Die Gartenlaube (1889)/Heft 46
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No. 46. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Sakuntala.
Gerhard war gerade zur rechten Zeit gekommen, denn kaum eine
Minute später sah er in dem schmalen Gange des Opernhauses
die Gestalt Ritas auftauchen, die er trotz des seidenen Tuches, welches
Kopf und Gesicht zum größten Theil verhüllte, auf der Stelle
erkannte. Rita war in einen kostbaren Pelzmantel gehüllt, den
sie fröstelnd über der Brust zusammenzog, und die Zofe mit dem
Schmuckkästchen folgte ihr auf dem Fuße nach. Der Platz war
menschenleer und keine Neugier eines müßigen Gaffers war zu
fürchten. So trat ihr Gerhard ohne Besinnen in den Weg.
„Guten Abend, Rita! Ich bitte Dich, mir einen Augenblick Gehör zu schenken! Ich muß Dich in einer überaus dringenden und wichtigen Angelegenheit sprechen.“
„Doch unmöglich hier auf der Straße und in diesem Sturm!“ klang es mit vorsichtig gedämpfter Stimme hinter dem seidenen Tuche hervor. „Du kannst mich ja auf der Heimfahrt begleiten. – Geben Sie mir das Kästchen, Franziska, und benützen Sie eine Droschke!“
Gerhard war ihr beim Einsteigen behilflich und setzte sich an ihre Seite. Der enge Raum des Wagens, dessen Fenster heraufgezogen waren, erfüllte sich in einem Augenblick mit dem süßen, berauschenden Duft des feinen Parfums, welcher Ritas Kleidern entströmte, und ihre schöne Gestalt schmiegte sich eng an die Gerhards.
„Ach, wie abgespannt ich bin!“ klagte sie, indem sie das schützende Seidentuch lüftete und ihr Köpfchen matt an seine Schulter sinken ließ. „Hoffentlich ist es nichts Aufregendes, mein Freund, das Du mir mitzutheilen hast!“
Sicherlich konnte die Einleitung für seine Neuigkeit keine unglücklichere sein, aber er durfte trotzdem nicht zögern, ihr ohne Umschweife alles zu sagen.
„Es ist eine hohe Anforderung, welche ich an Deinen Opfermuth und an Dein frauenhaftes Mitgefühl zu stellen habe, meine liebe Rita. – Astrid Bernhardi ist schwer erkrankt; sie bedarf einer treuen Pflegerin, und für diese Nacht wenigstens könnte ich ihr eine solche nicht verschaffen, wenn Du es ablehnen würdest, den Samariterdienst großmüthig zu übernehmen.“
„Ich? – In der Rolle einer barmherzigen Schwester? Ist das Dein Ernst, Gerhard?“
„Mein voller Ernst! Und ich wiederhole, daß ich das Opfer, welches Du Deiner Liebe zu mir damit brächtest, seinem vollen Werthe nach anerkenne.“
„Das wäre immerhin eine gewisse Belohnung,“ sagte sie, und es war aus dem Ton ihrer Worte schwer zu errathen, ob sie spottete oder ernsthaft sprach. „Und es handelt sich wohl gar um eine ansteckende Krankheit? Wenigstens würde das meiner Selbstverleugnung einen besonders heldenhaften Glanz verleihen.“
„Ich denke nicht, daß von einer Gefahr für Dich die Rede sein könnte, Rita! Der Arzt würde sonst nicht unterlassen haben, mich darauf aufmerksam zu machen.“
„So laß mir doch zu meiner eigenen Befriedigung diesen Glauben! Aber gestatte mir zugleich, es einigermaßen befremdlich zu finden, daß man gerade Dir die Pflicht auferlegt hat, eine Wärterin zu bestellen.“
„Es erklärt sich leider einfach genug! Astrid erkrankte an diesem Abend in meiner Wohnung.“
„In Deiner Wohnung?“
Wie ein zorniger Aufschrei kamen die Worte aus ihrem Munde, und mit einer heftigen Armbewegung warf sie den Pelzmantel nach beiden Seiten zurück, als ob es ihr plötzlich zu heiß geworden wäre in der dichten Hülle.
„In Deiner Wohnung also!“ wiederholte sie, da Gerhard nicht sogleich antwortete, mit mühsam erzwungener Ruhe. „Und Du hast mich wirklich hier vor dem Theater zu keinem anderen Zwecke erwartet, als um ein so unerhörtes Ansinnen an mich zu stellen?“
Auch Gerhard wurde es in der schwülen Luft des geschlossenen Wagens unerträglich eng und heiß. So oft er auch an diesem unglückseligen Abend schon hatte die
[774] Erfahrung machen müssen, daß der oberflächliche Schein der Sünde für jedermann hinreichend sei, das Vorhandensein dieser Sünde als unzweifelhaft anzunehmen, so hatte ihn doch keine jener Verdächtigungen so tief verletzen können wie die aus dem Munde des Weibes, welches er liebte.
„Ich vermag Deine Erregung nicht zu begreifen, Rita,“ sagte er, sich nur mit Anstrengung bezwingend. „Du weißt, daß Astrid keinen Freund hat als mich. Irgend ein Niederträchtiger, der mir furchtbare Rechenschaft geben soll, muß ihr ein schweres Leid zugefügt haben, und niemand war da, bei dem sie Schutz und Beistand suchen konnte, als ich. In Sturm und Wetter eilte sie zu mir, und noch ehe sie imstande gewesen war, mehr als zehn Worte zu sprechen, brach sie ohnmächtig zusammen.“
„Ein rührendes Märchen – und höchst glaubhaft vorgetragen. Aber doch schließlich wohl auf kindlichere Gemüther berechnet, als es das meinige ist. Ich bitte Dich, dem Kutscher zuzurufen, daß er halte.“
„Weshalb, Rita? – Was soll das bedeuten?“
„Es soll bedeuten, daß ich Deine weitere Begleitung für eine Verschärfung des doppelten Schimpfes ansehen würde, den Du mir heute angethan hast. Ich wüßte nicht, daß wir noch etwas weiteres mit einander zu reden hätten.“
„Und das – das ist Deine Antwort, Rita? – Du schenkst meiner Versicherung keinen Glauben? Du hältst mich für fähig, ein verbrecherisches Doppelspiel getrieben zu haben? – Nein, das ist unmöglich! Eine thörichte Aufwallung hat Dich hingerissen, und Du mußt auf der Stelle einsehen, daß Du mir ein schweres Unrecht zugefügt hast!“
„Verlangst Du nicht vielleicht gar, daß ich Dich und Deine – Deine Freundin demüthig um Verzeihung bitte?“ fiel ihm Rita scharf und höhnisch ins Wort. „Gieb Dir keine Mühe, mein Lieber! Einer Nebenbuhlerin dieses Schlages räume ich kampflos das Feld.“
„Rita! Du weißt nicht, was Du sprichst! Meine Liebe zu Dir hat manche Probe bestanden, an der eines andern Mannes Neigung vielleicht Schiffbruch gelitten hätte. Weder Dein Wankelmuth und Deine Launen, noch Deine beharrliche, unbegreifliche Weigerung, endlich auch vor aller Welt die Meine zu werden, haben mich zu beirren vermocht. Aber es giebt Kränkungen und Beleidigungen, die ein Mann nicht demüthig hinnehmen darf, wenn er die Achtung vor sich selbst nicht verlieren will. Höher noch als meine Liebe steht mir meine Ehre!“
„Und dies zarte Ehrgefühl hat Dich doch nicht gehindert, ein gegebenes Versprechen feige zu brechen! Geh’, mein Freund! Du weißt – ich habe zu oft auf dem Theater gestanden, als daß ich mir die Empfänglichkeit bewahrt haben sollte für tönende Redekünste.“
Schon huschten gleich schattenhaften Gespenstern die kahlen Bäume des Thiergartens an den Wagenfenstern vorüber. Nur wenige Minuten noch – und das Ziel der Fahrt war erreicht. Jedes der beiden fühlte, daß in diesen wenigen Minuten die Entscheidung über die Zukunft ihrer Liebe lag. Gerhard athmete schwer. Das Herz war ihm zum Zerspringen voll und ihn dürstete nach einem Athemzuge frischer Luft. Der berauschende Duft, der von diesem Weibe ausging, drohte ihn zu betäuben.
„Ich darf solche Worte nicht ertragen, Rita! Noch einmal flehe ich Dich an: wirf diesen thörichten Verdacht von Dir und sei barmherzig gegen eine Unglückliche, deren reiner Kindessinn nichts weiß von diesen häßlichen Dingen, welche Dein Argwohn ihr zuschreibt. Laß uns für immer begraben, was in dieser traurigen Viertelstunde zwischen uns gesprochen wurde, und folge mir an das Lager der armen hilflosen Kranken!“
„Niemals!“
„Und wenn Du ihr damit das Leben retten könntest?“
„Niemals! – Und gerade dann am wenigsten!“
Ein lautes Klingen und Klirren von zerbrechendem Glas folgte diesen harten, mit liebloser Schärfe hervorgestoßenen Worten. Mit wuchtigem Faustschlage hatte Gerhard die Scheibe des Wagenfensters zertrümmert, neben welchem er saß, und mit donnernder Stimme hatte er dem erschrockenen Kutscher sein „Halt!“ zugerufen. Noch ehe die Pferde standen, war er draußen auf der Straße. Er warf keinen Blick nach der Sängerin zurück, und er rief ihr kein Wort des Abschieds zu, aber während er sich mit langen Schritten entfernte, hörte er noch ihre schöne, glockenhelle Stimme: „Fahren Sie nur weiter! – Es ist alles in Ordnung.“
Mitternacht war längst vorüber und drinnen im Hause wie draußen auf der Straße war es todtenstill. –
Ein dunkelfarbiger Schirm dämpfte das Licht von Gerhards Studirlampe, und das Antlitz der jungen Kranken lag in tiefem Schatten. Von dem Lehnsessel am Kopfende des Bettes her ertönten die tiefen und regelmäßigen Athemzüge der wackeren Frau Runge, die nach den Mühseligkeiten ihres anstrengenden Tagewerks bald in friedlichen Schlummer gesunken war. Sicherlich wäre es eine Unbarmherzigkeit gewesen, sie zu wecken, und es bedurfte dessen ja auch nicht, denn es war einer da, dessen Augen sich nicht im Schlafe schlossen, wie heiß es auch in ihnen brennen mochte und wie schwer auch ihre Lider waren.
Das Haupt in die Hand gestützt, saß der Künstler an seinem Schreibtisch, und von den Notenblättern hinweg, an denen er hatte arbeiten wollen, schweifte sein Blick immer wieder nach dem verdunkelten Schlafzimmer, in welchem die unschuldige Ursache all jener Stürme ruhte, die ihm der heutige Abend gebracht hatte. Gerhard war, nachdem er Rita verlassen hatte, unverweilt nach Hause zurückgekehrt, denn es gab ja keine Möglichkeit, noch für diese Nacht eine andere Pflegerin zu beschaffen, und zudem befiel ihn plötzlich eine unbeschreibliche Unruhe und die namenlose Angst, daß er überhaupt schon zu spät kommen könnte. Als er dann gesehen hatte, daß Astrid noch immer in dem nämlichen Zustande schwerer Bewußtlosigkeit sei, wie er sie verlassen hatte, war er für eine kurze Spanne Zeit im Zweifel gewesen, ob er zurückbleiben oder sich noch für diese Nacht in einen Gasthof begeben sollte. Der abscheuliche Verdacht, der ihm an diesem Abend nun schon in den verschiedenartigsten Gestalten entgegengetreten war, konnte ja möglicherweise durch sein Verweilen neue Nahrung erhalten, und die Rücksicht auf das Gerede der Welt, die er bis dahin kaum gekannt hatte, lag ja nun einmal auf ihm wie eine centnerschwere Last. Aber er fühlte doch noch eine andere Bürde auf seinem Herzen, die Bürde der schweren Verantwortung, die er durch das feierliche Gelöbniß am Sterbebette seines Lehrers auf sich genommen hatte, und es bedurfte nur eines kurzen Kampfes, um ihn zu der Ueberzeugung gelangen zu lassen, daß diese heilige Pflicht den Sieg davontragen müsse über die kleinliche Furcht vor der Welt und ihren engherzigen Vorurtheilen.
Er war geblieben; und nun lauschte er mit gespanntester Aufmerksamkeit nach Astrids beschattetem Lager hinüber, von jedem winzigen Geräusch, welches da vernehmlich wurde, erschreckt wie von dem Vorboten irgend eines fürchterlichen Ereignisses. Mehrmals schon war er aufgestanden, war leise auf den Zehen zu dem Bett hinüber geschlichen und hatte sich vorsichtig auf das feine, bleiche Gesichtchen herabgebeugt, das jetzt in einer nur zu bedrohlichen Weise dem Antlitz ihres Vaters glich, so wie er es zuletzt in der kleinen halbdunklen Stube auf dem weißen Bettkissen gesehen hatte. Die Angst, welche sich in solchen Augenblicken wie eine erstickende Eisenklammer um sein Herz legte, hätte ihn fast verführt, mit zärtlicher Stimme laut ihren Namen zu rufen und sie in seine Arme zu nehmen, um das schwache Daseinsfünkchen, welches in diesem zarten Körper nur noch leise und ängstlich zu glimmen schien, mit dem Hauch seiner eigenen strotzenden Lebenskraft zu heller, lodernder Flamme anzufachen.
Er dachte längst nicht mehr an Rita und an den stürmischen, feindseligen Abschied, welchen er von ihr genommen hatte. All sein Fühlen und Denken richtete sich ausschließlich auf Astrid, und was sonst an diesem Abend geschehen sein mochte, lag hinter ihm wie ein wirrer Traum, dessen Erinnerung verschwindet, um vielleicht erst nach langer, langer Zeit wie durch einen Zufall im Gedächtniß wieder aufzutauchen.
Gewaltsam zwang er seine Gedanken noch einmal zu seinem Werke zurück, aber er hatte kaum einen einzigen Strich gethan, als er den Bleistift von sich schleuderte und wie elektrisirt in die Höhe fuhr. Leise zwar wie ein Hauch, wie ein sehnsüchtiger Ruf aus weiter, weiter Ferne, aber in der lautlosen Stille der Nacht doch deutlich vernehmbar, war der Klang seines eigenen Namens an sein Ohr gedrungen, und wie er nun sein Gesicht nach Astrids Lager hinwendete, hörte er’s noch einmal und etwas lauter von ihrer weichen, schwachen Stimme:
„Gerhard! Gerhard!“
Heiß wie ein Feuerstrom drängte ihm die Freude zum Herzen, und blitzschnell war er an ihrer Seite. Astrid lag noch immer [775] mit geschlossenen Augen da; nur die ineinander gefalteten Hände hatten sich gelöst, und während die Linke unwillkürlich nach der fieberheißen Stirn gegriffen hatte, ruhten die schlanken Finger der Rechten fest auf der Brust.
„Astrid! Liebe Astrid!“ flüsterte Gerhard, sich zu ihr neigend. „Du riefst nach mir – ich bin bei Dir! Hast Du einen Wunsch, den ich Dir erfüllen kann?“
Auch jetzt hob sie die Lider nicht; aber sie mußte ihn gehört und verstanden haben, denn über ihre eben noch schmerzlich gespannten Züge ging es wie ein Schimmer der Freude, fast wie ein Lächeln.
„Ich weiß es – Du bist bei mir!“ hauchte sie. „Und Du wirst mich nicht von Dir stoßen! – Sage mir noch einmal, daß Du es nicht thun wirst!“
„Gewiß nicht, liebe Astrid! Du wirst hier bleiben, so lange Du selbst es wünschest!“
„Ja! Ich werde immer – immer bei Dir bleiben! Du kannst ja nicht ahnen, wie ich mich danach gesehnt habe, bei Dir zu sein!“
Gerhard erschrak. Scheu und betroffen, als wäre ihm selber ein unvorsichtiges Wort entschlüpft, blickte er zu der Aufwärterin hinüber. Die aber schlief womöglich noch fester als vorher, und für den Augenblick wenigstens war kein Belauschtwerden von ihrer Seite zu fürchten. Trotzdem empfand Gerhard eine Beklemmung, die das Pochen seines Herzens lauter und seinen Athem rascher werden ließ. Astrid sprach im Fieberwahn – daran zweifelte er nicht mehr. Aber war es denn möglich, daß ein Kranker in diesem Zustande Dinge sagte, von denen seine Seele in den Tagen der Gesundheit nichts wußte? Er suchte nach einem Wort, das sie beruhigen oder ihre Phantasie mit einem anderen Bilde erfüllen sollte; aber er vermochte dies Wort nicht zu finden, und so fuhr sie nach einem kleinen Schweigen in demselben weichen, traumhaften, wundersam bestrickenden Tone fort:
„O, wie viel habe ich gelitten in dieser langen Zeit der Trennung! – Und weil nichts Falsches zwischen uns sein soll, Gerhard – darum muß ich Dir’s gestehen, auch wenn Du mich darum für recht schlecht und thöricht hältst. Ich war eifersüchtig auf die andere, die Dich immer sehen durfte und die Du Deine Freundin nanntest. Aber ich habe trotzdem geduldig auf Dich geharrt, weil ich wußte, daß Du kommen würdest, mich zu holen, und weil ich wußte, daß Du keine andere liebst als mich allein.“
Nun war es ausgesprochen, das verhängnißvolle Wort, vor welchem Gerhard gezittert hatte, seitdem Astrid begonnen, ihren lieblichen Phantasien einen lauten Ausdruck zu geben, und nach welchem seine Seele doch gedürstet hatte, ohne daß er sich dessen vielleicht bewußt geworden war. Seine Kniee bebten, alles Blut schien ihm wild zum Herzen zu drängen, und doch brannte es auf seinen Wangen wie heiße Scham darüber, daß er hier ohne Widerstreben ein Geständniß entgegengenommen habe, welches unter anderen Umständen sicherlich weder körperliche noch seelische Qualen diesen keuschen Mädchenlippen hätten entreißen können.
Er wollte fliehen, er wollte die schlafende Aufwärterin wecken, aber er gelangte nicht dazu, das eine oder das andere zu thun. Wie unter einem Zauberbann, dem er sich vergebens zu entwinden trachtete, verharrte er in regungslosem Schweigen, und unverwandt ruhte sein Blick auf dem bleichen, lächelnden Munde Astrids, die mit der glücklichen Ahnungslosigkeit einer Träumenden weiter sprach:
„Manchmal freilich – und es waren traurige Stunden, Gerhard! – manchmal habe ich auch daran gezweifelt – denn ich bin ja so arm und unbedeutend, und Du – Du –“
Ihre Worte erstarben in einem unverständlichen Murmeln. Plötzlich aber preßte sie, wie von einer schmerzlichen Empfindung durchzuckt, beide Hände auf das Herz und ihr Gesicht nahm einen gespannten, angstvollen Ausdruck an.
„Wer war es, der mir das zugerufen hat? – O, daß ich sterben könnte, wenn es Wahrheit ist! – Aber es ist nicht Wahrheit – nein, nein, nein! Sage mir nur ein einziges Wort, Gerhard! Sage mir’s ganz leise, daß Du mich liebst!“
Die weit geöffneten, fieberglühenden Augen leuchteten ihm entgegen, so angstvoll und in so heißem, inbrünstigem Flehen, daß man wohl auf der ganzen Erde vergeblich nach dem Menschen gesucht haben würde, der ihnen widerstanden hätte.
Und rasch, ohne Zögern und Bedenken, neigte Gerhard seine Lippen ganz nahe an das Ohr der Kranken.
„Ich liebe Dich, Astrid!“ flüsterte er.
„Und keine andere als mich? – Nur mich allein?“
„Dich nur allein, Astrid!“
„Ich danke Dir, mein Geliebter! Aber ich bin thöricht! Ich – ich – habe es ja – gewußt.“
Müde fiel das heiße Köpfchen zurück. Die seidenen Wimpern lagen wieder auf den schmalen Wangen, und in dem Zimmer war von neuem nichts anderes zu vernehmen als das tiefe Athemholen der schlafenden Wärterin. – –
In der Frühe des nächsten Tages kam der Arzt in Begleitung einer Diakonissin, welche fortan die Pflege der Kranken übernehmen sollte. Gerhards bleiches und abgespanntes Aussehen, seine dunkel geränderten Augen fielen ihm auf.
„Sind Sie während der ganzen Nacht hier gewesen, mein Herr?“ fragte er.
„Ja! Ich konnte trotz meiner Bemühungen gestern abend eine Wärterin nicht mehr auftreiben, und da ich Frau Runge bereits in tiefem Schlafe auf ihrem Sessel fand, zog ich es vor, dazubleiben.“
„Jetzt aber ist auch Ihnen Ruhe und Schonung dringend nöthig! – Sie können die Sorge für die Patientin nunmehr getrost der Schwester Maria und mir überlassen. Nur einige Fragen noch! Wie verlief die Nacht? Ist unsere arme Kranke vorübergehend zum Bewußtsein gekommen?“
„Nicht, daß ich es bemerkt hätte, Herr Sanitätsrath.“
„Und hat sie phantasirt?“
„Ja!“
Eigenthümlich zögernd und gepreßt kam diese Bestätigung aus dem Munde des Künstlers. Aber der Sanitätsrath dachte nicht daran, dafür nach einer besonderen Deutung zu suchen.
„Hum!“ machte er, und sein Gesicht wurde wieder recht bedenklich. Das Anzeichen, welches er da festgestellt hatte, war jedenfalls von wenig erfreulicher Art. Er prüfte die Geschwindigkeit des Pulsschlages und stellte die Körperwärme der Kranken fest. Dann sprach er eine geraume Weile leise mit der Diakonissin, deren sanftes, gleichmäßig ruhiges Gesicht nicht die geringste Neugier oder Verwunderung ausdrückte über das, was sie hier vorfand. Gerhard, der unterdessen an das Fenster getreten war und auf die Straße hinabgeschaut hatte, wendete sich endlich wieder in das Zimmer zurück.
„Sind Sie der Meinung, daß sich ihr Befinden verschlechtert hat, Herr Sanitätsrath?“ fragte er.
„Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß die Krankheit allerdings in der schwereren Form verläuft. Die Hoffnung auf Genesung ist keineswegs ausgeschlossen, aber auch andere Möglichkeiten müssen ins Auge gefaßt werden.“
Mit düster gefurchter Stirn schaute Gerhard vor sich nieder. Während all der letzten Stunden hatte er mit einem Entschluß gerungen, der ihm bald als ein unabweisbares Gebot seiner Ehre, bald als eine verbrecherische Thorheit erschienen war, und der Zwiespalt, unter welchem er litt, war ihm so unerträglich, daß es ihn gebieterisch danach verlangte, demselben auf die eine oder die andere Weise ein Ende zu machen.
„Wenn es so steht, Herr Sanitätsrath, so bitte ich Sie, alles, was in eines Menschen Macht liegt, aufzubieten, um das Leben der Kranken zu erhalten. Wünschen Sie einen oder mehrere Ihrer Herren Kollegen heranzuziehen oder erscheint Ihnen irgend ein anderes Verfahren nothwendig, so dürfen Sie sich durch die Rücksicht auf die Kosten keinesfalls abhalten lassen, es einzuschlagen. Kein Opfer kann mir in diesem Fall zu groß sein, denn – wie Sie bereits erraten haben werden – die junge Dame ist nicht nur meine Pflegeschwester, sondern auch – meine – Braut!“
Das Wort schlug ihm so fremd und so überraschend ans Ohr, als wäre es nicht mit seiner eigenen, sondern mit der Stimme eines anderen gesprochen worden. Wäre noch eine Möglichkeit dagewesen, es zurückzunehmen, so würde er wahrlich nicht gezögert haben, das zu thun, denn ihm war, als müsse der erste, der das inhaltsschwere Wort vernommen hatte, ihm entgegenrufen: „Du lügst!“
Aber es geschah nichts derartiges. Weder der Arzt noch die Pflegerin schien die Mittheilung, mit welcher er seine Bitte [776] geschlossen hatte, irgendwie zu beachten, und der Sanitätsrath sagte kurz: „An meiner Hingebung und an meinem Eifer soll es gewiß nicht fehlen, mein Herr! Das Gelingen aber steht in Gottes Hand!“ –
Einem sehr verständlichen Blick der Diakonissin gehorchend, verließ Gerhard das Zimmer. Er war hier in seiner Wohnung jetzt vollkommen überflüssig geworden, und er fühlte zudem erst jetzt, eine wie schwere Mattigkeit ihm auf Haupt und Gliedern lastete. Der Sanitätsrath hatte recht. Auch er bedurfte der Ruhe, wenn er sich die Klarheit seines Geistes und die Kraft seines Körpers erhalten wollte. Beide aber waren ihm kaum je zuvor dringender nöthig gewesen als in diesen schweren Tagen.
Die frühe Dunkelheit des Wintertages war bereits hereingebrochen, als Gerhard in einem einfachen Hotelzimmer aus seinem langen, bleischweren Schlummer erwachte. Wirre und beängstigende Träume hatten ihn gegen das Ende desselben gequält, und er brauchte Minuten, um sich im Reiche der Wirklichkeit wieder zurecht zu finden. Während er seinen Anzug beendete, ging er mit sich selber zu Rathe, was nun zu beginnen sei. Der Zwiespalt in seinem Herzen, dem er durch jenes rasche Wort ein Ende zu machen geglaubt hatte, war durch dasselbe nur noch schärfer und peinigender geworden, und er war unzufrieden mit sich selbst, obwohl er sich vergebens immer wieder die Frage vorlegte, welcher andere Weg ihm denn noch offen geblieben wäre nach dem Ereigniß der letzten Nacht. Für einen Augenblick dachte er daran, daß er auch Rita eine Erklärung schuldig sei, und in diesem Gedanken war etwas wie die uneingestandene Hoffnung, daß ihr scharfer Verstand und ihr weibliches Gefühl eher als sein eigenes, von widerstreitenden Empfindungen zerrissenes Herz die rechte Lösung finden werde. Aber dann erinnerte er sich ihres letzten, herzlosen Wortes, und noch fester als zuvor wurde seine Ueberzeugung, daß es danach keine Möglichkeit einer Verständigung mehr zwischen ihnen gebe.
Aber es war jedenfalls nothwendig, die Frau zu benachrichtigen, bei welcher Astrid gewohnt hatte. Ohne Schwierigkeit fand Gerhard das Haus in der Karlstraße, neben dessen Eingangsthür auf einem zierlichen Porzellanschildchen zu lesen war: „Klara Ringewald, Atelier für feine Damenwäsche.“ Die Geschäftsräume lagen im ersten Stockwerk, und Fräulein Ringewald selbst, eine kleine Person mit einem unangenehmen, spitzigen Gesicht, nöthigte den Künstler, in das sogenannte Empfangszimmer einzutreten. Gerhard war ein wenig überrascht von der behaglichen Eleganz des Raumes, in welchen er da gerieth. Er hatte sowohl von Astrids bisheriger Umgebung als auch namentlich von der Persönlichkeit ihrer Wirthin eine wesentlich andere Vorstellung gehabt. Diese ältliche, verschrumpfte Dame in ihrem schweren grauen Seidenkleide und mit ihrem überreichen Schmuck von prahlerischen Goldsachen machte ihm einen recht peinlichen Eindruck, und die geschwätzige Liebenswürdigkeit, mit welcher sie ihn, noch ehe er ein Wort gesprochen hatte, zum Niedersitzen einlud, hatte etwas geradezu Widerwärtiges.
Mit einer Handbewegung lehnte er die Aufforderung ab.
„Mein Kommen betrifft eine junge Dame, welche sich bis zum gestrigen Abend unter Ihrem Schutze befand und über deren Verbleib Sie bereits in Sorge gewesen sein müssen.“
Fräulein Ringewald lachte. Es war ein hölzernes, klangloses Lachen.
„Ah, Sie meinen die kleine Bernhardi? – Nun, die mag Ihnen schöne Geschichten erzählt haben von dem schrecklichen Ungemach, das ihr hier widerfahren ist!“
Ein häßlicher Argwohn regte sich in Gerhards Brust, und in seinen Augen blitzte es drohend auf.
„Und wenn es so wäre?“ fragte er mit erzwungener Zurückhaltung, „hätte sie damit etwas anderes als die Wahrheit gesagt?“
„Nun, mein Herr, Sie werden mir wohl glauben, daß sie nicht umgebracht werden sollte. Aber sie ist ein sonderbares, hochmüthiges Geschöpf, um nicht zu sagen, ein wenig überspannt. Sie arbeitete sich fast zu Tode und lief in jeder freien Stunde in der Stadt umher, um Klavierschüler zu finden, die eigentliche Gelegenheit aber, auf eine beinahe wunderbare Weise ihr Glück zu machen, trat sie geradezu mit Füßen.“
„Eine Gelegenheit, ihr Glück zu machen?“
„Nun ja, wie soll man es denn sonst nennen, daß sich der Sohn des steinreichen Bankiers Schottenfeld, der sie zufällig irgendwo gesehen hatte, wie ein Wahnsinniger um ihre Gunst bemühte? Mit einiger Geschicklichkeit hätte sie ihn sehr wohl zu einer Heirath bringen können, und am Ende soll sich ein armes Mädchen in einem solchen Fall nicht allzu lange besinnen. Sie aber wollte durchaus nichts davon wissen, und da habe ich ihr denn freilich zu ihrem eigenen Besten gestern abend etwas kräftig ins Gewissen geredet, und weil sie noch obendrein die Entrüstete spielen wollte, habe ich ihr kurzweg erklärt, daß ich für so halsstarrige und unvernünftige Personen keinen Platz hätte in meinem Hause. Statt mir für diese schwesterliche Sorgfalt dankbar zu sein, stürzte sie gleich einer Verrückten davon, und ich hatte natürlich keine Veranlassung, ihr obendrein viele gute Worte zu geben.“
Sie hatte eine sehr gekränkte Miene angenommen, aber dieselbe wich rasch einem wahrhaft entsetzten Ausdruck, als sie sah, mit welcher Heftigkeit ihr unbekannter Besucher den schweren Stuhl, auf dessen Lehne er sich bis dahin gestützt hatte, von sich stieß.
„Darum also?“ rief Gerhard mit zornbebender Stimme. „Nun, ich bin Ihnen wenigstens dankbar für die Offenheit, mit welcher Sie mir Ihre niederträchtige Gesinnung dargelegt haben. Danken Sie es Ihrem Geschlecht, daß ich darauf verzichte, Ihnen so zu antworten, wie Sie es verdienen!“
Die kleine Dame hatte sich sehr erschrocken bis in die Ecke des Zimmers zurückgezogen, und ihre spitze Stimme hatte einen recht giftigen Klang, als sie von diesem sicheren Winkel her fragte:
„Und mit welchem Recht sprechen Sie aus einem solchen Tone zu mir, mein Herr? In welchen Beziehungen stehen Sie denn zu dem musterhaften Fräulein?“
„Hüten Sie sich, zu den früheren Beleidigungen noch eine neue hinzuzufügen, denn meine Geduld ist erschöpft. Fräulein Bernhardi ist nicht ohne Beistand, wie Sie geglaubt haben mögen, sondern sie steht unter meinem Schutze – sie ist meine Braut!“
Nun hatte er es zum zweitenmal ausgesprochen, und diesmal ohne Kampf und Zögern und ohne daß er vor dem Klange des eigenen Wortes erschrak. Der leidenschaftliche Zorn, welcher sein ganzes Wesen erfüllte, war ja zum nicht geringsten Theil ein Zorn gegen sich selbst, und die Schuld, deren er sich während der letzten Minuten mit tiefer Beschämung bewußt geworden war, mußte ihre Sühne finden, um welchen Preis es auch immer wäre.
Er wartete den Eindruck seiner Worte und die Antwort des ehrenwerthen Fräuleins Ringewald nicht erst ab, sondern verließ ohne einen Gruß das Zimmer. Es kümmerte ihn nicht, daß er etwas wie ein spöttisches Kichern hinter seinem Rücken vernahm – er hatte diesem Weibe nichts mehr zu sagen und ihn ekelte vor jeder weiteren Berührung mit ihrer Verworfenheit. –
Vorsichtig wie ein zaghafter Bittsteller klingelte er an der Thür seiner eigenen Wohnung, und er wartete geduldig, obwohl Minuten vergingen, ehe man ihm öffnete. Ueber Astrids Befinden gab es keine guten Nachrichten. Sie lag in heftigem Fieber und der Sanitätsrath war schon dreimal dagewesen. Er hatte den Wunsch ausgesprochen, daß Gerhard das Krankenzimmer vorläufig nicht betreten möge.
Einige Briefe, die für ihn angekommen waren, schob Gerhard gleichgültig in die Tasche, ohne sie zu öffnen. Zuletzt erinnerte sich der Diener, daß da auch von der Zofe des Fräuleins Gardini ein kleines Packet abgegeben worden sei. Hastig griff Gerhard nach der schmalen Rolle und riß den Umschlag herab. Einige Notenblätter fielen ihm entgegen – die Handschriften seiner letzten, ihr gewidmeten Lieder. – Und sonst nichts! – Kein Blatt – keine Zeile – nicht der geringste Versuch einer Aufklärung oder Versöhnung! Verächtlich schleuderte Gerhard die Noten in einen Winkel und seine Lippen murmelten: „So ist dieser Roman denn für immer zu Ende!“ – –
Allerlei Nahrung.[1]
Die nördlichen Küstenländer des Mittelmeeres sind die Wiege und noch heute der Mittelpunkt der Verzehrung von Landschnecken. Sonderbar, wie hier die Auslese waltet. Man denkt nicht daran, die großen rothen, braunen oder schwarzen Wegschnecken, die keine Gehäuse besitzen und nackt einherschleichen, zu verzehren; man verkocht sie nur zu einer schleimigen Brühe, die als Volksmittel gegen Auszehrung gilt, jetzt aber wohl mehr und mehr aus dem Arzneivorrathe schwindet. Wäre die Schneckenbrühe wirklich von der heutigen Medizin anerkannt, so müßten eigene Frachtzüge nach Davos eingerichtet werden.
Wohl aber werden die mit Gehäusen versehenen Schnirkelschnecken in um so größeren Mengen verzehrt, je weiter nach dem Süden man vordringt. In Mitteldeutschland und den Rhein hinab ist es allein die große braune Weinbergschnecke, die als leckeres Gericht gilt, in Fulda, besonders aber an der Umgegend von Ulm in großen Massen gezüchtet wird und früher von dem letzteren Orte aus zu Millionen in Fässern die Donau hinab nach Wien und weiter verschifft wurden. Weiter nach Norden hat man einen ebenso großen Abscheu vor Schnecken, als in England vor Fröschen, aber in ganz Frankreich werden sie in großen Mengen verzehrt und das gesegnete Burgund hat eine besondere Zubereitungsweise erfunden, die sich weithin in die Schweiz Bahn gebrochen hat. Ich gehe täglich in Genf auf der Straße von Carouge von meinem Hause bis zur Stadt an einigen Cafés vorüber, in welchen besonders Arbeiter, Landbewohner etc. verkehren und in deren Schaufenstern die Schneckenteller „Escargots à la mode de Bourgogne“ mit ihrem feingehackten, gelblich-weißen und grün gesprenkelten Inhalte niemals fehlen. In der Schweiz gesellt sich zu der Weinbergschnecke die aus dem Süden eingewanderte und wohl durch die Mönche eingeführte Sprenkelschnecke (Helix aspersa), die etwas kleiner, aber von feinerem Geschmacke als die Weinbergschnecke ist. Freiburg im Uechtlande züchtet sie in großen Massen.
Hat man einmal die Alpen überschritten, so tritt eine Menge von Arten mit in den Markt ein, und je weiter man nach dem Süden kommt, desto mehr werden die Landschnecken Volksnahrung. In Neapel und Palermo werden sie ebenso massenhaft vertilgt wie in Barcelona und Granada. Es erregte des guten Schneckenvaters Roßmäßler lebhafteste Verwunderung, daß in den wasserlosen Kalkhügeln der Umgegenden einiger spanischer Städte so ungeheure Mengen von Landschnecken gefunden werden könnten, wie sie dort auf den Markt gebracht wurden.
Im Norden verspeist man nur Schnecken, die sich zum Winterschlafe mit einem porösen Kalkdeckel geschlossen, so zu sagen eingepuppt haben. Dort bereitet man auch die Schneckenleiber, die man nach einigem Absieden aus der Schale gezogen hat, in verschiedener, oft recht künstlicher Weise zu. Im Süden macht man nicht so viel Umstände und wie mir scheint, ißt man sie zu allen Zeiten, gedeckelt oder ungedeckelt. In offenen Kesseln auf der Straße brodeln die Schnecken in einer Brühe, die schwach gesalzen, aber desto mehr gepfeffert ist, und für einen Soldo kann man schon eine Portion haben. Freilich ist sie auch danach, und der Fremde, der einmal davon gekostet hat, versucht es nicht zum zweiten Male, während nach Burgunder Art zubereitete, nämlich mit Eiern, Butter und feinen Kräutern zusammengehackte Schnecken ein sehr schmackhaftes und appetitförderndes Gericht sind.
An den Küsten machen verschiedene Meerschnecken den Landschnecken das Feld streitig. Wer an der Küste der Bretagne, in Nantes, Concarneau oder Brest frühstückt, sieht mit einigem Erstaunen die Kellnerin mit einem Teller voll kleiner, zierlich gewundener Schneckchen herannahen, neben welchen einige große Stecknadeln liegen, deren Spitze hakenförmig umgekrümmt ist. Bis die festeren Speisen aufgetragen werden, vertreibt man sich die Zeit damit, die kleinen Schneckchen mit der Hakennadel aus der Schale zu reißen und hinabzuschlürfen. Manche Esser entwickeln darin eine bewundernswerthe Kunstfertigkeit, aber ich glaube kaum, daß sie sich an den Dingerchen sättigen können, die übrigens recht fein und gewürzig schmecken. Weit verbreitet ist diese eigenthümliche Vorspeise nicht; östlich von Brest, in Morlaix, Roscoff oder Saint-Malo, wo doch dasselbe Schneckchen massenhaft an allen Steinen und Felsen sitzt, die von der Ebbe entblößt werden, habe ich dasselbe weder sammeln noch verzehren sehen.
Aehnlichen Launen begegnet man in Beziehung auf die in allen Meeren außerordentlich häufigen Napfschnecken (Patella), die, fest an Felsen und Steine angesaugt, in den nordischen Gewässern ruhig die Zeit der Ebbe im Trockenen versitzen, um erst bei Fluth wieder aufzuleben. Wenn wir im Sommer von Nizza aus die Bucht von Villafranca kreuzten, um im Schatten der hohen Oelbäume von Beaulieu unseren Sonntag zu verbringen, so zerstreute sich sofort die Gesellschaft, um mit bis zu den Schenkeln aufgestülpten Hosen an den Felsen herumzukrabbeln und Patellen zu suchen. Da die Schnecken sehr fest an den Steinen sitzen, bewaffnete man sich mit Meißeln, um sie loszustoßen. Aber zum Frühstück wurde keine Schnecke gebracht, sie waren alle unmittelbar frisch, wie Austern, hinabgeschluckt worden. Ich kann nicht sagen, daß ich mich in gleicher Weise wie meine Nizzaner Gefährten für die Napfschnecken hätte begeistern können; der fast kreisrunde, aus strammen Muskelfasern gewebte Fuß, mit dem die Thiere sich festsaugen und der einen großen Theil ihres Körpers ausmacht, schien mir geschmacklos und so hart und fest, daß man sich einen Zahn daran hätte ausbeißen können.
Dieser Meinung müssen auch die Bewohner von Roscoff und Umgegend sein, denn ich sah dort niemals Napfschnecken verzehren, obgleich sie bei der Ebbe in Massen eingebracht wurden. Weiber, Kinder und Greise ziehen dann dem sich zurückziehenden Wasser nach, mit einem Sacke versehen und einem im Winkel gebogenen und mit einem Handgriffe versehenen Eisen bewaffnet, das auf der Außenseite geschärft ist.
Mit einem Stoße wird die Napfschnecke abgelöst; die im Sacke gesammelte Ernte wird heimgebracht, um den Schweinen, ganz besonders aber den Hühnern, Enten und Gänsen oft als alleinige Nahrung vorgeworfen zu werden. Die armen Vögel bekommen davon einen niederträchtigen Thran- und Fischgeschmack, und als wir das folgende Jahr nach Roscoff zurückkehrten zu längerem Aufenthalt, ließen wir zwei Monate vor unserer Ankunft von unserer Wirthin Hühner und Enten aufkaufen und einstweilen mit Kleie, Schrot und Körnern füttern, um ihnen den unseligen Thrangeschmack aus dem Körper zu bringen. Aber fett werden die Thiere bei der Schneckenkost, das läßt sich nicht leugnen, wenn auch das Fett für unseren Gaumen einen schlechten Geschmack hat. Darüber läßt sich aber nicht streiten – wenn der Isländer ranzige Butter der frischen vorzieht, so darf auch der Bewohner der Insel Batz seinen Thrangänsen den Vorzug geben.
Wenn die Bretonen die Napfschnecken nur verzehren, nachdem sie durch verschiedene Assimilationsprozesse in Fleisch warmblütiger Thiere umgesetzt worden sind, so gelten ihnen die Seeohren (Haliotis) als feinster Leckerbissen. Wer kennt nicht diese ohrenförmigen, am schmalen Ende etwas gewundenen, breiten und wenig tiefen, Löffeln ähnlichen Schalen, deren innerste Lagen einen so prachtvollen Perlmutterglanz zeigen und die auf der Außenseite eine Reihe von Löchern tragen, durch welche das Wasser zu den Kiemen gelangen kann, auch wenn das Thier fest an den Felsen angesaugt ist? Die Schale wird so groß und größer als eine ausgestreckte Hand und die ganze Fläche wird von einer riesigen, festen und dicken Fußscheibe eingenommen. Der Fuß ist demjenigen der Napfschnecke ähnlich, von der übrigens das Seeohr in seiner sonstigen Bildung sehr abweicht.
Die Seeohren sind nur bei den tiefsten Ebben zur Zeit der Tag- und Nachtgleichen zugänglich, bei gewöhnlichen Ebben bleiben sie immerhin, in der Umgegend von Roscoff wenigstens, von mehreren Metern Wasser bedeckt und können nur mit dem Schleppnetz gefischt werden. Selbst bei den tiefen Ebben gehen nur die besten Kenner des Seegrundes auf den Fang der „Ormeaux“ aus; man kann sehr leicht in den tiefen Löchern, wo die Muscheln hausen, durch die Fluth überrascht und von dem Festlande abgeschnitten werden. Schiffer, Matrosen und Küstenbewohner können aber meist nicht schwimmen und wollen es auch gewöhnlich nicht [779] lernen; es verlängere bei Unglücksfällen doch nur den Todeskampf, meinen sie, und könne von dem Ertrinken nicht erretten.
Die Männer sind also sehr stolz darauf, wenn sie von einer großen Ebbe ein Dutzend Ormeaux nach Hause bringen können, die Weiber aber schneiden meist ein schiefes Gesicht, denn ihnen fällt die Zubereitung zur Last. Das Thier wird aus der Schale herausgenommen und der ganze Körper entfernt, so daß nur die Fußscheibe übrig bleibt, die etwa die Größe eines Handtellers und einen Centimeter Dicke hat. Wollte man diese feste, im Tobeskrampfe erstarrte Muskelscheibe ohne weitere Vorbereitung kochen oder schmoren, so würde sie nicht weicher werden als eine Schuhsohle. Unsere Wirthin klopfte die Scheiben stundenlang auf einem platten Kiesel mit einem Hammer; dauerte ihr dieser Zeitvertreib zu lange, so schickte sie die Scheiben kurzer Hand in die Schmiede, wo sie auf dem Ambos bearbeitet wurden. Dann wurden sie gekocht, gebraten, geschmort, und wenn sie mit einer Brühe aufgetragen wurden, die gewürzt war wie eine Schildkrötensuppe und eine nicht minder kunstreiche Zusammensetzung zeigte, so schmeckten die Ormeaux etwa wie weicher Kautschuk ohne besonderen eigenen Charakter.
Kautschuk sind auch die „Calamaje“ der Italiener, die Fangarme und Muskelmäntel der Pulpen, Kraken, Tintenfische und Kalmare, die auf allen Märkten an der Seeküste feilgeboten und so lange als frisch gekauft werden, als das schillernde, wechselnde Farbenspiel ihrer Haut anhält. Man kann in Neapel in Gasthäusern und Restaurants keine Schüssel „frittura“ erhalten, mögen es nun Fische oder Akazienblüthen sein, die nicht mit „Calamaje“ ringsum garnirt wäre. Besonders geschätzt sind die Arme junger Sepien und Kalmare, die etwa die Länge und Dicke eines tüchtigen Bleistifts haben. Die Thiere werden an allen Küsten bis hoch in den Norden hinauf in Menge gefangen; in ihrer blinden Wuth stürzen sie sich auf bunte und weiße Lappen, die man an einer Leine hin- und herzieht, setzen sich mit den Hunderten von Saugnäpfen an ihren Armen fest und werden heraufgezogen, ehe sie sich vollständig wieder losmachen können. Ein Messerstich in das Genick hinter den Augen tödtet sie nur halb, aber er reicht doch hin, um das Herausnehmen der Eingeweide aus dem Sacke des Mantels zu ermöglichen. Man wirft die brauchbaren Muskeltheile, Mantel und Arme, in kochendes Wasser, um die Haut abzuziehen, und siedet sie dann in heißem Oele mit Fischen oder anderen Bestandtheilen der frittura ab. Kautschuk, wie schon bemerkt, und oft sogar recht zäher, an dem man die Schärfe der Zähne erproben kann! Kein selbständiger Geschmack, nur derjenige, welchen die Zubereitung giebt! Aber ich habe Leute gekannt, welche für Calamaje fritte schwärmten und sie sogar den feinsten Fischen vorzogen. Ich glaube bemerkt zu haben, daß diese Liebhaber meist junge Leute mit trefflichen Zähnen und einem beneidenswerthen Appetite waren.
Zur Erinnerung an Emanuel Geibel.
Seit am Palmsonntagmorgen 1884 dem deutschen Volke Emanuel Geibel entrissen wurde, fehlte wohl allen denen in unserem alten Lübeck, die ihn gekannt und geliebt hatten, seine theure Gestalt schmerzlich. Wir hatten ihn so oft unsere hochgiebeligen Straßen durchwandern sehen, er und die Stätten, die er hier besungen, gehörten so eng zusammen, es war anfangs gar nicht auszudenken, daß wir ihn nun nie wieder sehen sollten, und wie manches junge Gemüth, das bis dahin wohl glückselig ausgerufen hatte: „Heute bin ich Geibel begegnet, heute habe ich einen glücklichen Tag gehabt!“ empfand ein bitteres Heimweh nach den theuren Zügen. Wie vermißte ihn das Auge an seinem gewohnten Platz im Theater, im Konzertsaal, auf der Lachswehr, überall war eine Leere! Und nun – eher als unsere kühnsten Wünsche es zu hoffen wagten, ist sein Denkmal unter uns aufgerichtet worden, und herrlich hat es der Bildhauer verstanden, durch die Kunst verklärt, die geliebte Dichtergestalt uns wiederzugeben in ihrer schlichten Würde, ihrem stillen Adel.
Professor H. Volz in Karlsruhe ist der Schöpfer des Denkmals und in der Erzgießerei von Gladenbeck in Berlin ward es aus Bronze gegossen. Auf einem Felsblock sitzt der Dichter, gleichsam rastend, in der rechten Hand Buch und Stift, die Linke gegen die Brust gehoben. Die sinnenden Augen sind auf sein einstiges Wohnhaus gerichtet. Um die Schultern wallt ihm ein weiter Mantel, seine Haltung ist frei und natürlich, der Kopf von sprechender Aehnlichkeit. Unten an dem granitenen Sockel schlummert der Genius der Dichtkunst, die Leier, das Sinnbild der Lyrik, und die Maske, das Sinnbild des Dramas, in seinen Händen haltend. Der Platz, auf welchem das Denkmal steht und der seither den Namen „Koberg“ führte, wird künftighin „Geibelplatz“ heißen.
Nicht oft ist wohl in unserem Volke das Standbild eines Dichters so bald nach seinem Hinscheiden erstanden, und während es sonst eine alte Erfahrung ist, daß der schaffende Künstler nirgends so scharf wie in seiner Heimath beurtheilt zu werden pflegt, hat hier die Vaterstadt gerade mit einer so einmüthigen Begeisterung die Feier der Enthüllung dieses Standbildes begangen, daß man wohl sagen darf, würdiger und herzerhebender hätte sie gar nicht erdacht und ausgeführt werden können.
Mit wahrem Feuereifer hatte die gesammte Bevölkerung sich aufgemacht, die Stadt festlich zu schmücken, um ihren Dichter an diesem Tage so hoch zu ehren, wie sie es vermochte. Und hatte er es nicht verdient? Wenn wir auf sein Schicksal zurückschauen und nach dem Leitstern seines Lebens fragen, so erkennen wir, daß der ungewöhnliche Erfolg, der ihm zutheil geworden ist, nicht aus einem launenhaften äußerlichen Glück entsprang, das ihn zufällig bevorzugte, während es andere ebenso begabte Poeten oft so grausam leiden ließ, sondern daß dieser Erfolg doch in einem tiefen inneren Zusammenhang mit seinem ganzen Wesen stand und die Eigenart seiner Poesie und seines Schaffens ihm diese beispiellose Wirkung auf alle zu jugendlicher Begeisterung fähigen Gemüther eintrug.[2] Durch alle Briefe von [780] Geibel, die mir seine Tochter Marie und deren Gatte, Rechtsanwalt Dr. Fehling, in dieser Zeit zur Einsicht gaben, zieht sich wie ein rother Faden ein tief religiöses Empfinden, das auch in dichterischen Werken des Mannes so oft einen ergreifenden, zum Herzen sprechenden Ausdruck findet.
In einem seiner bis jetzt noch ungedruckten Aphorismen sagt Geibel: „Religion ist die Musik der Geister. Das Bekenntniß verhält sich zu ihr wie der untergelegte Text zu einer Symphonie.“ Dies Wort zeigt, worin er mit seinem Vater Johannes übereinstimmte und worin er in seiner Auffassung von jenem abwich, seit er die Pforte seines Geburtshauses verließ, jenes alterthümliche, reichgeschnitzte Hausthor in der Fischstraße, über dem sich zwei Genien mit Palme und Kranz in der Hand freundlich einander zuneigen, gleich wunderbaren Symbolen seines Lebens.
Geibels Vater, dessen wohlgetroffenes Bildniß wir den Lesern auf Seite 773 vorführen, war zweiundfünfzig Jahre lang, von 1797 bis 1849, Geistlicher der reformirten Gemeinde zu Lübeck und als solcher predigte er in einer Kapelle, die nach dem damaligen Zeitgeist keinen Thurm und kein Glockengeläute haben durfte; aber wenn dieses allerschlichteste, damals nur geduldete Gotteshaus auch nur schweigend zur Sonntagsfeier einlud, in dichten Scharen zogen gerade zu ihm, wenn die Glocken in die andern Kirchen riefen, die Bewohner Lübecks, und Johannes Geibel gebührt das Verdienst, der erste gewesen zu sein, der das völlig eingeschlummerte religiöse Leben hier mit seiner feurigen Begeisterung in der Zeit der Erniedrigung Deutschlands und der Befreiungskriege neu anzufachen verstand.
Nach dem Tode seines Vaters im Juli 1853 schreibt Geibel: „Ich hab’ es oft gesagt, daß ich unter allen Kindern wohl am meisten der Sohn meines Vaters war . . . ja, daß ich selbst in meinen körperlichen Anlagen und Gebrechen oft bis ins kleinste hinein das Bild der seinigen wieder erkennen mußte. Neben dem tiefen Zuge des Herzens nach göttlichen Dingen, neben dem ernstesten Ringen nach den Gütern des Himmels, neben einer Flugkraft des Gedankens und der gläubigen Empfindung, die ihn höher hinauftrug, als den meisten Sterblichen zu streben vergönnt ist, trat bei ihm im häuslichen Leben nicht selten eine fast harte Unfügsamkeit, ein Mangel an Selbstbeherrschung, eine augenblickliche Maßlosigkeit hervor, die ihm und uns manches Herzeleid bereitete. Gewiß, er hat das in seinen letzten einsamen Leidensjahren mehr als völlig abgebüßt, und ich spreche dies hier wahrlich nicht aus, um auf den Verklärten einen Makel zu werfen, sondern nur, weil ich, ach, allzutief fühle, daß ich gerade auch in diesen Fehlern sein getreuer Abdruck bin. Darum bitte ich Gott von Herzen, daß er mir seinen gnädigen Beistand schenken möge, diese Erbsünde mehr und mehr zu überwinden.“
Diese Worte beweisen, wie weit Geibel von eitler Selbstgerechtigkeit entfernt war, und wie ernst er es nahm, sich gerade in seinen Fehlern zu erkennen und zur inneren Veredlung durchzuringen.
Schon mit 15 Jahren dichtete Geibel oft und gewann sich dadurch die Herzen seiner Mitschüler. Mit Vergnügen dachte Geibel an jene Zeit zurück, und ich weiß noch, wie er mir eines Abends im Scherz ein Gedicht von damals in demselben Pathos vortrug, mit dem er es, wie er sagte, seinen Freunden in der Sekunda vorgelesen hatte. „Seine Augen glühten wie zwei Kohlen,“ hieß es darin, und während der greise Dichter humoristisch mit rollenden Augen und donnernder Stimme diese Verse deklamirte, konnte man sich lebhaft vorstellen, welch ein feuriger Junge er gewesen war.
Als Geibel dann in der Vollkraft seines Schaffens stand, eine Auflage seiner Gedichte der andern folgte, als er sein erstes Drama schuf, seine patriotischen Gesänge zündeten und König Max ihn nach München berief, da ward er überall der verwöhnte Liebling der Menschen und besonders der Frauenwelt.
In den Jahren vor seiner Uebersiedelung nach München verkehrte er viel im Hause der verwitweten Doktorin Trummer zu Lübeck. Auch deren Tochter Amanda schwärmte für ihn, aber sie war erst 15 Jahre alt, und wie durfte sie an ihn denken, an ihn, der die Herzen so vieler Schönheiten eroberte, dem so manches junge Gemüth in der vornehmen Welt zuflog, ja, von dem selbst die vielumworbene, gefeierte schwedische Nachtigall, Jenny Lind, hingerissen war! Nein, Amanda wollte sich alle thörichten Wünsche aus dem Sinne schlagen. Aber Geibel dachte darüber anders. Gerade sie mit ihrer weichen, innigen Demuth gefiel ihm besser als irgend eine andere, und nachdem leidenschaftliche Jugendstürme in ihm ausgetobt hatten, erwuchs in ihm die geläuterte Liebe zu diesem reinen Gemüth, und so gestand der sechsunddreißigjährige gereifte Dichter dem siebzehnjährigen jungen Mädchen seine Neigung und gewann ihre Hand.
Schon am Tage nach seiner Verlobung zwangen ihn Verhältnisse, abzureisen. Der kleine vergilbte Brief liegt vor mir, in dem am 21. November 1851 Amanda [781] zum erstenmal ihrem Emanuel schreibt, wie sie ihr Glück nicht fassen kann.
„Es ist mir unglaublich noch,“ gesteht sie, „daß nun in Wirklichkeit alles so gekommen ist, wie ich es mir so gern ausmalte und doch immer wieder ausreden wollte. Ich habe heute nacht wenig geschlafen, es war aber doch die seligste Nacht meines ganzen Lebens, ich habe Gott von ganzem Herzen um seinen Segen gebeten und um Kraft, alle neuen Pflichten treu zu erfüllen. Als Du gestern fort warst, hätte ich traurig sein sollen über den Abschied; ich konnte aber nicht, ich war zu selig und überrascht. Gottlob[3] sagte mir heut morgen, wenn ich ausginge, würden alle Menschen mir mein Glück ansehen, sie ermahnen mich immer, ich sollte nicht so strahlen, ich kann’s aber nicht lassen, denn ich weiß es gar nicht.“
Geibel war den nächsten Winter längere Zeit in Berlin und eine Fülle von Anregung und Genuß stürmte auf ihn ein; aus allem diesem mitten heraus schreibt er ihr am 14. März 1852: „Ach Kind, all das Leben hier ist wohl schön und bunt und reich, aber mich verlangt nach Dir, und Du fehlst mir an allen Enden, sobald ich nur einen Augenblick zur Besinnung komme. Wie werd’ ich mich der guten Gaben erst recht freuen können, wenn ich Dich hier habe und alles mit Dir theilen darf!“
Das Glück, das Geibel in Amandas Besitz empfand, die er von jetzt an Ada nannte, gab uns Deutschen seine unvergänglichsten, zartesten Lieder. Aber nicht ungetrübt sollten die beiden ihren Brautstand genießen dürfen. Eine schwere Sorge zog über ihnen auf, die, was aus seiner Gesundheit werden würde. Es hatte sich ein organisches Leiden bei ihm entwickelt, und wenn die verordnete Badekur ihm nicht half, so traf ihn die harte Prüfung, seine frische Kraft gerade in der Zeit für immer untergraben zu fühlen, in der er seine Braut heimzuführen hoffte und in seinem reifsten, inhaltsvollsten Schaffen stand.
Ergreifend wirkt es darum, zu lesen, wie er aus Tübingen den 15. Juli 1852 an Ada schreibt:
„Geheilt hat mich also die Emser Kur nicht und wir müssen zufrieden sein, wenn es hinfort nur erträglich geht. Daß ich dabei nicht gar froh bin – um meinet- und Deinetwillen – magst Du denken, aber ich ringe danach, geduldig und ergeben zu sein! Das ist mein Trost und das muß auch der Deine sein, daß wir wissen, daß der Vater im Himmel uns kein Leid auflegt, was nicht so oder so zu unserm Besten dient. In dem Gedanken rüste ich mich wie in einen festen Harnisch . . . Zu berichten hab’ ich nichts mehr, so setz’ ich Dir noch ein paar Verse her:
Kann es sein, so laß, o Herr,
Diesen Kelch vorübergehen!
Heb’ noch einmal mich empor
Aus dem Abgrund meiner Wehen.
Gieb mich meinem Kind zurück
Meinem Kind und seiner Liebe,
Ach so spät erst ging mir auf
Dieser Stern im Weltgetriebe.
Laß mich nicht verdorren, Herr,
In der Mitte meiner Tage;
Viel noch drückt mir in der Brust,
Daß ich’s schaffe, daß ich’s sage.
Diesen Kelch des bittern Leids,
Nimm’ ihn von mir um mein Flehen;
Kann es sein, so hilf, o hilf!
Doch Dein Wille soll geschehen!“
Von dem Gedicht, aus dem wir nur diese Verse mittheilen, schreibt Geibel, daß es ihm tief aus der Seele gekommen sei, er will es sonst aber nicht für Poesie gelten lassen, weshalb er es auch nie dem Druck übergeben hat, und das kennzeichnet so recht seine Gesinnung. Der Oeffentlichkeit gab er nur das ganz Vollendete, nie konnte er strenge genug feilen und manche schöne Dichtung behielt er noch, nachdem sie abgeschlossen war, viele, viele Jahre zurück, immer in der Furcht, sie noch nicht rein genug ausgestaltet zu haben. Ein Beispiel mag hier für viele genügen. Das herrliche Gedicht „Nausikaa“ vollendete er schon im Jahre 1858, im Jahre 1877 ließ er es erst in den Spätherbstblättern erscheinen. In seinem ungedruckten Nachlaß befindet sich darum auch noch manches goldene Wort, z. B. unter dem Titel „Aphorismen“. Dort sagt er: „Wer seine künstlerische Kraft nicht zu sammeln versteht, wird sie leicht in untergeordneten Schöpfungen verpuffen.“
Ferner: „Ich bin, wenn ich von einzelnen kleineren lyrischen Ergüssen absehe, selten imstande gewesen, aus der ersten überwältigenden Empfindung des Augenblicks heraus poetisch zu produciren. [782] Große Eindrücke, die mich dichterisch bewegten, trug ich meist längere Zeit mit mir herum, und oft erst nach Jahren, wenn eine verwandte Saite leiser angeschlagen wurde, vermochte ich sie, allerdings durch das Gegenwärtige angeregt, aus der Erinnerung rein auszusprechen.“
Und: „Ein wesentlicher und unentbehrlicher Theil des Genius ist – Geduld im rechten Augenblick.“
Und ein anderes Mal: „Damit Du Deine Zeit verstehst, verkehre in der Jugend gerne mit Aelteren, im Alter mit Jüngeren.“
Im Verkehr mit Jüngeren suchte er freilich seinesgleichen, darum wurde auch seine Ehe mit Ada zu einer so wahrhaft idealen. Er nannte Ada in der Zärtlichkeit wohl sein Kind, aber er behandelte sie trotz ihrer Jugend wie eine Ebenbürtige und zog sie von Anfang an zu den höchsten Interessen, die ihn erfüllten, empor. Darauf ganz einzugehen, war ihr einziger Wunsch. Als er, getrennt von ihr, seiner Gattin einst mittheilt, wie eifrig er an seinem Drama „Brunhild“ arbeitet, bittet sie ihn, sie nicht mehr mit so langen Briefen zu verwöhnen. Mit zwei Zeilen will sie sich begnügen. Denn: „wenn Du erst ans Schreiben kommst, trete ich alle meine Ansprüche an Chriemhild ab.“
Nur allzu kurz war ihm sein Glück beschieden, und als er Ada nach dreijähriger Ehe schon verlor, stand er an ihrer Hülle als ein schier verzweifelnder Mann. Moritz von Schwind versuchte, Adas Züge, so, wie sie im Sarge ruhte, wiederzugeben, aber wie sie so marmorblaß und edel da lag, warf er mitten in der Arbeit den Pinsel mit den Worten fort: „Nein, diesen Engel kann keiner malen!“ Schwinds Schüler Correns zeichnete sie darauf, und da Geibel die Skizze ähnlich fand, schuf Correns später danach jenes Bild, das sie uns mit dem weißen Rosenkranz im Haar und den auf der Brust gefalteten Händen so rührend darstellt.
Seinen Schmerz wußte Geibel nur im Trost des Schaffens zu lindern und je mehr er selbst verloren, um so Tieferes suchte er seinem Volk zu geben. So wuchsen seine Werke zu immer köstlicherem Gehalt und immer reinerer Vollendung heran. Alles, was das deutsche Volk in schweren und hernach in großen Tagen erlebte, und wie die Seele des Volkes es erlebte, das drückt sich aus in dem wundervollen Gesang, mit dem Geibel, unser deutscher Reichsherold, es begleitete. Sein Saitenspiel ist jetzt verstummt. Schmerzlich haben wir es empfunden, als wir blutenden Herzens unsern unvergleichlichen Heldenkaiser zu Grabe tragen sahen, als Kaiser Friedrichs tragisches Geschick uns bis ins tiefste Mark erschütterte.
Doch muß die Gegenwart auch seine Stimme entbehren lernen, aus seinen Werken tönt sie uns fürder allezeit entgegen, und wenn sie uns anspornt in allem unserm besten Sein und Streben, dann wird der Dichter, der seiner Kunst wie ein reiner Hoherpriester waltete, auch für uns nicht umsonst gesungen haben:
„Zieh ein zu allen Thoren,
Du starker deutscher Geist,
Der, aus dem Licht geboren,
Den Pfad ins Licht uns weist.“
Am 17. September 1855 schrieb Geibel aus Stuttgart an Ada: „Diese Stadt hat es mir einmal angethan, vielleicht weil mein großer Vater Schiller in Erz gegossen dort steht und sich ärgert, daß aus seinem Sohn Emanuel nichts geworden ist als ein Lyriker.“ Am 18. Oktober 1889 sank unter dem brausenden Gesang voller Männerchöre, dem unermeßlichen Jubel der Bevölkerung und dem vollen Glockengeläute sämmtlicher Thürme Lübecks die Hülle von Emanuel Geibels Denkmal, und so steht sein Standbild jetzt in Erz gegossen da, ein redendes Zeugniß dessen, daß Geibel seines großen Vaters Schiller werth geworden ist und die Nachwelt ihm für alle die köstlichen Gaben, die er uns geschenkt hat, für die zarten Lieder, die kräftigen vaterländischen Gesänge und die formenschönen, reichbewegten Dramen, freudig den vollen Lorbeerkranz ertheilt.
Eine kleine Vergnügungsreise.
Im Hause des Amtsrichters Schwarz war gestern die Schwester der Frau Amtsrichter angekommen, die, eben aus der Pension entlassen, hier ihre Heimath finden sollte. Beide Schwestern, durch ihre Elternlosigkeit doppelt auf einander angewiesen, freuten sich trotz des Altersunterschiedes von zehn Jahren herzlich auf ihr Zusammenleben und saßen heut schon behaglich im Fensterplatz bei einander.
Die Amtsrichterin, eine sehr hübsche, muntere Frau mit dunkeln Haaren und blauen Augen, hörte mit nur schlecht verhehlter Belustigung dem kindlichen Geplauder der Jüngeren zu. Diese, ein bildhübscher, blonder Backfisch, war vor der Hand noch etwas schüchtern, und nur mit der Schwester allein wagte sie ihre Betrachtungen und Erlebnisse, deren noch sehr wenige zu sein schienen, zu erzählen. Solange der Amtsrichter zugegen gewesen, war die kleine Schwägerin stumm geblieben und hatte mit hartnäckig niedergeschlagenen Augen dagesessen, kaum ein leises „ja!“ oder „nein!“ auf alle Fragen antwortend, so daß der Herr des Hauses seine Versuche, sich mit dem jungen Gast zu unterhalten, schon achselzuckend aufgegeben hatte. Eben stellte die Amtsrichterin ihre Schwester über diesen Punkt zur Rede.
„Aennchen, Du mußt nicht so ängstlich gegen Karl sein,“ sagte sie vorwurfsvoll, „er liebt das gar nicht!“
„Ja, ich kann mir nicht helfen, Helene,“ erwiderte die Kleine treuherzig, „Du mußt es mir nicht übelnehmen – aber Karl kommt mir so furchtbar heftig vor! Heut morgen z. B., wie der Milchtopf umfiel – Himmel, wie fuhr er da auf! Nein – ich fürchte mich entsetzlich vor ihm.“
Helene lachte.
„Du bist eine kleine Thörin,“ sagte sie und strich der Schwester über das blonde Haar, „Karl ist im Grunde der gutmüthigste Mensch von der Welt und sein Poltern nur eine Art von äußerlicher Angewohnheit. Wenn Du so etwas so schwer nehmen willst, darfst Du einmal gar nicht heirathen.“
„Nun?“ setzte sie nach einer erwartungsvollen, kleinen Pause hinzu.
Aennchen blickte auf. „Was denn – nun?“ frug sie.
„Ich erwartete den Ausruf der Entrüstung, mit dem alle sechzehnjährigen Mädchen auf eine derartige Aeußerung antworten und mit größter Bestimmtheit versichern, sie wollten überhaupt nie heirathen!“
Anna nahm ihren langen blonden Zopf in die Hand und warf ihn wieder über die Schulter zurück – sie erwiderte nichts.
Helene hob ihr den Kopf am Kinn in die Höhe.
„Aennchen, Aennchen – was muß ich sehn! Du bist ja ganz roth geworden! Du Pensionskücken wirst doch nicht Heirathsgedanken haben?“
Anna stand hastig auf.
„Heirathen, Helene – solcher Unsinn! Aber ich will es doch nicht geradezu verschwören, – das würde ich sogar für unrecht halten,“ setzte sie feierlich hinzu; „‚man soll nie etwas mit Bestimmtheit aussprechen, was man nicht ganz sicher ist, halten zu können!‘ sagte Mademoiselle immer.“
Sie trat ans Fenster und sah hinaus.
„Nein, Kind – mit diesem tugendhaften Gemeinplatz kann ich mich bei der Veranlassung nicht zufriedengeben,“ warf Helene ein, die ihr gefolgt war, „gestehe es doch – Du hast irgend jemand gesehen, der in Deinem thörichten Köpfchen solche Ideen hervorgerufen hat.“
Aennchen sah angelegentlich auf die Straße.
„Aber Helene – kein Gedanke!“ sagte sie energisch.
„Gewiß einen recht überspannten, unreifen Jüngling,“ fuhr Helene unbeirrt in strafendem Tone fort, „mit einer Künstlermähne und rollenden, schwarzen Augen!“
Das junge Mädchen drehte sich hastig und glühend roth um.
„Keine Spur! – blaue Augen und ganz kurz geschnittene Haare – blond! – Ach!“ rief sie dann, erschrocken über das unfreiwillige Zugeständniß, und schlug die Hände vors Gesicht.
„Aha!“ sagte Helene ruhig, „das nennt man ‚kein Gedanke!‘ Und wo hast Du diesen kurzgeschorenen Helden kennengelernt?“
[783] Das junge Mädchen ließ die Hände sinken und sah der Schwester trotzig ins Gesicht.
„Da Du’s nun doch weißt – wir vier Aeltesten aus der Selekta waren gestern vor acht Wochen –“
„So lange hat’s vorgehalten?“ neckte Helene; „Aennchen, Aennchen – nun wird mir angst! Also gestern vor acht Wochen – weiter! was war da?“
„Wir waren auf einem kleinen Ball beim Bürgermeister – eigentlich ein Tanzstundenball – es war himmlisch! Und da war Er auch!“ fügte Anna leise hinzu.
„Wie heißt Er denn?“ frug Helene gespannt.
„Das weiß ich nicht! Nur den Vornamen – Er heißt Kurt! Reizend – nicht wahr?“
„Was habt Ihr denn zusammen gesprochen?“ forschte Helene weiter, ohne auf die Begeisterung der Schwester einzugehen.
„Kein Wort! – Das war eben das Schöne!“ sagte Anna mit großer Entschiedenheit. „Siehst Du, Helene, ich habe mir gedacht, wenn er überhaupt spräche, müßte er etwas Entzückendes sagen – ganz etwas Besonderes – und wenn er dann gesprochen hätte wie andere Leute, wäre ich zu sehr enttäuscht gewesen! Da war ich froh, daß er überhaupt nicht mit mir sprach! Er hat sich mir auch gar nicht vorstellen lassen,“ setzte Anna mit sinkender Stimme hinzu, „und wenn ich ihn nicht mit einer andern Dame hätte sprechen hören, wüßte ich nicht mal, wie seine Stimme klingt und wie er mit dem Vornamen heißt!“
Sie schwieg.
„Ach, wenn Du lachst!“ sagte sie dann vorwurfsvoll.
„Ach Aennchen, Aennchen,“ erwiderte Helene und trocknete ihre Lachthränen, „das ist ja ein recht gefährlicher Roman! Und was hast Du ihn denn sprechen hören? War das nun so überwältigend geistreich?“
Das Backfischchen sah etwas verlegen drein.
„O ja,“ sagte sie dann zögernd, „ich fand es ganz hübsch! Eine ältere Dame sagte zu ihm: ‚Tanzest Du denn gar nicht, Kurt?‘ Da sagte er mit sehr hübscher, tiefer Stimme: ‚Nein, Tante, zu solchem Lämmerhüpfen bin ich denn doch nicht mehr kindlich genug!‘“
„Allerdings ein bedeutender Ausspruch!“ bemerkte Helene, die noch immer nicht ihren gebührenden Ernst wiedergefunden hatte, „aber nun weiß ich ja Deine ganze Herzensgeschichte, – jetzt muß ich gehen, Kind! Karl kann jeden Augenblick kommen und sein zweites Frühstück verlangen!“
Sie verließ das Zimmer und Aennchen blieb allein zurück, mit ganzer Seele wieder in ihren Traum hinein versetzt. Nachdem sie sich vorsichtig überzeugt hatte, daß sie allein und von keines Menschen Auge beobachtet sei, zog sie eine seidene Schnur aus ihrem Kleide, an der eine kleine Kapsel hing.
In dieser Kapsel trug sie, nach dem Vorbild sämmtlicher Schülerinnen der Selekta, den Anfangsbuchstaben des angeschwärmten Helden – und zwar aus dem an und für sich nicht sehr poetischen Stoffe des – Nudelteigs angefertigt, den ein unternehmender Materialwarenhändler der Pension gegenüber in ganzen Alphabeten feil hielt. Der Mann machte glänzende Geschäfte damit – besonders da in dem Alter, in welchem seine Kundinnen sich sämmtlich befanden, der Anfangsbuchstabe der „ersten und einzigen“ Liebe öfters zu wechseln pflegt und dann unter tiefem Erröthen und großer Verlegenheit statt des heilig gehaltenen A nun vielleicht ein B in die Kapsel wandert.
Unser Aennchen machte aber von diesen flatterhaften Grundsätzen eine rühmliche Ausnahme! Ihr Herz hatte in der Tanzstunde den gefährlichen Erscheinungen sämmtlicher Primaner und sogar zweier Studenten gänzlich und erfolgreich Widerstand geleistet, und der Klavierlehrer war ihr der gleichgültigste der Menschen geblieben!
Ja, sogar der junge Docent, dem das beneidenswerthe Amt oblag, die „erste Klasse“ in der Litteraturgeschichte zu unterrichten, hatte sie kalt gelassen – er, der sonst alle Mädchenherzen in Flammen setzte, dem man die Ueberschuhe mit Rosenblättern füllte, aus dessen Pelz man Haare auszupfte, um sie im Brieftäschchen bei sich zu tragen, und der durch die männliche Entschiedenheit, mit der er sich eines Tages „derartige Albernheiten“ verbat, noch einen dämonischen Zauber mehr in den Augen seiner Schülerinnen gewann.
Wie gesagt, auch dieser war Aennchens Ruhe nicht verderblich geworden – dem unbekannten Kurt blieb es vorbehalten, ihr sechzehnjähriges Herz ohne jede Bemühung von seiner Seite einzunehmen, und das K aus Nudelteig sollte, so gelobte sie sich, ewig, unverdrängt durch einen andern Buchstaben in ihrer Kapsel bleiben. Der Abschied von der Pension, die zugleich „Seinen“ Aufenthaltsort zu bedeuten schien, war ihr wesentlich erleichtert worden, indem ihr das namenlose, allerdings stark mit Wehmuth versetzte Glück zu theil wurde, daß sie den Unbekannten eines Tages in einer Droschke mit einem Koffer wie andere Sterbliche nach dem Bahnhof hatte fahren sehen. Er war also fort – wohin? ließ sich bei der unbequemen Größe der Welt und der Unberechenbarkeit der Eisenbahnen allerdings nicht feststellen, und sich nach ihm zu erkundigen, hätte Anna in ihrer Schüchternheit nie fertiggebracht.
Aber mit der der Jugend eigenen Hoffnungsseligkeit ging sie jetzt umher und war fest überzeugt, der Unbekannte würde ihr irgendwo und irgendwann wieder begegnen. Hier, in dem kleinen Krähwinkel, das Schwager und Schwester nun seit sechs Jahren bewohnten, war dies freilich recht unwahrscheinlich – aber wer konnte wissen! Sie zog wieder ihre Kapsel hervor, betrachtete das K und seufzte so recht aus tiefstem Herzen.
In demselben Augenblick ging die Thür auf und ihr Schwager, der Amtsrichter Schwarz, trat in das Zimmer, von seiner Frau gefolgt. Anna fuhr mit einem leichten Schrei zusammen und verbarg ihr Heiligthum.
„Nun, was hast Du denn?“ frug der Hausherr etwas verdrießlich, „Du thust ja, als ob ich der schwarze Mann wäre!“
„Laß sie nur,“ beschwichtigte Helene, „sie muß erst bekannter werden, dann wird sie schon aufthauen!“
Der Amtsrichter hatte inzwischen an dem zum zweiten Frühstück gedeckten Tisch Platz genommen. Er war ein ganz hübscher, angenehm aussehender Mann mit einem Zuge von Humor um die Lippen, der nur ungenügend durch einen etwas grämlichen Blick und buschige Augenbrauen versteckt wurde. Der Amtsrichter war nie aus kleinen Städten herausgekommen – eine Thatsache, die dem Menschen unbarmherzig ihr Gepräge aufzudrücken liebt! In einem Nest von zehntausend Einwohnern aufgewachsen, hatte er auf der winzigsten aller Universitäten studiert und seine Referendariatszeit in einem oberschlesischen Städtchen zugebracht, wo er als „der Referendar“ ohne weitere Bezeichnung umherging – ja sogar in der Ortskneipe am Stammtisch nur ein Serviettenband mit der Aufschrift „der Referendar“ hatte, weil er eben einzig in seiner Art und dadurch jede Verwechselung ausgeschlossen war.
Dort hatte er seine Frau kennengelernt, und das Ehepaar saß nun, wie erwähnt, seit sechs Jahren in einer andern kleinen Stadt, in der jeder die genaueste Lebensbeschreibung des andern liefern konnte, dessen Speisezettel auswendig wußte und genau erfuhr, wenn die Post dem lieben Nächsten ein Packet brachte – wo dann nach Form und Größe dieses Packets der nächste Damenkaffee die unfehlbarsten Schlüsse auf den Inhalt und den Absender des fraglichen Gegenstandes zu ziehen verstand. Der Amtsrichter Schwarz, als Honoratiore der Stadt, litt natürlich ganz besonders unter der leidenschaftlichen Aufmerksamkeit seiner Nachbarn und behauptete, er könnte sich keinen Knopf an den Rock nähen lassen, ohne daß seine guten Bekannten dies frohe Ereigniß sich gegenseitig meldeten, sich darüber wunderten und ergötzten – ja, er könnte, meinte er, sehr froh sein, wenn das Lokalblättchen sich nicht der Thatsache bemächtigte und sie in einem pikant gehaltenen Artikel seinen Lesern am nächsten Morgen vorsetzte.
Dieser Zustand hatte sich im Laufe der Jahre im Bewußtsein des Amtsrichters bis zur Unerträglichkeit gesteigert, und wie sich schwierige innerliche Vorgänge in bestimmten Menschen oft verkörpern, so gipfelte alle die Kleinstädterei, die gegenseitige Beobachtung und Kontrolle für die Familie Schwarz in der Person des Apothekers Lebermann, eines ganz gutmüthigen, aber entsetzlich langweiligen und neugierigen Mannes, der sich für alles in der Welt interessirte und alles wissen wollte – andererseits aber auch dieselbe rege Antheilnahme für sich und seine Erlebnisse bei seinen Nebenmenschen voraussetzte.
Der Amtsrichter kehrte heut, an dem Tage, da unsere Erzählung beginnt, schon ein wenig gereizt vom Gericht zurück, und sein Antlitz verdüsterte sich merklich, als er den Apotheker auf sich zukommen sah.
War es, wie wir gehört haben, Herrn Lebermanns berechtigte Eigenthümlichkeit, alles wissen zu wollen und mit einer gewissen [784] bohrenden Zähigkeit seinen lieben Nächsten so lange durch Fragen mürbe zu machen, bis dieser ihm die gewünschte Auskunft wüthend an den Kopf warf wie ein gereizter Quartaner einen Schneeball, so war der Amtsrichter von Natur eher das, was man im gewöhnlichen Leben einen Geheimnißkrämer nennt. Niemand sollte wissen, was er that, was er trieb, wo er seine Sachen kaufte und mit wem er in Briefwechsel stand – ja sogar seinen Vornamen betrachtete er als tiefstes Geheimniß, und es hatte einmal zu einem leidenschaftlichen Zerwürfniß mit seiner Frau geführt, als sie, diesen Grundsatz nicht gebührend würdigend, ihn in der Eisenbahn mit der harmlosen Anrede: „Sieh doch die reizende Aussicht, Karl!“ – vor den Mitreisenden demaskirt hatte.
Die beiden so sehr verschiedenen Herren trafen sich also, und während der Amtsrichter sich wie ein Aal wand, um dem Apotheker zu entgehen, hielt dieser ihn ebenso beharrlich fest und eröffnete die Unterhaltung mit der allerdings schon durch den Augenschein genügend beantworteten Frage: „Nun, kommen Sie schon vom Gericht, Herr Amtsrichter?“
„Nein!“ sagte der Amtsrichter unliebenswürdig.
„Nein?“ wiederholte Herr Lebermann verwundert, „aber das ist doch Ihr gewöhnlicher Weg? Wo kommen Sie denn her?“
Der Amtsrichter stellte sich taub.
„Um die Zeit kommen Sie doch gewöhnlich vom Gericht,“ fuhr Herr Lebermann fort; „ach, Sie wollen’s bloß nicht sagen,“ setzte er gemüthlich hinzu, „ich weiß es ganz gut!“
„Nun, wenn Sie’s wissen, brauchen Sie mich ja nicht erst zu fragen,“ brummte der Amtsrichter.
„Und jetzt gehen Sie nach Hause,“ bemerkte Herr Lebermann mit der glücklichen Sicherheit eines Mannes, der seinen Lebenszweck erreicht hat, genau über anderer Leute Ziele und Wege auf dem Laufenden zu sein, „ich komme ein Stückchen mit! Ich gehe nämlich jetzt jedem Tag um diese Zeit spazieren!“
„Das machen Sie recht!“ bemerkte Herr Schwarz mit tödlicher Gleichgültigkeit.
„Und wenn ich nach Hause komme, esse ich mein belegtes Brötchen,“ theilte der Apotheker vertraulich mit, „nur eins! sonst verderbe ich mir das Mittagsessen! Ja, dabei fällt mir ein – wie bekommt Ihnen denn das spätere Mittagsbrot?“
Der Amtsrichter sah ihn giftig an.
„Woher wissen Sie denn, daß ich später esse wie gewöhnlich?“ frug er entrüstet.
„Nun, Ihre Pauline ist ja die Schwester von unserer Klara – die hat es ihr erzählt. Nicht wahr, Sie essen um halb Zwei?“
„Wie es kommt!“ stieß der gereizte Amtsrichter hervor, der seiner selbst kaum mehr mächtig war, „aber hier bin ich zu Hause – guten Morgen, Herr Lebermann!“
„Halt!“ sagte der Apotheker und faßte den Amtsrichter, der sich ärgerlich loszumachen suchte, am Rockknopf; „noch eins – bei Ihnen ist wohl Besuch angekommen?“
„Warum?“ frug Schwarz, zitternd vor Zorn – er hatte seine Schwägerin vor zwölf Stunden bei stockfinsterer Nacht von der Bahn geholt und hoffte, die Thatsache ihrer Anwesenheit sei noch niemand bekannt.
„Nun, ich sah heute, daß Ihre Pauline drei Törtchen von Steidler holte,“ meinte der Apotheker harmlos, – „sonst haben Sie doch immer zwei – da dachte ich mir –“
Der Amtsrichter warf dem Frager einen vernichtenden Blick zu.
„Nehmen Sie doch den Fall an, ich hätte einmal zwei Törtchen essen wollen!“ sagte er mit beängstigender Höflichkeit und ging voll Aerger in das Haus.
Große Entschlüsse reiften in seinem Herzen, und das Ergebniß dieser Ueberlegungen zeigte sich darin, daß er, als er mit seinen Damen beim zweiten Frühstück saß, plötzlich die überraschenden Worte ausstieß: „Wir reisen heute abend nach Berlin!“
Helene ließ die Gabel sinken und sah ihren Mann mit weitgeöffneten Augen an. „Heute abend?“
„Na, wenn ich sage, heute abend, da meine ich nicht in anderthalb Jahren,“ brummte der Hausherr. „So seid Ihr Frauen! Immer hast Du geredet und gebeten: wir wollen doch einmal reisen – wir wollen doch einmal herauskommen! Und jetzt, wo ich es Euch anbiete, machst Du Schwierigkeiten!“
„Aber bester Karl!“ beschwichtigte seine Frau, „ich war ja nur so überrascht durch den plötzlichen Entschluß! Wie kommst Du denn darauf?“
„Ich habe die Krähwinkelei hier satt – und besonders den Apotheker!“ sagte Karl energisch. „Was tausend – ich kann mir ja nicht die Nase putzen, ohne daß der Lebermann herschickt und mich fragen läßt, ob ich den Schnupfen habe! Die Leute ersticken einen hier mit ihrer Neugier! Ich will einmal sehen, wie es in einer großen Stadt ist, wo man so ganz inkognito herumgeht – ich kann gerade den Sonntag über abkommen – wir nehmen drei Retourbillette und fahren heute abend nach Berlin! Abgemacht! Geht und packt Eure Sachen!“
Er legte die Serviette zusammen und erhob sich. Ein halblauter Ausruf Aennchens unterbrach ihn:
„Drei? – fahre ich auch mit?“
Eine so unverhohlene Glückseligkeit sprach aus ihrem reizenden Gesichtchen, daß der Schwager sich eines Lächelns nicht erwehren konnte.
„Na freilich,“ sagte er, „wir werden Dich doch wohl nicht zu Hause lassen!“
„Ach, Karl – danke!“ rief Anna hocherfreut, und während Helene ihren „Brummbär“ von der einen Seite streichelte, klopfte die kleine Schwägerin ihn von der andern auf die Schulter, „danke, Karl – Du bist entzückend!“
„Na, das hat mir auch seit meinem zweiten Jahr keiner mehr gesagt,“ meinte der Amtsrichter, dessen üble Laune vor den Strahlen der durch ihn verbreiteten Glückseligkeit zerging wie Schnee an der Frühjahrssonne, „nun weiß ich doch, wie man solche kleine, scheue Vögel zahm macht – nicht wahr, Helene? Entzückend!“
Und mit einem halb ironischen, halb geschmeichelten Achselzucken verließ er das Zimmer, um sich in das Studium des Kursbuches zu vertiefen, welches ihm wie den meisten selten reisenden Leuten ein Buch mit sieben Siegeln war.
Der Tag, an welchem dieser folgenschwere Entschluß gefaßt wurde, war ein kalter, windiger Herbsttag, der aufs entschiedenste gebot, sich für die Nachtfahrt mit warmen Kleidungsstücken zu versehen, Die Damen waren den ganzen Nachmittag mit dem Herrichten ihrer Garderobe beschäftigt, die sich plötzlich, angesichts der Reise, in mancherlei Hinsicht als der Ergänzung bedürftig erwies.
„Das kaufen wir alles in Berlin!“ beruhigte Helene die Schwester, die mit äußerst sorgenvoller Miene ihr einfaches Strohhütchen aufsetzte und gar nicht zu bemerken schien, wie allerliebst es ihr zu Gesicht stand. Der Amtsrichter ging ab und zu und warf kurze Bemerkungen in das Zimmer der Damen: „Nehmt nur nicht die halbe Aussteuer mit auf die zwei, drei Tage!“ warnte er.
Der Abend kam schnell heran, die Zeit wurde möglichst ausgenutzt, und als schon die Lampen brannten, fand sich immer noch dies und jenes, was zu besorgen oder zu bestellen war. Im letzten Augenblick – man saß schon beim Thee – fiel dem Hausherrn nach etwas ein – er klingelte.
„Hast Du besorgt, was ich Dir heute vormittag auftrug?“ frug er das eintretende Mädchen in seiner geheimnißvollen Art.
Pauline sah ihren Herrn mit nicht allzu geistreichem Ausdruck an.
„Was denn, Herr Amtsrichter?“
„Das abgeholt!“ umschrieb der Angeredete.
Pauline schwieg aus entschiedenstem Mangel an Verständniß.
„Aber Karl, sage ihr doch, was Du meinst,“ bat Helene, „die Zeit drängt – wir müssen ja fort!“
„Nun ja,“ erwiderte der Amtsrichter verdrießlich, „Ihr könnt es natürlich nicht ertragen, wenn Ihr nicht wißt, wovon die Rede ist! Hast Du meinen Pelz vom Kürschner geholt, Pauline?“
Pauline erröthete schuldbewußt.
„Ach, das habe ich ganz vergessen, Herr Amtsrichter – ich springe jetzt noch rasch hin!“
„Ja, und ‚springst‘ erst zurück, wenn wir schon in der Bahn sitzen,“ sagte ihr Herr verächtlich; „na, dann werde ich mich eben an den Tod erkälten auf der Reise – wenigstens brauche ich dann dem Lebermann nicht zu erzählen, wie es bei meinem Begräbniß war!“
„Nun, nun, Karl,“ beschwichtigte Helene diese düstere Auffassung, „da ließe sich wohl noch ein Mittelweg finden! Pauline bringt uns den Pelz direkt auf die Bahn und Du nimmst ihn dort in Empfang! Verstehst Du, Pauline?“
[785]
[786] Die Pauline nickte gedemüthigt und trollte sich, während der Amtsrichter aufstand und sich die kleine Ledertasche für Geld und Billette umhing, seine Damen auch zur Eile antreibend:
„Macht Euch fertig, Kinder – ich glaube, da kommt schon der Wagen!“
Droschken gab es nicht; ein Lohnkutscher stellte zu den äußerst seltenen Gelegenheiten, wo man in Solau nicht zu Fuß ging, – also meist nur zu Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen – seinen Zweispänner. Dieser war auch für heute abend gewonnen, um Amtsrichters zur Bahn – und auf dem Rückweg die wichtige Neuigkeit von ihrer Reise durch die ganze Stadt zu bringen, die man zu abseitiger Freude mit ihrem Geklatsch und vor allem mit Lebermann auf ein paar Tage hinter sich lassen wollte.
Als die Amtsrichtersfamilie auf dem Bahnhof ankam, erlitt ihre frohe Laune noch eine kleine Trübung, indem Pauline mit dem Pelz nicht zu erblicken war. Vergeblich spähte alles durch das Dunkel der Nacht, und schon hatte man, in sein Schicksal ergeben, die Plätze im Wagen eingenommen, als die Erwartete wie Schillers Taucher athemlos herbeistürzte, „und hoch in ihrer Linken schwang sie den Pelz mit freudigem Winken!“ Der Amtsrichter schlüpfte eilig in die wärmende Hülle, und es war auch die höchste Zeit, denn schon wurden die Wagenthüren zugeschlagen – ein gellender Pfiff – und der Zug setzte sich in Bewegung.
Unsere drei Reisenden waren in rosigster Stimmung. Helene, die seit ihrer Verheirathung keinen Fuß aus der Provinz gesetzt hatte, malte sich die Herrlichkeiten Berlins in den buntesten Farben aus, und Aennchen träumte unbestimmte, goldene Träume und baute die glänzendsten Luftschlösser, in denen der unbekannte Kurt immer im entscheidenden Augenblick aus irgend einem Fenster sah.
Der Amtsrichter rieb sich vergnügt die Hände.
„Na – endlich einmal aus unserem elenden Nest heraus,“ sagte er und lehnte sich behaglich in die Ecke zurück, „nun wollen wir alle hübsch schlafen und erst morgen früh in Berlin die Augen wieder aufthun!“
Die Nachtfahrt ging ohne Störung vorüber, und erst kurz vor Berlin erwachte man allerseits und fuhr mit dem gehobenen Bewußtsein, sich in der Reichshauptstadt zu befinden, in den Bahnhof Friedrichstraße ein.
Der Amtsrichter steckte sein etwas verschlafenes Haupt zum Wagenfenster hinaus.
„Da seht einmal dies Gewimmel und Getreibe,“ sagte er fröhlich, „hier ist es freilich anders wie bei uns in Solau! Hier verschwindet der einzelne wie ein Tropfen im Meer, und keiner kümmert sich um das, was der andere thut und treibt. Nun steigt aus, Kinder!“
Er dehnte sich behaglich und nahm die Handkoffer aus dem Wagennetz, um sie seinen Damen zuzureichen, denen er sogleich auf dem Fuß folgte.
„Seht Ihr, hier kennt einen nun kein Mensch,“ begann er dann von neuem, „wir können die drei Tage thun und treiben, was wir wollen – man ist wie auf einem großen Maskenball!“
„Guten Morgen, Herr Amtsrichter!“ tönte in dem Augenblicke eine Stimme hinter ihm, „darf ich eine Droschke besorgen?“
Der Angeredete fuhr erschreckt zusammen. Ein ihm und seinen Damen gänzlich unbekannter Kofferträger stand vor ihm und griff mit einem sehr verschmitzten Gesicht eben nach den Gepäckstücken, mit denen er sich mit lastthierartiger Geschicklichkeit belud.
„Woher kennen Sie mich denn?“ frug der Amtsrichter etwas gereizt über diesen sofortigen Angriff auf sein Inkognito.
Der unbekannte Freund hatte aber bereits den Weg nach der Droschke angetreten und schaffte die Koffer auf deren Verdeck.
Ein herrlicher Herbstmorgen lag dämmernd über der Stadt, die in ihrer vornehmen Großartigkeit unseren Kleinstädtern verlockend winkte.
„Weißt Du, Karl,“ begann Helene, die sich mit Aennchen inzwischen über ihre gemeinsamen Absichten und Wünsche verständigt hatte, „wie wäre es denn, wenn wir zu Fuß nach dem Hotel gingen? Da wir nur so kurze Zeit hier sind, müßten wir doch jeden Augenblick auskosten, und ich glaube, nach der durchreisten Nacht wird uns ein Spaziergang sehr viel erfrischender sein als die Droschkenfahrt!“
„Ach ja!“ stimmte Aennchen ein, deren strahlende Augen die neue Wunderwelt betrachteten wie ein Kind das Märchenland.
„Nun, immer zu!“ versetzte der Amtsrichter, den die Luft der Residenz mit einem Schlage in einen jovialen Lebemann umgewandelt hatte, „ich hole nur einen Plan von Berlin und bin gleich wieder bei Euch!“
Er bezahlte die Droschke, während die Damen langsam voranschritten, und gab noch ein Trinkgeld, um sicher zu sein, daß der Rosselenker auch die Koffer richtig am Hotel abliefern würde. Als er sich nach dem Bahnhof zurückwandte, wo er den Plan zu erstehen beabsichtigte, rief ihm der Droschkenkutscher nach:
„Danke bestens, Herr Amtsrichter!“
Der brave Mann stutzte nun doch – er warf einen mißtrauischen Blick zurück, – da stand noch immer der Kofferträger neben der Droschke, und beide Männer grinsten teuflisch.
„Aha!“ dachte unser Amtsrichter, „der Kerl hat vorhin gemerkt, daß er mich mit seiner dummen Anrede geärgert hat, und nun utzen sie mich hier in Kompagnie. Das ist so Berliner Humor – das muß man sich hier gefallen lassen!“
Mit einem Plan von Berlin bewaffnet, der ungefähr so groß war wie ein mäßiger Bettschirm, eilte der Amtsrichter seinen Damen nach, die an jedem Laden in der Friedrichstraße so sicher hängen blieben wie die Fliegen an der Leimruthe.
Ein schönes Schaufenster mit Gegenständen aus cuivre poli fesselte unsere Gesellschaft eben und der Amtsrichter sagte behaglich:
„Nun, labt Euch nur hier! Wo man so unbekannt ist, kann man ruhig an den Schaufenstern stehen bleiben!“
Er vertiefte sich seinerseits auch in die Betrachtung der Herrlichkeiken.
„Na, Herr Schwarz, das gefällt Ihnen wohl?“ rief da eine krähende Stimme, und ein Schusterjunge mit einem schelmischen Spitzbubengesicht huschte lachend an ihm vorüber.
Der Amtsrichter stand sprachlos.
„Nein, nun wird mir’s zu toll!“ rief er aus, „das geht nicht mit rechten Dingen zu! Kommt, Kinder, die Sache ist entschieden unheimlich! Das ist gewiß so eine Bauernfängergeschichte – machen wir, daß wir ins Hotel kommen! Redet mich aber noch einmal einer Herr Amtsrichter oder Herr Schwarz an, der soll’s kriegen!“
Die Schwestern waren auch schon ganz ängstlich geworden.
„Ja, ja,“ stimmte Helene bei, „gehen wir rasch nach dem Hotel – das ist ja ungemüthlich hier in Berlin! Ich begreife gar nicht, Karl,“ setzte sie hinzu, „Du mußt doch irgend einer stadtbekannten Persönlichkeit hier fabelhaft ähnlich sehen, die auch Schwarz heißt!“
„Und auch Amtsrichter ist?“ frug Karl höhnisch, „recht wahrscheinlich, mein Kind! Aber ich sage es ja, man muß nur einmal vergnügt sein wollen, gleich fängt der Aerger an!“
Sie waren im eifrigen Verhandeln über die mögliche Ursache des ungewöhnlichen Ereignisses weitergegangen und bemerkten plötzlich, daß sie die Richtung verloren hatten.
„Wo sind wir denn eigentlich?“ fragte Aennchen mit zitternder Stimme, „ich dachte, wir sollten hier unter die Linden kommen?“
„Eben, Karl,“ stimmte Helene bei, „Du führst uns ja immer weiter! Hier ist es schon gar nicht mehr hübsch, und ich bin auch todmüde!“
Karl zog seinen riesigen Plan hervor.
„Wartet einmal,“ sagte er würdevoll, „wir werden es gleich haben!“
Und er entfaltete das ungeheure Blatt. Ein tückischer Morgenwind aber zauste dasselbe unbarmherzig hin und her, und es blieb den Damen nichts anderes übrig, als sich wie Bannerträger rechts und links von dem Amtsrichter aufzupflanzen und den Plan zu halten. So schnell gelang es nun aber Karl nicht, sich zurechtzufinden, und während er noch suchte, kam ein großer feingekleideter Mann die Straße herunter und betrachtete mit unverhohlener Belustigung die auffallende Gruppe, Aennchens reizende Erscheinung dabei besonderer Beachtung würdigend. Das Gesicht des Fremden trug einen heiteren, fast übermüthigen Ausdruck und sah dabei so hübsch und angenehm aus, daß gar kein Grund vorhanden schien, warum Aennchen, die eben die Augen erhob, plötzlich bis in die Stirn erröthete und mit vor Schreck zitternder Hand kaum den Plan festzuhalten vermochte, auf dem Karl und Helene noch immer vierhändig und wehklagend nach ihrem Hotel suchten.
[787] Der Fremde, auf den das liebliche, befangene Mädchen entschieden Eindruck machte, ging indessen langsam weiter und kehrte noch einmal um. Eine unverhohlene Lustigkeit und ein mühsam bekämpftes Lachen lag auf seinem Gesicht, als er hinter Karl vorkam und vorn an den Planhaltern vorbeiging.
„Guten Morgen, Herr Amtsrichter Schwarz,“ sagte er, indem er den Hut tief vor den Damen zog und sich anschickte, seinen Weg fortzusetzen.
Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Aufs äußerste gereizt, stürzte der Amtsrichter hinter ihm her.
„Mein Herr, was fällt Ihnen ein? Woher kennen Sie meinen Namen und Titel?“ brachte er mühsam hervor, während Helene ihm vergeblich mit einigen „aber Karl!“ über die ihr selbst unfaßliche Thatsache fortzuhelfen suchte.
Karl schüttelte sie unwillig ab.
„Wie kommen Sie dazu,“ wiederholte er mit noch größerer Heftigkeit, „mich bei meinem Namen anzureden?“
„Ja, wenn der ein Geheimniß sein soll, verehrter Herr,“ sagte der Fremde lachend, „da möchte ich Sie freilich darauf aufmerksam machen, daß es besser wäre, Sie trügen ihn weniger deutlich auf dem Rücken!“
Karl starrte den Sprecher wortlos an. Helene drehte ihren Mann mit größter Schnelligkeit herum – ja, nun war freilich das Räthsel gelöst! Der unselige Kürschner hatte in der Eile vergessen, den Zettel von dem Pelz abzunehmen, mit dem er dieses Werthstück vor andern ihm in Verwahrung gegebenen bezeichnet hatte, und unser armer Karl lief seit einer Stunde in Berlin herum, einen großen Zettel auf dem Rücken, auf dem mit großen Buchstaben stand: „Herr Amtsrichter Schwarz!“
Blätter und Blüthen.
Daniel Sanders. Am 12. November feierte ein deutscher Gelehrter, dessen Arbeiten unserem ganzen Volke zugute kommen und der auch den Lesern der „Gartenlaube“ wohl bekannt ist, seinen siebzigsten Geburtstag. Daniel Sanders hat mit einem bewundernswerthen Fleiße und einer rühmenswerthen Ausdauer an der Erfüllung seiner Lebensaufgabe gearbeitet, das Verständniß der deutschen Muttersprache unserem Volke zu erschließen, in großen wissenschaftlichen Arbeiten den Geist derselben zu erforschen und ihren Reichthum darzulegen, den sie in ihrer neuesten Entwickelung bietet.
Er ist am 12. November 1819 zu Altstrelitz geboren, studierte seit 1839 zu Berlin und Halle und erhielt 1843 die Direktion der Schule in Altstrelitz, die unter seiner Leitung zur Blüthe gelangte, aber wegen ungünstiger Verhältnisse im Jahre 1852 einging. Seitdem lebt er als Privatgelehrter und entfaltete auf dem von ihm beherrschten Gebiete eine lebhafte Thätigkeit, welche ihm eine einflußreiche Stellung sicherte und ihn mit der Zeit zu einem der ersten Vertreter der Sprachgelehrsamkeit machte. Mit den Grundsätzen, nach denen das große Grimmsche Wörterbuch ausgearbeitet wurde, war er nicht einverstanden und er verfaßte mehrere Schriften, in denen er seine abweichenden Ansichten aussprach. Doch dieser kritische Standpunkt genügte ihm nicht; er warf selbst eine wissenschaftliche That in die andere Wagschale und verfaßte das große „Wörterbuch der deutschen Sprache“ (1859 bis 1865, drei Quartbände). An dem Grimmschen Lexikon arbeitet bekanntlich eine größere Zahl deutscher Gelehrter mit. Sanders nahm die Riesenarbeit ganz allein auf sich und führte sie in einer Weise durch, welche auch seinen Gegnern Achtung abnöthigte. Von Luther bis auf die jüngste Zeit stellte er zusammen, was der Sprachgenius durch seine begnadeten Jünger geschaffen hat, und erwarb sich dadurch ein nicht geringes Verdienst, daß er gerade die neueste Litteratur in ihren Hauptvertretern, welche die deutsche Sprache wesentlich fortentwickelt haben, mitberücksichtigte. Ergänzungen dieses großen Wörterbuchs waren das „Wörterbuch deutscher Synonymen“ (1871) und das „kurzgefaßte Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deutschen Sprache“ (18. Aufl. 1888); das letztere, auch in erweiterter Gestalt unter dem Titel „Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deutschen Sprache“ erschienen, ist ein vorzügliches Hilfsbuch für alle, welche hier und dort rathlos dem schwankenden Sprachgebranch gegenüberstehen. Ein Auszug aus dem großen Wörterbuche, das „Handwörterbuch der deutschen Sprache“ (1869; 4. Aufl. 1888), erweist sich ebenfalls als ein sehr volkstümlicher Rathgeber; jenem aber, seinem großen Hauptwerke, hat er später sein „Ergänzungswörterbuch der deutschen Sprache“ als Abschluß hinzugefügt.
In zwei wichtigen Fragen, welche gegenwärtig die deutschen Sprachmeister und Sprachjünger in zwei getrennte Heerlager theilen, hat der Fleiß von Daniel Sanders wesentlich vorgearbeitet. Die eine dieser Fragen ist diejenige der Fremdwörter: das „Fremdwörterbuch“ unseres Gelehrten (1871, 2 Bände), mit großem Fleiß ausgeführt, giebt genaue Auskunft über die Bedeutung der mehr oder weniger bei uns eingebürgerten Eindringlinge; in seinem „deutschen Sprachschatz, geordnet nach Begriffen“ (1874–1876) hat er auch dem Fremdwort, soweit es in den Werken unserer großen Schriftsteller heimisch geworden ist, die gleichberechtigte Stelle neben dem urdeutschen Sprachschatze eingeräumt. Die zweite Frage betrifft die deutsche Rechtschreibung: als es sich um eine Neugestaltung derselben handelte, wurde er von den preußischen Behörden als Sachverständiger mit zu Rathe gezogen. Seinem „Katechismus der deutschen Orthographie“ (4. Aufl. 1878) ließ er seine „Vorschläge zur Feststellung einer einheitlichen Rechtschreibung für Alldeutschland“ (1873–1874) und sein „Orthographisches Wörterbuch“ (2. Aufl. 1876) folgen.
Wir können hier nicht auf alle seine andern zahlreichen Veröffentlichungen, nicht auf seine „Deutschen Sprachbriefe“ in der Form der Toussaint-Langenscheidtschen Methode, auf seine „Geschichte der deutschen Sprache und Litteratur“, auf seine Schriften über das Neugriechische, auf seine eigenen Gedichte, in denen zum Theil eine satirische Ader sich geltend macht, eingehen. Die Summe seiner wissenschaftlichen Leistungen ist eine so bedeutende, so unmittelbar in die Gegenwart eingreifende, daß das deutsche Volk wohl die Pflicht hat, den Ehrentag des deutschen Gelehrten nicht unbeachtet vorübergehen zu lassen. †
Die Wohnungsnoth der ärmeren Klassen. Wer durch Beruf oder eigenen Antrieb in eine Reihe von Wohnungen geführt wird, in denen die Angehörigen der ärmeren und ärmsten Klassen, eng zusammengedrängt, ihr Dasein fristen, der wird zur Ueberzeugung kommen, daß hier einer der wundesten Punkte unseres gesellschaftlichen Lebens liegt und daß hier vor allem der Hebel der Besserung und Neugestaltung angesetzt werden muß. Es ist von Lehrern der Volkswirthschaft, von praktischen wohlwollenden Männern in England, Frankreich und Deutschland viel über diese Frage geschrieben worden, und erst neuerdings hat ein mit vielen thatsächlichen Mittheilungen ausgestattetes Schriftchen von Ludwig Fuld unter dem obigen Titel in den „deutschen Zeit- und Streitfragen“ dieses Thema behandelt.
Die Wohnungsnoth der ärmeren Klassen mag in den Städten, besonders in den Großstädten am größten sein, aber auch auf dem flachen Lande, in den Dörfern zeigt sich das gleiche Elend. Die Statistik hat aber die Verhältnisse der Hauptstädte besser durchforscht und auf der Grundlage dieser Forschungen Zahlen aufgestellt und gruppirt, welche beredter sprechen als alle wohlmeinenden Betrachtungen. Die Vermehrung der kleinen Wohnungen steht hier in keinem Verhältniß zur Vermehrung der Bevölkerung; daraus ergeben sich alle Mißstände und der ganze Jammer, der sich an die Wohnungsnoth knüpft. In Berlin z. B. ist zwar außerordentlich viel gebaut worden; ganze neue Stadttheile sind im Westen aus der Erde gewachsen, aber das sind im ganzen große, behagliche, luxuriöse Wohnungen. Dagegen macht sich der Mangel an kleinen Wolnungen überaus fühlbar; die Preise für dieselben sind im Verhältniß außerordentlich hoch und die Folge davon ist eine gesundheitswidrige Ueberfüllung der Wohnungen. Die Bevölkerung Berlins ist seit 1864 von 633 279 auf 1 315 547 im Jahre 1885 gestiegen. Die Zahl der billigen Wohnungen ist in dieser Zeit in beträchtlichem Umfange zurückgegangen. Während der Jahre 1840 bis 1881 sanken die Wohnungen mit einem Miethspreise bis zu 90 Mark von 18,69 Prozent auf 3,68 Prozent, die Wohnungen, deren Miethe 90 bis 150 Mark betrug, von 31,98 Prozent auf 13,32 Prozent, während die Zahl der Wohnungen mit einem Miethspreise zwischen 600 bis 1200 Mark sich in derselben Periode verdoppelt, die Zahl derjenigen, für welche 3000 Mark und mehr verlangt werden, sich vervierfacht hat.
Die unerbittlichen Zahlen der Statistik erklären zur Genüge die bedauerlichen Zustände, die sich in den großen Städten entwickeln. Das erstaunliche Mißverhältniß zwischen der Zunahme der Bevölkerung und der Bauthätigkeit hat zunächst die ausnehmend hohen Miethspreise zur Folge; die Wohnungsausgaben machen für die unbemittelten Klassen ein Viertel und mehr des ganzen Einkommens aus; die Arbeiterfamilien in Berlin zahlen im Durchschnitt einige 20 Prozent ihres Einkommens für Miethe. Damit hängt der Wohnungswucher zusammen, der Druck, den der Vermiether durch wucherische Ausbeutung der Nothlage des Arbeiters ausübt. Wir sind noch weit davon entfernt, daß der Richter auf Grund von Gesetzen gegen diesen Wucher einschreiten könnte wie gegen den Geldwucher; er muß im Gegentheil auf Grund des Miethsvertrags den Miether auch dann oft verurtheilen, wenn er selbst von dem wucherischen Vorgehen des Vermiethers ganz überzeugt ist.
Eine andere Folge der Wohnungsnoth ist die Ueberfüllung der Wohnungen; hier berühren wir einen der dunkelsten Flecke des städtischen Lebens, und die Scenen, welche die Romanschreiber der Wirklichkeit nachschildern, bleiben noch immer hinter den Berichten der städtischen Missionen zurück. Berlin und auch andere deutsche Städte wie Breslau und Straßburg geben hierin den großen Weltstädten London und Paris nichts nach. Das Unwesen der sogen. Schlafleute und Aftervermiether, welches gar kein Familienleben mehr aufkommen läßt, welches schon die Gemüther der Kinder vergiftet, alles sittliche Fühlen untergräbt und solche überfüllte Wohnungen oft zu Brutstätten des Verbrechens macht, steht hier in voller Blüthe. Es liegt darüber eine im Jahre 1880 in Berlin angestellte Erhebung vor und seitdem dürften sich diese Zustände noch verschlechtert haben. Da wird von einem Haushalt mit 34 Schlafburschen, von einem andern mit 9 männlichen und 2 weiblichen Schlafleuten berichtet. In 15 065 Haushaltungen gab es für die Familie sammt den Schlafleuten nur einen Raum; von denselben hatten 6953 noch einen Schlafburschen, 4132 noch ein Schlafmädchen, 1790 je zwei Schlafburschen, 607 je einen Schlafburschen und ein Schlafmädchen, 721 je zwei Schlafmädchen und 357 je drei Schlafburschen. Wenn in diesen Räumen überhaupt ein Bett vorhanden ist, so lagert darauf, so viel irgend Platz hat, alle andern auf Stroh und Streu auf der Erde.
Es ist klar, daß von einer Gesundheitspflege auch im beschränktesten Maße in solchen Wohnungen gar nicht mehr die Rede sein kann; aber [788] auch die Räume an sich in den Kellerwohnungen und Dachwohnungen sind ungesund. Die Pariser Armenverwaltung hat vor kurzer Zeit festgestellt, daß die Wohnungen von 39 603 Haushaltungen, welche durch sie unterstützt werden, in gesundheitlicher Beziehung durchaus ungenügend waren. Ein anderer aus diesen Verhältnissen erwachsender Mißstand ist der fortwährende Wohnungswechsel; eine zahlreiche Klasse unserer Bevölkerung ist bereits auf dem Standpunkte der Wohnungsnomaden angelangt. In den volkreichen Städten findet vierteljährlich ein wahrer Massenauszug statt. Entweder der Miether zahlt nicht und wird von dem Vermiether auf die Straße gesetzt, oder dieser findet einen angenehmeren Miether und kündigt deshalb dem bisherigen.
Dieser trostlosen Wohnungsnoth zu steuern, vermag weder der Staat allein noch die Gesellschaft noch die gemeinnützige wohlthätige Gesinnung und Thätigkeit der einzelnen, sondern das vermögen nur alle diese zusammen. Den Bau kleiner Arbeiterwohnungen muß der Staat und die Gemeinde begünstigen; gemeinnützige Bau- und Wohnungsgesellschaften müssen sich bilden zur Errichtung kleiner, gesunder Wohnungen. Es bedarf dabei nicht einmal finanzieller Opfer, eine mäßige Verzinsung ist sicher. Auch die Arbeiter selbst sind in der Lage, durch Vereinigung zu Baugenossenschaften Häuser zu errichten, die im Laufe der Zeit in ihr Eigenthum übergehen. Es ergeht daher an jeden einzelnen unseres Volkes die Mahnung, sich nach Kräften an der Lösung dieser Frage zu betheiligen, wo er im Staats- und Gemeindedienst dafür wirken kann, sie fest im Auge zu behalten, sich jeder Genossenschaft anzuschließen, die nach solcher Lösung strebt. Ohne ein sicheres, sauberes Heim schwebt das ganze Familienleben in der Luft, und gerade auf dieser Grundlage hat sich ja das deutsche Volk bisher sein nationales, sittliches und geistiges Leben aufgebaut. †
Mund zu! Ein Rathschlag für den Winter. Die Natur hat alles weise eingerichtet und uns zu unserem Nutzen mit vielen Schutzmitteln gegen allerlei Gefahren ausgerüstet. Ein solches Schutzmittel ist die Nase, denn sie ist keineswegs nur ein Riechorgan, sondern dient noch anderen wichtigen Zwecken. Zur Aufnahme fester und flüssiger Speisen ist uns der Mund beschert worden, zur Aufnahme der Luftspeise dient die Nase. Die Luft, die wir athmen, soll zuerst diesen Respirator durchlaufen und wird in ihm vorgewärmt, wenn sie zu kalt ist; feucht gemacht, wenn sie zu trocken sein sollte, und außerdem vom Staub gereinigt. Leider unterlassen viele, diese natürliche Athmungsvorrichtung zu benutzen, und gewöhnen sich das Athmen durch den Mund an. Diese Gewohnheit ist nicht schön und auch nicht für die Gesundheit förderlich. Wer darunter zu leiden hat, das ist der Rachen oder der Hals, wie man zu sagen pflegt. Es ist leicht erklärlich, daß ein kalter Luftstrom, der plötzlich den erhitzten Rachen trifft, Katarrhe zur Folge haben kann, und abgesehen von Staub und unnöthiger Verweichlichung dürfte der „schlimme Hals“ oft auf jenes unvernünftige Athmen zurückgeführt werden.
Der Rachenkatarrh ist an und für sich etwas Lästiges, er wird leicht chronisch, d. h. dauernd, geht dann auf den Kehlkopf über und verdirbt die Stimme; er ist schon darum ernst zu nehmen. Für die Kinder ist er aber noch von besonderer Bedeutung. Es steht fest, daß ein gesunder Hals ein treffliches Schutzmittel gegen die fürchterliche Diphtheritis bildet, da die gesunde Schleimhaut keinen günstigen Boden für die Aufnahme des Ansteckungsgiftes bietet, während die erkrankte ihm keinen Widerstand entgegenzusetzen vermag. Aus diesem Grunde ist es dringend geboten, im frühen Alter der Entstehung von Halskatarrhen vorzubeugen.
Das Halstuch, von dem früher ein so übertriebener Gebrauch gemacht wurde, ist heutzutage auf das richtige Maß der Anwendung zurückgeführt worden. Wünschenswerth wäre es nun, daß man auch der Nasenathmung mehr Beachtung schenken wollte. Die Gefahr der Erkältung ist namentlich bei dem schroffen Uebergang aus der warmen in die kalte Luft vorhanden, und vergrößert wird sie noch, wenn der Hals durch Sprechen und Singen vorher angestrengt worden ist. Wir sollten darum beim Verlassen des warmen Zimmers wenigstens die erste Zeit im Freien nur durch die Nase athmen und das Sprechen unterlassen. Das thun aber die Schulkinder in der Regel nicht.
„Mund zu beim Verlassen der Schule!“ ist darum ein gesundheitlicher Wink, den wir der Beachtung der Lehrer in kälteren Jahreszeiten empfehlen möchten, ebenso wie die Eltern darauf halten sollten, daß die Kinder frühzeitig sich die Nasenathmung angewöhnen. Daß man auch vermeiden sollte, die Singstunde während der Wintermonate als die letzte Unterrichtsstunde anzusetzen, ist im Interesse der Erhaltung der Stimme der Schulkinder gleichfalls zu wünschen. *
Das Schlachtgewicht der Hausthiere. Eine merkwürdige Beobachtung macht der Statistiker, wenn er den Bestand der den Menschen zur Nahrung dienenden Hausthiere in Europa und deren Schlachtgewicht von früher und jetzt vergleicht. Es hat sich herausgestellt, daß der Viehbestand Europas mit der Bewegung der Bevölkerungsziffer in den meisten Ländern nicht gleichen Schritt gehalten hat, sondern hinter derselben erheblich zurückgeblieben ist, aber es werden gegen früher nicht nur schwerere Schlachtthiere zu Markte gebracht, es hat sich auch – abgesehen vom Rindstalg, der durch die Einführung des Palmöls zur Seifenbereitung nur in geringen Mengen noch verwendet wird, von Jahr zu Jahr im Preise gesunken ist – der Werth der einzelnen Fleisch- und Fetttheile und der anderen Nutzstoffe gegen früher erhöht. Es ist eine Vergrößerung des Fleisch- und Fettgewichtes der einzelnen Schlachtthiere, also eine Verbesserung der Thierqualität durch sorgfältige Auswahl beim Ankauf und durch Mastfütterung erzielt worden. Hierzu seien nur wenige Beispiele nach Dr. v. Scherzers statistischen Angaben aufgeführt. Im Jahre 1720 betrug in England das durchschnittliche Schlachtgewicht eines Ochsen 168 kg, eines Kalbes 23 kg, eines Hammels 12½ kg, – im Jahre 1820 aber war das Schlachtgewicht des Ochsen auf 260 kg, das des Kalbes auf 45 kg, das eines Hammels auf 25 kg gestiegen, während ebendort heut vielfach Ochsen von 750 kg und Schafe von über 50 kg Schlachtgewicht vorkommen.
Ganz ähnlich verhält es sich im Deutschen Reiche. Gegenwärtig beträgt in Deutschland das mittlere Lebendgewicht für Stiere und Ochsen 466 kg, für Kühe 380 kg, für Kälber unter 6 Wochen 50 kg, für Schweine über ein Jahr 116 kg. In Frankreich hat seit dem Jahre 1840 das durchschnittliche Schlachtgewicht der Hausthiere ebenfalls bedeutend zugenommen, und zwar das der Ochsen um 52 kg, das der Kühe um 69 kg, das der Kälber um 15 kg, das der Schafe um 6 kg und das der Schweine um 15 kg. Die Verbesserung der Thierqualität in Europa ist eine Thatsache, welche die langsamer vor sich gehende Vermehrung des Viehstandes ausgleicht. H. Z.
Die Opfer des Meeres. In England wurden neuerdings die Ergebnisse einer Statistik veröffentlicht, welche ermitteln sollte, wie viel Menschen bei der Handels- und Fischereiflotte zu Grunde gehen. Demnach hat das Meer in 10 Jahren 30 000 Menschenleben gefordert. Die höchste Ziffer, 3512 Opfer, wurde im Jahre 1882, die niedrigste, 2071, im Jahre 1888 verzeichnet. Diese Zahlen beweisen, wie nöthig es noch ist, das Rettungswesen zur See allen Betheiligten ans Herz zu legen und richtige Kenntnisse über die Rettung Ertrinkender und die Selbstrettung in Wassergefahr zu verbreiten. Wir verweisen dabei noch einmal auf unsern S. 621 dieses Jahrgangs veröffentlichten Artikel, der die hierauf gerichteten Bestrebungen des deutschen Samaritervereins näher beleuchtet. *
P. S. in Hofgeismar. Das Beispiel von späten Zähnen, welche Sie anführen, steht nicht so vereinzelt da. Ein Landsmann von Ihnen, der 1707 verstorbene Arzt Johannes Dolaeus berichtet von einem Burggrafen von Schauenburg in der Grafschaft Nassau, daß er im 80. Lebensjahre noch einen Zahn, einen sogenannten „Augenzahn“ bekommen habe. Desgleichen wird berichete, daß Christoph Göbel, ein vertriebener Böhme, der sich nach dem Westfälischen Frieden in Bärenstein bei Annaberg niedergelassen hatte und bei so guter Gesundheit war, daß er noch im Alter von 90 Jahren als Taglöhner sein Brot verdienen konnte, im 94. Jahre, nachdem er längst alle Zähne verloren hatte, einen neuen Zahn erhielt, der ihm viel Schmerzen bereitete und ihn, als einziger, beim Essen sehr belästigte, weshalb er ihn auch bald wieder herausriß. Aeltere und neuere Schriftsteller wissen sorgar von Menschen zu berichten, die im Alter von über hundert Jahren noch neue Zähne bekommen haben.
Frau Marie H. in St. Noch vor einem Jahrzehnt würde Ihre Frage, ob die Gastgeber die Verpflichtung haben, bei großen Gesellschaften für gegenseitige Vorstellung der Gäste zu sorgen, eine „nicht aufzuwerfende“ gewesen sein, denn damals verpflichtete die altherkömmliche Gesellschaftsregel unbedingt dazu. Heute macht sich allerdings vielfach die Neuerung bemerkbar, daß Hausherr und Hausfrau die Vorstellung ihren Gästen selbst überlassen, aber die Geselligkeit gewinnt nichts bei diesem Losmachen von der fürsorgenden Rücksicht und Höflichkeit. Der einzelne bleibt seinem Schicksale überlassen, eine allgemeine lebhafte Unterhaltung wird immer seltener, das gelangweilte Herumstehen an den Wänden immer mehr zur Regel, deshalb sollte ein einmüthiger Protest gegen diese neue, unschöne „Mode“ eingelegt werden. Nur wo das bewirthende Ehepaar sich freundlich um seine Gäste bemüht, kann es diesen wohl werden, aber auch nur dort sind sie zur Gegenleistung einer anregenden Unterhaltung verpflichtet, ohne welche selbst die luxuriöseste Gesellschaft zum niedrigen Rang einer Abfütterung herabsinkt!
Frau B. in Schleswig. Sie haben in einer Zeitungsanzeige die Empfehlung eines ausgezeichneten Zwiebacks gelesen, erinnern sich aber des genaueren nicht mehr der guten Quelle. Nun, vielleicht hilft Ihnen das folgende Rezept aus der Verlegenheit, welches jeder Hausfrau Mittel und Wege zeigt, sich guten Zwieback selber zu bereiten. Die Arbeit ist höchst einfach. Man nimmt „Einback“, der am Tage vorher gebacken wurde, und schneidet ihn in dünne Scheibchen, die ohne Fett oder Butter auf einem Blech in der Bratröhre geröstet werden, bis sie hellbraun werden. Im Nothfall können auch Semmel und Franzbrot verwendet werden. Kranke, ältliche und schwache Personen vertragen diesen Zwieback ausgezeichnet, und er bewährt sich auch bei Magen- und Darmkatarrhen. Dieses Hausgebäck hat auch den Vortheil, daß es in einer Blechdose tage-, ja wochenlang aufbewahrt werden kann, ohne an Wohlgeschmack zu verlieren. Es bekommt jedem, und wer daran nicht knuspern kann, der kann es in seinem Milchkaffee aufweichen und getrost genießen.
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- Jahrgang 1868: Die Brüder. Von Adolf Wilbrandt. – Der Schatz des Kurfürsten. Von L. Schücking. – Vetter Gabriel. Von Paul Heyse.
- Jahrgang 1875: Der Doppelgänger. Von L. Schücking. – Das Geständniß einer Frau. Von A. Godin. – Hund und Katz’. Von H. Schmid.
- Jahrgang 1877: Aus gährender Zeit. Von Victor Blüthgen. – Hohe Fluth. Von H. Warring. – Im Himmelmoos. Von Herman Schmid.
Diese Gartenlaube-Jahrgänge sind vorläufig noch zum Preise von je 3 Mark durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen, während die ebenfalls herabgesetzt gewesenen Jahrgänge 1858, 1872 und 1879 nur noch zum gewöhnlichen Preise von je 7 Mark abgegeben werden können. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an
Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Inhalt: Sakuntala. Novelle von Reinhold Ortmann (Fortsetzung). S. 773. – Kinderlust. Illustration. S. 777. – Allerlei Nahrung. Gastronomisch-naturwissenschaftliche Plaudereien. Von Carl Vogt. VII. Schnecken. S. 778. – Zur Erinnerung an Emanuel Geibel. Von A. Evers. S. 779. Mit Illustration und Porträts S. 773, 779, 780 und 781. – Eine kleine Vergnügungsreise. Humoreske von Hans Arnold. S. 782. – In großer Noth. Illustration. S. 785. – Blätter und Blüthen: Daniel Sanders. S. 787. – Die Wohnungsnoth der ärmeren Klassen. S. 787. – Mund zu! Ein Rathschlag für den Winter. S. 788. – Das Schlachtgewicht der Hausthiere. S. 788. – Die Opfer des Meeres. S. 788. – Kleiner Briefkasten. S. 788.
- ↑ Vergl. „Gartenlaube“ Jahrgang 1888, S. 674.
- ↑ Vergl. die Schrift: „Emanuel Geibel. Ein Gedenkblatt von A. Evers.“ Lübeck, F. Grautoff. 1884.
- ↑ Ihr Schwager, Dr. Reuter.