in München. 2 Bde.
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