Die Gartenlaube (1889)/Heft 45
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No. 45. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Sakuntala.
(Fortsetzung.)
Was Du da sagst, Rita, sind Räthsel, die ich nicht verstehe
und die zu lösen ich nicht in der Stimmung bin,“ sagte
Gerhard. „Was in aller Welt konnte Dich auf den Gedanken
bringen, daß ich Deiner überdrüssig
sei?“
„Glaubst Du etwa, mitten in Berlin auf einer wüsten Insel zu leben, mein Freund? Wenn Du in der That nicht willst, daß man etwas von Deinen zarten Verhältnissen mit kleinen Stickerinnen erfahre, so solltest Du etwas vorsichtiger zu Werke gehen. Es sind immer gute Freunde da, denen es Vergnügen macht, ihre Wahrnehmungen an die große Glocke zu hängen.“
Eine Zorneswelle röthete Gerhards Stirn.
„Darum also! – Eine lächerliche Eifersüchtelei – nichts weiter! – Und wenn ich Dir nun sage, Rita –“
Mit einer abwehrenden Handbewegung fiel ihm die Sängerin ins Wort: „Sage mir nichts – ich bitte Dich darum! Ich kenne die Entschuldigungen, die Ihr in solchen Fällen immer in Bereitschaft habt! Und ich bedaure diesmal nur die Verirrung Deines Geschmacks.“
„Willst Du nicht wenigstens die Güte haben, mir mitzutheilen, wen Du mit dieser kleinen Stickerin meinst, Rita?“
„Nun, ich habe mich nicht so genau nach ihren Verhältnissen erkundigt. Wenn ich nicht irre, war davon die Rede, daß sie die Tochter eines Musiklehrers sei.“
Gerhard trat näher an sie heran und sagte, während eine merkliche Erregung in seiner Stimme zitterte: „So höre denn, Rita, daß ich Dir ein für allemal verbiete, in einem spöttischen oder wegwerfenden Tone von diesem Mädchen zu sprechen. Sie ist die Tochter des Mannes, dem ich meine Erziehung und meine Ausbildung verdanke, und sie hat jetzt, nachdem ihr Vater gestorben ist, keinen anderen Schutz und Beistand als mich. Ich stehe ihr wie ein Bruder gegenüber, und ich werde nicht dulden, daß man sie verdächtigt und beschimpft!“
Die Sängerin schaute ihm einige Sekunden lang ernsthaft ins Gesicht; dann brach sie in ein helles Lachen aus, in ein Lachen von wahrhaft bezauberndem Klange.
„Wie köstlich ist diese Herzenseinfalt, mein Freund! Du bist der einzige Schutz und Beistand eines hilflosen jungen Mädchens, das, wie man sagt, sehr hübsch ist, und Du verlangst, daß die Welt dabei an ein ganz unverfängliches, brüderliches Verhältniß glaube? Du wirst sehr viel zu thun haben, wenn Du jeden einzelnen zur Rechenschaft ziehen willst, der sich erlaubt, daran zu zweifeln.“
„Wenn die Welt erbärmlich genug ist, solche Verhältnisse nicht zu begreifen, so erwarte ich es doch von Dir, Rita; denn ich hoffte, Astrid wird eine Freundin in Dir gewinnen.“
„Eine Freundin – in mir?“
Das schöne Weib richtete sich ein wenig aus seiner liegenden Haltung auf, und das Erstaunen, das sich jetzt in ihren Mienen spiegelte, war sicherlich ein vollkommen ungekünsteltes.
[758] „Weißt Du auch, daß das eigentlich eine sehr lustige Zumuthung ist, mein Lieber?“
„Ich sehe nichts besonders Lustiges darin, Rita, und ich würde Dir dankbar sein, wenn Du Deiner Spottlust endlich Zügel anlegtest. Diese Dinge sind mir heilig, und es verletzt mich tief, sie wie eine scherzhafte Angelegenheit behandelt zu sehen.“
„Nun wohl, ich verspreche Dir, ernsthaft zu sein, und wenn Du mir Deinen Schützling zuführen willst, so werde ich mich seiner schwesterlich annehmen. Aber ich verlange dafür die Anerkennung, daß ich sehr großmüthig bin!“
„Und das Konzert? Du wirst natürlich singen?“
„Nur unter einer Bedingung!“
„Also doch noch eine Laune! – So laß hören!“
„Du wirst dies junge Mädchen mit dem barbarischen Vornamen nicht mehr besuchen, ohne daß ich Dich begleite, und Du wirst sie sonst an keinem anderen Orte sehen, als hier bei mir. Wenn Du es wirklich gut mit ihr meinst, kann es Dir nicht schwer werden, darauf einzugehen, denn dies ist der einzige Weg, ihren guten Ruf unversehrt zu erhalten.“
Gerhard zögerte mit der Antwort. Es verwundete seinen Stolz, sich ein Versprechen abringen zu lassen, das ihn in der Freiheit seines Handelns beschränkte; aber der Grund, den Rita zuletzt angab, war nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben, und zudem blitzten ihn die schwarzen Augen mit so bestrickendem Zauber an, daß es schließlich nicht einmal der Erinnerung an das heutige Konzert und an die Unentbehrlichkeit der gefeierten Primadonna bedurfte, um ihn zur Nachgiebigkeit zu bestimmen.
„Mag es darum sein, Rita! Ich hoffe, Du wirst Astrid aufrichtig liebgewinnen, sobald Du sie kennengelernt hast. Glaube mir auf mein Wort: sie ist unendlich viel mehr werth als irgend eine andere Deiner sogenannten Freundinnen – diejenigen aus der besten Gesellschaft mit eingerechnet!“
Um die schön geschwungenen Lippen der Sängerin zuckte es eigenthümlich; aber sie schien nicht geneigt, noch länger bei diesem Gegenstand zu verweilen. Langsam erhob sie sich von dem Ruhebett, und indem sie das prächtige schwarze Haar, das ihr fessellos über Schultern und Rücken fluthete, mit einer unnachahmlich anmuthigen Bewegung zurückwarf, sagte sie:
„Wohlan, so werde ich trotz meiner Migräne heute abend meine Schuldigkeit thun. Wir Frauen sind ja nun einmal unverbesserlich thöricht, wenn wir lieben. Laß uns Deine beiden neuen Lieder noch einmal durchgehen, Gerhard!“
Sie hatte den kleinen Salonflügel aufgeschlagen, und Gerhard nahm vor demselben Platz. Wenige Augenblicke später tönte die glockenhelle Stimme der Künstlerin mit köstlichem Wohllaut durch den Raum. Ihrem Klange war nichts anzumerken von körperlichem Leiden oder seelischer Verstimmung, und auch aus den Mienen des Komponisten schwand der letzte Schatten des Verdrusses, während er diesem wahrhaft vollendeten Vortrage seiner eigenen Schöpfungen lauschte. Als der letzte weiche Ton verhallt war wie die ersterbende Klage einer Nachtigall, sprang er mit leuchtenden Augen auf und riß die herrliche Gestalt des stolzen Weibes ungestüm an seine Brust.
„Du bist meine Göttin und meine Muse, Rita! Für Dich waren diese Lieder geschrieben, und Dir sollen sie gehören, Dir allein!“
Sie duldete seine Umarmung und sie duldete auch den langen, glühenden Kuß, den er auf ihre schwellenden Lippen drückte. Ueber ihr schönes Antlitz aber ging ein triumphirendes Aufleuchten, und als er sie endlich freigegeben hatte, sagte sie in einem fast herrisch klingenden Tone:
„Und weil Dir nie eine andere wird bieten können, was Du von mir empfängst, werde ich Dich um Deiner selbst willen niemals kampflos einer anderen überlassen, Gerhard. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die sich um eines neu erwachten Rausches willen in demüthiger Ohnmacht bei Seite werfen lassen. Ich kann wohl eine flüchtige Verirrung verzeihen, aber niemals einen kalt überlegten Verrath. Doch genug davon! Es ist Zeit, daß ich an meine Toilette denke für das Konzert.“
Als Gerhard den unten harrenden Wagen wieder bestieg, war er ja von einer schweren Sorge befreit, aber es wollten dessenungeachtet weder Ruhe noch Heiterkeit über ihn kommen. Der Taumel des Entzückens, der ihn für eine kurze Zeit da oben in dem halbdunklen, von schwerer, duftiger Atmosphäre erfüllten Gemach erfaßt hatte, war vielleicht mehr der Befriedigung des geschmeichelten Komponisten als dem Herzen des Liebenden entsprungen. In der kalten Winterluft verflog er schnell wie ein flüchtiger Weinrausch, und an seiner Stelle blieb eine eigenthümliche Leere zurück, ein Unbehagen, das durch die immer wiederkehrende Erinnerung an Astrid und an ihr seltsames Benehmen eher gesteigert als gemildert wurde.
Seit Bernhardis Tode waren nahezu drei Wochen vergangen, und in dieser ganzen Zeit hatte Gerhard seine Pflegeschwester nicht ein einziges Mal wieder gesehen. Nicht daß er sie vergessen oder absichtlich vernachlässigt hätte; aber er glaubte sich von ihr aufs neue tief gekränkt, und Rita hatte ihn in der Ansicht bestärkt, daß er es sowohl der Rücksicht auf sie als seiner eigenen Würde schuldig sei, jetzt eine Annäherung von seiten Astrids abzuwarten. Dem Versprechen getreu, welches er der Sängerin gegeben, hatte Gerhard nämlich seinen jungen Schützling brieflich auf den bevorstehenden Besuch Ritas vorbereitet, und er hatte es dabei nicht an einer zarten Andeutung fehlen lassen, daß er es für ein besonderes Glück halten würde, wenn es Astrid gelänge, sich die Freundschaft der berühmten Künstlerin zu erwerben. Noch am nämlichen Tage hatte er ihre Antwort erhalten. Sie dankte ihm für seine gute Absicht, aber sie bat ihn zugleich, dieselbe nicht zur Ausführung zu bringen; sie befände sich in vollkommen zufriedenstellenden Verhältnissen und sie sei nicht in der Gemüthsstimmung, neue Bekanntschaften oder gar, wie Gerhard es zu wünschen scheine, eine neue Freundschaft zu schließen.
Gerhard hatte es für das Einfachste gehalten, Rita diesen Brief vorzulegen, und die Sängerin hatte sich sehr beleidigt gezeigt durch die Zurückweisung, welche sie da erfuhr.
„Diese vornehme junge Dame scheint mich ihres Umganges nicht für würdig zu halten,“ sagte sie, „und sie will Dich allem Anschein nach vor eine Wahl stellen zwischen sich und mir. Es ist eigentlich schade, daß ich auf diese Weise um das Vergnügen kommen soll, meine so selbstbewußte Nebenbuhlerin kennenzulernen.“
Solche Worte waren Gerhard zwar ungemein peinlich; aber auch er hielt Astrids Antwort für hochmüthig und unpassend, und er begriff Ritas zornige Gereiztheit. Es war dann zwischen ihnen nicht wieder die Rede davon gewesen, obwohl der junge Künstler mehr als einmal das Verlangen gefühlt hatte, den Gegenstand abermals aufzunehmen und ein freundliches Wort zu gunsten Astrids zu sprechen. Eine unerklärliche Scheu hielt ihn davon zurück, und schließlich nahmen ihn auch seine mannigfachen künstlerischen und gesellschaftlichen Verpflichtungen viel zu sehr in Anspruch, als daß ihm die Erinnerung an die Tochter seines todten Lehrers allzu oft hätte wiederkehren sollen. –
Als eine der meistgenannten Berühmtheiten des Tages viel gesucht und umworben, hatte sich Gerhard nur mit Mühe einen Abend zu ruhiger Arbeit an seinem neuen Werke, einem großen Oratorium, frei gemacht. Er stand in dem behaglich durchwärmten Arbeitszimmer an dem hohen Pult, welches er mit Vorliebe zu benutzen pflegte, und lauschte zuweilen mit halbem Ohr auf das Pfeifen und Heulen des Dezembersturmes, welcher draußen recht ungebärdig durch die Straßen und über die Plätze fegte.
Da hörte er die Glocke im Flur wiederholt scharf anschlagen, und er blickte überrascht zu der Uhr auf dem Kaminsims hinüber.
„Gleich zehn Uhr! Wer kann jetzt noch auf den Gedanken kommen, mich zu besuchen?“
Er sollte darüber nicht lange im Zweifel bleiben, denn gleich darauf erschien mit ziemlich verblüfftem Gesicht sein Diener unter der Thür.
„Da ist eine Dame, Herr Steinau, welche Sie an einer wichtigen und dringenden Angelegenheit sprechen will. Sie scheint sehr aufgeregt –“
„Und ihr Name?“
„Sie hat ihn mir nicht genannt.“
„So führen Sie die Dame herein! Sie hätten sie überhaupt nicht erst warten lassen sollen!“
Mit einiger Neugierde sah Gerhard nach der Thür, um im nächsten Augenblick mit raschen Schritten der Eintretenden entgegen zu eilen.
[759] „Astrid!“ rief er mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens, in der ersten Aufwallung kein anderes Wort zu ihrer Begrüßung findend. Die Hand, welche er ihr entgegenstreckte, streifte ihren Mantel und er fühlte die eisige Nässe desselben. Er sah die Schneeflocken auf ihrem Haar und die kleinen Eisnadeln in dem feinen Florgewebe des Schleiers, der ihr Gesicht verhüllte.
„Wie durchnäßt Du bist! Bist Du denn in diesem Unwetter zu Fuß gegangen? Astrid, meine liebe Astrid, ist Dir etwas geschehen?“
Für die Angst und Sorge, welche aus seinen letzten Worten klang, war in der That Grund genug vorhanden, denn als er nun die kleine, eiskalte Hand ergriff, die sie ihm matt und willenlos überließ, sah er, wie es ihre Gestalt gleich einem Frostschauer überflog, wie sie wankte und mit der freien Hand nach einer Stütze suchte, um aufrecht zu bleiben. Und noch immer sprach sie kein Wort. Gerhard legte seinen Arm um sie und führte sie zu einem Sessel. Die ungewohnte Lage erfüllte ihn mit Bestürzung und peinlichster Verlegenheit.
„Sprich nur ein einziges Wort, liebe Astrid!“ bat er. „Sage mir, was Dir zugestoßen ist, oder wenigstens, was ich thun kann, um Dir Hilfe und Erleichterung zu verschaffen! Soll ich nach einem Arzte senden?“
Verneinend bewegte sie das Köpfchen und mit zitternder Hand schlug sie ihren Schleier zurück. Die marmorne Blässe ihres Antlitzes und der seltsam schmerzliche, angstvolle Ausdruck ihrer schönen Augen waren nur geeignet, Gerhards Erregung zu steigern.
„Bitte, ein Glas Wasser – dann wird es vorübergehen!“ sagte sie so leise, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen. „Es überkam mich so plötzlich, als ich Dich vor mir sah. Was mußt Du von mir glauben, mich um diese – Stunde – hier –“
Wieder erzitterte sie, so daß ihre Zähne hörbar aufeinander schlugen, und sie schloß für kurze Zeit die Augen, noch ehe sie den begonnenen Satz hatte vollenden können. In höchster Rathlosigkeit ließ Gerhard die Blicke im Zimmer umherschweifen, wie wenn ihm da aus irgend einem Winkel hätte Beistand kommen können.
„Wie schlecht wirst Du von mir denken!“ wiederholte sie tonlos. Es war, als ob diese eine Sorge all ihre Gedanken ausschließlich beherrschte.
„Ich denke nichts anderes, Astrid, als daß Du meiner bedarfst, und daß Du wohl gethan hast, Dich an keinen anderen zu wenden als an mich,“ suchte er sie zu beruhigen. „Und ich will Dich nicht weiter mit Fragen quälen. Du mußt Dich vor allem ausruhen und Dich erholen. Der weite Weg in diesem winterlichen Unwetter ist es, der Dich angegriffen hat.“
Sie machte eine heftige Anstrengung, die Betäubung, welche sich ihr immer schwerer und drückender auf Haupt und Glieder legte, abzuschütteln, und indem sie ihm ihr bleiches Gesicht zuwendete, sagte sie:
„Nein, nicht dieser Weg war es! Und Du mußt alles wissen, Gerhard! Ich bin Dir eine Erklärung schuldig. Man hat mich schändlich hintergangen, – man hat meine Schutzlosigkeit mißbraucht, mich zu beschimpfen. Sie haben – diese Frau – ich – o mein Gott – ich kann nicht mehr!“
Sie hatte einen Versuch gemacht, aufzuspringen, aber sie war sogleich in den Sessel zurückgesunken. Kraftlos fiel ihr Kopf zurück, ihre Augen schlossen sich und ihr Aussehen war für einen Augenblick ganz dasjenige einer Sterbenden. Hier konnte es für Gerhard keine andere Rücksicht mehr geben als die auf ihren offenbar bedenklichen Zustand, und ohne Besinnen drückte er auf den Knopf der elektrischen Glocke, die seinen Diener herbeirief.
„Schaffen Sie mir unverzüglich Frau Runge zur Stelle!“ befahl er dem höchlichst erstaunten jungen Menschen „und laufen Sie, so schnell Ihre Füße Sie tragen wollen, zu einem Arzt! Es ist gleichgültig, welchen Sie mir bringen, wenn er nur mit möglichst geringem Zeitverlust hier sein kann.“
Während sich der Diener entfernte, hob Gerhard die leichte Gestalt des jungen Mädchens auf seine Arme und trug sie zu einer Chaiselongue. Er befreite ihre Stirn von dem Druck des Hutes, und er hätte Astrid gern auch den schweren, nassen Mantel abgenommen, wenn er dazu imstande gewesen wäre. Aber solche Hilfeleistungen waren ihm zu ungewohnt, und er konnte nichts anderes thun, als in verzweifelnder Unthätigkeit neben dem Lager der Bewußtlosen verweilen, bis ihn endlich die Aukunft der Frau Runge, einer Witwe, welche die häuslichen Arbeiten in seiner Junggesellenwohnung zu verrichten pflegte, aus seiner wenig beneidenswerthen Lage befreite.
„Ihr Diener sagte mir, ich solle eiligst hierherkommen, weil jemand bei Ihnen krank geworden sei, Herr Steinau – habe ich ihn da wirklich richtig verstanden?“
„Leider ja, liebe Frau Runge! – Sie sehen wohl, hier ist die Patientin.“
„O, eine Dame!“
Der Ton dieses eigenthümlich langgezogenen Ausrufs und noch mehr der sonderbare Ausdruck, welchen das Gesicht der ehrbaren Witwe annahm, hätten Gerhard fast eine zornige Entgegnung auf die Lippen gedrängt, aber er sah wohl ein, daß er es in seiner hilflosen Lage nicht mit der Frau verderben dürfe, und so ließ er sich denn zu einer Art Erklärung herbei.
„Ja! Eine mir befreundete Dame, die bei einem Besuch von plötzlichem Unwohlsein befallen wurde. Ich werde Ihnen für jeden Dienst, welchen Sie mir in diesem Falle leisten, ganz besonders dankbar sein.“
Die Frau nickte verständnißvoll, und vielleicht wirkte der Anblick des lieblichen, todtenblassen Antlitzes in höherem Maße auf ihr Mitleid ein, als Gerhards Versprechung.
„Na ja, man weiß wohl, daß so etwas vorkommen kann,“ meinte sie, „und das arme, junge Ding sieht ja so reizend und unschuldig aus wie ein Kind. Aber wir müssen ihr den schweren Mantel ausziehen und das Kleid etwas lockern. Dann wird die Ohnmacht sich schon heben.“
Sie griff geschickt und rüstig an, während Gerhard zur Seite trat; aber ihr Gesicht wurde doch immer ernster.
„Es wäre zu wünschen, daß der Arzt nicht mehr lange auf sich warten ließe, Herr Steinau,“ meinte sie, „denn so leicht, wie ich anfänglich glaubte, scheint die Sache nicht zu sein. Sie kommt noch immer nicht zu sich, man sieht kaum, daß sie athmet, und der Herzschlag ist so leise, als wenn er in jedem Augenblick ganz aufhören wollte.“
Das alles war wie im Tone eines ernsten Vorwurfs gegen Gerhard gesprochen, und dieser sah wohl ein, daß es vergebliches Bemühen sein würde, die Frau zu einer richtigeren Auffassung des Vorfalls zu bringen. Und wie gleichgültig war ihm auch ihre gute oder schlechte Meinung in diesen Augenblicken namenloser Sorge! Die Vorwürfe, welche er sich selber machte, waren ja viel bitterer und schwerer, als sie irgend ein anderer gegen ihn erheben konnte, denn auch ohne daß er die Ursache von Astrids furchtbarer Erregung kannte, zweifelte er nicht, daß ihr dieselbe hätte erspart werden können, wenn er dem Gelöbniß, welches er seinem sterbenden Lehrer abgelegt hatte, nicht gar so schnell untreu geworden wäre. –
Nach Verlauf einer bangen Viertelstunde kam der Diener in Begleitung eines ernst dreinschauenden alten Herrn zurück, welcher sich Gerhard kurz als Sanitätsrath Doktor Maibaum vorstellte und dann an das Lager der Kranken trat.
„Es handelt sich da um eine plötzliche Erkrankung, wenn ich Ihren Boten richtig verstanden habe,“ sagte er. „Wollen Sie die Güte haben, mir zu sagen, unter welchen Umständen dieselbe erfolgt ist?“
Gerhard gab eine kurze, wahrheitsgemäße Darlegung des Sachverhalts, welche zugleich die Unverfänglichkeit dieses späten Besuches darthun mußte. Dem unbeweglichen Gesicht des Sanitätsraths war es nicht anzusehen, ob er diesen Mittheilungen Glauben schenkte oder nicht. Schweigend machte er Gerhard ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen, und die Untersuchung, welche er unter dem Beistand der Frau Runge vornahm, mußte wohl eine sehr gründliche und eingehende sein, denn es verging eine lange Zeit, bevor Gerhard die Erlaubniß erhielt, wieder einzutreten.
Der Sanitätsrath stand am Pult und schrieb ein Rezept. Er hatte die Lippen zusammengepreßt und tiefe Furchen zeigten sich auf seiner Stirn.
„Schicken Sie das sofort zur Apotheke!“ sagte er. „Außerdem werden Sie sich bemühen müssen, noch für diese Nacht eine Wärterin zu erhalten.“
Gerhard war aufs höchste betroffen.
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[761] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [762] „Sie glauben also, daß eine Verbringung nach dem Krankenhaus –“
„Rein unmöglich ist! – Ja, das glaube ich allerdings!“ ergänzte der Arzt mit eigenthümlich scharfer und nachdrücklicher Betonung. „Sie werden sich eben mit dem Gedanken befreunden müssen, mein Herr, die junge Dame noch weiter in Ihrer Wohnung zu behalten. Ich für meine Person müßte sonst jede weitere Behandlung und jede Verantwortung für die wahrscheinlichen Folgen einer Wegschaffung ablehnen.“
„Nichts liegt mir so fern als ein derartiger Gedanke, nachdem Sie mir gesagt haben, daß derselbe unausführbar sei. Aber Sie begreifen, daß es nicht leicht ist – und daß Rücksichten verschiedener Art –“
Er stockte und fand nicht gleich die rechten Worte für das, was er sagen wollte. Die kalten, durchdringenden Augen des Arztes verwirrten ihn. Er fühlte, daß alle diese Leute ihn mit Mißtrauen, wenn nicht gar mit einer Art von Verachtung behandelten, und er sah sich außer stande, den häßlichen Verdacht, welchen sie gegen ihn hegen mochten, zu entkräften. Aber bald machte seine Verlegenheit einer Empfindung trotzigen Selbstbewußtseins Platz. Er erhob den Kopf und erwiderte den Blick des Sanitätsraths fest und ruhig.
„Doch was kann es helfen, darüber zu sprechen!“ fuhr er fort. „Da Sie sagen, es gebe keine andere Möglichkeit, so muß es eben sein. Ich trete der Kranken mein Schlafzimmer ab und werde mich selbst bis auf weiteres in einem Gasthofe einquartieren. Was aber die Pflegerin anbetrifft, so darf ich darin vielleicht auf Ihre Vermittlung rechnen, Herr Sanitätsrath.“
Der Arzt zuckte die Achseln.
„Nicht mehr für diese Nacht,“ sagte er. „Morgen im Verlauf des Tages würde ich Ihnen erst eine Diakonissin senden können. Bis dahin müssen Sie sich zu helfen suchen, so gut Sie vermögen. Diese junge Dame wird doch wohl irgend eine Verwandte oder Freundin haben, welche es übernimmt, während einer einzigen Nacht bei ihr zu wachen.“
Ein glücklicher Gedanke durchblitzte Gerhards Gehirn. Wie war es nur möglich, daß er ihm nicht schon früher gekommen war! Hatte ihm Rita denn nicht versprochen, seiner Pflegeschwester eine Freundin zu sein? Und mußte die kleine Verstimmung, welche sie vielleicht gegen Astrid empfand, nicht sofort verschwinden angesichts einer so zwingenden Fügung der Umstände?
Glücklicherweise wußte er, wo er die Sängerin in dieser späten Stunde finden würde. Sie war in der Oper beschäftigt, und wenn er keine Zeit mehr verlor, mußte er sie noch beim Verlassen des Theaters treffen können. Er ersuchte Frau Runge, bis zu seiner Rückkehr bei der Kranken zu bleiben, und verließ zusammen mit dem Sanitätsrath das Haus.
Auf der Treppe richtete er an den Arzt noch einmal die zögernde Frage, ob er an das Vorhandensein einer unmittelbaren Gefahr glaube, und die Antwort, welche er empfing, war nicht eben von sehr tröstlicher Art.
„Das entzieht sich zwar vor der Hand noch jeder Voraussagung,“ meinte er; „aber wenn die Patientin Angehörige hat, die um ihr Schicksal besorgt sein könnten, so dürfte es geboten sein, dieselben unverzüglich zu benachrichtigen.“
Als sie schon vor der Thür standen, fühlte Gerhard das Bedürfniß, noch ein Wort der Aufklärung zu sprechen.
„Was die Umstände betrifft, unter welchen Sie die Dame da in meiner Wohnung fanden, so hoffe ich, Sie werden mir glauben –“
Aber der andere machte eine höflich abwehrende Handbewegung.
„Es steht mir nicht zu, Erklärungen darüber entgegen zu nehmen,“ erwiderte er, „und mein Interesse daran geht nicht weiter als die Pflicht meines ärztlichen Berufes. Ich bin beruhigt, wenn ich die Gewißheit erlangt habe, daß sie gut verpflegt werden wird, und es wird mir nicht in den Sinn kommen, mich um etwas anderes zu kümmern.“
Er bestieg mit stummem Abschiedsgruß seinen Wagen, und Gerhard, der sich vergebens nach einer Droschke umgesehen hatte, beeilte sich, zu Fuß den nicht allzu weiten Weg nach dem Opernhause zurückzulegen.
Die Vorstellung war eben zu Ende, und schon, als er am Palais des Kaisers vorübereilte, stürmten ihm die Zuschauer, welche das Theater verließen, in hellen Scharen entgegen. Athemlos und trotz des rauhen Wintersturmes mit schweißbedeckter Stirn langte er an dem kleinen Pförtchen an, durch welches die Bühnenmitglieder nach beendigter Aufführung ihren Weg nehmen, und es fiel ihm wie eine schwere Last vom Herzen, als er dort noch den Wagen stehen sah, welchen Rita zu benutzen pflegte.
Die Volksheime in Dresden.
Während der Staat alle Hebel ansetzt, soweit es in seiner Macht und Befugniß steht, die Lebenslage seiner ärmeren und ärmsten Bürger zu heben, die Schatten zu lichten, welche Krankheit, Verstümmelung, Altersschwäche und Tod auf den Weg des kleinen Mannes werfen, entfaltet sich gleichzeitig an vielen Punkten eine rege Thätigkeit von privater Seite, welche darauf ausgeht, den sozialen Nothständen mit freiwillig dargebotenen Kräften und Mitteln entgegenzuwirken, den Verdienst des Arbeiters nicht gegen äußere Schicksalsschläge, sondern gegen die Schwächen der menschlichen Natur selbst zu schützen. Mit Schmerz gewahrt der Volksfreund, wie der eben verdiente Wochenlohn statt in die Kasse des Haushalts oder in die Sparbüchse zu fließen, häufig durch unmäßiges Trinken vergeudet wie Noth und Elend dadurch über sonst vielleicht auskömmlich gestellte Familien gebracht, während in den jungen Leuten von früh an der Sinn für bescheidenes häusliches Leben und wirthschaftliche Sparsamkeit ertödtet wird. Er gewahrt aber auch, daß in vielen Fällen, besonders soweit es sich um die Unverheiratheten handelt, es an einer Gelegenheit fehlt, wo der zum Sparen und zur Mäßigkeit Willige seine Bedürfnisse an Speise und Trank und Erholung befriedigen kann, ohne zu größeren Geldausgaben, als sie die unumgängliche Befriedigung dieser Bedürfnisse verlangt, genöthigt zu sein.
In der Erkenntniß dieses Mangels hat man in dem letzten Jahrzehnt fast in allen hervorragenden, aber auch in manchen kleineren Städten Volkskaffeehäuser geschaffen und hie und da mit denselben auch Erfolge erzielt. Viel umfassender und großartiger sind die „Volksheime,“ mit denen das in gemeinnützigen Dingen so rührige Dresden auf den Plan getreten ist.
Der Gründer dieser Volksheime ist Geheimrath Dr. Victor Böhmert, der in Dresden als Direktor des Kgl. Statistischen Bureaus und Professor am Polytechnikum wirkt und nicht nur als Volkswirth, sondern auch als Volksfreund weit über Deutschland hinaus einen Namen hat. An der Besprechung aller sozialen Fragen hat Böhmert ist mancherlei Schriften seit Jahrzehnten regen Antheil genommen, und wenn man ihn heute fragen würde nach dem Schlußergebniß seiner Forschungen, würde er antworten, daß die Hebung der Volkswohlfahrt, besonders der Arbeiterwohlfahrt, am sichersten zu erreichen sei durch Hebung des Volkscharakters, durch Verbreitung von Sparsamkeit, Mäßigkeit, Sittlichkeit, häuslichem und wirthschaftlichem Sinn und durch eine Vereinigung der jetzt getrennt und mißtrauisch einander gegenüber stehenden Volksklassen nicht nur zu gemeinsamer Arbeit, sondern auch zu gemeinsamer Geselligkeit.
Zur Verwirklichung dieser Ziele sollten die „Volksunterhaltungsabende“ beitragen, die Böhmert vor einigen Jahren begründete (vergl. „Gartenlaube“ 1887, S. 896), und die seitdem in Bremen, Kiel, Lübeck und anderwärts Nachahmung gefunden haben. An diesen Volksunterhaltungsabenden, die von Armen und Reichen gleich herzlich begrüßt und sehr stark besucht werden, steht an erster Stelle ein kurzer Vortrag gemeinnützigen Inhalts, außerdem werden sorgfältig ausgewählte Deklamationen, Gesänge und andere musikalische Leistungen meist von unbezahlten Vortragenden geboten. Aber solche Abende ließen sich nur im Winter und aus Mangel an Sälen und Kräften durchschnittlich nur einmal im Monat einrichten. Deshalb faßte Böhmert einen neuen Fortschritt ins Auge; er verlangte nach Stätten, wo im Sommer wie im Winter, an Werktagen wie an [763] Sonntagen Wohlhabende und Unbegüterte, Gebildete und Ungebildete ungezwungen miteinander verkehren könnten, sich gegenseitig belehrend und helfend und die gefährliche Kluft zwischen den Klassen langsam vermindernd, ohne zum Besuch eines Wirthshauses und zum Geldausgeben genöthigt zu sein.
Es ist noch nicht ganz ein Jahr her, seit Victor Böhmert seinen Plan öffentlich vortrug; am 7. Dezember 1888 kam ein Häuflein Männer zusammen, um zu seiner Verwirklichung zu schreiten. Sie begründeten einen „Verein Volkswohl“, Böhmert trat an dessen Spitze; jetzt zählt der Verein bereits über 1500 Mitglieder, besitzt eine eigene Monatsschrift, hat zwei Volksheime und ein Mädchenheim für alleinstehende Arbeiterinnen begründet und in einigen anderen Dingen einen vielversprechenden Anfang gemacht.
Von den Volksheimen wurde das erste am 14. Februar eröffnet; es heißt „Maternihof“, wie die Wirthschaft, welche sich früher in denselben Räumen befand. Es liegt inmitten des bevölkertsten Theiles der Dresdener Altstadt, von vielen Fabriken aus leicht erreichbar. In seiner Ausstattung ist es von einem feineren Gasthause nicht verschieden. Wohl aber merkt man den Unterschied, wenn man auf dem Tische Wasserflaschen sieht, wenn man auf Aushängetafeln deutliche Inschriften liest, welche besagen daß niemand zum Verzehren gezwungen sei und daß Trinkgelder vom bedienenden Personale nicht angenommen werden. Auch hört man kein Kartenspiel mit seinem Austrumpfen, schallenden Lachen und Fluchen, keinen Streit; viele Gäste sind in Zeitungen oder Bücher, in Schach oder Damespiel vertieft und die übrigen nehmen darauf Rücksicht. Täglich verkehren in dem Heim durchschnittlich 200 Personen, 100 bis 130 essen dort für 25 Pfennig zu Mittag – Bier (einfaches) trinkt etwa ein Drittel der Einkehrenden. Es kommen wohlhabende, gebildete Leute, es kommen besonders junge und bildungsuchende Burschen und Männer, Handwerker und Fabrikarbeiter. Der einfache Mann, der zum erstenmal das Heim betritt, stutzt wohl über die feine Ausstattung, über die Blumen auf den Tischen und über die Bücherreihen, er wundert sich, daß kein dienstbeflissener Kellner sofort an ihn herantritt; bald aber fühlt er, daß er hier willkommen ist, daß er sich keinen Zwang aufzulegen braucht, insofern er sich anständig benimmt. Die Stammgäste ziehen ihn bald in die Geselligkeit des Heims hinein, es behagt ihm, daß er es hier sich wohl sein lassen kann, ohne die sauer verdienten Groschen draufgehen zu lassen, und so gewöhnt er sich gern die Kneipe ab. Ein besonderes Zimmer ist vorhanden für Vereins- und Unterrichtszwecke, hier halten Stenographen- und Gesangvereine an einigen Abenden der Woche ihre Uebungen ab, und im Winter werden hier geordnete Unterrichtskurse geboten.
Viel großartiger als der Maternihof ist das am 10. April eröffnete Volksheim „Paulinengarten“. Es trägt seinen Namen nach der Prinzessin Pauline von Schleswig-Holstein, welche Haus und Garten bis zu ihrem Tode (am 12. Dezember 1887) besaß. Der Garten ist einer der schönsten in Dresden, große Rasenflächen und schöne alte Bäume zieren ihn, besonders ist eine Platanengruppe berühmt, die ihre breiten Zweige über die Straße ausstreckt. Der Garten gehört jetzt dem Volke und den Kindern, zur Freude der Verwandten seiner ehemaligen Besitzerin, welche selbst eine herzliche Liebe zu einfachen Leuten und besonders zu Kindern hatte. Auch die Kaiserin Augusta Viktoria erkundigt sich gern nach dem Gedeihen des ihr wohlvertrauten Besitzthums.
In dem hinteren Theile des Gartens sind drei große Spielplätze eingerichtet, und viele Hunderte von kleinen Füßchen tummeln sich darauf. Zwei Stunden jeden Nachmittag wird unter Aufsicht gespielt; da kommen Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen und andere Damen, die ihre Lust am Spiel von Kindern haben; da werden Gruppen gebildet: die einen spielen die „fleißigen Waschweiber“, die andern „das Erntefest“, die dritten fahren auf dem Schifflein durch das Meer, die vierten führen das Märchen vom Dornröschen auf. Auf einem besonderen Platze treiben die ganz Kleinen, die noch nicht an den Gesammtspielen theilnehmen können, ihr munteres Wesen. Sie spielen im hohen Sande, graben Löcher, bauen Dämme, backen Kuchen und schauen höchstens sehnsuchtsvoll zur Schaukel empor, die so unermüdlich vor- und rückwärts schwingt. Und mitten in diesem Kinderparadies sitzen die Mütter auf den Bänken und stricken und flicken und freuen sich an der Kleinen Jauchzen. Und wenn abends die Arbeit vorbei ist, kommen auch die Väter und setzen sich oft mit Frauen und Kindern zusammen zu einem einfachen Abendessen unter grünen Bäumen.
Die meisten Erwachsenen sitzen im vorderen Theile des Gartens und genießen von da die herrliche Aussicht auf die belebte Elbe, welche nur durch eine fruchtbare Wiese von ihnen getrennt ist, und auf die ersten Hügel der Sächsischen Schweiz, an deren Eingangspforte Loschwitz und Blasewitz freundlichen Gruß bieten. Hier unter den Platanen essen die Arbeiter einer nahen Fabrik und wer sonst zu einer ausgezeichneten Kost für 25 Pfennig Appetit hat, zu Mittag. Es haben schon Barone und Gräfinnen mitgegessen, und fürstlicher Besuch war mehr als einmal hier.
Die Mischung und Verbindung von Hohen und Niedrigen, Reichen und Armen, Lehrfähigen und Lernlustigen, welche Böhmert so eifrig anstrebt, hier wird sie sichtbare Thatsache. In den stillen Morgenstunden findet mancher Gebrechliche oder Genesende hierher seinen Weg und trinkt vielleicht ein Glas frischer Milch in der balsamischen Luft; nachmittags sind die Frauen hier, abends und Sonntags alle Stände und Lebensalter gleichermaßen.
Treten wir über den freundlichen Altan, an dessen Säulen sich wilder Wein zum Balkon emporrankt, in das Haus ein. Da sind zuerst zwei Zimmer für gesellige Unterhaltung, dann ein mit werthvollen Tapetenbildern versehenes Lesezimmer mit vielen Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Die Bücher sind alle geschenkt; ein Ausschuß des Vereins, der die Verbreitung guter Schriften und Bilder zur Aufgabe hat, stellte den Dresdener Bürgern vor, daß in manchem Hause viele gute Bücher unbenützt veralten und verstauben, die, wenn sie ärmeren Mitmenschen zugänglich gemacht würden, leicht ein Segen und Wegweiser zum Glück werden könnten. Als Antwort kamen viele Packete Bücher, bald war ein ganzes Zimmer voll davon; zumeist kamen die früheren Jahrgänge unserer illustrirten Zeitschriften, und gerade diese sind ja ebenso anziehend als leichtverständlich und lehrreich für die Leser, an die man bei Einrichtung solcher Bibliotheken denkt. Durch ein viertes Zimmer gehen wir hinauf in den Oberstock; dort ist die Geschäftsstelle des Vereins, ferner ein Zimmer für Vereins- und Unterrichtszwecke, das in den Wintermonaten jeden Abend besetzt ist, und ein großer Saal, in dem Vorträge, Konzerte, Unterhaltungsabende, Versammlungen abgehalten werden.
Prüfende Leser werden längst den Gedanken hegen: das ist alles recht wohl gemeint, aber kann es sich erhalten, decken die Einnahmen auch die Ausgaben? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt allerdings das Urtheil über die „Volksheime“ wesentlich ab. Bedürfen sie eines regelmäßigen Zuschusses, so haben sie wahrscheinlich keine große Zukunft, obwohl sie auch dann in ihrer Eigenschaft als Musterwirthschaften Einfluß auf die öffentliche Meinung über das Wirthshauswesen üben können, und obwohl solcher Zuschuß von seiten reicher Bürger, besonders aber auch von seiten der Gemeinde wohl am Platze wäre; denn diese Anstalten dienen dem öffentlichen Wohle, der öffentlichen Gesundheit. Aber vermehren wird sich die Zahl dieser Anstalten doch nur in dem Verhältniß, als sie lernen, ohne Zuschuß zu arbeiten.
Ueber die finanzielle Lage der Dresdener Heime läßt sich noch kein endgültiges Urtheil fällen. Die Einrichtungskosten waren bedeutend, sie wurden aus den Geschenken freigebiger Dresdener bestritten. Aber man braucht nicht daran zu zweifeln, daß nach einiger Zeit sich die Volksheime selbst erhalten werden, theils von dem bescheidenen Gewinne an Speisen und Getränken, theils von den Jahresbeiträgen derjenigen, die ihretwegen in den Verein eintreten. Denn wenn auch jedermann als Gast in den Heimen willkommen ist, ein Recht zum regelmäßigen Besuch haben nur die Mitglieder des Vereins Volkswohl, die vierteljährlich wenigstens 50 Pfennig Beitrag zahlen müssen. Diese Beschränkung auf Mitglieder und die Forderung des kleinen Beitrags ist nothwendig; sonst würden die Anstalten bald eine Zuflucht für arbeitsscheue Bummler werden und die Gäste nicht das wahre Interesse an den Heimen nehmen, in denen sie doch nicht nur Besucher, sondern Freunde, Vereinsgenossen, gewissermaßen Mitbesitzer sein sollen.
Schon regt man sich in anderen Städten, nach dem Dresdener Vorbilde ähnliche Heime zu schaffen, so in Köln, Duisburg, Gera, Freiburg a. d. U., Freiburg i. B. und Bremen. Der „Verein Volkswohl“ in Halle baut bereits, derjenige in Leipzig hat sein Vereinshaus vor einigen Monaten eingeweiht. Wir hoffen, daß diese Anstalten sich vermehren und daß sie blühen und wachsen zum Heile unseres deutschen Volkes! Dr. Wilhelm Bode.
[764]
Der Achensee.
Das schöne Land Tirol ist arm an Seen. Wohl liegt hoch droben in den entlegensten Thälern mancher felsumrandete kleine Wasserspiegel, in geisterhafter Stille, umstarrt von kahlen Felsmauern, von Schutthalden und bleichen Schneefeldern. Aber von größeren Binnenwassern sind nur zwei vorhanden: im Süden bespült auf eine kurze Küstenstrecke, gegen die lombardische Ebene hinaus, der Gardasee die Grenze Tirols, und im Norden, nahe der bayerischen Grenze, liegt der Achensee. Dafür hat die Natur diese beiden Wasser mit landschaftlichen Reizen ausgestattet, welche sie hinter den berühmtesten schweizer Seen nicht zurücktreten lassen.
Der Achensee bot sich, ehe im Sommer dieses Jahres die neue Zahnradbahn von Jenbach im Unterinnthal aus an seine Ufer geführt ward, als ein prächtiges Eingangsthor für die von Norden her nach Tirol einschwärmenden Alpenwanderer dar. In Zukunft werden wohl die meisten, die ihn sehen wollen, sich von dem keuchenden Dampfroß den Jenbacher Berg hinauf und wieder hinunter ziehen lassen. Denn der Weg von Norden her, vom Tegernsee bis an den Achensee, ist weit und führt durch einförmige Waldthäler. Ungleich großartiger aber ist dafür der Eindruck, den wir vom See erhalten, wenn wir zuerst sieben Stunden lang durch diese Waldthäler auf staubiger Straße hingewandert sind und dann den wunderbar blauen Seespiegel begrüßen, dessen riesenhafte Bergumwallung um so großartiger wird, je mehr man sich seinem Südende nähert. Es giebt so auch in den Alpen manche stiefmütterlich von der Natur behandelte Landschaft, in welcher die Berge nicht so formenreich, die Wasser nicht so lebendig, die Thäler nicht so mannigfach gegliedert sind, der Gegensatz von starrem Fels und üppigem Pflanzenkleide nicht so malerisch ist wie anderwärts. Zu diesen landschaftlichen Stiefkindern gehört auch jene Thalweitung, die von Tegernsee aus nach dem Achensee leitet. Wer sie einmal zu Fuße durchwandert hat, thut das nicht zum zweiten Male; es müßte denn sein, daß er als Kulturhistoriker unterwegs ganz ausnehmend interessante Menschen zu beobachten Gelegenheit hatte. Von Landschaft aber finden wir hier nichts, als einförmigen grünen Bergwald, über welchen nur ab und zu in beträchtlicher Ferne ein höheres Felshaupt hereinschaut, um bald wieder zu verschwinden. Auch die Wasser, die hier thalwärts fließen, erscheinen zahm und friedlich für den, der an die furchtbar tosenden Gletscherbäche des Oetzthals oder der Tauernthäler sich erinnert.
So erreicht der von Norden her kommende Wanderer fast etwas ermüdet und unzufrieden das stundenlange Dorf Achenkirchen oder Achenthal, welches sich fast bis an den See hinzieht. Es liegt in flachem Thalboden, der unzweifelhaft früher auch See gewesen ist, im Lauf undenklich langer Zeiträume aber trockengelegt ward. Im Osten über dem Dorfe baut sich der gewaltig breite Bergrücken des „Unnütz“ auf, von dem der launige altbayerische Dichter Kobell einst sang:
„Und waar an jeder Lump so groß,
Als wie der Unnütz is,
Sie stehletn vom Himmi d’ Stern
Und z’letzt gar ’s Paradies.“
Trotz seines verdächtigen Namens aber hat sich dieser Unnütz doch den Ruf einer vorzüglichen und leicht erreichbaren Aussichtswarte erobert.
Wer nun das Dorf Achenkirchen auch noch durchwandert, steht bald am Ufer des Sees. Hier, an seiner Nordspitze, ahnt man noch wenig von seiner ganzen Schönheit; da ist er wie jene verschlossenen Menschen, die ihre ganze Liebenswürdigkeit nicht schon bei der ersten oberflächlichen Bekanntschaft zeigen, sondern gründlicher genommen sein wollen. Nur eins kann er auch hier nicht verbergen: die unvergleichliche azurne Farbe und Klarheit seiner Fluth. Das ist ein Blaugrün von so zauberhaftem Schimmer, daß man meinen möchte, der Seegrund sei eine riesige, hohl geschliffene Krystallschale, unter welcher ein wolkenloser Himmel ausgebreitet liege. Und doch ist’s bloß einfaches Kalkgeröll, das diesen Seegrund bildet, wie ja die Berge, die den See umsäumen, nichts sind, als weißgraues Kalkgestein, an dessen Steilhängen schwarzgrüne Fichtenwaldung niedersteigt.
Neun Kilometer lang und etwa einen Kilometer breit erstreckt sich der See von Nord nach Süd in enger Thalspalte. Zeiträume, die dem armen menschlichen Gedanken als unermeßlich erscheinen, sind vergangen, seit diese Thalspalte aufgerissen ward, damals, als unterirdische Mächte den Zug der nördlichen Kalkalpen aus der berstenden Erdrinde herauftrieben. Zuerst warfen sich die Wasser, die von den Bergen in diese Spalte stürzten, wohl schäumend in das tiefere Innthal hinab. Dann aber kamen die Jahrtausende der Eiszeit; hoch aus den wachsenden Schneelandschaften Graubündens wälzte sich der gewaltige Inngletscher. Und wie dieser Gletscher, als ein 4000 Fuß tiefer und meilenbreiter gefrorener Strom durch das Innthal herabrückte, schob er mit seiner frostigen Flanke einen riesigen Schuttwall gegen jene Thalspalte hin. Durch diesen Schuttwall ward ihr südlicher Ausgang versperrt, so daß die Gewässer sich nach und nach zum See aufstauten und endlich nach Norden hin einen Abfluß suchen mußten. So mag der Achensee entstanden sein, und so erklärt sich’s, daß sein Wasser, obwohl sein südliches Ufer kaum anderthalb Stunden vom Innstrom entfernt ist, doch nicht nach diesem abfließt, sondern nach der weit nordwärts strömenden Isar. Man sagt übrigens, ein Theil seiner Gewässer sickere noch durch jenen Schuttwall, um in Gestalt von starken Quellen gegen das Innthal hervorzubrechen.
Anders als der gedankenschwere Gang der Naturforschung erklärt freilich träumende Volkssage, wie der See entstanden sei. Vor undenklich langen Zeiten, sagt sie, seien da, wo jetzt die Seefluth rauscht, grüne Felder gewesen, Getreideland und sonnige Wohnstätten. Die Menschen aber, die hier hausten, seien übermüthig und stolz geworden in ihrem Reichthume. Und als eines Abends ein Mann mit langem Bart und wallendem Mantel daher kam, um Obdach für seine müden Glieder bittend, habe man ihm von Haus zu Haus die Rast verweigert und ihn zuletzt mit Hunden in die Nacht hinaus gehetzt. Da sei er hinaufgestiegen ins Steingeklüft des Hochgebirgs, um sein Haupt dort in Felsen zu betten. Aber über die herzlosen Thalwohner kam in derselben Nacht noch ein grausiges Strafgericht; die Berge barsten und spieen Wasserströme aus, und als die Morgensonne ins Thal glänzte, waren Dorf und Gehöft versunken; hoch darüber rauschte die Welle des Achensees.
Allmählich wird wohl auch diese Sage verklingen, wie so viele andere. Sie ist undeutlich geworden im Lauf der Jahrhunderte, da sie von Geschlecht zu Geschlecht schwankend wandern mußte, wandern wie der alte nächtliche Wandersmann, dessen irre Nebelgestalt wohl an Wodan, den alten Heidengott, erinnern mag. Es ist eine von jenen Sagen, die sich in wenig veränderter Form bei allen Völkern und in allen Zeiten bilden. Sie bewohnen den Erdkreis als lustige Geschöpfe der Völkerphantasie; sie schwinden aus den Städten; vor dem hastenden Lärm des Jahrhunderts und vor der entschleiernden Arbeit des Gedankens flüchten sie in die einsamsten Landschaften, wo sie noch bei Hirten und Köhlern eine Heimstatt finden. Wie lange – und auch diese wird ihnen genommen!
Frühere Alpenforscher gaben dem Achensee die ungeheure Tiefe von etwa 800 Metern, ohne zu bedenken, welch’ ein fürchterliches Loch sie damit in den Boden des Landes Tirol rissen. Neuere Messungen haben diese Tiefe auf etwa 130 Meter zurückgeführt, was immerhin noch anständig genug erscheint. Dabei ist er durchaus Gebirgssee. An seiner Ostseite flankiren ihn der breite Rücken des Unnütz und südlicher die Berggruppe des Hoch-Iss und Sonnwendjochs; an der Westseite der Seekar und Rabenspitz und südlicher die breite Felswand des Stanser Joches. Die Gehänge dieser über 2000 Meter hohen Berge fallen so steil nach dem See zu ab, daß der größte Theil seines westlichen Ufers wegen deren Steilheit völlig ungangbar ist. Am östlichen Ufer führt zwar die Straße entlang, sie mußte aber stellenweise in jäh abschießende Kalkwände gesprengt oder auf Pfählen in den See hinaus gebaut werden.
Obwohl sein Abfluß, die Ache oder Walchen, nach Bayern hinaus strömt, ist der Achensee doch von Tirol aus besiedelt worden. Warum, das begreift sich leicht, wenn man erwägt, wie lang und finster der Weg von Bayern und wie kurzweilig und anmuthig der aus dem Innthal herauf ist. So alt auch der Verkehr zwischen [765] Tegernsee und Achensee sein mag, zu solch’ internationaler Bedeutung konnte die Straße sich doch nie aufschwingen wie die Straßenzüge von Mittenwald oder über den Fernpaß nach Tirol. Dafür haben die Anwohner des Achensees, im Gegensatze zu denen anderer Bergwasser, frühzeitig gelernt, sich der Segel bei ihrer Schiffahrt zu bedienen; und schon vor Jahrzehnten, als es noch keine Eisenbahnen in Tirol und kein Dampfboot auf dem Achensee gab, konnte der Bergwanderer, der zu Fuße – denn einen Omnibus kannte man damals noch nicht an diesen Ufern – daherkam, von einem frischen Tirolermädchen in einem schaukelnden Segelboot über den See hin gesteuert werden. Keine Bequemlichkeit der Gegenwart, kein Dampfer und keine Zahnradbahn vermögen die poetische Einsamkeit und Stille zu ersetzen, in welchen der See und seine Ufer damals lagen.
Heute ist der Achensee vollständig zum internationalen Touristenschaustück geworden. Der Vergnügungsreisende, der das Innthal auf Dampfesflügeln durcheilt, nimmt ihn mit, was ihn nur einen Abstecher von etwa drittehalb Stunden kostet. Dann kann man mit dem nächsten Zuge wieder weiter eilen. Moderner Unternehmungsgeist hat natürlich nicht nur die Verkehrsmittel verbessert, sondern auch die Wirthshäuser um den See herum vermehrt und umgestaltet. Wer vor einem Vierteljahrhundert zu Fuß daher gepilgert kam, pflegte zumeist bei der preiswürdigen „Scholastika“ Einkehr zu halten, am nördlichen Ende des Sees. Die Scholastika – „Laschtika“ heißen sie die Achenthaler Bauern – ist eine blühende Gastwirtschaft. Am Anfange des Jahrhunderts war sie Eigenthum des im tiroler Freiheitskampfe berühmt gewordenen Anton Aschbacher. Von ihm übernahm das Anwesen seine Nichte Scholastika, die dem Hause den Namen gab und bis an ihr Ende im Jahre 1881 (vergl. „Gartenlaube“ 1881, Nr. 6) in ganz Tirol als wackere Herbergsmutter hochgeschätzt war. Wenn nun auch das Haus dem Zeitgeiste entsprechend sich erweitert und verschönert hat, so sind doch die Nachfolgerinnen der ersten Scholastika den alten guten tiroler Ueberlieferungen treu geblieben, thun kein Wasser in den Wein und schreiben den Gästen nicht mehr auf, als recht und billig ist.
Etwas südlicher, auch an der Straße, auf einem Fleckchen grünen Landes, das durch die Bergwasser hier angeschwemmt ward, liegt wieder eine Ansiedelung: schmucke Holzbauten mit zierlich geschnitzten Altanen und Veranden, laubumrankt. Das ist der schnell berühmt gewordene „Seehof“. Ihn hat die aus dem Zillerthale stammende Volkssängerfamilie Rainer sich ersungen und erjodelt während der Sängerfahrten, welche sie viele Jahre lang in die Städte Deutschlands und Oesterreichs unternahm. Der Seehof ist ein Hotel für jene Reisenden, welche lieber fahren als zu Fuße gehen, mit dem Trinkgelde nicht knausern und reichbesetzte Tafeln mit mannigfachen Weinkarten höher schätzen als ländliche Stille und Einsamkeit. Aber auch für anderweitige Genüsse hat die unternehmungslustige Sängerfamilie gesorgt, denn in dem zum Seehof gehörigen Kaffeehause, das in den See hinausgebaut ist, geht’s an Sommerabenden lustig zu; die Sängerfamilie hat trotz ihres Hotelbesitzes das Singen nicht verlernt, da wird gesungen und gejodelt, Zither gespielt und getanzt. Und die nordländischen Reisenden, welche dabei sitzen, sind entzückt über dieses „tiroler Volksthum“, welches die schlauen Sänger ihnen so nett und so gemüthlich zubereitet haben, und singen nach Möglichkeit mit: „Duliäh, Duliäh!“
Ernsthafter, aber landschaftlich weit schöner ist’s in der Pertisau. Das ist ein breiter, goldgrüner Grasfleck, eigentlich ein großer Schuttkegel, den die wilden Bergwasser des Karwendelgebirgs am südwestlichen Seeufer zwischen die Bergriesen eingeschwemmt haben. Auf diesem Grasboden steht eine Ortschaft, welche fast nur aus Wirthshäusern besteht. Nackt und grausig schauen einzelne Hochgipfel des Karwendelgebirges auf das paradiesische Fleckchen herab. Hier, am Ufer der Pertisau, ist der See unvergleichlich schön; an Sommerabenden versprüht die Natur hier einen Farbenzauber, als sei das ganze Landschaftsbild aus buntschillernden Edelsteinen zusammengesetzt. Der türkisblaue See, in welchem die Lichtreize der Oberwelt sich zauberhaft spiegeln, die rothglühenden Schrofen des Sonnwendjochs, das so nahe gegenüberliegt, als wollte es wie ein riesiges Dach sich auf den See niedersenken; die schwarzgrünen Wälder an den Berghängen; die von duftigem Violett überflogenen, an den Kanten goldig gesäumten Kalkspitzen des Karwendelgebirges, die aus dem Falzthurnthal herüberwinken – all das zusammen giebt eine fast berauschende Harmonie von landschaftlichen Eindrücken.
Die Pertisau muß eine uralte Ansiedelung sein. Wenige Plätze im ganzen Hochgebirge konnten den kühnen Siedlern, welche zuerst an die Seitenthäler des Innthals eindrangen, um sich Wohnstätten aufzusuchen, einladender erscheinen als dieser felsummauerte und fluthumrauschte Erdenwinkel. Auch der Name, so seltsam klingend, muthet uns tausendjährig an – ist’s doch die alte Heidengöttin Perchta, auf welche die „Perchtens-Aue“ zurückgeführt wird.
Das Heidenthum ist freilich frühzeitig verschwunden. Denn schon im 12. Jahrhundert schenkten die zu Schlitters im Zillerthal seßhaften Herren Dietrich und Gerwin, denen dazumal die Landschaft gehörte, den ganzen Achensee sammt der Pertisau an das Benediktinerstift zu Sankt Georgenberg. Die Mönche von Sankt Georgen zogen sich aus der mühseligen und einsamen Bergeshöhe, in welcher ihr Klösterlein lag, später herab nach dem im Innthale unweit Jenbach sichtbaren Kloster Fiecht; und diesem gehört der Achensee und das Besitzthum zu Pertisau noch jetzt. Außer den Mönchen von Fiecht, welche hier in der Sommerfrische sich beschaulichem Treiben hingaben, wußten aber auch weltliche Fürsten die unvergleichliche Schönheit des Ortes und die wildreichen Jagdgründe der Umgebung zu schätzen. Erzherzog Sigismund ließ im 15. Jahrhundert ein hölzernes Jagdschlößchen hier erbauen, und sein Nachfolger in Tirol, der ritterliche Kaiser Maximilian, pflegte des Weidwerks am liebsten in der schönen Bergeinsamkeit zwischen dem Achensee und der Martinswand. [766] Einmal, im Jahre 1501, empfing er sogar spanische und venetianische Gesandte zu Pertisau und lud sie an eine Tafel, die bloß mit Achenseefischen besetzt war. Auch später erhielt sich der Achensee in der Gunst der Herrscher von Tirol, und eine Tochter Ferdinands I., die als vormalige Königin von Polen ihren Witwensitz im Innthale aufgeschlagen hatte, kam zuweilen den Jenbacher Berg heraufgeritten, um sich dann in zierlichem Nachen auf dem See zu schaukeln und ihre Angelschnur in die blaue Tiefe zu senken. Was sie wohl dabei geträumt haben mag, die einsam schwärmende Königin?
Lebhafter und fröhlicher ward es wieder in der Pertisau, als Erzherzog Ferdinand, der schönen Philippine Welser jagdfroher Gemahl, das alte Holzhäuschen durch ein schönes Jagdschloß ersetzte, dessen Räume mit Weidmannstrophäen reich ausgestattet waren. Das Jagdschloß erweiterte sich zum „Fürstenhause“; ein venetiamscher Schiffbaumeister ward berufen, der den See mit reichgeschmückten Fahrzeugen ausstattete; prächtige Reiterzüge bewegten sich den Jenbacher Berg herauf und von den Ufern des Sees erscholl Rossegestampf, Rüdengebell, Hörnerklang und Weidmannsruf bis weit in die Felsthäler hinein.
Dann, als die schöne Welserin und ihr fürstlicher Gemahl gestorben waren, versank der See wieder in mehrhundertjährige Stille. Nur mit den Mönchen von Fiecht, die etwa zur Stärkung ihrer Gesundheit heraufpilgerten, kamen ab und zu Innsbrucker Gäste herauf, denen in den Sommermonaten die Luft des Innthales zu heiß und schwer ward und die hier in der Pertisau in frischerer Bergluft rasten mochten.
Das vornehmste und älteste Gasthaus der Pertisau, das „Fürstenhaus“, ist noch eine Domäne des Klosters Fiecht. Des Klosters Verwalterin, die „Veronika“, übt hier eine unumschränkte patriarchalische Herrschaft. Man merkt, daß man unter dem Krummstabe lebt; ein würdevoller Ernst durchweht das Haus, übermüthiges Lärmen ist durch die Ueberlieferung verpönt, an Freitagen wird gefastet. Wer sich der Sitte des Hauses nicht fügen will, der erhält, ohne daß es ihm eigentlich gesagt wird, von selbst den Eindruck, daß er überflüssig sei und gehen könne, etwa nach dem Seehof hinüber, wo er genug „Tradeldio“ und „Holdrio“ haben kann.
Die Pertisau ist auch der beste Platz am See für wanderlustige Menschen. Wer einen hochinteressanten Spaziergang von ein paar Stunden unternehmen will, geht den „Mariensteig“ entlang, welcher über die Felswände des Westufers hinwegklettert und bis zum Nordende des Sees führt. Man kommt dabei über die „Gaisalm“, die auf winzigem Rasenfleckchen unter den Steilwänden des Seekars liegt. Wer aber weiter hinan will, in die Wildniß des Hochgebirgs, den lockt die unmittelbar über der Pertisau aufragende Rabenspitze und ihre Nachbarin, die Seekarspitze. Mannigfaltiger sind die Bergpfade auf dem mächtigen Sonnwendjoch, welches gerade gegenüber der Pertisau aus dem See aufsteigt. Es ist kein einzelner Berg, sondern ein ganzer Gebirgsstock, reich an den verschiedenartigsten Bildern, welche die Hochgebirgswelt zu bieten vermag: an Schluchten und Gräben, grünen Matten und öden Hochflächen, Steilwänden, Waldterrassen, unheimlichen Seespiegeln und schauerlichen Trümmerfeldern. Weithin in den Ortschaften des ganzen Unterinnthals ist dieser stolze Berg sichtbar; das möchte wohl dazu führen, daß, wie sein Name sagt, schon in alter Heidenzeit auf ihm die Sonnwendfeier abgehalten ward.
Droben unter den Felszinnen dieses Berges, auf klippiger Hochfläche, liegt in todtenstiller Einsamkeit der Irdeiner See; dessen Namen die grübelnde Forschung von der Göttin Erda, der nordischen Hertha, herleitet. Seltsame Mär umspinnt diesen See, seine Fische sollen goldene Zähne haben und Gold im Leibe tragen. Dort sprudelt auch ein „Goldbründel“ aus dem Fels und eine Zaubergrotte birgt verwunschene Schätze. Von diesen Schätzen schenkte einst ein gespenstiges Bergfräulein einem armen Hirtenbuben so viel, daß er in Steinberg, am Fuß des Sonnwendjochs, einen stattlichen Bauernhof erbauen konnte. Der Hof steht heute noch. Der Irdeiner See aber und seine Geister können nicht bloß Segen spenden, sondern haben auch grausige Macht. In der Sonnwendnacht, heißt es, brülle der See, daß man ihn bis ins Zillerthal und nach Brandenberg hört; und eigene Messen, die im Kloster zu Mariathal gestiftet wurden, sollen verhindern, daß er über seine Ufer steige und als verheerende Sündfluth ins Innthal niederbreche.
Weit wilder als die Ostumwallung des Achensees sind jene Berglandschaften, die sich westwärts von dem grünen Gelände der Pertisau erschließen. Drei Thäler ziehen nach der Pertisau herab: das Tristenauthal, das Falzthurnthal und das Gernthal. Während aber das erste bald unter den Wänden des Tristkogl zu Ende geht, führen die beiden andern den rüstigen Fußwanderer weit nach Westen in jene ausgedehnte Gruppe der Nordkalkalpen, die sich unter dem Namen des „Karwendelgebirgs“ zwischen dem Achenthale und dem Scharnitzpaß aufbaut. Da gilt es vielstündiges Wandern über grüne Alpenmatten und stille Jochsteige; dann aber eröffnet sich dem Naturfreunde ein Gebiet von schauerlicher Großartigkeit. Ueber unbeschreiblich einsame Thalwinkel, in welchen grüne Ahornhaine rauschen, ragen Bergketten mit riesenhaften Gipfeln, weißgrau und kahl steigen sie empor als seltsam geformte Zinken und Hörner. Unter den Steilabstützen des „Hochglück“ und „Grubenkarspitz“ flimmert blaues Gletschereis und fern, fern verhallt der Lärm des Jahrhunderts.
Aber zurück nach unserem See!
Eine halbe Stunde südöstlich von Pertisau, am Südende des Achensees, liegt das freundliche Gasthaus zum „Seespitz“ und die Endstation der Achenseebahn. Diese kleine Eisenbahn, wie ein Werk aus „Tausend und eine Nacht“ in der unvergleichlich kurzen Zeit vom November 1888 bis zum April 1889 erbaut, verbindet den See mit der Station Jenbach um Innthale. Vom Seeufer führt sie zuerst als gewöhnliches Schienengeleise nach den Stationen Maurach und Eben, die beide noch über dem Spiegel des Achensees liegen. Maurach ist ein reizend gelegenes Dörfchen, mit braunen Holzhäusern, überragt vom Gewände des Sonnwendjochs, über welches der Talfazer Wasserfall herabstäubt. Die nächste Station Eben steht auf der Scheide zwischen der Landschaft des Achensees und jener des Innthales. Weit hinaus winkt das rothe Thurmdach. Hier ruhen die Gebeine der heiligen Notburga. Diese fromme Magd, die Schutzheilige des weiblichen Hausgesindes in ganz Süddeutschland, lebte im 13. Jahrhundert als Dienerin auf dem Rottenburger Schlosse, dessen Ruinen heute noch ins Innthal hinab schauen. Wie die heilige Elisabeth in Thüringen speiste die tugendhafte Notburga die Armen, indem sie ihnen heimlicherweise gab, was sie sich vom Munde abgespart hatte. Darüber erzürnte sich Ottilie, die Burgfrau von Rottenburg, und sie trieb die mildthätige Magd aus dem Schlosse. Nun trat Notburga bei einem Bauern in Dienst, und mit ihr zog Segen und Wohlstand in den Hof. Hier that sie auch ihr schönstes Wunder. An einem Sommertage, als bei sinkender Sonne die Feierabendglocke klang, betete sie und wollte dann vom Felde heim. Der Bauer, dem der Garben noch nicht genug auf dem Felde lagen, ward unmuthig und befahl ihr, weiter zu arbeiten. Da sagte sie lächelnd: „Es ist Feierabend!“ Mit diesen Worten warf sie ihre Sichel in die Luft, und siehe da – die Sichel blieb an einem Sonnenstrahle hängen, der vom sinkenden Tagesgestirn her über die Felder sich spann. Es scheint, daß der Bauer seit jener Zeit aufhörte, die Arbeitsstunden über Gebühr zu verlängern. Die Sage berichtet weiter, daß in seinem Hause Wohlstand und Glück verblieben und sich mehrten, während auf dem Schlosse der Rottenburger alles zurückging. Spät erst kam die strenge Ottilie auf den Gedanken, Notburga zurückzurufen und um Verzeihung zu bitten. Und Notburga kam und verzieh, und von derselben Stunde an kehrte das Glück der Rottenburger zurück. Als die Heilige aber zu sterben kam, sollen Engel ihre Seele sichtbarlich gen Himmel getragen haben. Vorher hatte sie bestimmt, man solle ihre irdischen Reste auf einen mit zwei Stieren bespannten Wagen legen und sie dort begraben, wohin sie die Stiere ohne Lenker fahren würden. So geschah’s, und die Thiere führten den Wagen über den Inn und hinauf nach Eben zu einer kleinen Kapelle. Hier ward Notburga begraben. Als an ihrer Ruhestätte mit der Zeit sich mannigfache Wunder begaben, wurde sie allmählich als Heilige verehrt und anstatt der kleinen Kapelle ward eine schöne Wallfahrtskirche erbaut, vielbesucht von frommen Betern. Gern vergönnt man dem reizenden Platze das Heiligthum, obgleich hier nicht verschwiegen werden darf, daß man auch im Schwabenlande sich rühmt, eine Grabstätte der heiligen Notburga zu besitzen; nur ist die schwäbische Notburga keine niedriggeborene Magd, sondern ein Königskind. Welche von den beiden heiligen Mädchen aber die richtige sei, können wir hier ununtersucht lassen. Nur das sei noch erwähnt, daß manche Züge aus [767] dem Leben der tirolischen Notburga den Forscher an uraltes Heidenthum erinnern und an die dunkle Göttin, deren Schatten noch über die Felszinnen des Sonnwendjochs und über die stillen Wasser des Irdeiner Sees hingeistert.
Wir sind von Pertisau zu Fuße nach Eben gewandert, in der Hoffnung, die Wallfahrtskirche beschauen zu können. Es ist ein strahlender heißer Sonntagmorgen. Blendendweiß steht die Kirche da, gefüllt mit Andächtigen; aus dem Portale hört man jedes Wort des Predigers. Wir mögen das Landvolk in seiner Andacht nicht stören; darum verzichten wir auf den Eintritt. Seltsam aber wird unsere Aufmerksamkeit erregt durch eine einsame Mädchengestalt in Landestracht, die außen am Portale lehnt, in Gebet versunken, mit staubigen Schuhen. Unter dem großen Hute hervor schaut ein müdes trauriges Gesichtchen, das in Kummer und Reue die Welt anzuklagen scheint.
Ergriffen wenden wir uns seitab nach den Bänken einer kleinen Weinschänke, die unter wohligem Schatten nahe bei der Wallfahrtskirche stehen. Und wie wir die Kellnerin fragen, warum wohl jene blasse Wallfahrerin nicht in die Kirche eintrete, sondern draußen bete, meint sie nach einem flüchtigen Blick hinüber: „’s wird wohl was verschuld’t haben, das arme Ding, daß es sich nit einitraut!“
Ein Rauchwölkchen, vom Achensee her gleitend, mahnt uns an den Aufbruch zur Bahn. In Eben beginnt der Eisenweg jäh nach dem Innthale sich zu senken; hier reichen die gewöhnlichen Schienen nicht mehr aus; auf gezahnter Stahlstange klettert die Lokomotive, mit einem Zackenrade in ihren Weg sich einklammernd, in die Tiefe. Noch einen Blick zurück nach dem Spiegel des Achensees und nach der einsamen Beterin an der Wallfahrtskirche – dann hat uns der Wagen aufgenommen. An den Häusern von Fischl geht’s vorüber, wo sich der Blick nach der weiten schimmernden Tiefe des Innthals aufthut, nach dem blauduftigen Zacken des Kaisergebirgs im fernen Nordosten, und nach den silberglänzenden Schneegipfeln des Zillerthals im Süden. Gerade unter dem Schienenwege wird das schimmernde Band des Innstroms sichtbar mit den alten Ritterburgen, welche dem Eingang des Zillerthals umlagern. Ueber dem Thurm und den Dächern von Jenbach aber erschließt sich nun auch der westliche Theil der Landschaft: das stolze Schloß Tratzberg, das einst so silberreiche Bergwerkstädtchen Schwaz und weit im Südwesten, wie ein leuchtendes Märchen über dem Thalschlusse hängend, die Gletscher der Stubayer Alpen. Und während das Auge trunken in dieser Landschaft schwelgt, klettert unermüdlich das eiserne Zackenrad in seiner hastigen Arbeit an der Station Burgeck vorüber und an dem ansehnlichen und rührigen Dorfe Jenbach, um unmittelbar neben der Station der Innthalbahn anzuhalten. Und nun pfeifen die Lotomotiven wieder, lange Wagenzüge rollen heran; internationales Reisetreiben umschwirrt uns. Wir sind wieder auf der Weltverkehrsstraße, die uns entweder nach Norden hinausführt ins bayerische Flachland oder südwärts und westwärts, wo der Sonnenstrahl auf ewigen Schneefeldern liegt.
Unter dem Glockenstuhl.
Gertrud und ich waren allein. Sie holte schwer Athem. Ich war wie gebannt. Ich wußte, was jetzt kam.
„Lassen wir den Schleier fallen!“ begann sie mit leisem Ton; „es ist mein heißester Wunsch gewesen, daß diese Stunde kommen möchte in meinem Leben. Ich konnte mit der ungesühnten, unverziehenen Schuld gegen Sie nicht leben und hätte nicht sterben können.“
Sie hielt inne. „Tick – tack, tick – tack“, ging langsam die große Wanduhr.
„Ich habe furchtbare Zeiten der Herzensqual durchgemacht,“ fuhr sie fort, „und ich begreife es noch nicht, daß ich das alles überlebt habe. Ich brauche auf alles nicht einzugehen, nur eins muß ich erwähnen, daß Sternhagen schon an dem Nachmittage, an dem Sie hier im Garten die Giftpflanze zeichneten, um mich angehalten hat.“
Ich fuhr auf.
„Ruhig!“ bat sie, ohne Blick und Haltung zu ändern; „hören Sie mich still an, lieber Freund!“
Ich stützte den Kopf in die Hand und sah in den Champagnerkelch hinein, wie da die Schaumperlchen, eines nach dem andern, sich ablösten und dann schnell nach oben stiegen.
„Sie sollen alles wissen. Die Stunde, die uns jetzt geboten ist, kommt nie wieder, und sie muß über zwei Menschenleben beruhigendes Licht breiten. Mir soll sie etwas Frieden bringen, und Ihnen, daß Sie mich nicht hassen und nicht – lieben! Beides ist mir zu schwer!“
Sie senkte das Haupt, aber bald hob sie es entschlossen wieder, und fortan sah sie mich an und ich sie. So, Blick in Blick gesenkt, saßen wir, nur durch das Tischchen getrennt, uns gegenüber. Schaurig süße Stunde! Draußen war’s Nacht, dunkle, tiefe, einsame Herbstnacht.
„Wir gingen auseinander damals unterm Glockenstuhl,“ fuhr sie fort, „und meine Hoffnung – waren Sie! Sie sollen’s, Sie müssen’s mir glauben“ – ihre Stimme nahm tieferen Klang an – „ich habe Sie aus allen Kräften meiner jungen leidenschaftlichen Seele geliebt! – Glauben Sie das?“ fragte sie wie in großer Herzensangst und neigte sich ein wenig vor.
Ich nickte. Ich konnte nichts sagen.
„Und Sie fragen, wie ein Mädchen, deren Herz und Leben so gefangen ist, dem Manne, den sie liebt, untreu werden kann; ohne ein Wort des Abschieds sich von ihm abwenden und zu einem anderen Ja sagen kann, ohne vor Scham und Schande und unendlichem Herzensjammer vor dem Altar zusammenzubrechen? Wie aber, wenn dies Mädchen Mächten unterthan ist, denen sie willenlos gehorchen muß, wenn sie über Scham und Schande und Jammer den Mantel breiten kann, daß sie einem Gottesgebot gehorcht hat, gehorchen mußte, ob sie dabei auch hätte aufkreischen und aufschreien mögen, wie die gefolterten Weiber, wenn ihnen die Gelenke zerbrochen wurden?
Sie wissen, wie es bei mir zu Hause stand. Mein Vater in hochgradiger Weise nervenkrank – er wurde später vollständig irr, an Größenwahn, ein halbes Jahr, ehe er starb – und die Verhältnisse so trostlos, daß der Zusammenbruch unvermeidlich schien! Ich war in den Osterferien zu Hause. Da wurde in all den Jammer hinein eine Hypothek auf unser Häuschen gekündigt: der Ruin war gekommen! Da, an demselben Tage, an dem die Forderung fällig war, kam ein Brief von Sternhagen an meinen Vater, – wie manchen von demselben Absender an mich gerichteten Brief hatte ich von Wulfshagen aus zurückgeschickt! – Und jetzt kam freudestrahlend, zitternd vor Glück der Vater auf meine Stube gestürzt, und die Mutter weinend hinterher. ‚Rettung, Rettung!‘ schrie der alte Mann; ‚Mädchen, Du bist uns zum Segen ins Haus geboren; hier, lies!‘ Ich gab ihm den Brief zurück, bebenden Herzens. ‚Ich kann nicht, will nicht!‘ rief ich, ‚ich bin verlobt!‘“
Ihre Wangen glühten, ihre Hand legte sich auf meine – ihr Gesicht war nah vor meinen Augen.
„Da,“ sprach sie weiter, und es lief ein fröstelndes Zittern durch ihre Hand, „da lag der alte Mann vor mir auf den Knieen und weinte wie ein Kind. ‚Gertrud, Gertrud, rette mich! Um Gottes Barmherzigkeit willen – er ist reich, sehr reich – er kann, er wird uns alle, alle aus der schrecklichen Noth erlösen! Soll ich betteln gehen mit grauen Haaren?‘ Und dahinter stand die Mutter, die gerungenen Hände zu mir aufgehoben, mit ihrem thränenüberströmten abgehärmten Gesicht. Und der Vater umfaßte meine Kniee. ‚Gertrud,‘ rief er, ‚Du bist nicht verlobt, ich habe meine Einwilligung nicht gegeben, zum Glück nicht gegeben; Du bist frei! Oder willst Du über die Leiber von Vater und Mutter weg in Dein neues Haus einziehen – dann thu’s –!‘ Er schluchzte – Konrad, sag mir, verdammst Du mich, daß ich ihn aufhob und ihn küßte und ihn rettete vom Untergang?“
Ich hatte meine andere Hand über die ihre gelegt. Auge brannte in Auge.
[768] „Meine Welt war zerschlagen!“ fuhr sie fort. „Aber ärger war mir der Gedanke an Dich, an Deine Qual!“
Sie wußte es nicht, daß sie „Du“ sagte, und ich hörte es nicht.
„Ich wollte, ich konnte nicht schreiben, das ging über meine Kraft; dem, den meine Seele liebte, jetzt noch heißer, glühender – dem selbst den Dolch ins Herz stoßen – das war nicht möglich! Nicht wahr, Konrad? – Da ließ ich dem gräßlichen Geschick seinen Lauf und schloß die Augen vor all’ dem Entsetzlichen hüben und drüben, wie man die Augen wohl zumacht in verstummender Qual, wenn man sein Liebstes in den Abgrund stürzen sieht, ohne es retten zu können.“
Sie sah eine kurze Zeit still vor sich nieder; ich hörte ihre und meine Athemzüge.
„Alles andere hat keine Bedeutung,“ hub sie wieder an; „ich bin ehrlich gewesen ihm gegenüber, ich habe ihm gesagt, was ich ihm nicht mit in die Ehe brächte: keine Liebe, keine Spur; daß ich das Andenken an einen anderen ihm als Mitgift brächte – er lachte darüber. ‚Findet sich alles!‘ mochten seine Gedanken sein. – Es hat sich nicht gefunden!“ sagte sie mit vollem Augenaufschlag; „aber wie Gott mir die beiden Kinder in den Arm legte, von der Stunde an habe ich ihn als den Vater meiner Trostbringer angesehen und bin ihm eine ehrliche Frau gewesen – und –“ sie sah mir ernst ins Gesicht, vornüber geneigt – „und will es bleiben!“
„Und was wird aus mir? Sie haben mich einen Blick in mein verlorenes Paradies thun lassen – was bleibt mir davon, als unendliches Sehnen?“ fragte ich und faßte ihre Hand fester.
„Dasselbe, was mir bleibt von dieser Stunde: das Gefühl, daß wir unser Herz bezwungen haben! Nun bitte ich Sie um eines: morgen noch bleiben Sie bei uns; ja? und fahren mit uns nach Breitenfelde; wir sind eingeladen zu einer Geburtstagsfeier. Wir wollen noch einen Tag lang beisammen sein als die, welche sich in Frieden gefunden haben; aber dann reisen Sie! Wir wollen unsere Kraft nicht gar zu sehr auf die Probe stellen!“
Es lag ein schmerzliches Lächeln um ihren Mund. „Ich habe Sie gar zu tief in meine Seele schauen lassen müssen. Und eben darum gehen Sie von mir und kommen Sie nicht wieder! Ihr Wort darauf!“
Sie reichte mir auch die andere Hand und stand auf. Langsam, wie in schmerzlicher Andacht, zog ich erst ihre rechte, dann ihre linke Hand an meine Lippen und ich fühlte den warmen Druck ihrer Finger.
„Gertrud!“ rang es sich los aus meiner Seele, und – ich wußte kaum, was ich that – meine Arme breiteten sich nach ihr aus.
Sie wich einen Schritt zurück und sah mich mit unendlich traurigem Blick an, langsam den Kopf schüttelnd.
„Nein!“ sagte sie leise, „nein! Gute Nacht!“
Sie war gegangen. Das Feuer im Kamin brannte nieder, die Lichter flackerten verlöschend auf, und noch immer knieete ich auf dem Bärenfell, auf dem ihre Füße gestanden hatten, und hatte das Gesicht in die Kissen gedrückt, wo sie gesessen; so blieb ich, – lange, lange!
Es war spät am nächsten Morgen, als die Hausglocke zum Frühstück rief. Bei meinem Eintritt ins Speisezimmer stand Gertrud am Tisch und bereitete den Thee; mit aufgestütztem Kopf saß Sternhagen daneben. Sie grüßte mich mit einem Blick. „Kann Ihnen keine Hand geben!“ sagte sie lächelnd, aber es war ein müdes Lächeln. Um ihre Augen lag ein dunkler Kreis; er machte sie vielleicht noch schöner, aber er zeugte von einer durchwachten Nacht, und der Glanz ihres Blicks war verschleiert.
Stöhnend richtete Sternhagen sich auf und reichte mir nachlässig seine heiße Hand; er sah sehr schlecht aus. „Infamen Kater!“ knurrte er; „Skandal, daß ich so abfiel; haben sich wohl noch ganz gut unterhalten? Na, werd’ nur nicht so roth, Trude!“
Sie erglühte bis in die Haarwurzeln, aber sie richtete sich fest auf. „Ich bitte, Oskar!“ flüsterte sie; aber es lag ein Befehl darin.
„Na ja, meinetwegen!“ gab er zurück. „Wissen Sie ’was, Herr Professor, ich will Ihnen einen doppelten Rath geben: heirathen Sie nie und trinken Sie statt Thee jetzt ein Glas Sherry mit mir; bekommt Ihnen besser; oder haben Sie keinen Jammer? Sie sehen mir doch so’n bißchen bleich aus!“
Gertrud hatte schnellen Schrittes das Zimmer verlassen. Er warf ihr einen beinah feindseligen Blick nach. Ich kochte innerlich. Da kam ein schwerer Schritt näher, und der Verwalter trat ein.
„Nun? Was will Er?“ fuhr Sternhagen ihn an.
„Herr, ich wollte nur sagen, daß Siegbert heut’ nicht fahren kann; er ist krank!“
Sternhagen schlug mit der Faust auf den Tisch. „Was fehlt dem Kerl?“ schrie er; „faules Thier, will seinen Rausch ausschlafen; ’raus mit ihm aus dem Bett!“
„Nein, Herr, er sieht ganz bös aus. Sein Arm, der rechte, ist ganz dick und roth und steif, daß er ihn nicht rühren kann, und unter den Augen und im Gesicht hat er lauter Blasen.“
„Gut!“ schrie Sternhagen. – „geh’ Er an die Arbeit! – Muß nur ’mal hin; wollen Sie mit?“ fragte er. Mit einem Male schlug er sich vor die Stirn; sein Blick klärte sich etwas. „Das ist wieder ’was für Sie!“ rief er; „da spukt der verdammte Giftsumach wieder! Das Zeug muß wieder gewachsen sein!“
Gertrud war inzwischen wieder an die Theemaschine getreten und sah scheu zu ihrem Manne hinüber.
„Das ist ja die infame Wirthschaft hier zu Lande!“ polterte er und ließ sich wieder schwer in seinen Stuhl fallen; „erlaubt mir dieser hochnasige Bengel von Graf nicht einmal mehr, in seinem Wald Tannengrün für das Erntefest schlagen zu lassen, und Siegbert kommt vorgestern mit leerem Wagen zurück. Da hab’ ich ihn im Garten soviel schneiden lassen müssen, wie anging, und dabei ist der dumme Kerl wahrscheinlich über den Sumach mit seinen blanken Blättern gekommen. Hab’ mich nie wieder um das Zeug gekümmert. Nun haben wir den Salat!“
„Wir können ja auch zu Hause bleiben!“ sagte Gertrud sanft; „ich glaube, wir sind alle etwas angegriffen von gestern her.“
„Nein, wir fahren!“ schrie er unwirsch. „Der Professor und ich jedenfalls! Bleib’ Du zu Hause, wenn Du keine Lust hast! Ich kutschire selbst!“
„Ich werde mitfahren!“ sagte sie leise und reichte mir ohne aufzusehen die Tasse.
Mit dem Giftsumach hatte es seine Richtigkeit; hinter den Tannen bei der Kegelbahn, von denen Siegbert die Zweige geschnitten hatte, war unbeachtet aus den rankenden Wurzeln wieder allmählich eine ganze Kolonie des Giftstrauchs aufgewachsen, und der arme Kerl von Kutscher lag fiebernd in seinem schlechten Bett und war sehr krank.
Bald nach Tisch – die Laune des Hausherrn schien etwas besser geworden zu sein – sollten wir fahren. „Muß erst eine Stunde schlafen!“ sagte er kurz beim Aufstehen vom Mahl; „wollt Ihr nicht auch?“
„Ich kann ja nach Tisch nicht ruhen, es bekommt mir nicht,“ gab Gertrud zurück; „aber Sie, Herr Professor, Ihnen wird’s gut thun!“
„Es ist gegen meine Gewohnheit –“
„Na, dann vertreibt Euch die Zeit ein bißchen miteinander; um drei Uhr geht’s los; der Weg ist weit!“
Er ging.
Lange blieb es still zwischen uns. Gertrud blickte hinaus, wo der Herbstwind die Blätter von den Bäumen riß. Ich sah sie an, in Leid und Liebe versunken. Endlich öffnete sie die Lippen.
„Das ist eine Welt! Das ist deine Welt!“ sagte sie halblaut. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. „Ich bin doch müde!“ flüsterte sie; „gehen Sie, Konrad!“
Ich stand auf und wandte mich nach der Thür. Da hörte ich wieder meinen Namen. „Geben Sie mir noch einmal Ihre Hände!“ sagte sie leise; „wir müssen Abschied nehmen jetzt –; aber kurz – für lange Zeit!“
Da knieete ich vor ihr und drückte ihre Hände an mein Gesicht. Sie lag noch immer mit geschlossenen Augen zurückgelehnt.
„Bin ich Ihnen noch nicht unglücklich genug?“ kam es kaum hörbar über ihre Lippen.
Ich richtete mich auf und ging; ihr Blick folgte mir – so nahmen wir Abschied!
Der leichte gelbe Jagdwagen hielt vor der Thür, mit zwei muthigen Apfelschimmeln bespannt, die ungarisches Geschirr trugen.
„Willst Du mit den unruhigen Thieren fahren?“ fragte Gertrud besorgt, als sie in die Hausthür trat.
[769]
[770] „Wie Du siehst; die Pferde müssen gerührt werden, sie werden mir ja sonst steif und lahm. Sie wissen, daß ich ihr Meister bin. Nun bitte, hinauf!“
Da kamen, in schwarzen Sammetkittelchen mit breiten, weißen Spitzenkragen, die beiden prächtigen kleinen Jungen Sternhagens angelaufen. „Papa, Du hast uns gar nicht Adieu gesagt!“ riefen sie schon von weitem.
Jetzt gefiel er mir wieder! Er bückte sich und nahm auf jeden Arm einen der Zwillinge. Sein ganzes Gesicht lachte. „Ja, ihr seid Kerlchen!“ sagte er glücklich; „nicht wahr, Herr Professor, ist das nicht ein Staat?“ Und er küßte die Kinder zärtlich.
Er reichte sie Gertrud. „Adieu, Mama, adieu, adieu!“ Mit mütterlichem Stolz blickte sie zurück auf die kleine Gesellschaft, die noch oben auf der Freitreppe stand und in einem fort rief und winkte, als der Wagen aus dem Hofthor bog.
Sternhagen hatte nicht zuviel gesagt; die Pferde fühlten wirklich ihren Meister. Stattlich und fest saß er da vor uns mit breitem Rücken, die Zügel machtvoll fassend und mit kräftiger Männerfaust die Hitze der edlen Thiere mäßigend und in seinem Dienst behaltend.
Wir fuhren über das herbstliche Feld, dem Walde zu.
„Hier ist mein Gebiet zu Ende, leider,“ sagte Gertruds Mann; „hier fängt der hochgräfliche Grund und Boden an. Da sollen Sie gleich ’mal ’was Hübsches sehen. Zunächst achten Sie auf den Weg; ist der nicht sehr schön geharkt an den Seiten?“
„Was soll das?“ fragte ich.
„Muß jeden Abend geeggt werden, damit am Morgen genau zu erkennen ist, wie viel und welche Sorten Wild ausgetreten sind. Er sieht’s nicht gern, wenn man hier fährt, kann’s aber nicht wehren! – Aber nun sehen Sie ’mal da vorne an der Wegkrümmung den Pfahl mit der Tafel, wofür halten Sie das?“
„Ein Wegweiser vielleicht?“
„Nein; ich will da halten; lesen Sie die Inschrift mit Andacht!“ Er hielt an der Biegung; die Pferde schäumten ins Gebiß und scharrten den Boden mit den Hufen auf. Ich las, was da mit weißen Buchstaben auf grünen Grund geschrieben oder vielmehr gemalt war: „Hier erlegte am 27. August 1885 Graf Eberhard von Aller eine grobe Bache.“
„Nicht wahr? Ein feines Monument!“ lachte Sternhagen und knallte über die Köpfe der Pferde weg, daß sie mit einem Satz anzogen und den ziemlich langen, steilen, holprigen Abhang im schlanken Trab hinaufliefen, als wär’s ebener Boden; „wenn einer halt weiß, daß andere ihm kein Denkmal setzen, dann muß er selbst dafür sorgen, so gut er’s versteht. Drinnen im Forst steht’s voll von solchen Dingern.“
„Der 27. August – das ist ja Dein Geburtstag!“ warf Gertrud ein.
„Stimmt!“ gab er lachend zurück; „in jeder Weise ein bedeutender Tag.“
Wir fuhren jetzt durch finsteren Hochwald mit großen starken Stämmen, aber wir fuhren still, ohne viel zu reden. Jedes von uns hatte genug zu thun mit seinen eigenen Gedanken.
Auf Breitenfelde wurden wir herzlich begrüßt und aufs gastlichste bewirthet. Nach Tisch näherte ich mich Gertrud. Sie hatte ein paar Mal in offenbarer Unruhe zu mir hinübergeblickt und mir über den Tisch hin das alte Signal gemacht: „Ich muß Dich sprechen!“ indem sie wie zufällig und in Gedanken Messer und Gabel kreuzweis vor sich hielt.
„Achten Sie auf meinen Mann,“ raunte sie mir zu, „daß er nicht zuviel trinkt!“
Ich setzte mich in Sternhagens Nähe. Er klopfte mir lachend auf die Schulter.
„Nun, Professorchen, hat meine Frau Sie vielleicht vertrauensvoll beauftragt, ein bißchen auf meinen Durst zu achten? Ich glaube beinahe! Seien Sie unbesorgt, den Weg finde ich mit verbundenen Augen; ich werde Sie nicht in den Graben werfen aus Bosheit. Prosit! Sie sind ein Prachtsprofessor und so etwas von einem kleinen Schwerenöther; aber mich lassen Sie nur gewähren!“
Was sollte ich machen? –
Einmal trat sie hinter seinen Stuhl und flüsterte ihm etwas zu. Er schüttelte ärgerlich den Kopf und traurig ging sie zurück.
Als wir zur Abfahrt bereit waren, da war er wieder ziemlich arg im Sturm.
„Bitte schnell aufzusteigen!“ rief er uns zu. Kaum daß ich Gertrud hinaufgeholfen hatte und selbst nachgesprungen war und noch ehe ich die Decken und das Schutzleder recht hatte über uns breiten können, ließ der Stallknecht die Köpfe der unruhigen Pferde los, und im selbigen Nu sprungen sie auch schon ins Geschirr und stoben galoppirend vom Hof. Mit einem Fluche riß Sternhagen sie zusammen, daß sie beide, hochsteigend an der Deichsel, ihren Lauf mäßigten.
„Wartet, ihr Racker, ich werde euch lehren!“ rief er ingrimmig mit zusammengebissenen Zähnen, holte hoch aus und legte ihnen mit sausendem Hieb die Peitsche zweimal über den Rücken, riesenkräftig sie dabei mit der Linken im Zügel haltend. Es war nicht sehr dunkel, soweit der Weg über freies Feld führte.
Gertrud hatte, als die Pferde stiegen, mit beiden Händen meinen Arm gefaßt – aber ich hörte keinen Ruf, keinen Ton von ihren Lippen. Jetzt ließ sie mich los, und der Hauch eines Seufzers streifte mein Gesicht. Wir fuhren weiter, sehr schnell; der Schein der Laternen huschte hin über die Hecken und Gräben und über die weißen Prellsteine am Wege – jetzt fiel er in eine Wasserlache, die quer über das ausgefahrene Geleise lief; das Handpferd drückte sich aufscheuend weit zur Seite gegen das Sattelpferd; wieder sauste die Peitsche nieder, zweimal, dreimal; in stürmendem Lauf rannten die Thiere vorwärts in die Nacht hinein. Lautlos hielt er mit beiden Händen die straffen Zügel – so ging’s in rasender Fahrt weiter. Gertrud saß vornübergeneigt; angstvoll umklammerten ihre kleinen, kalten Finger meine Hand; nun schlug das eine Pferd im Rennen hoch aus, daß ein Regen von Wasser und Koth über uns hinflog – wieder hob Sternhagen die Peitsche.
„Um Gotteswillen!“ rief Gertrud, „schlage sie nicht, Oskar!“
„Ich will euch lehren, euch aneinander klemmen und nach mir ausschlagen –“ klang es vom Vordersitz – und Hieb auf Hieb hagelte nieder auf die verstörten Pferde, und fort ging die wilde Jagd. Gertrud hatte sich zagend enger an mich gedrängt. „O der Wald, der Wald!“ hörte ich sie leise sagen; „es giebt ein Unglück!“
„Darf ich Ihnen helfen, die Zügel zu halten?“ fragte ich Sternhagen, mich vorbeugend.
„Danke schön!“ sagte er ingrimmig, ohne den Kopf zu wenden; „lassen Sie sich nicht stören!“ – und im Laternenschein tauchte Stamm um Stamm auf, eilig wieder hinter uns versinkend in Nacht. Da huschte etwas über den Weg – was war’s? vermuthlich ein Stück Wild – und kerzensteil stiegen die beiden nun vollständig wild gewordenen verhetzten Thiere –; mit einem kurzen harten Ruck hielt der Wagen – aufs neue sauste die Peitschenschnur durch wie Luft – furchtbar ausgreifend sprangen die Pferde wieder an, hoch ausschlagend; nun schlug das Sattelpferd über den Strang und toste so weiter, noch toller gemacht.
So näherten wir uns in fliegender Fahrt dem Abhang.
„Oskar, halte die Pferde an!“ schrie jetzt Gertrud gellend, in Todesangst zitternd.
„Ach was, anhalten!“ grollte er – „mehr wie ein Genick kann man nicht brechen!“
Aber ich sah doch, wie er mit aller Kraft seines Riesenleibes sich in die Zügel warf, die Leinen fassend, daß sie straff standen wie gespannte Drahtseile – nun fingen die Pferde an zu gehorchen – da – Herrgott, was war das? Plötzlich schoß er hintenüber, hart gegen die Rückenlehne des Vorderstuhls anprallend, und seine Hände fuhren umher in der Luft, der Wagen flog aufs neue im rasenden, ungehemmten Lauf in kurzen Stößen von links nach rechts, aus dem Rennen der Pferde wurde Carriere: die Zügel waren gerissen!
Sternhagen lachte kurz und hart auf. „Nun giebt’s Kleinholz!“ hörte ich ihn sagen. Dann saß er, die Arme verschränkt, unbeweglich auf seinem Sitze, und herren- und zügellos rasten die Thiere dem Thalweg zu.
Gertrud lag halbtodt vor Entsetzen in meinen Arm geschmiegt. Wir wußten es alle drei – jetzt mußte etwas Furchtbares kommen: das ganze Drama unseres Lebens mußte sich hier im letzten Akte auflösen – jetzt sausten wir bergab – hoch sprang der Wagen über die Steine, die im Geleise lagen, rasselnd, donnernd, klirrend ging es hinunter – vor uns wurde es licht, da lag die Landstraße – aber um die scharfe Biegung konnten wir nicht – ich neigte mich über Gertrud. „Adieu, Gertrud!“ flüsterte ich – sie hob das Gesicht zu mir auf – da – ein donnernder [771] Krach, ein Ruck, ein Knistern, Brechen, Prasseln, alles auf einmal – unter uns wich der feste Boden, wir flogen durch die Luft – noch hielt ich Gertrud im Arm – dann ein harter Fall; nachher war’s, als wären wir in feuchtem, tiefem Laub begraben. Neben uns ein wüster, verzweifelter Kampf von Pferdebeinen, die in Trümmern arbeiteten, und das stöhnende Keuchen der zu Fall gekommenen Thiere.
Ich hob halbbetäubt den Kopf; dicht neben mir brannte noch schwälend eine losgeschlagene Wagenlaterne; ich griff danach und leuchtete Gertrud ins Gesicht; neben mir lag sie im tiefen welken Laub des Grabens; die schützende Hülle war ihr von Kopf und Nacken geglitten, das schöne, blonde Haar lag in wirren Strähnen um ihr marmorbleiches, von welken Blättern fast bedecktes Gesicht – ich neigte mich in namenloser Angst zu ihrem Munde, athmete sie? Ich horchte lange: endlich – ja! und ihre Augenlider zuckten ein wenig – Gott sei Dank!
Ich schob den schmerzenden Arm unter ihren Kopf und hob die Laterne, um weiter um mich zu schauen. Da sah ich Sternhagen drei Schritt von mir auf dem Gesicht liegen, die Hände weit vorgestreckt, die Füße im Laub des Grabens; sein Kopf lag hart an der blutbespritzten scharfen Kante des Pfahls, der die Tafel trug: „Hier erlegte am 27. August 1885 Graf Eberhard von Aller eine grobe Bache“ – am Geburtstag des Hingestreckten. Hier hatte ein anderer Schütze jetzt in furchtbarer Stunde ein edler Wild erlegt! Sternhagen starb in derselben Nacht, ohne zur Besinnung gekommen zu sein. –
Ohne Thränen stand Gertrud mit mir an seinem Todtenbett. Seit dem Augenblick, da sie erwacht war aus schwerer Ohnmacht, hatte sie kein Wort zu mir gesprochen. Jetzt sank sie am Sterbelager in die Kniee und verhüllte das Gesicht mit den Händen. Ich ging. Und ehe noch der Tag graute, klopfte ich an im Pächterhause zu Wulfshagen.
Die Glocke auf dem Friedhof hatte ausgeläutet. Sie hing, noch summend, unter ihrem Schutzdach im Stuhl, und der Glockenstrang schwankte hin und her im Winde. Der Herr von Finkenfelde und Kleinwulkow war mit großen Ehren zur Ruhe bestattet worden. Alle Leidtragenden waren vom Kirchhof gegangen. Nur ein Wagen hielt noch vor der Pforte, die wir so oft hatten klirren hören in den Tagen der Seligkeit, Gertrud und ich. Nur eine schlanke, blonde, schöne Frau, in tiefe Trauer gehüllt, stand noch am Grabe und schaute stumm und starr hinab auf den Sarg, an der Hand zwei blondlockige kleine Jungen, die noch nichts vom Leid des Lebens wußten. Und unter der Glocke stand ein einzelner Mann mit verbundenem Arm: das war ich.
Sie hob das blasse, liebe Gesicht und sah mich. Da warf sie einen letzten Blick ins Grab und kam langsam mit den Kindern auf mich zu. Sie reichte mir mit traurigem Lächeln die Hand. „Wann reisen Sie?“
„Heute abend!“
„Dann geleite Sie Gott in Ihr Heim!“
Unsere Hände lagen fest ineinander; wir tauschten einen langen, stummen Blick.
„Darf ich Dir schreiben, Gertrud?“ fragte ich.
„Ja!“
„Willst Du mir antworten?“
„Ja, Konrad!“
„Leb’ wohl!“
.„Gott segne und behüte Dich!“
Es war wieder Herbst. Ein wunderschöner Sommer war vergangen und wir hatten uns fleißig geschrieben, ganze Hefte und Bücher; immer länger wurden unsere Briefe – und es wehte durch sie hin der duftige, herzstärkende Hauch unseres zweiten Liebesfrühlings. Sehr kurz war nur mein letzter Brief: „Gertrud, darf ich kommen?“ Noch kürzer ihre Antwort: „Ja!“
Da waren wir wieder verlobt, und ich hob in stummer, übermächtiger Freude die Hände. Ich stand am Fenster und sah hinaus von meiner hohen Warte über das Meer, das im rothen Abendglanz weinfarben funkelte – und ich nahm Abschied von ihm: der einsame Vogel, der sein Nest unters Dach gebaut hatte, weil’s ihm unten zu laut und zu eng war – jetzt zog er zu Thal, jetzt hob er die Schwingen: hin zu ihr!
Zum drittenmal fuhr ich die altbekannte Straße entlang. Aber diesmal war der Herbsttag am stillsten, die Luft am duftigsten, die Sonne am hellsten!
Neben mir lag ein großer, prächtiger Todtenkranz – für Sternhagens Grab. Ich ließ den Wagen auf der Brücke am Grenzbach halten und wanderte langsam in Gedanken den schmalen Weg hinauf zum Friedhofshügel. Ich hatte nicht geschrieben, wann ich kommen würde. Wozu? Sie wartete mein – das war genug! Klirrend und kreischend ging die Thür; ich wanderte längs der Grabreihen bis dahin, wo jetzt ein dunkler Granitstein ragte auf dem Grabe dessen, der einst mir mein Glück gestohlen, geraubt – aber der es mir hatte wiedergeben müssen. Der Tod ist der große Schlichter im Streit, und es giebt keine Berufung gegen den Entscheid, den er gefällt hat, der große, allgewaltige Löser aller Fragen, an denen unser Herz und Verstand sich zermartert. Aber er hat nicht nur Trauerkränze, auch Kränze des Lebens in seiner Hand; und für den Kranz, den ich hier niederlege, senkt sich ein anderer Kranz von jungen Rosen auf Gertruds blonden Scheitel.
So dachte ich und legte das Blumengewinde nieder auf den Stein und hob das Auge; da saß sie auf der niedrigen Mauer, lichtumstrahlt, den Hut in der Hand, und sah mit wundersamem Lächeln auf mich. Ich that die Arme weit, weit auf – da kam sie eilend mit fliegendem Fuß den Gang herab – „Konrad, Konrad!“ Ich fing sie auf – stürmisch warf sie sich an mein Herz; die blauen Augen leuchteten, die rothen Lippen lachten und sie küßten mich: neun Jahre lagen zwischen unserm letzten Kuß und diesem! Und als sie hochathmend, ein seliges Weib, im Arm des seligen Mannes lehnte, der sie umfing, da sagte sie mit holdem Klang: „Wir haben doch einen gnädigen Gott gehabt!“
Ueber uns hing die Glocke. Wieder saßen wir auf dem Fußbalken – wie lange, das weiß ich nicht. Mein Kutscher war jedenfalls drüber eingeschlafen.
„Konrad, willst Du meine Kinder lieb haben?“ fragte sie leise.
„Wie mein eigen Blut!“
„Konrad, willst Du mich immer lieb haben, wie Du’s jetzt hast?“
„Nein; mehr, immer mehr; von Jahr zu Jahr wachsen wir mehr zusammen; nicht das erste Jahr ist das beste: die Flamme wächst, die Liebe wird vertieft; der Glaube an einander wird Erfahrung –“ und wieder küßte sie mich mit der Gluth der Jugend.
Die Kirchhofpforte klirrte; ein alter Mann kam herein; es war der mit dem Läuten Beauftragte. Wir gingen den Hügel hinab; Gertrud lehnte sich auf meinen Arm; hinter uns her hallten feierlich, friedlich die tiefen Glockenklänge, überm Feld verfliegend. – –
Blätter und Blüthen.
Gesundheitsregeln bei geistiger Arbeit. Dem menschlichen Körper kann man schon etwas zumuthen und dem Geiste noch mehr. So meinen viele und wüthen drauf los –– zu guten und auch schlechten Zwecken. Eine Zeit lang erträgt auch der Geist die Zumuthungen, bis er schwach wird und seine frühere Leistungsfähigkeit verliert. Dann will man ihm helfen, trinkt Phosphorwein, ißt Fische und wendet andere ähnliche Mittelchen an. Sie helfen natürlich nicht, und endlich muß zu dem Radikalmittel, dem „Ausspannen“, gegriffen werden.
Es ist schon viel über die Hygieine des Geistes geschrieben worden, namentlich seitdem das blasse Gespenst der Nervenschwäche bei uns umgeht. Aber trotzdem dürfte es jetzt an der Zeit sein, wieder einmal einige Gesundheitsregeln für geistige Arbeiter in Erinnerung zu bringen, da der Winter vor der Thür steht und für so viele die Zeit der Erholung in der freien Natur aufhört und die Arbeitszeit daheim oder im Bureau beginnt.
Gleichmäßige Reize ermüden uns und ebenso ermüdet auch das Gehirn rasch, wenn es anhaltend in einer und derselben Weise thätig ist. Darum gilt als erste Regel der Hirndiätetik, daß für genügende Abwechslung gesorgt werde.
Jedes Organ unseres Körpers bedarf nach der Arbeit einer Ruhepause, damit es sich erholen kann; auch dem Gehirn muß diese Erholung in genügendem Maße gewährt werden. Man findet sie nicht im Theater oder am Stammtisch in der Kneipe. Das ermüdete Gehirn erholt sich im Schlaf und darum muß der geistig Arbeitende in erster Linie für [772] genügenden Schlaf sorgen. Anekdoten, daß berühmte Männer mit drei oder vier Stunden Schlaf auskamen, dürfen nicht maßgebend sein, in der Regel muß die Dauer des Schlafes länger bemessen sein und die mindeste Forderung beträgt 7 bis 8 Stunden.
Traurig ist es um denjenigen bestellt, der unter starken Erregungen arbeiten muß; er reibt sich gar schnell auf. Er muß die Erregung vermeiden, muß sie niederzuhalten wissen; zur Diätetik der Geistesarbeit gehört nothwendig auch die Selbstbeherrschung und die Ruhe, die deren heilsame Folge ist. – Doch damit sind die Gesundheitsregeln nicht erschöpft. Ein gesunder Geist lebt nur in einem gesunden Körper, und der geistige Arbeiter muß auch für diesen sorgen. Zweckmäßige Ernährung, Turnen, Bewegung in freier Luft darf gerade der durch seinen Beruf an das Zimmer Gefesselte nicht unterlassen. Was den Körper erfrischt, das erfrischt auch den Geist. Aber auch während der geistigen Arbeit muß den Bedürfnissen des Körpers Rechnung getragen werden. Sitzen oder stehen – das ist in der Regel die Frage, die sich unsere Leute vorlegen. Weder das eine noch das andere, lautet die Antwort, denn das anhaltende Sitzen ist schädlich und das anhaltende Stehen gleichfalls. Also auch hier muß Abwechslung herrschen. Der Arbeitsplatz muß dementsprechend eingerichtet sein und es gehören zu ihm auch Teppiche, Strohdecken oder Filzschuhe, damit die Füße warm erhalten werden. Man muß eben für den ganzen Körper sorgen von Kopf bis zum Fuß, wenn alles in richtiger Harmonie bleiben soll.
Das sind die wichtigsten Gesundheitsregeln bei geistiger Arbeit. Niemals sollte dieselbe ununterbrochen jahrelang fortgesetzt werden: einmal im Jahre muß jeder ausspannen und in die Ferien gehen. Thut er es nicht, so geht er nicht gleich zu Grunde; wenn er sich aber brüstet, daß er es aushalten kann, so übersieht er, daß sein Geist nicht so frisch und klar ist wie früher; er erfährt es einmal später durch die Kritik anderer – und leider oft zu spät. *
Von der Nase. Sie ist ein recht wichtiger Theil unseres Körpers – die Nase. Sie bereitet uns oft so viel Aerger und Verdruß, während Nasenfreuden recht selten sein sollen. Der Volksmund beschäftigt sich viel mit ihr und es giebt Kenner, die aus der Gestalt des Riechorgans auf den Charakter des Menschen schließen. Da kommt eine Dame mit spitzer Nase und es heißt gleich, daß sie zänkisch und leicht zum Zorn geneigt sei; ein kleines Näschen soll ein Temperament verrathen, das Veränderung liebt und dabei weichlich ist. Dreist sollen die armen Menschen sein, die lange und gebogene Nasen haben, und deren Riechorgan zu dick gerathen und zu groß gewachsen ist, die werden als roh gestempelt. Selbst die Dummheit hat man Personen mit stumpfer Nase anhängen wollen. Wie wir sehen: alles Laster und Fehler; von Tugenden, die aus der Nase herausleuchten, ist keine Rede!
So das „Volk“! Dann kamen die „Gelehrten“ und maßen die Nasen, und da blieb wieder ein Makel an ihnen hängen. Die Nase hat einen Fehler, sie ist niemals vollkommen symmetrisch, das eine Nasenloch ist stets größer als das andere und auch die Nasenspitze schaut nicht immer gerade in die Welt hinaus, sondern wendet sich meist etwas nach links oder rechts. Die Wissenschaft hat der Nase jedoch wenigstens eine Bedeutung zuerkannt. Der knöcherne Nasenrücken steht mit der Kultur der Rasse in gewisser Wechselbeziehung. Höher gebildete Völker haben auch einen höheren Nasenrücken. Man hat die zahlreichen Formen der menschlichen Nase in eine Ordnung zu bringen gesucht, und wir führen, um uns weitläufige Beschreibungen zu ersparen, die Hauptformen dem Leser leibhaftig vor. Da sind sie: 1) Adlernase, 2) gerade Nase, 3) Stumpfnase, 4) Habichtsnase, 5) Semitennase. Sie kommen selten rein vor, und wir begegnen im Leben einer Unzahl von Mischtypen. Nichts desto weniger hat man gewissen Rassen und Nationen gewisse Nasenformen zusprechen wollen. Eine Statistik, wie wir eine solche für Blonde und Brünette besitzen, fehlt uns in Bezug auf die Nasen, und so müssen die Nationalnasen vor der Hand noch als fragliche Größen angesehen werden. Den Versuch einer Nasenstatistik hat Prof. Johannes Ranke in München gemacht. Er untersuchte eine Anzahl jugendlicher altbayerischer Männer und fand bei ihnen folgende Nasen heraus: Adlernasen 31 Prozent, gerade Nasen 44 Prozent, Stumpfnasen 25 Prozent. Die Habichtsnase war in reiner Form nicht vertreten, sondern stets mit einer der oben genannten gemischt. Was nun die weibliche Nase anbelangt, so wissen wir von ihr nur zu berichten, daß sie kleiner und feiner ist als die männliche … im Durchschnitt selbstverständlich. Die Lehre von der Nase ist, wie wir sehen, noch keineswegs ausgebildet, und wer sich Nasenstudien widmen will, kann leicht schöne Entdeckungen machen. *
Aloys Löher und seine Siegfriedstatue. (Zu dem Bilde S. 757.) Unsere Leser erinnern sich vielleicht noch der Abbildung einer schönen Bronzegruppe, welche die „Gartenlaube“ in Nr. 7 des Jahrgangs 1884 brachte und welche die Vertheidiger der einzigen im Kriege von 1870 und 1871 verloren gegangenen deutschen Fahne darstellte. Es war das bedeutende Werk, in dem der aus dem Felde heimgekehrte, damals wenig über zwanzigjährige Aloys Löher die heroischen Eindrücke einer großen Zeit niederlegte und das später auf dem Marktplatz von Thorn zur Aufstellung kam.
Seitdem hat der Künstler, meist unter Leitung seines Lehrers Zumbusch in Wien, unermüdlich weiter gestrebt und geschaffen. Er arbeitete mit an dem Kriegerdenkmal zu Augsburg, an dem Beethovendenkmal und an dem Standbild der Maria Theresia zu Wien, während zugleich zahlreiche Büsten seine Meisterschaft im Porträtfache bekundeten. Seit 1883 ist der Künstler nach der Neuen Welt übergesiedelt und dort, in New-York, ist er in letzter Zeit mit einer neuen Schöpfung seiner heroischen Richtung, mit einem „Siegfried“, hervorgetreten, von dem wir heute eine Abbildung vorführen. Hoch schwingt der jugendliche Held der germanischen Sage das furchbare Schwert, welches Regino, der Zwerg, ihm geschmiedet hat, und das so stark und so scharf ist, daß er einen Ambos mit ihm spalten kann. Mit diesem Schwert erschlägt er den Drachen, dessen Blut seinen Leib undurchdringlich härtet gegen Hieb und Stoß, und erbeutet den verderbenschwangeren Hort der Nibelungen, der ihm selbst ein entsetzensvolles Ende bereitet.
Aber in dem Augenblicke, den der Künstler uns vorführt, fühlt der Götterjüngling nur die sieghafte Gewalt, die mit diesem Schwerte in seine Hand gegeben ward, und es ist, als ob ein geheimnißvoller, mächtiger Strom von Kraft aus der geschwungenen Waffe sich in seine gewaltigen Glieder ergösse. S.
Sackträger und Elevatoren. In verschiedenen Hafenstädten sind in letzter Zeit Getreideelevatoren erbaut worden, vermittelst deren die Frucht vom Schiff ausgebaggert und durch ein endloses Band, welches sich zwischen Lager und Hebeapparat bewegt, aufgefangen und nach dem Lager übergeführt wird. Durch eine andere Vorrichtung kann das Getreide auch wieder vom Lager auf das Schiff oder die Eisenbahn übergeladen werden. Ein solcher Elevator soll 700 Centner Getreide stündlich ein- oder ausladen können. Damit ist der allmähliche Untergang der Zunft der Sackträger, deren Monopol das Ein- und Ausladen jahrhundertelang war, endgültig besiegelt. Ein Gasmotor von 25 Pferdekräften, der eine solche Maschine in Bewegung setzt, thut jetzt die Arbeit für Hunderte jener herkulischen Gestalten, deren Stolz ihre außerordentliche Körperstärke war.
Ant. K. in H. So ungefähr haben Sie richtig gerathen. Nach dem „Nautical Magazine“ nimmt als Seehafen die erste Stelle London ein mit 12 165 396 Reg. Tons. Ihm folgt New-York mit 11 866 801 Tons. Die fünfte Stelle als Ein- und Ausfuhrhafen und die achte als Durchgangs- und Kohlenhafen nimmt Hamburg ein mit 7 578 837 Tons; Antwerpen mit 6 801 980 Tons nimmt als Ein- und Ausfuhrhafen die achte, als Durchgangshafen die elfte Stelle ein.
Ch., Solingen. Was Ihre erste Frage anbetrifft, so müssen wir Sie bitten, sich an einen Rechtsanwalt zu wenden. – Wenn die von Ihnen angegebenen Zahlen richtig sind, so gehören Sie jetzt der Landwehr II. Aufgebots an. Zu Kontrolversammlungen dürfen Sie dann nach §115 der „Deutschen Wehrordnung“ im Frieden nicht herangezogen werden.
Dr. C. G. in H. bei Wien. „Dito und Idem“ ist Pseudonym für die Königin Elisabeth von Rumänien (Carmen Sylva) und Frau Mite Kremnitz.
P. D. in Wien. Für das freundlichst angebotene Märchen haben wir leider keine Verwendung. – Der Preis des „Gartenlaube“-Kalenders beträgt 60 Kreuzer ö. W.
Hausfrau in K. Jede Hausfrau kann Kleider und Vorhänge, überhaupt leinene Stoffe, auf leichte Art und Weise unverbrennlich machen. Man löst 40 g borsaures Natron (Borax) und 280 g schwefelsaures Ammoniak (beide Chemikalien liefert jedes Kräutergewölbe und jede Apotheke) in 1½ Litern Wasser auf. In diese Lösung taucht man die unverbrennlich zu machenden Kleider, Spitzenvorhänge etc. ein und ringt sie dann aus. Die so behandelten Stoffe brennen nicht; ja sie gerathen nicht einmal ins Glimmen, auch wenn man sie längere Zeit in die Flamme hält.
A. K., Sprachlehrer in B. Unseres Wissens das einzige Werk der Art. Lassen Sie sich doch einmal von Ihrem Buchhändler oder direkt vom Spemannschen Verlag in Stuttgart einen Prospekt über die neueste 7. Auflage des Piererschen Konversations-Lexikons kommen.
Feind der Vogelbeere in R. So ganz unbedingt dürfen Sie die Vogelbeeren doch nicht verurtheilen. Die hochrothen glänzenden Früchte der Eberesche, welche unter dem Namen „Vogelbeeren“ ober „Vogelkirschen“ bekannt sind und oft nur als Lockspeise beim Vogelfang gebraucht werden, bilden für manche Gegenden, z. B. für die Kreise Malmedy, Prüm, Euskirchen in der Eifel, eine nicht unbedeutende Einnahmequelle. Dort werden die Beeren gesammelt und vorzugsweise zur Branntweinbereitung benutzt; auch zu Gelee lassen sie sich herrichten. Die in den Früchten enthaltene Apfelsäure findet in der Chemie Verwendung.
Inhalt: Sakuntala. Novelle von Reinhold Ortmann (Fortsetzung). S. 757. – Die Volksheime in Dresden. Von Dr. Wilhelm Bode. S. 762. – Der Achensee. Schilderung von Max Haushofer. S. 764. Mit Abbildungen S. 760, 761 u. 765. – Unter dem Glockenstuhl. Novelle von Gerhard Walter (Schluß). S. 767. – Friedensverhandlungen. Illustration. S. 769. – Blätter und Blüthen: Gesundheitsregeln bei geistiger Arbeit. S. 771. – Von der Nase. Mit Abbildungen S. 772. – Aloys Löher und seine Siegfriedstatue. S. 772. Mit Abbildung S. 757. – Sackträger und Elevatoren. S. 772. – Kleiner Briefkasten. S. 772.
Diese reizende Erzählung der beliebten Verfasserin ist den Abonnenten der „Gartenlaube“ bekannt, und die Buchausgabe in elegantem Einband wird gewiß vielen als Festgeschenk für Freunde und Anverwandte willkommen sein.