Die Gartenlaube (1889)/Heft 44
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No. 44. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Sakuntala.
Vielleicht war es der eigenthümlich silberne Ton des durch herabgelassene Vorhänge gedämpften Sonnenlichts, welcher einen so wohlthuenden, gleichsam verklärenden Schimmer über das kleine Gemach mit seiner einfachen, theilweise fast dürftigen Einrichtung breitete. Das war alter, unmodischer Hausrath von der Großväter Zeiten, verblichene Ueberzüge und niedergesessene Polster, – eine Ausstattung, wie man sie in der Hauptstadt des Deutschen Reichs selbst in den ärmeren Familien des Mittelstandes nur noch vereinzelt anzutreffen pflegt. Aber so verschiedenartigem Geschmack auch alle diese Dinge ihre Entstehung verdankt haben mochten, hier stimmte doch jedes von ihnen aufs beste zu seiner Umgebung, und namentlich in dieser ungewissen dämmernden Beleuchtung eines Krankenzimmers, welche die Gebrechen und die Hinfälligkeit der alten Möbel zum guten Theil verhüllte, mußte der erste Eindruck, den der Eintretende empfing, unbedingt derjenige eines anheimelnden Behagens sein.
Dieser Eindruck wurde nicht einmal gestört durch das abgemagerte Haupt und das wachsbleiche Antlitz des etwa sechsundfünfzigjährigen Mannes, der mit der müden Regungslosigkeit eines Schwerkranken auf den Kissen des nahe zum Fenster gerückten Lagers ruhte. Das Leiden, das die Kraft dieses hageren Körpers verzehrt hatte, war nicht imstande gewesen, die eigenartige Schönheit des fein geformten Kopfes zu beeinträchtigen und zu verwischen. Nur etwas Durchgeistigtes, einen fast überirdischen Zug hatte es dem schmalen Antlitz eingezeichnet, und wenn sich die zumeist geschlossenen Augen einmal für eine kurze Spanne Zeit öffneten, so schien ihr feuchter Glanz dadurch, daß sie so tief in ihre Höhlen zurückgesunken waren, nur noch beseelter und wärmer.
Es war ganz still in dem kleinen Zimmer, – so still, daß man deutlich das Niederfallen der Futterkörnchen vernehmen konnte, die der Kanarienvogel aus seinem Käfig schleuderte. Und doch war der Kranke nicht allein. Kaum zwei Schritte von seinem Bett entfernt, an der anderen Seite des Fensters, da, wo das Licht am hellsten hereindrang, saß ein junges Mädchen, tief herabgebeugt auf eine feine Stickerei. Sie war wohl kaum mehr als siebzehn oder achtzehn Jahre alt, denn die Formen ihres schlanken Körpers waren von fast kindlicher Zartheit. Ein Bündelchen von Sonnenstrahlen, das sich irgendwo durch einen Riß in der grünen Gardine hindurch zu stehlen gewußt hatte, tanzte auf ihrem schlicht aufgesteckten braunen Haar und ließ dasselbe hier und da gleich fein gesponnenen Goldfäden aufleuchten. Die Züge ihres Antlitzes, vor allem die Stirn und die Linien um Mund und Nase zeigten eine unverkennbare Aehnlichkeit mit denjenigen des silberhaarigen Mannes auf dem Krankenbette, und wenn sie von Zeit zu Zeit das Köpfchen erhob, um zu ihm hinüber zu blicken, so leuchteten ihre großen dunklen Augen in demselben feuchten Glanze wie die seinigen.
Nun machte der Kranke eine leichte, kaum merkliche Bewegung, und rasch war das junge Mädchen an seiner Seite.
[742] „Hast Du einen Wunsch, lieber Vater? – Sind Deine Schmerzen heftiger geworden, und soll ich Dir das Pulver geben?“
„Nein, mein Kind!“ erwiderte er leise, und eine Bewegung gleich einem flüchtigen Lächeln ging über sein Gesicht, „aber ich möchte Dich bitten – das heißt, wenn es Dich nicht stört – mir etwas vorzuspielen – nur eine Kleinigkeit – einige wenige Accorde!“
Sie war schon aufgestanden und an das Klavier getreten. Es war ein schönes, reich gearbeitetes Instrument, der einzige wirklich werthvolle Gegenstand im Zimmer. Sie nahm keines von den Notenheften, welche neben ihr auf dem Ständer lagen, sondern griff ohne Zögern und Ueberlegen in die Tasten.
Ihr Spiel zeugte von einer mehr als gewöhnlichen Fertigkeit, von tiefem Verständniß und feiner musikalischer Empfindung, und der süße bestrickende Wohllaut der sehnsüchtig klagenden Weise konnte kaum inniger und schöner zum Ausdruck gelangen.
„Ich danke Dir, Astrid,“ hauchte der Kranke, als sie geendet hatte. „Du weißt wohl, wie es mich erfreut, etwas von ihm zu hören, und dies ist sicherlich das Schönste, was er geschaffen hat. Aber wo er nur bleibt – wo er nur bleibt! Er muß Deinen Brief doch erhalten haben – oder glaubst Du, daß er noch nicht in seinen Händen ist?“
Die zarten Wangen des jungen Mädchens mit dem nordischen Rufnamen färbten sich mit einem lebhafteren Roth und sie schaute angelegentlich auf die Spitzen ihrer Füßchen, während sie erwiderte:
„Gerhard wird kommen, lieber Vater, – er wird ganz gewiß kommen, wenn er hört, daß Du krank bist!“
„Das hoffe ich auch, Astrid! Er hat mir’s oft versichert, daß ich mich auf ihn verlassen könne wie auf einen eigenen Sohn – damals, als er seine ersten Erfolge hatte und als er bescheiden genug war, mir zuzuschreiben, was er einzig seinem Talent verdankt. Aber es sind Jahre seitdem vergangen, und es ist so vieles anders geworden. Er ist groß und berühmt. Er hat tausend Rücksichten zu nehmen und tausend Ansprüche zu erfüllen. – Ach, Astrid, mein Kind, mir ist so bange, daß er nicht kommen wird!“
Wie mühsam unterdrücktes Schluchzen zitterte es aus seinen letzten Worten. In überströmender Zärtlichkeit kniete das junge Mädchen an seiner Seite nieder, schlang die Arme um seine Schultern und lehnte ihre weiche, jugendwarme Wange an die seinige. Sie machte keinen Versuch, ihn mit Worten zu beruhigen. War doch ihr Herz von der nämlichen Sorge erfüllt und lag doch auch ihr schon seit Stunden die peinigende Ungeduld wie ein Alp auf der Brust.
Da schlug die Glocke im Vorzimmer laut und scharf an, wie wenn sie mit großer Hast gezogen worden wäre. Mit der ganzen Behendigkeit ihrer jungen, elastischen Glieder eilte Astrid hinaus, um zu öffnen. Ein junger Mann von mehr als mittelgroßer Gestalt, das hübsche, im frischen Winterhauch geröthete Antlitz von einem blonden Vollbart umrahmt, stand auf der Schwelle. Er war in einen kostbaren Pelz gehüllt und an seiner rechten Hand, von der er bereits eilig den Handschuh abgestreift hatte, funkelte ein prächtiger Solitär.
„Grüß’ Gott, Astrid!“ rief er, indem er rasch eintrat und mit beiden Händen die Rechte des jungen Mädchens ergriff. „Was für eine Hiobspost ist es, die Du mir da geschickt hast? Mein guter Meister Bernhardi ist doch nicht ernstlich krank?“
„Ich fürchte, daß er es ist, Gerhard!“ erwiderte sie leise. „Er ist sehr schwach und der Arzt meint, daß es lange währen wird, bis er wieder hergestellt ist.“
„Und ich Undankbarer habe ihn so sträflich vernachlässigt! – Ich glaube, es ist fast ein Vierteljahr vergangen, seitdem ich Euch zum letzten Male besucht habe. Ich mache mir selber die heftigsten Vorwürfe, und was müßt Ihr nur von mir denken!“
„Gewiß nichts Böses, Gerhard! Wir wissen ja, wie groß die Anforderungen sind, welche das gesellschaftliche Leben an Dich stellt. Aber nun komm zum Vater! Er hat Dich mit Sehnsucht erwartet.“
Der andere warf seinen Pelz ab und folgte der Voranschreitenden in das zur Krankenstube umgewandelte Wohnzimmer. Er erschrak merklich, als er die Veränderung wahrnahm, welche in Bernhardis Aussehen vorgegangen war; aber er zwang sich dann doch zu einem heiteren Ton, als er ihn begrüßte und ihn mit herzlicher Wärme bat, sein langes Fernbleiben zu verzeihen.
Der Kranke aber sah nicht aus, als ob er geneigt sei, seinem schönen Besucher zu zürnen. Tief und erleichtert hatte er bei seinem Eintritt aufgeathmet und die helle Freude glänzte auf seinem Gesicht.
„Was hätten wir Dir zu vergeben?“ sagte er. „Ist es nicht freundlich genug, daß Du jetzt auf meine Bitte sogleich gekommen bist?“
„Eure Nachsicht bringt mir nur die ganze Größe meines Unrechtes zum Bewußtsein. Wer in aller Welt stände mir denn näher als Du, der mir armem und verkommenem Jungen Vater und Lehrer zugleich gewesen ist, dem ich alles verdanke, was ich erreicht habe und möglicherweise noch erreichen werde!“
Er sprach mit dem Ausdruck liebenswürdigster Frische und herzgewinnender Natürlichkeit. Für Astrid aber mußte die Wendung, welche das Gespräch der beiden Männer von vornherein zu nehmen schien, keine willkommene sein, denn sie verließ rasch und geräuschlos das Zimmer.
Kaum hatte sich die Thür hinter ihr geschlossen, als Bernhardi mit einer hastigen Gebärde den Arm des jungen Mannes ergriff.
„Wir dürfen keine Minute verlieren, Gerhard! Auf Dir ruhen alle meine Hoffnungen, und Du allein kannst mir die furchtbare Sorge vom Herzen nehmen, die mir das Sterben so schwer macht.“
Gerhards lächelndes Antlitz wurde ernst. Mit warmem Druck umschloß er die feine, abgemagerte Hand des Kranken.
„Wie magst Du nur so sprechen, lieber Meister! Du wirst nicht sterben, sondern Du wirst binnen kurzem wieder hergestellt sein, und besser als bisher werde ich darüber wachen, daß Du Dich schonst und pflegst!“
In wehmüthiger Verneinung bewegte Bernhardi das Haupt.
„Es kann nichts helfen, mich darüber zu täuschen!“ sagte er. „Ich selber fühle am besten, daß es vorbei ist, und ich darf wohl kaum darüber klagen, denn meine Zeit ist um, und ich bin zu nichts Rechtem mehr zu brauchen auf der Welt. Aber das Kind – das arme Kind!“
Seine Stimme brach, und eine Welt von Liebe, Zärtlichkeit und namenloser Sorge lag in seinen letzten Worten. Gerhard drückte ihm stumm die Hand. Er fühlte, daß hier irgend eine nichtssagende Redensart sehr schlecht am Platze wäre, und er wartete still, bis jener die Kraft gefunden haben würde, weiter zu sprechen.
„Sie ist so heldenmüthig und so gut,“ kam es endlich wieder von den blassen Lippen; „sie war das Licht meines armen Lebens, denn sie hat nicht nur den Namen ihrer Mutter, sondern auch ihr herrliches Gemüth! Du hast sie ja noch gekannt, Gerhard, meine schöne, sanfte Astrid; aber Du warst ein Knabe, als wir sie begruben, und Du konntest mit Deinem kindlichen Verstande damals nicht begreifen, welchen Schatz wir in ihr verloren. Weißt Du denn auch, wie sie dazu kam, mein Weib zu werden, und welches Opfer sie mir um ihrer Liebe willen gebracht hat? Ihr hatte das Schicksal wahrlich ein besseres Los zugedacht, als sie sich’s selber wählte. Sie war die einzige Tochter eines reichen norwegischen Großkaufmannes und ihre Eltern hatten sie nach Deutschland geschickt, damit sie hier ihre Ausbildung erhalte. Ich ertheilte ihr Musikunterricht, und in der Zauberwelt der Töne, in der es keine Rangklassen giebt und keine Unterschiede zwischen arm und reich, fanden sich unsere Herzen und unsere Lippen. Es war gewiß eine sträfliche Vermessenheit, daß ich meine Augen zu ihr zu erheben wagte; aber ich war eben jung und ich wähnte, die Adlerschwingen zu fühlen, die mich zum Tempel des Ruhmes emportragen sollten. Als ich aber bei dem Vater um ihre Hand anhielt, da gerieth der reiche Mann, der auf seinen Namen und auf sein Ansehen nicht minder stolz war als irgend ein hochgeborener Herr, in einen unbändigen Zorn. Er kam auf der Stelle nach Deutschland, um seine Tochter in die Heimath zurückzuholen. Und einem so entschiedenen Widerstand gegenüber hatte ich selber nicht den Muth, Astrid noch länger an mich und an ihr gegebenes Wort zu fesseln. Was ich ihr als Ersatz zu bieten hatte für die Freuden und Annehmlichkeiten, die sie aufgab, waren doch selbst im besten Fall nur ungewisse Aussichten in eine weite, nebelhafte Ferne.
Ich wollte ihr ihre Freiheit und ihr Gelöbniß zurückgeben; aber sie weigerte sich mit einer Bestimmtheit, welche ich niemals in ihrem sanften, schmiegsamen Charakter vermuthet hätte, einen [743] solchen Verzicht anzunehmen. Und so zart und schwach sie auch sonst war, in ihrer Liebe fand sie den Muth, dem eisernen Willen ihres in seinem Stolze unbeugsamen Vaters zu trotzen. Er verschloß ihr die Thür des Elternhauses und sagte sich für immer von ihr los. Sie aber flüchtete sich an meine Brust und wurde mein Weib. Von der Mühsal und Plage, die ich ihr als Ersatz für das verlorene Glück zu bieten hatte, hast Du ja selber ein gut Theil mit angesehen; aber sie wußte es allezeit wie eine Heldin zu ertragen. Niemals hat sie es mich entgelten lassen, daß mir die vermeintlichen Adlerschwingen schon beim ersten Anlauf versagten, und geduldig hat sie sich darein gefunden, daß ich mein Leben lang blieb, was ich gewesen war, ein kleiner, schlecht bezahlter Musiklehrer, den niemand kannte und von dem niemand sprach.“
Mit tiefer Bewegung hatte Gerhard den wehmüthigen Erinnerungen des Kranken gelauscht.
„Und doch hattest Du hundertmal mehr Anspruch auf Ehre und Erfolg als die meisten von denen, deren Namen heute in aller Munde sind.“
Ein trauriges Lächeln glitt über Bernhardis Züge.
„Du meinst es gut mit mir, Gerhard; aber warum sollte ich mich noch auf meinem Sterbebette betrügen? Ich war nicht geschaffen für den harten Kampf ums Dasein, und an meiner Schwäche mußte leider auch mein armes Weib zu Grunde gehen. Sie starb dahin wie eine Blume, die wir am frühen Morgen verwelkt finden, nachdem sie uns noch am Abend zuvor mit ihrem Duft erfreut hat. Der Kummer und die Sehnsucht nach ihrem norwegischen Vaterhause hatten sie langsam verzehrt. Nach ihrem Tode fand ich in einem Tagebuche Aufzeichnungen, die mit nur zu deutlicher Beredsamkeit davon sprachen. Ich hielt Herrn Christoph Ulwes Zorn nicht für so hartnäckig, daß er selbst das Grab überdauern würde. Aber ich hatte mich darin getäuscht, denn auf meine Anzeige von Astrids Hinscheiden erhielt ich keine Antwort. Da gelobte ich mir feierlich, daß der reiche Handelsherr auch für mich künftighin todt sein solle. Doch ich habe nie in meinem Leben Charakterfestigkeit genug gehabt, solche Gelöbnisse, die ich mir selber abgelegt hatte, zu halten. Als ich mich vor wenigen Wochen plötzlich so unbeschreiblich matt und hinfällig zu fühlen begann und als mir der Arzt auf mein dringendes Befragen zögernd erklärte, es möchte nun wohl für mich an der Zeit sein, meine irdischen Angelegenheiten ins Reine zu bringen, da mußte ich mir wohl die Frage vorlegen: was soll nach meinem Tode aus Astrid werden? Wer soll sich ihrer annehmen, um sie vor den Sorgen und Gefahren des Lebens zu schützen? Und wie ich auch sann und grübelte, es wollte mir doch kein anderer einfallen als Christoph Ulwe, mein Schwiegervater. Noch einmal schrieb ich an ihn, demüthiger und bescheidener als je zuvor. Ich schilderte ihm meine Lage und bat ihn mit den herzbeweglichsten Worten, die mir zur Verfügung standen, sich nach meinem Tode seines armen, unschuldigen Enkelkindes anzunehmen. Lange harrte ich vergebens auf seine Antwort – gestern endlich ist sie gekommen. Und willst Du wissen, wie sie lautet? Da ist sie!“
Mit zitternder Hand zog Bernhardi unter seinem Kopfkissen ein Briefblatt hervor. Es war zerknittert und die Schrift war hier und da verwischt – vielleicht von den Thränen des armen Mannes, an den dies unbarmherzige Schreiben gerichtet war. Gerhard aber las:
In Erwiderung Ihres Schreibens vom 4. dieses theile ich Ihnen mit, daß ich irgend welche verwandtschaftlichen Beziehungen zu Ihnen und Ihrer Tochter nicht anerkennen und demgemäß gegen diese Tochter auch keinerlei Verpflichtungen übernehmen kann. Mit dem Hinzufügen, daß mir meine Zeit nicht gestattet, etwaige weitere Briefe oder Bittgesuche zu beantworten, zeichne ich
„Welch eine empörende Hartherzigkeit!“ rief der Künstler mit ungeheuchelter Entrüstung. „Aber wozu bedarf es auch dieser gefühllosen norwegischen Krämerseele! Du wirst nicht sterben, und wenn uns dereinst dieser schwere Schlag dennoch treffen sollte, so wird es Astrid wahrlich nicht an dem Beistand eines aufrichtigen Freundes fehlen! Niemand hat ein heiligeres Anrecht darauf, für sie zu sorgen, als ich! Ich verdanke Dir mehr als einem Vater, und darum ist es nur natürlich, daß ich alle Pflichten eines Bruders gegen Astrid übernehme!“
Die leuchtenden Augen des Kranken hatten ihm die Worte fast von den Lippen getrunken. Er richtete sich in eine sitzende Stellung auf und legte beide Hände auf die Schultern des jungen Mannes.
„Willst Du mir das feierlich geloben, Gerhard? Willst Du mir schwören, daß Du sie niemals, niemals verlassen wirst, was auch immer geschehen möge?“
Feierlich hob Gerhard seine Rechte empor, und der tiefe Ernst eines heiligen Entschlusses lag auf seinem schönen Gesicht, als er erwiderte: „Ich schwöre Dir’s, Meister! – Ich werde sie niemals verlassen!“
Noch ehe Bernhardi imstande gewesen war, ihm zu danken, wurde ihr ernstes Gespräch durch den Wiedereintritt Astrids beendet. Rasch verbarg Gerhard den Brief des norwegischen Handelsherrn, den er noch immer in der Hand hielt, in der Brusttasche seines Rockes, und mit einer Leichtigkeit und Gewandtheit, welche den vollendeten Weltmann verrieth, lenkte er die Unterhaltung auf andere, fröhlichere Dinge.
Vielleicht war es mit Rücksicht auf das feierliche Versprechen, welches er soeben abgelegt hatte, nur natürlich, daß seine Blicke jetzt aufmerksamer als vorhin auf Astrids schlanker Gestalt und auf ihrem schönen Antlitz ruhten. Er hatte das junge Mädchen ja seit den frühen Tagen seiner Kindheit gekannt, und vielleicht erklärte es sich gerade daraus, daß ihm ihre zarte, eigenartige Schönheit niemals so recht zum Bewußtsein gekommen war.
Er bemerkte sie jetzt wie etwas ganz Neues, Ueberraschendes, und er fand plötzlich ein bisher ungekanntes Vergnügen darin, Astrid zu betrachten und jede ihrer zierlichen, geschmeidigen Bewegungen mit den Blicken zu verfolgen. Das junge Mädchen aber schien die ungewöhnliche Aufmerksamkeit des Pflegebruders wie etwas Bedrückendes und Peinigendes zu empfinden. Sie bemühte sich, seinen Blicken auszuweichen, und sie vermied es mit unverkennbarer Absichtlichkeit, ihm nahe zu kommen. So war trotz der guten Laune Gerhards ihr Beisammensein kein unbefangenes und erfreuendes. Als die alte schwarzwälder Uhr in der Zimmerecke nach einer Weile zum Schlage aushob, zog auch der elegante Besucher seine goldene Taschenuhr.
„Schon drei Uhr!“ sagte er wie in unangenehmer Ueberraschung. „Wie bedauerlich, daß ich gezwungen bin, Euch schon zu verlassen! Ich habe eine Verabredung, der ich mich ohne empfindliche Nachtheile nicht entziehen kann. Aber ich werde natürlich sehr bald, sicherlich schon morgen wiederkommen, und Ihr sollt Euch nicht von neuem über meine Undankbarkeit beklagen müssen.“
Er verabschiedete sich von dem Kranken, und er behielt Astrids feine, kühle Hand länger als gewöhnlich in der seinigen.
„Auf Wiedersehen, mein liebes Schwesterchen! Behalte den Kopf hübsch oben und sei mir vor allem nicht allzu fleißig! Solche Arbeiten wie diese da“ – und er deutete auf die kunstvolle Stickerei – „sehe ich nicht gern in den Händen einer jungen Dame; denn ich habe mir sagen lassen, daß sie der Gesundheit nicht eben förderlich seien. Du solltest Dir eine andere Liebhaberei aussuchen, Astrid.“
„Es ist keine Liebhaberei!“ erwiderte sie ruhig. „Ich fertige diese Arbeiten gegen Bezahlung für ein Geschäft.“
Gerhard wurde roth, und seine Hand zuckte unwillkürlich nach der Stelle, wo er seine Brieftasche trug. Da begegneten seine Augen dem voll auf ihn gerichteten Blick Astrids, und es mußte etwas in diesem Blick gewesen sein, was ihn bestimmte, von der Ausführung seiner Absicht abzustehen.
„Das ist freilich etwas anderes!“ sagte er, seine Verlegenheit nur mühsam verbergend. „Und ich denke doch, das wird nur eine vorübergehende Thätigkeit sein! Auf Wiedersehen also! Auf baldiges Wiedersehen!“
Sie begleitete ihn diesmal nicht in das Vorzimmer hinaus, und sie erwiderte seinen Abschiedsgruß so leise, daß Gerhard sie fast befremdet ansah. Als er gegangen war, eilte sie wieder an das Bett des Vaters und drückte ihr Antlitz neben das seinige in das Kissen. Der Kranke legte seinen müden, kraftlosen Arm um ihren Nacken und flüsterte dicht vor ihrem Ohr:
„Er ist doch noch der gute, treue Junge von ehedem! Sei standhaft und guten Muthes, mein Kind! So lange er da ist, wirst Du nicht verlassen sein, auch wenn ich nicht mehr unter den Lebenden weile!“
[744] Astrid aber brach statt aller Antwort in ein herzbrechendes Schluchzen aus, und Bernhardi machte keinen Versuch, sie zu trösten. Rannen doch ihm selber schwere Thränen über die eingesunkenen Wangen und war ihm doch das Herz vom herben Weh der letzten großen Trennung zerrissen, deren Schatten bereits über ihren Häuptern schwebten.
Als der einfache Leichenwagen vor dem großen Miethshause in der Oranienburger Straße hielt, sammelte sich an dem Hausthor ein kleines Häuflein Neugieriger an, um mit theilnahmlosen Gesichtern und unter manchem rohen Scherze das Erscheinen des stillen Mannes zu erwarten, für dessen letzte Fahrt das traurige Gefährt bestimmt war.
„Wen wollen sie denn da abschieben?“ fragte ein Arbeitsmann mit stark gerötheter Nase, der eben aus der unterirdischen Tiefe des benachbarten Weißbierkellers auftauchte. Und eine unordentlich gekleidete Frauensperson, die ein elend aussehendes Kind auf dem Arme trug, antwortete ihm mit einem unnachahmlichen Ausdruck von Geringschätzung:
„Ach, es ist bloß der verrückte Musiklehrer aus dem dritten Stock, der so stolz war, daß er mit keinem Menschen ein Wort reden mochte, und der sich doch nicht die Butter aufs Brot verdienen konnte. Ich möchte wetten, daß er an keiner anderen Krankheit als am Hunger gestorben ist.“
„Na, dementsprechend scheint ja auch das Trauergefolge zu sein!“ spottete grinsend der Arbeitsmann. „Wir werden gleich ein paar Schutzleute holen müssen, damit sie für die Menge von Kutschen Platz machen.“
Die ganze Umgebung lachte über die „geistreiche“ Bemerkung des witzigen Kopfes, und am lautesten lachten die vier Leichenträger, die mit stumpfsinnigen und höchst gelangweilten Gesichtern neben ihrem Wagen lehnten.
Da bog ein eleganter, von zwei feurigen Rappen gezogener Wagen vom Monbijouplatz her in die Straße ein, und gerade hinter dem einfachen Leichenwagen hielt der Kutscher die Pferde an.
„Na, da kommt ja wohl ganz was Feines!“ meinte die Frau mit dem jämmerlichen Kinde, und in der ganzen theilnahmsvollen Versammlung gab es lange Hälse und weit aufgerissene Augen. Aber die spöttischen Bemerkungen verstummten, als der einzige Insasse des Wagens rasch und gewandt auf das Pflaster gesprungen war. Gerhards kraftvolle, männliche Erscheinung, der ernste und stolze Blick, mit welchem er das kleine Menschenhäuflein überflog, schüchterten selbst die redefertigsten Zungen ein und mit achtungsvollem Schweigen ließ man ihn vorüber.
„Wissen Sie auch, wer das war?“ fragte ein hagerer junger Mensch mit lang auf die Schultern herabfallendem Haar, als Gerhard im Innern des Hauses verschwunden war. „Es war der große Klaviervirtuose und Komponist Steinau, einer der ersten unter allen lebenden Musikern. Daß er an diesem Begräbniß theilnimmt, ist wahrhaftig eine große Ehre für den Verstorbenen.“
Der erste Leichenträger blickte auf das Zifferblatt seiner silbernen Spindeluhr und machte seinen Genossen ein Zeichen.
„Schon zehn Minuten über die Zeit! Nun wird doch wohl keiner mehr kommen!“
Damit stiegen die schwarzen Gestalten schwerfällig die drei steilen, unbequemen Treppen empor, und unterwegs ging zur Herzstärkung noch eine ziemlich umfangreiche Flasche, die einer von ihnen aus der hinteren Rocktasche zum Vorschein gebracht hatte, von Hand zu Hand.
Die Geduld der Untenstehenden wurde nicht mehr allzulange auf die Probe gestellt. Langsame, schwere Tritte kamen die Stiege herab. Dann tauchte die unförmliche Masse des schlichten Holzsarges im halbdunklen Hausflur auf. Einfach und anspruchslos wie seine Persönlichkeit und seine ganze Lebensführung war auch dies letzte Haus des armen Musikers. Der kostbare Palmenwedel und die beiden prachtvollen Kränze, welche auf dem Deckel lagen, nahmen sich dabei recht aufdringlich und prahlerisch aus und forderten darum auch aufs neue allerlei boshafte Betrachtungen der Zuschauer heraus. Dann aber gab es noch einmal tiefe Stille, denn jetzt erschien am Arme des gefeierten Künstlers die einzige Hinterbliebene des Musiklehrers, seine Tochter Astrid. Trotz ihres einfachen schwarzen Kleides und ihrer verweinten Augen sah sie schöner und liebreizender aus als jemals, und die rohen Gemüther, auf die selbst die furchtbare Majestät des Todes ohne Wirkung geblieben war, beugten sich doch unwillkürlich vor der Macht der in ihrem Schmerze doppelt rührenden Unschuld und Schönheit.
Aber der Eindruck war nicht von langer Dauer, und als das Rollen der beiden Wagen verhallt war, fehlte es nicht an spöttischen Betrachtungen über den vornehmen Tröster, welchen die hübsche junge Tochter des Verstorbenen schon so bald gefunden habe. Die beiden aber, welche da Seite an Seite auf dem weichen, seidenen Polster saßen, dachten in diesem Augenblick nur an ihren Verlust, nicht an das Gerede der Welt. Ueber nacht war Bernhardi in die Ewigkeit hinübergeschlummert, sanft und kampflos, wie er’s verdient hatte, und viel früher, als seine Tochter und sein ehemaliger Schüler es gefürchtet hatten.
Astrid hatte sich in ihrem ersten Schmerz standhaft und muthig gezeigt. Sie hatte es beharrlich abgelehnt, sich vor der Beerdigung von der irdischen Hülle ihres armen Vaters zu trennen. So war dieselbe nicht, wie es sonst üblich ist, sogleich nach der Leichenhalle des Friedhofes übergeführt worden und sie selbst hatte die Wohnung nicht verlassen, wie eifrig auch Gerhard in sie dringen mochte, es zu thun. Von der Zukunft hatten sie noch nicht miteinander gesprochen, und Gerhard hatte nicht gewagt, ihr eine Geldunterstützung anzubieten, nachdem sie auf seine zaghafte Frage in ihrer ruhig kühlen Weise erklärt hatte, daß sie mit Mitteln noch ausreichend versehen sei. Alles, was er bisher hatte thun können, war die Erledigung jener traurigen Pflichten und Besorgungen, die an einem solchen Fall unvermeidlich sind und die den Hinterbliebenen so unsäglich peinvoll zu sein pflegen. Gerhard hatte an eine möglichst glänzende und prächtige Beerdigung seines ehemaligen Lehrers gedacht, aber zu seinem Befremden hatte Astrid einem solchen Vorhaben aufs bestimmteste widerstanden.
„Er hat nie mit mir davon gesprochen,“ sagte sie, „aber ich weiß trotzdem gut genug, was seine Wünsche in dieser Hinsicht waren. Still und einfach, wie er gelebt hat, soll er auch zu Grabe getragen werden. Jeder Prunk, den wir dabei entfalteten, würde der Schlichtheit seines Charakters Hohn sprechen.“
So wenig sich Gerhard auch damit einverstanden erklären konnte, so widerspruchslos mußte er sich doch ihrem Willen unterwerfen. Und es war alles hergerichtet worden, wie sie es gewünscht hatte. Es war nichts Prächtiges und Prahlerisches bei der Beerdigung des armen Musiklehrers, als die Blumen und Kränze, welche Gerhard gesandt hatte. Auch auf dem Kirchhofe ging es still zu. Kein Musikcorps geleitete den Sarg zu Grabe, keine Rede und kein Gesang wurden ihm nachgesandt in die offene Gruft. Mit todtenbleichem Antlitz und starrem Blick hatte Astrid der kurzen, schweigsamen Feierlichkeit beigewohnt. Als dann aber die ersten Schollen der harten, gefrorenen Wintererde schwer und mit dumpfem Klang hinabpolterten auf das Bretterhäuschen, welches ihr theuerstes Besitzthum barg, da verließ die Verwaiste doch die so lange mühsam behauptete Kraft. Mit einem herzzerreißenden Aufschrei stürzte sie vor, wie wenn sie sich selber hinabwerfen wollte in die gähnende Grube, und Gerhard sprang eben noch im rechten Augenblick hinzu, um die Ohnmächtige in seinen Armen aufzufangen. Willenlos ruhte die schlanke Gestalt an seiner Brust, und ihr Köpfchen lehnte matt an seiner Schulter. Und trotzdem auch er noch soeben keinen anderen Gedanken und keine andere Empfindung gehabt hatte, als den Schmerz über den Tod seines Wohlthäters und Lehrers, so regte sich doch in dieser eigenthümlichen Lage in seinem Herzen ein Gefühl, das ihn selbst überraschte, über das er sich nicht klar zu werden vermochte, und das doch sicherlich etwas anderes war als bloße brüderliche Theilnahme für Astrids Schmerz.
Aber die Schwäche, welche das junge Mädchen angewandelt hatte, ging rasch vorüber. Sie machte sich aus seinen Armen los und ihre eben nach marmorweißen Wangen glühten ist einem dunkeln Roth.
„Ich fühle mich wieder vollkommen wohl!“ erwiderte sie auf Gerhards theilnehmende Frage nach ihrem Befinden, und sie nahm jetzt nicht einmal seinen Arm an, während sie den Kirchhof verließen. Stumm legten sie den größten Theil ihrer Heimfahrt zurück; endlich aber brach Gerhard, wenn auch mit merklicher Befangenheit, das Schweigen:
„Es ist mir sehr peinlich, gerade in dieser Stunde davon zu sprechen, liebe Astrid; aber das Leben in seiner unerbittlichen
[745][746] Grausamkeit nimmt nun einmal keine Rücksicht auf unsere Empfindungen. Was hast Du über die nächste Zukunft beschlossen und wie gedenkst Du Dein Leben vorerst zu gestalten?“
Astrid vermied es, ihn anzusehen, während sie mit leiser Stimme antwortete:
„Ich werde mir meinen Unterhalt verdienen.“
„Doch nicht etwa mit Deinen Stickereien?“
„Auch damit, wenn es sein muß!“ entgegnete sie ruhig. „Aber ich hoffe, einige Klavierstunden zu finden, die mich dessen überheben.“
„Wie, Du denkst daran, ein solches Sklavenjoch auf Dich zu nehmen? Weißt Du denn, was es heißt, hier in Berlin sein Brot mit Klavierunterricht zu verdienen, wenn man keinen Namen hat und wenn man im Hintertreffen steht? Meister Bernhardi würde sicherlich in Verzweiflung gerathen sein, wenn er eine derartige Absicht auch nur entfernt bei Dir vermuthet hätte, denn er selbst hat den Jammer dieses Frohndienstes leider bis zur Neige auskosten müssen. Nein, nein, Astrid, von diesem Gedanken mußt Du Dich gleich jetzt ein für allemal lossagen. Dazu werde ich niemals meine Zustimmung geben!“
Zum erstenmal seit jenem kleinen Vorfall auf dem Kirchhofe blickte sie zu ihm auf, und Gerhard war betroffen von dem ernsten, beinahe herben Ausdruck ihrer schönen Züge.
„Ich bin Dir sehr dankbar für Deine freundschaftliche Theilnahme, Gerhard,“ sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit, „aber ich werde niemand das Recht einräumen, über mein Schicksal zu entscheiden!“
„Auch mir nicht, der ich nur Dein Bestes will und der ich Dich wie ein Bruder liebe?“
Ihre Lippen zuckten ein wenig, aber sie hob das Köpfchen fast noch stolzer empor als vorhin.
„Auch Dir nicht, Gerhard! Ich fühle mich stark genug, mir mein Leben selbst aufzubauen, und ich will lieber arbeiten, bis mich die Kräfte verlassen, ehe ich mich der Erniedrigung aussetze, ein Geschenk, ein Almosen zu empfangen.“
Das klang so fest und wohl bedacht, daß es Gerhard nicht leicht wurde, zu verbergen, wie tief er verletzt sei. Er schaute eine kleine Weile schweigend auf die öde, mit schmutzig grauen Schneehaufen bedeckte Chaussee hinaus, über welche sie fuhren, dann fragte er mit etwas gezwungen klingender Stimme:
„Willst Du mir wenigstens gestatten, Dich in das neue Heim einzuführen, welches ich für Dich ausgesucht habe? Die Familie ist mir befreundet und Du wirst dort sicherlich sehr gut aufgehoben sein.“
„Auch darin habe ich meine Entschließung bereits getroffen, Gerhard! Die Inhaberin des Geschäftes, für welches ich in der letzten Zeit gearbeitet habe, bot mir, als sie von meinem Verlust erfuhr, ein Zimmerchen in ihrem Hause an. Es ist wohlfeil und wird meinen Bedürfnissen ohne Zweifel vollkommen genügen.“
Gerhard preßte die Lippen zusammen; aber er bestürmte das Mädchen nicht mit weiteren Bitten. Als der Wagen vor dem wohlbekannten Hause in der Oranienburger Straße hielt, sprang er rasch hinaus und war Astrid dann beim Aussteigen behilflich. Er fühlte das Zittern der schmalen Hand, welche leicht auf seinem Arm ruhte, während sie ihr Gesichtchen zu ihm aufhob und in einem ganz veränderten, weichen, demüthig bittenden Tone sagte:
„Vergieb mir, wenn meine Worte Dich gekränkt haben, Gerhard! Ich wollte Dir gewiß nicht wehe thun; aber ich kann nun einmal nicht anders, und wenn Du Mitleid mit mir hast, wirst Du mich nicht fragen, weshalb.“
Ihre flehenden Augen sprachen noch beredter als ihre Lippen, und aller Groll Gerhards war wie vom Wind verweht.
„Astrid! Liebe Astrid!“ sagte er mit aufwallender Wärme, ihre schlanken Finger fest zwischen seinen beiden Händen haltend, „ich habe ja keinen anderen Wunsch als den, Dich wieder heiter und glücklich zu sehen.“
„Ueberlassen wir die Sorge dafür der Zeit!“ bat sie herzlich. „Das Geschenk Deiner Freundschaft habe ich ja willig und freudig angenommen; aber das Bewußtsein, sie zu besitzen, muß mir vor der Hand genügen.“
Damit befreite sie ihre Hand, und indem sie ihm noch einmal freundlich zunickte, eilte sie in das Haus. Gerhard verharrte für einige Augenblicke zaudernd auf dem Trottoir, unschlüssig, ob er ihn nicht dennoch folgen solle. Aber die Verabschiedung war eine zu deutliche gewesen, als daß er über ihre Wünsche hätte im Zweifel sein können, und so bestieg er denn den Wagen, indem er dem Kutscher als Ziel des Weges zurief: „Beethovenstraße 4!“
Nicht lange mehr durften seine Gedanken bei dem Tode des armen Bernhardi und bei Astrids seltsamem Benehmen verweilen, die Sorgen und Pflichten seines künstlerischen Berufs waren es, die sich rasch wieder in den Vordergrund drängten, denn gerade auf diesen Abend war seit langem das große Konzert des Tonkünstlervereins angesetzt, dessen Leiter er war. Seine Mitwirkung in demselben war unentbehrlich, und er durfte sich derselben nicht entziehen, wie auch immer seine Gemüthsstimmung beschaffen sein mochte.
Aber nicht das war es, was ihn unmuthig machte und seine Stirn in finstere Falten legte. Er zog ein kleines modefarbenes, mit einem prahlerischen Monogramm geschmücktes Briefchen aus der Tasche, das er empfangen hatte, als er eben im Begriff gewesen war, seine Wohnung zu verlassen, und mit Kopfschütteln überflog er abermals dessen kurzen Inhalt.
„Es ist mir völlig unverständlich!“ murmelte er. „Sie erklärt einfach, sie könne heute abend nicht singen, und es ist ihr nicht einmal der Mühe werth, einen Grund dafür anzugeben. Das ist mehr als eine ihrer gewöhnlichen Launen und das darf unter keinen Umständen geschehen. Es wäre eine Verlegenheit, aus der ich keinen Ausweg wüßte.“
In der kleinen vornehmen Seitenstraße am Rande des winterlich kahlen Thiergartens hielt der Kutscher.
„Erwarten Sie mich hier!“ befahl Gerhard und trat in das Haus. – „Rita Gardini“ – stand auf dem blitzenden Messingschild an einer hohen Flügelthür im ersten Stockwerk. Gerhard Steinau zog die Glocke wie jemand, der zu den Hausgenossen zählt oder der ein sonstwie begründetes Recht hat, Einlaß zu begehren. Eine blaß und verschmitzt aussehende Zofe öffnete die Thür.
„Ah, Sie sind es, Herr Steinau,“ sagte sie mit einer sehr natürlich klingenden Mischung von Ueberraschung und Bedauern. „Wie fatal, daß das gnädige Fräulein Sie nicht wird empfangen können! Sie ist sehr leidend – ein besonders heftiger Anfall ihrer alten Migräne –“
Gerhard war unterdessen bereits eingetreten und hatte die Thür hinter sich zugezogen.
„Ich muß Fräulein Gardini unter allen Umständen sprechen,“ sagte er kurz und befehlend. „Melden Sie mich ihr unbedingt! Es leidet nicht den geringsten Aufschub!“
Das Mädchen antwortete nur mit einem vieldeutigen Achselzucken und schlüpfte durch eine der nächsten Thüren. Erst nach Verlauf mehrerer Minuten tauchte ihr verschmitztes Gesichtchen wieder auf.
„Das gnädige Fräulein läßt bitten – aber sie ist wirklich sehr leidend und –“
Den Schluß ihrer Bestellung wartete Gerhard nicht erst ab, sondern trat ohne weiteres an ihr vorbei in das Gemach der Sängerin. Es war ein mäßig großer, mit hochgesteigertem Luxus ausgestatteter Raum. Auf einem Ruhebett, über das ein mächtiges Eisbärenfell gebreitet war, lag in etwas gesuchter Haltung die gefeierte Künstlerin. Da es draußen bereits zu dunkeln begann und hier drinnen noch kein Licht angezündet war, herrschte nur noch eine ungewisse Helligkeit, jenes matte Licht, das so vortrefflich geeignet ist für das vertraute, heimliche Geplauder mit einer schönen Frau. Und daß Rita Gardini Anspruch auf diesen Titel hatte, ließ sich trotz des Zwielichts erkennen. Ein kostbares Hausgewand, mit duftigen Spitzen besetzt, umhüllte ihre herrliche Gestalt, und die großen schwarzen Augen blitzten verführerisch zu dem Eintretenden hinüber.
„Warum kommst Du, mich zu quälen?“ fragte sie mit matter Stimme. „Ich hoffe, Du wirst meinen Brief rechtzeitig erhalten haben.“
„Gerade weil ich ihn erhalten habe, bin ich hier! Ich kenne Dich zu gut, Rita, als daß ich an Deine Krankheit zu glauben vermöchte. Diese Absage in einem Augenblick, da ich nicht mehr daran denken kann, einen Ersatz zu gewinnen, entspringt einzig Deinem Wunsche, mich für irgend ein vermeintliches Unrecht zu bestrafen. Ist es nicht so? Und womit habe ich Dich gekränkt?“
„Und wenn es so wäre, warum sollten wir weiter davon reden? – Ich liebe die Erklärungen und die feierlichen Auseinandersetzungen nicht. Du bist meiner überdrüssig – das ist alles! Wozu noch viele Worte über eine so alltägliche Geschichte!“
Allerseelen.
Wenn dir ein Liebstes ist geschieden,
O laß es nicht so einsam ruh’n!
Wohl schläft es sanft, hat seinen Frieden,
Doch kannst du Frommes an ihm thun:
Wirst du an seinem armen Hügel
Zu stiller Zwiesprach niederknie’n,
Giebst du dem Engel seine Flügel,
Magst ihn aus seinem Himmel zieh’n.
Du hörst das Rauschen vom Gewande,
Hörst seinen Gruß, derweil du weinst:
„Ich denke dein im fremden Lande,
Ich liebe dich wie einst – wie einst!“
Er streichelt dich mit weichen Händen,
Vergilt dir jedes Fragewort;
Und ist’s genug, und willst du enden –
Ein Kuß – dann wallt er schweigend fort.
Todt ist nur der, um den zu werben
Nicht mehr der Sehnsucht Füße geh’n;
Doch Liebe zwingt’s noch nach dem Sterben,
Daß ihre Todten aufersteh’n.
Ist das Radfahren gesund?
Für jeden denkenden Menschen ist ein äußeres mechanisches Heilmittel vertrauenerweckender als eine geheimnißvolle Arznei, die, in den Magen geschüttet, dort mit dem scharfen, sauren Magensaft vermischt, vielleicht in den Darm hineinfließt, mit Galle vermengt nach und nach aufgesogen wird und nach einer Reihe von Veränderungen in das Blut kommt, vielleicht mit dem Blute im ganzen Körper herumfließt, vielleicht ganz oder theilweise durch die Nieren und Harnwege oder durch den Darm oder durch den Speichel oder die Haut ausgeschieden wird oder auch theilweise im Körper zurückbleibt. Mit einem Worte: bei einem Arzneimittel, welches wir dem Magen einverleiben, giebt es so viele Möglichkeiten, was damit geschehen kann, daß der Zweifel, ob das verordnete Arzneimittel überhaupt mit dem kranken Organ in Berührung kommt, sehr oft gerechtfertigt ist. Ganz wenige Mittel nur sind so studiert und verfolgt, daß man ihre Wege und sicheren Wirkungen kennt. Meistens muß man sich auf die praktische Erfahrung stützen, daß dieses oder jenes Mittel bei dieser oder jener Krankheit schon oft Besserung zur Folge hatte. Ob dies nur ein Zufall oder ob der ursächliche Zusammenhang eine wahre Thatsache ist, das bleibt meist eine unbeantwortete Frage.
Ganz anders ist dies nun bei unseren mechanischen Heilmitteln und bei den neuerdings so beliebten mechanischen Kuren. Mit Recht haben sich diese das Vertrauen der ganzen Welt im Fluge erobert. Ueberall hört man jetzt von den Kuren Oertels, Schweningers, von Terrainkurorten, von aktiver, passiver und - duplizierter Gymnastik, von Maschinengymnastik, bei welcher die Apparate theilweise von Dampfkraft in Bewegung gesetzt werden, von Nervenvibration, von Massage, vom Ergostaten[1], vom Turnen, vom Radfahren etc.
Aber auch solche mechanische Heilmittel wurden anfangs rein auf Grund praktischer Beobachtungen angewandt. Als vor ungefähr 50 Jahren Pfeufer und Henle, die ihrer Zeit vorausgegangen waren, Kranke zum langsamen Besteigen eines Thurmes veranlaßten, hatten sie nur den praktischen Erfolg der Ausdehnung des Rippenkorbes bei tiefem Athmen vor Augen, und die Erfahrung lehrte, daß dadurch die Neigung zur Tuberkulose, welche der krankhaften Engbrüstigkeit eigen ist, beseitigt wird. Aber welche Vorgänge dabei gleichzeitig in den Muskeln zustande kommen, daß dort der Hauptherd für den Stoffumsatz, für die Ernährung ist, wie sich die Ernährung steigern und vermindern läßt, das war damals noch nicht bekannt.
Daß der Mensch in 24 Stunden 9000 Liter Luft aufnimmt, was mit derselben und mit der eingenommenen Nahrung geschieht, wie viel der Mensch an Eiweiß bedarf und daß sich dieses nicht allein im Fleische, sondern auch im Brote findet, alle diese wichtigen Funde verdanken wir erst der bahnbrechenden Arbeit eines Pettenkofer und Voit. Erst hierdurch wurde auf die Wirkung und den Werth unserer mechanischen Heilmittel ein Licht geworfen.
Jedes derselben hat seine Vorzüge und meistens auch seine Nachtheile. Die Massage verreibt und zerdrückt und vertheilt abgelagerte Krankheitserzeugnisse und führt zu ihrer Aufsaugung; oder sie ersetzt in anderen Fällen die Bewegungen der Muskeln; welche dem Kranken nicht möglich sind.
Die mechanische Gymnastik und der Ergostat bringen mehr, oder weniger große Muskelgruppen zur Thätigkeit und steigern dadurch den Stoffumsatz in mächtiger Weise.
In den Terrainkurorten werden die Muskeln des Brustkastens und des Herzens gleichsam trainirt; durch den hervorgebrachten Schweiß wird das der Bewegung hinderliche Fett verringert und durch Flüssigkeitsentziehung der Wassergehalt des Blutes verkleinert, so daß das Herz eine geringere Flüssigkeitssäule zu bewältigen hat.
Einen ganz besondern Werth muß man auf alle jene Einwirkungen legen, welche das Fett vermindern und das Wasser im Körper verringern. Den Herzmuskel von drohender Verfettung zu befreien, ist unendlich werthvoll, denn fettbelastete Muskeln leisten ihre Aufgabe nicht mehr; aber auch die Entfettung des ganzen übrigen Körpers ist von großer Bedeutung. Fette Menschen haben weniger gutes Blut als magere. Blutarme, Menschen sind aber entschieden weniger leistungsfähig und werden schneller müde als andere, sind auch viel mehr Erkrankungen, ausgesetzt als blutreiche.
Bei blutarmen Menschen ist das Mischungsverhältniß des Blutes nicht normal, das Blut ist zu wässerig. Der Wassergehalt aller Organe, auch der Muskeln und Nerven, ist größer, weshalb die Leistungsfähigkeit sehr verringert ist, namentlich die Schnelligkeit bei körperlichen und geistigen Arbeiten. Die Gewebe sind mehr zur Zersetzung geneigt. Leichen der Wassersüchtigen faulen schnell.
Es ist leicht herauszufinden, ob das Blut zu wässerig ist. Wer bei den leichtesten Anstrengungen gleich in Schweiß kommt, hat zu viel Wasser im Blut. Auch die Widerstandsfähigkeit gegen die Kälte ist geringer. Schwitzbäder entwässern die Gewebe rasch und machen augenblicklich viel kräftiger.
Manche meinen, das hohe Alter habe ihnen die Kraft geraubt, während es nur ein stärker Wassergehalt des Blutes ist, was ihnen schnelles Arbeiten unmöglich macht.
Wir können den normalen Wassergehalt des Blutes wieder erreichen, wenn wir oft Bewegungen bis zu starkem Schweißausbruch machen und dann Verkühlung sorgfältig verhindern. Wie ein guter Kutscher die erhitzten Pferde kalt fährt, sollen wir nach starkem Schweißausbruch mit leichteren Bewegungen fortfahren, bis das Schwitzen nachläßt, und dies ist auch die beste Abhärtung.
Wie wir eben anführten, hängt Ueberschuß von Wasser im Blute mit Blutarmuth zusammen und letztere oft mit Fettreichthum? Allerdings kann ich nicht verschweigen, daß ich fette Menschen kenne, die gesund und kräftig sind; allein das sind große Ausnahmen, und meistens besitzen solche Leute dann ein ungewöhnlich festes Fett von normalem Wassergehalt, kein lockeres, wasserreiches, aufgeschwemmtes.
Im Durchschnitt ist bei fetten Menschen der Blutumlauf sehr beeinträchtigt. Das Blut der unteren Körperhälfte kann nur mühsam zum Herzen zurückströmen. Jedes Organ muß bei der Arbeit um 80 Prozent mehr Blut bekommen, als es in der Ruhe hat. Das abgelagerte Fett hindert aber, daß genügend Blut in die arbeitenden Organe einströmt.
[748] Bei Mageren fassen die Lungen dreimal mehr Luft und Blut als bei Fetten. Bei jeder starken Arbeit sollen die Lungen reichlich Luft und Blut bekommen. Wenn alle Organe von Fett umgeben sind und der Blutumlauf dadurch erschwert wird, so geht auch das Athmen schwer und überall entstehen Stauungen: Hämorrhoiden, Krampfadern an den Füßen etc.
Alle mechanischen Heilmittel streben nun fast nach den gleichen Zielen: Kräftigung des Herzmuskels, Bethätigung des Stoffumsatzes und Entfettung. Wer für ein Mittel recht eingenommen ist, sieht aber nur immer die Vortheile desselben, obwohl es wünschenswerth wäre, auch unter diesen mechanischen Heilmitteln recht genau zu unterscheiden, denn man kann sich denken, daß Mittel, welche so große Wirkungen haben, am unrechten Platze angewendet auch schaden können, und daß es ein großer Unterschied ist, ob ein Herzkranker langsam eine Anhöhe hinaufgeht, oder ob er turnt oder radfährt.
Wo die eigene Kraft zur Muskelbewegung nicht mehr ausreicht, ist die Massage aller Muskeln angezeigt.
Heute will ich mich nun ganz allein auf die Frage beschränken, ob das Radfahren gesund ist und was damit erreicht werden kann.
Obenan möchte ich die Behauptung aussprechen, daß das Radfahren ganz zweifellos ein ausgezeichnetes Heilmittel ist, auf ganz richtigen Grundsätzen beruht und daß es durch Bewegung des Körpers und Geistes zustande bringt, was keine andere Kur leistet.
Es ist eine ganz falsche Ansicht, wenn man glaubt, das Radfahren habe nur die Aufgabe, das Körpergewicht zu verringern. Diese Aufgabe hat es gar nicht.
Wir werden eine Summe von Heilwirkungen kennen lernen, welche das Radfahren sehr harmonisch verrichtet. Doch ist dasselbe unpassend für akute Kranke, für Schwerkranke, für solche, die an Klappenfehlern des Herzens leiden, und kann in diesen Fällen sogar recht schädlich wirken. Wer wirklich brustleidend ist, sehr leicht Hustenreiz bekommt, paßt nicht auf das Fahrrad. Es ist zwar möglich, daß er bei sehr langsamem und vorsichtig überwachtem Gebrauch sogar einen Gewinn davon hätte, aber wenn er mit seinen Altersgenossen Schritt halten will, so muß er nicht allein durch die Nase, sondern auch durch den Mund athmen, und das ist, wie ich noch erklären werde, von schlechtester Wirkung, weil er eine kalte und staubige Luft in die Lunge bekommt.
Das Radfahren hat seinen glänzendsten Wirkungskreis als Stärkungsmittel für Schwächlinge. Es paßt namentlich für Menschen, die gesund geboren sind, aber versäumt haben, ihren Körper auszubilden und zu kräftigen.
Für die kleine Mühe beim Radfahren wird oft Gesundheit und Kraft in ungeahntem Grade als Lohn geerntet.
Eine schwache Brust, ein träger Unterleib, schlechtes Athmen, Neigung zur Fettbildung und Blutarmuth, das sind die Krankheitszustände, welche ganz vortrefflich auf das Fahrrad passen. Gehirn, Brust- und Unterleibsorgane können beim Radfahren sehr viel gewinnen und die geistigen Kräfte bleiben auch nicht unbedacht. Einen großen Vorzug des Radfahrens vor andern mechanischen Heilmitteln erkenne ich darin, daß es nicht in engen Zimmern oder staubigen Turnsälen genossen wird, sondern draußen im Freien, auf luftigen Anhöhen, in balsamisch riechenden Wäldern unter Gottes herrlichem Firmament.
Der Radfahrer sitzt ruhig in gewohnter Körperstellung auf seinem stählernen Rosse, ist nicht vorgebeugt wie ein Läufer. Mit den Unterschenkeln, welche er wie die Triebstangen einer Lokomotive bewegt, arbeitet er am meisten. Allein die Ruhe seines übrigen Körpers ist nur eine scheinbare; kleine Bewegungen zu Steuerung sind unerläßlich und der Muskeln des Rumpfes bedarf er, um das Gleichgewicht zu halten, und wenn er auf unebenen Wegen fährt, ist der ganze Rumpf in Thätigkeit, selbst die Nackenmuskeln und der Kopf bleiben nicht frei von Mitarbeit.
Beim Zweiradfahrer, der die Hände an der Leitstange festhält, sind auch die Arme in fortwährender Thätigkeit. Dabei ist aber keine Einschränkung des Schultergürtels zu befürchten, wie dies beim Arbeiten an engen Schreibtischen vorkommt, denn die Hände sind zu weit von einander entfernt.
Die anstrengende Arbeit des Radfahrens erfordert tiefes Athmen, wodurch die Stauungsluft der Lungen entfernt und der Brustkorb energisch ausgeweitet wird, ohne an seiner Elasticität etwas zu verlieren, so daß der mit dem Centimetermaß meßbare Unterschied zwischen Ein- und Ausathmung von Monat zu Monat wächst. Leute, bei denen dieser Unterschied vor 6 Monaten kaum 2 bis 3 Centimeter betrug, zeigen jetzt 8 bis 9 Centimeter.
Es ist ein ganz guter Rath, wenn man sagt, kränkliche Stubensitzer und Comptoiristen sollen sich auf das Fahrrad setzen und gut athmen lernen.
Wie unendlich werthvoll eine solche Ausdehnung des Brustkorbes und der Lunge ist, lehrt die Erfahrung, daß sie der beste Schutz ist gegen die verderblichste Krankheit Europas, gegen Tuberkulose.
Ferner massirt der Radfahrer mit dem hohen Heben der Schenkel gleichsam seinen Unterleib, macht dadurch den Darm thätig, drängt das Zwerchfell nach oben und zwingt sich so zu tiefem Athmen.
Die Anstrengung bringt mit Ausnahme von ganz kurzen und langsamen Fahrten beinahe immer einigen Schweiß, wobei Stoffe ausgeschieden werden, deren Zurückbleiben im Blute den Körper schädigen würde.
In starken Schweiß kommt der Radfahrer sehr selten. Selbst bei anstrengenden langen Touren und beim Rennfahren, was vom ärztlichen Standpunkte aus nicht zu empfehlen ist, kommt keine starke Erhitzung vor, kein übermäßig strömender Schweiß, kein beschleunigter Puls. Nie findet man bei Radfahrern pulsirende Halsvenen, welche bei wenig anderen Körperanstrengungen fehlen.
Durch Haut und Lunge geben wir fortwährend Wärme ab. Ein gelinder Schweißausbruch bringt deshalb oft ein recht wohlthätiges Gefühl. Eine Ueberhitzung, wobei diese Wärmeabgabe von Haut und Lunge nicht mehr ausreicht und Hitzschlag eintritt, wird bei Radfahrern wohl nicht beobachtet.
Die Kräftigung aller Körpermuskeln, welche, wie wir jetzt wissen, der Hauptherd für den Stoffumsatz sind, und die zweckmäßige Ernährung des ganzen Körpers ist die erste Wirkung des Radfahrens.
Die gesteigerte Muskelthäthigkeit verbrennt das überschüssige Fett und der leichte Schweiß hilft mit.
Die Entfettung des Herzens und der großen Adern hat unberechenbaren Werth, denn der Umlauf des Blutes wird dadurch erleichtert.
Aber auch am ganzen übrigen Körper wird das Fett verbrannt und auch dort ist die Entfettung werthvoll, weil das Fett, wie wir bereits besprachen, den Weg für die Adern einengt und dadurch eine unregelmäßige Vertheilung des Bluts bewirkt; zwar in der Ruhe bemerkt man dies wenig, aber schon geringe Anstrengungen machen fetten Leuten ein rothes, Blutandrang verrathendes Gesicht. Schläfrigkeit, Kopfweh, selbst die Neigung zu Schlaganfällen, Hämorrhoiden sind an der Tagesordnung. Ob die Wegsamkeit der Blutbahnen des Kreislaufes namhaft beeinträchtigt ist, erkennen wir, wenn wir starke Bewegungen machen und dabei alsbald Erhitzung eintritt. Je schneller Pulsbeschleunigung kommt, je bälder die Bewegung wegen Uebermüdung und Erhitzung ausgesetzt werden muß, desto enger ist die Bahn für die Blutgefäße. Man kann diese aber durch Uebung erweitern und zuletzt normal machen, wozu das Radfahren recht passend ist.
Dasselbe ist allen anzurathen, welche nicht in ihrem Berufe schon genügende Bewegung haben.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht versäumen, meine Erfahrung hier niederzulegen, daß das Schulturnen, so werthvoll es auch ist, zum Ausgleich für die kopferwärmende Lebensweise unserer geplagten Schulkinder nicht genügt. Es fehlt dabei die frische Luft.
Das Kind sitzt in der Schule täglich bis 5 bis 6 Stunden, sitzt zu Hause bei den Hausaufgaben wieder ein paar Stunden. Das arme kleine Hirn wird beim Lernen mit 80 bis 90 Prozent mehr Blut überschwemmt als in der Ruhe, ferner ist zu Hause wie in der Schule die Luftschicht, welche den Kopf des Kindes umgiebt, viel wärmer als die Luft um die Füße herum.
Höchst segensreich würde daher ein kräftiges mechanisches Heilmittel wirken, welches Blut vom Gehirn auf die Glieder ableiten würde. Ein ungefährliches Dreirad wäre für die ganze Familie genügend.
Wie wir bereits zeigten, wird durch das Radfahren der ganze Organismus zur regeren Thätigkeit gebracht, weshalb man sich nicht wundern darf, wenn die Leistungsfähigkeit größer, Schlaf und Appetit ausgezeichnet werden. In der That sieht man, daß
[749]Radfahrer Mahlzeiten einnehmen, welche kein Gesunder sonst vertragen würde.
Bei diesem Wechsel der Anregung, bei diesem Entlasten der inneren Organe und Belasten der Außenseite des Körpers kommt es auch zu Einwirkungen aus die Nerven, wie sie ein anderes Heilmittel selten zustande bringt.
Jene modernen Ueberreizungen, denen kein Stand und kein Alter jetzt entgeht, die Neurasthenie (Nervenschwäche) in allen ihren Formen vertragen sich nicht mit dem Radfahren. Schon nach wenigen Wochen verschwindet eine quälende Krankheitserscheinung nach der andern. Ich kenne Leute, welche in keine Gesellschaft, in der mehr als 10 Menschen beisammen waren mehr gehen konnten. Es befiel sie unerträglicher Schwindel. Andere brachte das grelle Licht eines Kronleuchters zum Weinen, wieder andere konnten nicht mehr Seiten eines Buches ohne Unterbrechung lesen. Ich kenne Maler, die keinen Pinsel mehr in die Hand nehmen konnten; Männer, welche beim Hören von Glockengeläut ganz traurig und still wurden. Diesen allen und vielen anderen war die Ueberreizung nicht allein höchst quälend, sondern oft hing für sie auch die Gefahr daran, das tägliche Brot zu verlieren. Heutzutage versinkt die Mittelmäßigkeit. Nur ausgezeichnete Leute erreichen das ersehnte Ziel und hierzu sind meist Anstrengungen nöthig, welche eine übergroße Anspannung der Nerven erheischen und dann nicht ohne schädliche Folgen bleiben, denn des Schöpfers Wille ist ein solch überreiztes Leben nicht, sonst hätte das Gehirn einen Bau, welcher solche Ueberreizung ohne Schaden ertrüge, gerade so gut wie der Schöpfer das Herz des Pferdes, welches offenbar von ihm selbst zu schnellem Lauf bestimmt ist, durch einen festen Faden vor dem Zerspringen geschützt hat. Die jetzige geistige Hetze wird weder vom Gehirn des Kindes noch von dem des Erwachsenen schadlos ertragen. Solchen Unglücklichen wird nun das Radfahren oft zum Erlöser von ihren Leiden, wenn sie nebenbei der Hetze Einhalt thun.
Das Freiwerden des schweren Kopfes, die Schwitzthätigkeit der Haut, das Strotzen der Muskeln von Blut, der gesteigerte Stoffumsatz, die bessere Blutmischung, die geregelte freiere Blutbewegung, der tiefe Athem mit der vermehrten Sauerstoffaufnahme, das Fortschaffen des hinderlichen überflüssigen Fettes und Wassers, die bessere Ernährung machen den Körper gesund und mit der Gesundheit des Körpers kommt auch die Gesundheit des Geistes. Die Thatkraft kehrt zurück, die Lust zum Leben, die Lust zur Arbeit, der Schaffensdrang und damit der frohe Sinn und die Zufriedenheit. In wenigen Wochen verschwinden die quälenden Reizerscheinungen des Nervensystems.
Wir sehen, das Radfahren ist ein ganz hervorragendes Heilmittel, wenn es sorgfältig und richtig benutzt wird.
Bei Fehlern an den Herzklappen oder wenn der Blutumlauf noch so behindert ist, daß schon bei geringen Anstrengungen der Kopf Blutandrang und Eingenommenheit zeigt, ist langsam und vorsichtig zu [750] beginnen. Uebermäßige Anstrengung, unzweckmäßige Ernährung und Kleidung ruiniren die Nerven und schaden oft sehr, oder verhindern wenigstens den Nutzen.
Die Kleidung des Radfahrers sei weich, warm, leicht und luftig, damit der Austausch zwischen seiner Körperoberfläche und der umgebenden Luft nicht behindert ist.
Die Hemden sollen lang sein, damit sie sich beim Fahren nicht heraufschieben. Die Aermel sollen bis zur Hand vor gehen, um die Arme vor dem Sonnenbrand zu schützen. Wolle mit Baumwolle verwebt ist für Radfahrer der beste Stoff. Reine Wolle macht zu warm, juckt oft zu stark, ist schwer zu reinigen und verfilzt sich oft beim Waschen. Leinwand macht zu kalt, kühlt zu schnell aus.
Durchnäßte Unterkleider sollen alsbald gewechselt werden, da sie die Feuchtigkeit an die Außenluft abgeben und den Körper zu rasch abkühlen. Kurze Tricotunterhosen sind zweckmäßig und sehr zu empfehlen.
Die Beinkleider sind am geeignetsten recht elastisch von Kammgarn gestrickt. Macht sie ein Schneider aus Tuch, so soll er wenigstens alle hervorspringenden Nähte mit einem Streifen Wollstoff übernähen, damit die Haut von den Nähten nicht aufgescheuert wird. Die Beinkleider sollen ein paar Zentimeter über das Knie herabgehen und hier wie oben an der Hüfte mit einem Bunde zugeschnallt werden, den man während der Fahrt lockern kann. Straffe Hosenträger sind schädlich.
Die Strümpfe sollen handbreit über das Knie hinaufgehen und mit Bändern, welche mehrere Knopflöcher zum lockerer machen besitzen, an Knöpfen des Hosenbundes befestigt werden. Als Schuhe empfehlen sich Halbschuhe mit starken Sohlen und niederen Absätzen. Wer im Fußgelenk Neigung zum Umknicken hat, soll ein elastisches Oberleder weiter heraufgehen lassen. Die Schuhe sollen zugeschnürt nicht zugeknöpft werden, Knöpfe thun oft weh. Bei schönem, trocknem Wetter sind Zeugschuhe, die den Fuß gut ausdünsten lassen, sehr angenehm. Hat der Fuß Neigung zu scharfer Absonderung, so stäube man Salicylpulver zwischen die Zehen und auf die Sohle, was den Schweiß mäßigt und den Geruch nimmt.
Die Oberkleider sollen einen recht bequemen Schnitt haben, Brustumfang, Halsöffnung und Armlöcher dürfen ja nicht zu enge sein.
Tricotstoffe sind die passendsten; für den Winter kann man sie mit Flanell füttern lassen. Graumelirt ist die beste Farbe. Hellblau, was viele lieber wählen, macht erfahrungsgemäß so heiß wie Schwarz.
Die Kopfbedeckung soll von hellem Stoffe und luftig sein oder doch wenigstens durch Luftlöcher die Ausdünstung befördern. Ein großer Schirm schütze vor der Sonne, und bei Neigung zu starkem Schweiße kann man den Kopfring mit einer Korkschicht polstern. Bei recht heißer sonniger Zeit läßt man von der Kappe ein Stück Stoff über den Nacken herabhängen, das für gewöhnlich nach oben geknöpft ist. Handschuhe sind räthlich, denn sie schützen vor Sonnenbrand und vor mancher Verletzung. Leder paßt aber nicht hierzu, denn dasselbe bleibt zu lang naß und kalt. Im Sommer ist Baumwolle, im Winter Wolle zu wählen.
Regenröcke von Gummi sind sehr gebräuchlich, aber ich rathe ab von ihnen. Sie bringen durch Störung der Ausdünstung ein ängstigendes Gefühl. Besser ist es, einen kleinen Kragen von Gummi auf die Schultern und eine ebensolche Decke zum Schutze der Schenkel zu wählen.
Bei großen Touren ist auch die Lebensweise recht wichtig und nützt oft mehr als Kraft und Uebung.
Wenn man früh morgens auf das Rad steigt, paßt eine Tasse Kaffee, Thee oder Chokolade mit einem Brote. Nach einer Stunde Fahrzeit soll erst das Hauptfrühstück kommen, das auch ein gutes Stück Fleisch enthalten soll. Mittags während der größten Hitze wird man am besten drei bis vier Stunden ausruhen. Recht ernstlich muß man vom vielen Trinken abrathen. Man lerne den Durst bezähmen. Etwas Wasser mit Cognak bevor man wieder das Rad besteigt, oder Limonade oder Kaffee schützt oft lange vor Durst. Während der Fahrt soll man ein paar grüne bittere Blätter zwischen den Zähnen behalten und den Speichel damit sammeln. Ist die Hitze recht groß, so kann man mit großem Vortheil den Durst lindern, indem man eine dünne Schnitte rohen Rindfleisches gut gesalzen aus der Zunge liegen läßt. Das Rauchen ist nur eine Art Betäubung, welche nachträglich den Durst noch vermehrt, und paßt nicht für den Radsport.
Man soll das Fahren nicht über seine Kräfte beschleunigen. Sehr schnelles Fahren erheischt auch eine besondere Muskelanstrengung und vermehrtes Athmen, so daß das Athmen durch die Nase nicht mehr ausreicht und auch der Mund geöffnet werden muß, was recht schädlich ist. Der weise Schöpfer hat nicht umsonst angeordnet, daß wir die Luft, welche wir in unsere Lungen bringen, vorher in der Nase wärmen und vom Staub reinigen. Mit wunderbarer Vorsehung ist die Nase mit einer Fülle von kleinen Knochenmuscheln ausgestattet welche mit einer gefäßreichen recht blutreichen Schleimhaut überzogen und ganz dazu gemacht sind, ihre Wärme an die durchziehende Luft abzugeben. Die klebrige Feuchtigkeit, welche von der Nasenschleimhaut abgesondert wird, ist sehr geeignet, die durchströmende Luft von Staub zu befreien, so daß nur warme und staubfreie Luft in die Lunge gelangt.
Nach beendeter Tour entledige sich der Radfahrer seiner durchfeuchteten Unterkleider, wasche den ganzen Körper mit kaltem Wasser und reibe ihn trocken ab. Bei größeren Partien lasse man Unterkleider zum Wechseln durch die Post vorausschicken oder doch ein Hemd, in Wachsleinwand verpackt, entweder an die Lenkstange schnallen oder an einem andern Theile der Maschine befestigen.
Größere Touren unternehme man nur in Gesellschaft. Das Sprichwort sagt ganz wahr: „Getheilte Freude, doppelte Freude, geteiltes Leid, halbes Leid!“ Wenn auch im allgemeinen nur kleine Unfälle vorkommen, so ist es doch wünschenswert, dabei nicht allein zu sein. Sobald uns jemand die helfende Hand bietet, erträgt man jeden Unfall leichter.
Der erquickende kühle Luftzug, in welchem sich Radfahrer fortbewegen, ist zweifellos Ursache, daß Uebelsein und Ohnmacht mit Bewußtlosigkeit recht selten vorkommen.
Wenn in einem solchen Zustand auch der Athem stockt, so leite man sofort eine künstliche Athmung ein in der Weise, wie sie die „Gartenlaube“ kürzlich (vgl. Nr. 37) zum Zwecke der Wiederbelebung Ertrunkener beschrieben hat. Man schiebe den Unterkiefer nach vorne, so daß die unteren Zähne weiter vorstehen als die oberen, öffne den Mund und reinige den Schlund und drücke alle drei bis vier Sekunden mit beiden flachen Händen langsam auf die Brust. Dadurch wird die verlebte Luft ausgepreßt; sobald wir dann die Hände wegnehmen, dehnt sich der elastische Rippenkorb wieder aus, wobei die Lunge frische sauerstoffreiche Luft einschlürft. Auch belebende Riechmittel sind zu empfehlen, scharfer Essig, englisches Riechsalz und ähnliche. Ein Schluck frisches Waffer mit etwas Cognak oder ein Glas Wein oder Bier hat oft eine rasche und sehr gute Wirkung.
Wie ich schon angeführt habe, ist der Hitzschlag beim Radfahren gewiß unendlich selten. Sollte er vorkommen, so bringe man den Kranken an einen kühlen Ort, gebe ihm kaltes Wasser mit Cognak oder Wein zu trinken, mache kalte Umschläge und wasche den ganzen Körper kalt.
Kleine Wunden kommen beim Radfahrer vielfach vor, große aber selten. Bei jeder Wunde ist die Blutstillung das erste. Am einfachsten ist es immer, die blutende Stelle mit dem Finger oder mit der Hand zuzuhalten, bis der Arzt kommt und das blutende Gefäß zubindet. Dauert es lange, so kann man den Finger mit einem undurchlässigen Gegenstand vertauschen, den man auf die blutende Stelle bindet, mit einem Geld- oder Korkstück. Ganz außerordentlich praktisch ist ein weicher Tampon, den man sich herstellt, indem man einen Knäuel Watte in Guttaperchapapier wickelt und letzteres mit Chloroform zuklebt. Leichte Blutungen bedürfen nur kalter Wasserumschläge.
Bei einem größeren Unglück ist immer die Hilfe des Arztes zu erwarten. Doch erheischen auch kleine Wunden eine gewisse Sorgfalt, wenn sie keine Gefahren bringen sollen; durch die kleinsten Hautwunden können Zersetzungskeime eindringen und dann eine starke örtliche oder allgemeine Erkrankung herbeiführen. Man befreie die Wunde von allem Schmutz, desinfiziere sie und verbinde sie antiseptisch.
Ein kleiner Eßlöffel voll konzentrirter flüssiger Karbolsäure auf ein Quart Wasser ist eine sehr brauchbare antiseptische Flüssigkeit, mit welcher man die Hände, welche die Wunde berühren sollen, und die Wunde selbst reinigen und desinfizieren kann. Nachdem dies geschehen ist, gießt man einen halben Kaffeelöffel voll der [751] flüssigen konzentrirten Karbolsäure in ein halbes Quart Wasser, befeuchtet hiermit Gaze oder ausgewaschene alte Leinwand, wickelt sie über den verletzten Theil und befestigt mit einer Binde ein Stück Guttaperchapapier darüber, damit die Feuchtigkeit nicht verdunsten kann. Dieser einfache Verband entspricht allen Anforderungen unserer Zeit. Ist ein Fall oder starker Stoß oder die Verdrehung eines Gelenkes vorgekommen, dabei aber die Haut unverletzt geblieben, so ist die Massage und Kälte ein gutes Mittel.
Recht vortheilhaft ist auch ein Umschlag von wässeriger Ichthyollösung, 1 Theil Ichthyol auf 20 Theile Wasser. Schmerz, Schwellung und Mißfarbigkeit werden dadurch ganz gering.
Auch bei Verbrennung paßt diese Ichthyollösung, oder man reinigt den verbrannten Theil mit irgend einer antiseptischen Flüssigkeit, schneidet die Blasen weg, da diese das schadenbringende Secret zurückhalten, dessen Aufsaugung durch die Haut wie eine Vergiftung wirkt. Endlich deckt man die verbrannte Fläche mit einer antiseptischen Gaze. Das wichtigste bei Verbrennungen bleibt, die Kraft des Kranken zu erhalten, das Secret schnell zu entfernen und die Schmerzen zu nehmen.
Es ist sehr grausam und schädlich, einen Verbrannten zu befördern, ehe sein Schmerz gehoben ist, da ihn jeder Tritt und Schritt empfindlich schmerzt. Morphium, innerlich oder unter die Haut gespritzt, ist von guter Wirkung.
Verrenkungen der Gelenke und Brüche der Knochen behandelt man in der Weise, daß man die Glieder durch Ziehen in ihre normale Stellung zu bringen sucht. Ist das bei Verrenkungen gelungen, so ist der Verletzte schon halb geheilt. Bei Beinbrüchen muß man die erlangte gute Stellung durch einen vorläufigen Verband festzuhalten suchen. Stroh, Baumäste, Brettchen, Regenschirme, alles kann man als Schienen benutzen.
Aengstliche Menschen halten den Radsport für ein gefährliches Vergnügen, weil hier und da kleine Unfälle dabei geschehen. Wenn man aber die große Summe von halbkranken und schwer leidenden Menschen zusammenzählt, welche jährlich durch diesen Sport wieder gesund und froh werden, so fallen diese kleinen Unglücksfälle gar nicht in die Wagschale.
Das beste Arzneimittel, am unrechten Ort angewandt, bringt oft Schaden. Alles kann man übertreiben; von der besten Nahrung kann man zu viel genießen und sich schaden. Die Kraftstücke der Gewaltstouren können daher vom ärztlichen Standpunkte nicht gebilligt werden. Da es aber jedem Menschen gesund ist, sich täglich so viel Bewegung zu machen, bis er in leichten Schweiß kommt, so bleibt das Radfahren ein herrliches Vorbeugemittel bei Krankheitsanlagen und für viele Leiden das beste Heilmittel.
Die Beobachtung, daß die Zahl der radfahrenden Aerzte jedes Jahr zunimmt, ist ein Beweis, daß das Radfahren als durchaus nützlich erkannt wird. Für Leute, welche an Hämorrhoiden und Verdauungsbeschwerden, an Kreuzschmerz und schlechtem Athem leiden, für Leute, welche eine schmale Brust und nur wenig verschiedene Ein- und Ausathmungsmaße haben, endlich für solche, die infolge von Fettbildung einen beengten Blutumlauf und eine beeinträchtigte Herzbewegung zeigen, welche blutarm und leistungsunfähig sind, für das große Heer der nervösen Qualen ist das Radfahren ein äußerst lobenswerthes Heilmittel.
Ich kann es nicht unterlassen, bei dieser Gelegenheit auszusprechen, daß das Radfahren für die vielen nervösen Martern, welchen das weibliche Geschlecht ausgesetzt ist und wobei die Theilnahme der Angehörigen leider oft eine sehr geringe ist, dringend zu empfehlen wäre. Ob man auf einem Zweirad oder Dreirad fährt, dürfte für den Erfolg einerlei sein. Das Dreiradfahren kann auch bei Damen niemand unanständig oder zu auffallend nennen, namentlich wenn die Fahrten außerhalb der Stadt gemacht werden. Es soll ja doch dem zarten Geschlecht auch erlaubt sein, jene Heilmittel, welche ihm so gut bekommen wie den Männern, zu benutzen, um das höchste Gut auf Erden zu erringen: Gesundheit und Heiterkeit.
Unter dem Glockenstuhl.
Im Stadthospital zu Roseau kam ich zu mir, nach manchen Wochen. Der „Loki“ war längst ankerauf gegangen. Ich fühlte mich unsäglich matt. Kaum, daß ich die Hand rühren konnte. Als man mir einen Spiegel vorhielt, mußte ich lachen: das sollte ich sein? Aber ich konnte also doch noch lachen. Und ich wurde auch wieder gesund, sogar für die Tropen recht schnell. Nur eine Lässigkeit, eine innere Bewegungslosigkeit war über mich gekommen, die ich nicht bekämpfen konnte noch wollte. Ich mochte nicht denken; ich fürchtete mich davor. So saß ich stundenlang im Garten des Gouverneurs und blickte hinaus auf das unendliche, blaufunkelnde Karibische Meer, und über mir rauschten die Palmen in der Passatbrise.
Eines Tages gab man mir die unerbrochenen Briefe, die ich damals zu lesen keine Zeit gefunden hatte. Jetzt durfte ich wieder lesen. Frau Hedwig schrieb am Schluß eines unendlich herzlichen Briefes:
„Mit einigem Erstaunen werden Sie wohl gehört haben, daß unser Fräulein Zorn sich mit dem ihr einst scheinbar so wenig sympathischen Herrn Sternhagen verlobt hat; es geschah zu Hause bei ihren Eltern, als sie auf Besuch in den Osterferien dort war. Sie wissen, daß ich keine verlobte Erzieherin haben will; ich habe darum sofort unser Verhältniß gelöst und werde auch wohl nichts mehr von ihr hören, da das junge Paar – die Hochzeit soll zu Johanni sein – auf Kleinwulkow seinen Wohnsitz aufschlagen wird. Es ist mir auch lieber so.“
Der Diener brachte mir eine Erfrischung. „Was für ein Tag ist heute?“ fragte ich ihn.
„Der 24. Juni!“ gab er zurück. „St. John’s Day.“
„Also Sankt Johannistag! So!“ sagte ich leise und sah wieder übers Meer hin. Und allmählich wurden mir die Augen naß – da packte es mich, schüttelnd, übermächtig, ich schlug die Hände vors Gesicht und weinte, wie ich nimmer geweint hatte, seitdem ich ein kleines Kind war an meiner Mutter Herzen.
Es war wieder einmal Herbst geworden. Da kam eines Tages ein Brief von Frau Hedwig, die auch nach dem inzwischen erfolgten Tode ihres Mannes mir die unentwegt treue Freundin geblieben war, und die mich immer gar wohl unterrichtet hielt über alles, was auf Wulfshagen vorging. Nur von Gertrud hatte sie mir nie wieder eine Silbe geschrieben und auf versteckte und offene ihre einstige Erzieherin betreffende Anfragen nie geantwortet.
Es lag also wieder einmal ein Brief von ihr auf meinem Tisch, in dem es hieß:
„Nun möchte ich Ihnen noch einen Vorschlag machen, Professorchen. Sie blasen mir zu viel Trübsal und hocken mir zu viel hinterm Ofen. Das ist alles nichts für einen jungen Mann. Nun legen Sie endlich ’mal die Trauer um Ihren ungetreuen Schatz ab – ja, ich kann’s Ihnen jetzt ja gestehen, ich wußte damals schließlich ganz gut, wie der Hase lief, aber ich drückte ein Auge zu, weil ich Sie und das Fräulein gleich gern, ja lieb hatte. – Daß sie – aus welchen Gründen, weiß ich nicht und ist mir auch ganz gleichgültig – damals Sie ließ und den andern nahm, das habe ich ihr nie verziehen, und es wird viel dazu gehören, daß ich’s thue. Aber, wissen Sie, wenn ich ein Mann gewesen wäre wie Sie, dann hätte ich mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gesagt: ‚Basta, es giebt Mädel genug in der Welt!‘ Und ein Mann wie Sie, der hat eine an jedem Finger hängen, wenn er die Hand ausstreckt. Brauchen nicht zu glauben, daß ich für meine Frieda, die nun auch schon achtzehn Jahre alt ist, bei Ihnen Stimmung machen will, die ist denn doch ein bißchen zu jung und niedlich für solchen alten melancholischen Junggesellen!
Mit einem Wort: werden Sie nun ’mal wieder ein verständiger Mensch und machen Sie den Anfang dazu, indem Sie uns zum Erntefest heute über vierzehn Tage besuchen. Ich lasse schon Filzsocken vor Ihr Bett stellen, das ist ja ’was für alte Herren, und Sie dürfen sie den ganzen Tag bei uns im Zimmer tragen; bloß in den bekannten Milchkeller bringen Sie [752] sie nicht mit herein: da sollen Sie mit mir und meinen Töchtern und einer ganzen Menge niedlicher Mädchen und Frauen tanzen, die ich eigens für Sie und auf Sie einlade. Aber daß Sie mir nicht Nein sagen! Was denken Sie – ich will auch einmal etwas davon haben und damit renommiren können, daß ich einen wirklichen und wahrhaftigen Professor zum Freunde habe.“
Was blieb mir da übrig, als zu gehorchen. Und ihre Worte hatten mir das Herz erfrischt. Sie hatte recht. Ich fing an, mich auf die Reise in das traute, treue Haus zu freuen, und so fuhr ich denn an einem schönen, klaren Oktobertage nach reichlich acht Jahren wieder den altbekannten Weg. Ich kannte ja noch alles. Hier die Pflaumenbäume in der Allee waren wenig gewachsen; dort im Wassergraben lag noch der sonderbar geformte und durchlöcherte Stein, in den ich jedesmal beim Vorbeigehen meinen Stock gestoßen hatte. Nun fuhr ich durch den Tannenbusch – da lagen die Steine des Hünengrabes um den Hügel herum. Es war lichter unter den Tannen geworden, ich erkannte deutlich den Stein, auf dem wir an jenem köstlichen Tage unseres Glückes gesessen hatten; dort drüben, halb von dünnem Nebelschleier verhüllt, ragte mit seinen hohen Bäumen der Friedhof; und nun hob auch gerade die Glocke an, mit vollem tönenden Klang über die kahlen Felder zu läuten – aber ich hörte Frau Hedwigs mannhaftes – oder soll ich sagen: frauenhaftes – Wort: „Wenn ich ein Mann wäre, ich schlüge auf den Tisch mit der Faust: Basta!“ Und ich drückte den Hut in die Stirn. Ich wollte gesund werden. –
Nun fuhren wir auf den Hof – nun vor das Haus; da stand die ganze Familie, nur einer fehlte.
„Tausendmal willkommen!“ klang mir Frau Hedwigs frische Stimme entgegen; „na, Sie sehen ja noch ganz menschlich aus; nun kommen Sie nur schnell herein!“
Frau Hedwig war noch immer eine hübsche Frau und gesund an Leib und Seele; ein klein bißchen mehr Rundung hatte sie bekommen; die beiden Mädels waren allerliebst, und Lust und Leben in ihnen, aber den Schalk hatten sie im Nacken. Und der alte gute Geist wehte auch noch immer durchs Haus und packte mich, er wehte durch mein Herz und blies allen Moder hinaus – ja, ich konnte noch lachen, konnte mich noch herzlich freuen, wie ich da an dem alten lederbezogenen Sofa saß und Frau Hedwigs Hand in meiner hielt und sie mit ihren klaren grauen Augen mich ansah. Als die beiden Mädchen zu Bett gegangen waren – sie sagten dem „Onkel Professor“ ganz standesgemäß Gutenacht mit einem Knix, den sie jedenfalls nicht zu Hause gelernt hatten, aber einen Kuß wollten sie mir nicht geben; „Sie sind noch viel zu jung dazu!“ sagte Klara, die mit den braunen lachenden Augen – als die Mädel also zur Ruhe gegangen waren, da mischte mir Frau Hedwig noch eigenhändig ein duftendes, dampfendes Glas Grog, setzte sich wieder neben mich und sah mir ein Weilchen forschend in die Augen; dann sagte sie:
„Um Sie ist mir nicht angst; Sie werden noch einmal wieder ein ganz vernünftiger Mensch!“
Ich versuchte das Gespräch auf die alten Tage zu bringen, um etwas über Gertrud zu erfahren; aber Frau Hedwig lehnte sich zurück und sagte lustig:
„Ach was, lassen Sie nun endlich die Todten ruhen! Ich weiß überhaupt so gut wie nichts; sollen ja ganz glücklich leben und haben zwei prächtige kleine Buben; er trinkt zuweilen etwas über den Durst, ist aber sonst gar nicht so übel, Sie wissen ja, daß ich immer ein bißchen für ihn geschwärmt habe. So, nun zu etwas anderem!“
Frau Hedwig, du warst eine kluge Frau und wußtest, wie solche Kranke zu behandeln sind. Als ich mich am selbigen Abend zu Bett legte, da war mir gar leicht und wohl ums Herz, wie seit Jahren nicht mehr.
Und von Tag zu Tag ward’s mir noch leichter. Aber wie wurde auch für mich gesorgt! Es war herrlich, wie man alles bedachte, was mir wohlthun konnte. Die Mädchen waren prächtig. Fast täglich ritt ich mit ihnen aus – der Wohlstand auf Wulfshagen hatte zugenommen. Die trefflichen Hannoveraner, die Wagenpferde, gingen gut unterm Sattel, und für mich war ein flotter Gänger zum Reiten vorhanden.
So ritten wir eines Morgens vergnügt und guter Dinge dahin auf dem Wege nach Mittelstein, wo die Herrschaften verreist waren. Aber vom Berge kam uns ein Vierspänner im schlanken Trabe entgegen. Ich deutete darauf hin: „Wer ist denn das?“ fragte ich.
Da warf Frieda plötzlich ihr Pferd herum. „Ein Hase, ein Hase!“ rief sie mit heller Stimme; „den hetzen wir ein bißchen!“ – und hin stürmte sie, wir ihr nach. Der Wagen fuhr hinter uns zu Thal, und Meister Lampe verschwand in einem tiefen Wassergraben. Wir hielten die Pferde an.
„Eingegangen!“ lachte Klara; „ein andermal!“
Vergnügt ritten wir auf weitem Umwege nach Hause.
Und der große Tag des Erntefestes kam. Einst alles wie heute, heute alles wie einst! Und doch war’s um so viel anders, als ich älter geworden war, als aus zwei kleinen niedlichen Mädchen, die damals einem überall unter die Füße kamen hier im Milchkeller, zwei allerliebste vollberechtigte Tänzerinnen geworden waren, mit denen man vorzüglich walzte.
Ich hatte Klara eben losgelassen und stand neben ihr seitwärts von den tutenden und quietschenden Musikanten; da fiel mir wieder die „Wacht am Rhein“ ein. Schnell warf ich dem alten Weber Schmidt einen Thaler zu. „Wie damals!“ rief ich. Er nickte verständnißinnig mit aufgeblasenen Backen über seinem Klapphorn. Kaum war die kurze Pause um, da hub die Melodie an: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“.
„Wollen wir ’mal?“ sagte ich lustig zu Frieda – da wurde meine Schulter leicht berührt. Ich fuhr herum – Frau Hedwigs Hand war es, sie lag noch auf meinem Arm. Mit eigenthümlichem Ausdruck ruhte ihr Blick auf mir.
„Herr Professor – zwei alte Bekannte!“
Ich wandte mich um; „wie Schwertgeklirr und Wogenprall“ stürmte es plötzlich auf mich ein: vor mir stand Gertrud neben ihrem Manne, schön, stattlich, etwas frauenhaft – aber jetzt blaß wie der Kalk an der Wand.
„Na, das ist schön, daß Sie uns hier ’mal wieder besucht haben!“ rief Sternhagen gemüthlich und reichte mir die Hand; „wir sind auch herübergekommen von Kleinwulkow, um mit unseren Leuten auf Finkenfelde übermorgen einen Erntetrunk zu thun, und da hat uns Ihre liebenswürdige Wirthin auf heute eingeladen; famose Ueberraschung! Meine Frau kennen Sie doch noch?“
Ja, ich kannte sie. Nun reichte auch sie mir die Hand.
„Ja, wir kennen uns!“ sagte sie leise. Das waren dieselben Augen, derselbe Mund, nur ein Zug wie von wehmüthiger Ergebung lag um ihn, und die Lippen waren fester geschlossen als einst. Kühl lag ihre Hand in meiner, die kleine, mir einst so unsäglich liebe Hand.
Aber in mir bäumte sich plötzlich etwas auf. War’s Trotz, Stolz, oder das Gefühl vergangener Qual um diese Frau? Ich richtete mich hoch und kalt auf und ließ ihre Hand los.
„Gnädige Frau, ich bin glücklich, Sie wieder zu sehen!“ – mehr konnte ich nicht sagen. Da trat Frieda neben mich und stieß mich ein klein wenig an. Schnell verneigte ich mich. „Verzeihung – ich bin gleich wieder bei Ihnen!“
Ich sah, wie ihr das Blut in die Wangen schoß, und etwas wie trotzige Freude durchzuckte mich. Den Arm um Frieda legend, tanzte ich mit ihr hin.
„Bitte, halten Sie mich nicht so furchtbar fest,“ bat das Mädchen; „ich kann ja gar keine Luft bekommen!“
In mir stürmte es; unvermuthet war meine Seele aufgerührt worden bis auf den tiefsten Grund; wie gellender Hohn schallte die Musik in meinen auflodernden Schmerz hinein.
„So geht’s schön!“ sagte Frieda, „Sie tanzen famos, aber sehen Sie doch nicht so bös aus; mögen Sie nicht mit mir tanzen und war’s Ihnen unlieb, daß ich Sie ein bißchen mahnte?“
Ich faßte sie wieder fester. „Nein, Frieda, ich tanze riesig gern mit Ihnen!“
Was für ein dummer Gedanke zuckte mir plötzlich durchs Gehirn? Warm und weich und schmiegsam ruhte das hübsche, frische Kind in meinem Arm – war ich denn wirklich zu alt? Nein – vierunddreißig Jahre ist doch noch nicht alt – da verhallte quietschend der letzte Takt der „Wacht am Rhein“, und ich setzte mich mit Frieda in eine Ecke auf die harte Holzbank. Sie war eigentlich sehr hübsch, ein blühendes, lebenskräftiges Mädchen von gutem Stamme – ein bißchen übermüthig frei – ich sah sie an; ein kleiner, niedlicher Seitenblick streifte mich; ich sah nicht hinauf nach der Gruppe an der Thür, wo die schlanke Frau im kirschrothen Kleide stand, ich redete auf Frieda ein, die mit munterem Geist Antwort gab. „Nein, es ist doch zu nett, daß Sie gekommen sind,“ sagte sie, „Ihnen werden noch oft die Ohren klingen, wenn Sie wieder fort sind und hier wieder alles
[753][754] still und einsam im Schnee liegt! Aber kommen Sie!“ – sie sprang auf – „ich bin so schrecklich durstig!“
Ich gab ihr den Arm. Wir mußten an der Gruppe neben der Thür vorbei, wo Gertrud angelehnt stand mit müdem Gesicht. Sie sah mich nicht an. Aber sie athmete heftig. Das sah ich.
Da gellte ein schriller Trompetenstoß durch den Keller: „Damenwahl!“ – Und plötzlich, wie ich an ihr vorbeiging, drehte die junge Frau sich um und wandte sich gegen mich.
„Herr Professor,“ sagte sie gepreßt, mit sichtlicher Anstrengung, „darf ich Sie bitten – –“ Ihr Auge blickte geisterhaft kalt, aber ihr Mund versuchte zu lächeln.
Und wenn neben mir der Blitz eingeschlagen hätte – es hätte mich nicht so erschüttert wie dies Wort, aber auch nicht so geblendet, und es hätte nicht so gezündet: aus der Asche mächtig lohend brannte die Flamme auf! Mein Arm lag um ihre Hüfte. Was sollte das? Was sollte das werden? Hin wirbelten wir wie einst, hinein in den drängenden Haufen. – „Frau Gertrud!“ sagte ich leise. Sie sah mit gebrochenem Blick zu mir auf – sie war noch blässer geworden. Droben schmetterte das Horn gräulich falsche Töne und die Violine weinte kreischend im rasenden Tempo – „Juch! – Juch!“ schallte es um uns, Stiefel trampelten, Schuhe scharrten – immer ging’s im tollen Wirbel rundum; – „lassen Sie mich, – ich kann nicht mehr!“ flüsterte sie – sie wankte; ich drängte hinaus aus der quirlenden Menge und zog sie nieder auf die Holzbank, dann ließ ich sie los. Sie sagte kein Wort und lehnte das schöne, bleiche Gesicht zurück, den Kopf an die Wand stützend. Sie holte schwer Athem. Ihre Hand lag auf der Bank; ich legte meine Hand auf die ihre; aber sie entzog sie mir langsam.
„Mein Mann wird Sie einladen,“ sagte sie leise und abgebrochen – „werden Sie kommen?“
„Laden auch Sie mich?“
„Ja – Sie sollten kommen!“
„Wußten Sie, daß ich hier war?“
Sie nickte. „Ich habe Sie mit den Mädchen reiten sehen, als wir ankamen. Wir wären auch ohne Einladung gekommen; ich!“
„Gertrud!“ kam es flüsternd in wahnsinnigem Herzensjubel über meine Lippen. Um uns toste der Tanz, eine lebendige Mauer vor uns aufbauend in dem engen Raum.
Da hob sie das Haupt und sah mich an wie im zornigen Schmerz und schüttelte ernst den Kopf.
„Dann kommen Sie nicht,“ sagte sie und stand auf. Ich stand neben ihr. Heiß ging mein Athem.
„Darf ich?“ fragte ich. Sie sah zu Boden.
„Ja! Sie sollen meine lieben, prächtigen beiden Kinder kennen lernen – und – ich – ich will, ich muß eine Stunde mit Ihnen sprechen!“ Aus großen tiefernsten Augen sah sie mich an. Da hatte ich mich wiedergefunden. Die Musik brach ab; ich reichte Gertrud den Arm, sie legte ihren hinein. So führte ich sie ihrem Manne zu.
„Kommen Sie!“ rief er, „wir wollen einen Schoppen zusammen trinken!“ Er faßte mich unter und zog mich den Gang entlang. Hinter uns her hörte ich ein leises, wie warnendes „Oskar!“
Ich stieß mit ihm an und sah ihm ins Gesicht. Er war nicht schöner geworden; sein Gesicht war etwas aufgedunsen und geröthet. „Er trinkt zuweilen etwas über den Durst!“ hatte Frau Hedwig gesagt. Aber wie ging es nur zu? Ich spürte nichts von Haß in mir; mein Herz schlug plötzlich ruhig, die wirren, stürmenden Gedanken meiner Seele hatten sich geglättet. Gertrud hatte mit zarter, fester Hand die alte, kaum vernarbte und jetzt frisch aufgebrochene Wunde verbunden. Ich fühlte etwas von stolzer Kraft in mir aufleben in dem Gedanken, daß sie sich selbst in meinen Schutz gestellt hatte. Ich wußte es, daß sie ferner wie ein heller Stern über meinem Leben stehen würde – aber: „die Sterne, die begehrt man nicht!“
Ich hob meinen Humpen. „Auf das Glück Ihres Hauses!“ rief ich Sternhagen zu und trank den Krug in tiefen Zügen leer; und es war ein ehrlicher Trunk; damals, vor Tisch.
Gertrud und Frau Hedwig kamen herein und setzten sich zu uns. Frau Erhard sah sehr vergnügt aus. „So, nun geben Sie uns auch ein Glas Bier!“ rief sie. Ich griff hinter mich nach den Gläsern.
„Darf ich das Amt der Schänkin einmal wieder übernehmen?“ fragte Gertrud, „ich habe es früher hier gethan an den Erntefesten. Bitte, Herr Professor, tauschen wir den Platz!“
Das Zimmer füllte sich mit jüngeren und älteren Herren und Damen aus der Nachbarschaft; das Gespräch wurde immer lauter und belebter, und Gertrud, deren Wangen jetzt glühten, hatte genug zu thun. Sie wies lachend alle Hilfe ab. „Ich will’s aber!“ sagte sie – „oder schmeckt’s Ihnen nicht, wenn ich Ihnen den Krug fülle? Wenn Sie mich durchaus belohnen wollen, Herr Inspektor, dann ersetzen Sie mir die Rose, die ich im Wagen verloren habe auf Ihren schlechten Wegen; blüht Ihr dunkelrother Hochstamm noch immer so schön, der hier früher neben der Veranda stand?“
Statt aller Antwort stürzte der junge Mann fort, das Verlangen der schönen Frau eiligst zu erfüllen. Tiefe ahnungsvolle Freude durchzitterte mein Herz. Gertrud nahm die Rose mit flüchtigem Dank in Empfang und steckte sie lose an die Brust.
„Herr Professor, ist das Ihr Krug?“ Ich reichte ihn ihr und wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen.
Es lag ein gedämpfter Strahl des alten süßen Lichtes in ihren Augen, als sie mir den Krug reichte. Wir hatten beide nicht vergessen! –
Frau Hedwig saß bei aller Heiterkeit still beobachtend da. Als mein Blick dem ihren begegnete, hob sie scherzend ihr Glas. „Wie hieß doch damals Ihre Giftpflanze? Ob sie wohl ganz ausgerottet ist? Ich hoffe es; man muß nichts Ungesundes im Leben dulden!“ Sie nickte mir über den Rand des Glases mit den Augen zu.
„Aber nun tanzen die Herrschaften gefälligst!“ rief sie schnell aufstehend.
Ich bot Gertrud den Arm. Sie schüttelte mit sanftem Blick den Kopf. „Ich tanze heut’ nicht mehr; es bekommt mir nicht; ich muß mich frisch halten für übermorgen; dann wieder, wenn Sie wollen.“
Köstliche Verheißung! –
Wir gingen zum Abendessen. Ich mußte Gertrud führen. Frau Hedwig war ein kühner und energischer Arzt. „Führen Sie nur Ihren alten Schatz!“ lachte sie, als ich ihr kurz vorher auf dem Gang begegnete, „es geht ja ganz gut mit Ihnen beiden; ich nehme Ihren dicken Feind, meinen Liebling. Nicht wahr, ich habe recht,“ fügte sie, sich nochmals zu mir wendend, hinzu; „dem Feind und dem Geschick die Zähne weisen ist besser, als sich hinter Büchergestellen und Pflanzensammlungen vor ihm verschanzen und mit ihm Versteck spielen im Dunkeln?“
Aber wie ich dann am Tisch neben ihr saß, da kam mir das Wagestück doch mit einem Male furchtbar gefährlich vor. In vornehmer, liebenswürdiger Ruhe fand sich Gertrud in ihre Rolle, mir aber fuhr der Gedanke durchs Herz: „Was wird nachher aus dir, wenn du wieder von ihr ziehst?“
Sternhagen hob sein Glas mit blitzendem, goldigem Wein gegen mich. „Sie machen uns die Freude, unser Gast zu sein übermorgen; und dann bleiben Sie ein paar Tage bei uns, nicht wahr? Frau Erhard erlaubt es!“
Es ging nicht – es ging nicht! Es war Wahnsinn und Frevel. Besser heute scheiden, als alles aufs Spiel setzen. All’ die gräßlichen Entweder und Oder; das sündige Locken meines Herzens; das Blut, das brausend hinter der Schleuse des Willens tobte; das Gewissen, das mahnend warnte mit leiser Stimme – das alles drängte sich zusammen in diesen einen Augenblick, in dem ich mein Glas faßte.
„Ich kann wirklich nicht!“ wollte ich antworten; da fiel mein Blick auf Gertrud, die scheinbar theilnahmlos dabei saß. Sie hielt ihr Messer wie im unbeabsichtigten Spiel aufrecht – „Ich komme!“ rief ich, und mein Glas flog gegen seines, daß es in seiner Hand zersplitterte und der goldige Wein auf den Tisch floß.
„Gut gemeint!“ rief er; „Frau, stoß mit an für mich!“
Leise klirrten die grünen Kelche zusammen. „Sie sind uns herzlich willkommen!“ sagte sie freundlich.
Frau Hedwig, Frau Hedwig, heißt das löschen, wenn man Hobelspäne ins Feuer wirft? Ich fühlte es, es war doch nur eine falsche Ruhe, die über mich gekommen war. Ja, wäre ich vor einer Stunde in die Nacht hinausgegangen – ja, wer weiß! Aber mit jedem Tropfen Wein, den ich trank, goß ich mir neues Feuer ins Blut, wurde mein Auge geschärft für Gertruds berückenden Liebreiz, tauchte neues und immer begehrlicheres Erinnern aus der Reihe der alten Tage in mir auf. Alle Saiten meines Herzens waren gespannt, alle Gedanken, alle Sinne geweckt – hätte sie mir damals zugeflüstert: „Fliehen wir!“ – ich würde sie in die Arme genommen und die ganze Welt dafür herausgefordert [755] haben! Was war der armselige Händedruck nach Tisch, während ich sie hätte an meine Brust reißen und in meinen Armen ersticken mögen – und nun: „Gesegnete Mahlzeit!“
„Famoser Kerl!“ sagte Sternhagen und zerarbeitete meine Hand. „Kommen Sie, wir trinken noch eine Flasche von dem guten Rauenthaler zusammen, ehe ich fahre; meine Frau klagt über Kopfschmerzen. Ist reizend von Ihnen, daß Sie die kleine Eifersüchtelei vergessen haben, die damals zwischen uns spielte; ich hab’ damals gewonnen – Sie hätten’s ja auch können – einerlei, was kann das schlechte Leben helfen! Prosit, Professorchen, die Weiber sollen leben!“
Widerwillig stieß ich langsam mit ihm an. Da hob ich das Auge, wie von einem geheimen Bann getrieben; nein, nicht auf seinem immer röther erglühenden Gesicht konnte mein Blick ruhen, mit magnetischer Gewalt zog es ihn hin, dort in die Ecke, wo der Spiegel hing – da sah ich ein Bild: Gertrud, im halbdunklen Nebenzimmer am Tisch sitzend; nur ein schräger Schein seinen Lampenlichtes fiel auf ihren Scheitel, wie sie, die gerungenen Hände vor sich über den Tisch gestreckt, gesenkten Angesichts starr vor sich hinschaute, unbeweglich. Da wallte mein Herz auf in stolzem Jubel und Jauchzen: du blöder, trunkener Narr du, meinst du, sie sei um dich solch Bild der Seelennoth? Meinst du, du habest theil an dem herrlichen Gebilde, das du mit roher Faust in dein Haus geschleppt hast? Ich weiß es besser: ihre Seele ist bei mir, ist mein, und du, du lebst von Almosen – ja, nicht einmal das, denn Almosen spendet das Erbarmen, und Erbarmen kommt aus liebendem, theilnehmendem Herzen: du solltest nur sehen, wie sie reich machen kann, wenn sie die Hände aufthut und ihr Blick in Gluth aufflammt! – –
Sie fuhren ab. Sternhagen führte selbst die Zügel.
„Willst Du Siegbert nicht fahren lassen?“ bat sie leise beim Aufsteigen.
„Ach was!“ fuhr er sie rauh an. „Prr!“ Die jungen, feurigen Pferde stampften unruhig vor dem Wagen. „Also auf übermorgen, Herr Professor!“ rief er. Sie neigte dazu das Haupt in dem weißen Baschlik; das Licht vom Flur fiel auf ihr Gesicht; ein bittender Blick, ein Blick voll Trauer traf mich – da zogen die Pferde hastig an und Wagen und Menschen verschwanden im Dunkel.
Als alle Gäste fort waren, saß ich noch mit Frau Hedwig allein am Tisch.
„Habe ich nicht recht,“ sagte sie und verschränkte behaglich die Arme unter der Brust, „daß das Leben selbst alle seine Schäden heilt? Hier, nehmen Sie noch ein wenig kalten Braten, und dann zu Bett!“
Die beiden Mädchen kamen, Gutenacht zu sagen. Sie sahen bildhübsch aus in der Erregung des Abends und ihre glänzenden Augen lachten mich an. Aber mein Herz empfand nichts davon. Was gingen mich alle Frauen und Mädchen der Welt an? Uebermorgen! Nein, morgen! – Und hätte es mein Leben gekostet, ich wäre hinübergefahren! –
Ein Erntefest wie das andere, auch auf Finkenfelde! Gertrud war eine reizende, gehaltene Wirthin, die mit Blick und Lächeln die rauhe Schar in Schranken hielt, die sich von weit her an ihrem reichen Tisch gesammelt hatte. Mit warmem Händedrucke hatte sie mich bewillkommnet – in ihrem Hause! Mir lief’s doch kalt über den Rücken: – das hatte anderswo stehen sollen! Aber auch ich war nur der zuvorkommend aufgenommene Gast, kein Blick, kein Wort deutete mehr an.
Es fand sich während des ganzen Nachmittags und Abends kein einziger Augenblick, an dem ich ein unbelauschtes Wort hätte mit Gertrud sprechen können. Auch nicht während des Tanzens; denn sie tanzte überhaupt nicht heute. „Verzeihen Sie,“ bat sie, als ich sie aufforderte, „wenn ich meine Zusage von neulich nicht halten kann; aber es würde mich tödten, wenn ich mit allen erschienenen Gästen tanzen wollte, und so darf ich’s mit keinem thun, will ich nicht all die anderen verletzen.“ Sie sagte es unbefangen und mit gleichgültiger Freundlichkeit. „Aber Sie tanzen recht viel? Nicht wahr?“ fügte sie mit herzlicherem Ton hinzu.
Ich hatte gar kein Verlangen danach; aber ich that’s, um mich zu betäuben in dem dumpfen Schmerzgefühl, unter dem ich litt, und um dem allmählich immer wüsteren Treiben zu entgehen, das sich im Herrenzimmer um Bierfaß und Bowle herum entwickelte. Sternhagen ermunterte seine willigen Gäste unaufhörlich, so daß schon bei Tisch eine recht laute Fröhlichkeit herrschte, in die ich nicht einstimmen konnte und mochte. Ich saß einsilbig neben meiner Nachbarin, und immer wieder irrte wein Blick hinüber, wo Gertrud unbewegten Angesichtes neben dem jungen Oberförster saß, der sie mit Artigkeiten überschüttete.
„Es war mir wirklich unmöglich, die Erlaubniß zu geben,“ hörte ich ihn betheuern, „Sie kennen die Unerbittlichkeit unseres Grafen in solchen Dingen!“
„Warum bist du gekommen? Warum hast du dich in diese hoffnungslose Qual hineingestürzt, noch tiefer, als du schon drin warst?“ fragte ich mich.
„Prosit, Professorchen!“ schrie Sternhagen über die Länge der Tafel mir zu; „Sie sind heute gar nicht recht auf dem Damm, was fehlt Ihnen? Trinken Sie ’mal einen festen Schluck!“
Wieder flog, während ich ihm Bescheid that, mein Blick hinüber zu Gertrud, und heißer als die Gluth des Weines durchströmte mich das Gefühl des Glücks, als ich sah, wie sie die Augen voll aufschlug und, mich anschauend, ihr Glas an die Lippen führte. Hätte ich nur lesen können, welche Bitte in diesem Blick lag! Denn eine Bitte war darin verborgen, das fühlte ich. Und während ich wieder hinüberschaute, verstand ich sie; sie sprach wieder in ihrer gemessen verbindlichen Weise mit ihrem Nachbar, aber ließ dabei auf ihrem feinen Finger das Obstmesser balancieren. „Nein!“ hieß das. Jetzt also: „Sieh mich nicht an!“ Neues Leben rann mir durch die Adern: ich stand wieder in geistiger Verbindung mit ihr. –
„Na, der Sternhagen, der trinkt sich heute noch sternhagelvoll!“ bemerkte ein Nachbarspächter ziemlich laut, so daß ich’s hören konnte. Er glühte allerdings wie ein illuminirter Kürbis. Tiefes Erbarmen zog durch mein Herz. Arme, arme Gertrud!
Mir flog ein Schauder über den Rücken, als ich zusehen mußte, wie der trunkene Sternhagen nach Tisch mit roher Zärtlichkeit Gertrud in die Arme zwängte und sie mit gräßlichem Behagen küßte; ihre Arme hingen schlaff herab; wie mochte es in ihrem Herzen aussehen!
Als die letzten Gäste fortgefahren waren, schob er, unsicher auftretend und mit schwerer Zunge redend, seinen Arm unter den meinen und zog mich in sein Zimmer, wo Gertrud zurückgelehnt in dem Sofa saß und still in das Licht des Kronleuchters blickte.
„Nun wollen wir noch eine Flasche Sekt trinken, wir drei Niedlichen!“ schrie er mit Lachen – „zum Abgewöhnen, was, Professorchen?“ Und klatschend schlug er mich aufs Bein. Gertrud saß noch immer still und unbeweglich.
„Nein, nein!“ bat ich, „wir haben genug getrunken!“ Da sprang sie schnell auf. „Nein, mein Mann hat recht; wir wollen noch etwas Besonderes für uns haben!“ – und hinaus eilte sie.
Ich verstand das nicht.
Sie kam wieder und stellte selbst die Flasche und drei Kelchgläser auf das Rauchtischchen. Zu ihrem sonst so ruhigen Wesen stand in merkwürdigem Gegensatz die Hast, mit der sie die Gläser füllte und herumreichte. Sie klangen mit bleiernem Ton zusammen. Sternhagen goß mit einem Zuge den süßen Trank hinunter.
„Pfui Teufel! Das reine Spülwasser!“ rief er und schüttelte sich. – „Selbst holen, Du findest die rechte Sorte nicht –“ mit diesen Worten wies er Gertrud ab und ging schweren, unsicheren Schrittes hinaus.
Sie lehnte wieder zurück; ihre Hand spielte mit der Quaste.
„Sind Sie sehr müde?“ fragte sie.
„Nein, gar nicht! Aber Sie –?“
„Ich bliebe noch gern stundenlang auf – ich kann doch nicht schlafen!“ Sie sprach es in gedämpftem, müdem Ton, in gleichmäßigem Silbenfall.
Da tönte im dunklen Nebenzimmer ein Poltern, ein Fluch und ein Fall.
Wie der Blitz sprang Gertrud auf; mir abwinkend, eilte sie hinein in das Nebengemach und schlug die Thür hinter sich zu. Ich stand in tödlicher Verlegenheit da. Ich hörte Gertruds leise beschwichtigende Stimme, dazwischen grobe, abgebrochene Töne, bittendes Sprechen, dann das Oeffnen einer Thür und verhallende taumelnde Schritte. –
Nach kurzer Weile trat Gertrud wieder ein mit gelassenem Gesichtsausdruck. „Mein Mann läßt sich entschuldigen!“ sagte sie ruhig, ohne irgend einen Versuch der Erklärung. Sie füllte mein Glas, ließ sich wieder auf das Sosa nieder und sah hinauf ins Licht, das ihr Angesicht, das ernste, weiche, wunderschöne Frauenantlitz, röthlich übergoß.
Blätter und Blüthen.
Sklavenzug in der Wüste. (Zu dem Bilde S. 753.) Es ist dieselbe Geschichte in ganz Innerafrika; überall giebt es dort Sklaven, und fast überall treibt dort die Jagd auf den schwarzen Menschen ihre scheußlichen Blüthen. Die allgemeine Aufmerksamkeit ist jetzt auf Ostafrika gerichtet, und wir kennen zur Genüge die Greuel, die in jenen Gebieten des Dunklen Welttheils von den Arabern und ihren Helfershelfern verübt werden. Unser heutiges Bild versetzt uns in ein anderes Land. Solchen Reitern, wie sie der Stift Albert Richters trefflich wiedergiebt, begegnen wir im westlichen Sudan an der Grenze der Sahara; es sind typische Gestalten von Händlern aus den Haussaländern, mit denen unsere Leser seinerzeit durch die Schilderungen Flegels im Jahrgange 1884 der „Gartenlaube“ bekannt geworden sind. Diese weiten Gebiete nebst den Negerreichen Bornu, Baghirmi und Wadai versorgen sowohl die Oasen der Sahara wie die nordafrikanischen Küstenstaaten mit Sklaven, und fast jede der Karawanen, welche die Wüste durchziehen, führt neben anderer Fracht auch menschliche Ware mit sich.
Paul Staudinger, welcher zuletzt die Länder am Benue bereist hat, indem er die Geschenke Kaiser Wilhelms I. an die Sultane von Sokoto und Gandu überbrachte, spricht sich über diese Sklaventransporte folgendermaßen aus: „Die Schwierigkeit des Transportes durch die Wüste macht die Leute zuerst aus Noth, später aus Gewohnheit grausam und gefühllos. Tausende von den heiteren Kindern des Sudans hat alljährlich die Sahara zum Opfer gefordert; das ungewohnte Klima und noch mehr der Durst und die Strapazen einer Wüstenreise raffen viele Hunderte dahin, von denen die meisten elend in der Einöde verschmachten, allerdings nicht durch absichtliche Grausamkeit ihrer Herren, denn jeder Händler wird sich wohl so lange als möglich seine Ware zu erhalten suchen, sondern durch die Furchtbarkeit der Sahara. Schon dieses Transportes wegen ist der Menschenhandel zu verwerfen.“[2]
So lange noch die leiseste Möglichkeit der Flucht vorhanden ist, ziehen die Sklaven gefesselt dahin, entweder in langen Reihen mit dem Gabeljoch um den Hals, oder, namentlich Weiber, mit an den Hals gebundenem Handgelenke.
Was wir auf unserem Bilde schauen, ist der Anfang des Wüstenmarsches und zugleich der Eintritt der ersten Noth. Der Wasservorrath ist erschöpft; nicht allein der Durst der Karawane, sondern auch die heißen Wüstenwinde haben die Wasserschläuche geleert. Die Leute mit den Reitkamelen sind vorausgeschickt worden, um am nächsten Brunnen Wasser zu schöpfen. Ihnen folgt die Sklavenkarawane. Ein ausgetrocknetes Flußthal, ein Wadi, wird durchschritten – wohl findet man darin etwas Wüstengras und Wüstengestrüpp, aber der Boden ist ausgedörrt, heiß; man würde hier vergeblich nach Wasser graben. Die Sonne, die größte Feindin der Verdurstenden, ist aufgegangen und sendet vom wolkenlosen Himmel ihre glühenden Strahlen auf die schattenlose Ebene hinab. Vergeblich strecken die Unglücklichen ihre Arme aus und rufen, flehen nach einem Tropfen Wasser: es giebt kein Wasser. Ein schwacher Jüngling bricht zusammen; er wird mit der Peitsche vorwärtsgetrieben – er muß sich aufraffen, muß weiter ziehen, denn wer hier liegen bleibt, der verfällt dem sicheren Tode.
Der wüstenkundige Mann an der Spitze des Zuges schaut düster vor sich hin. Die Sonne steigt höher; dort an einer Biegung des Wadi ist etwas Schatten vorhanden, an jener Stelle will er rasten; dann werden alle das Gesicht verschleiern, um die Ausdünstung des Körpers durch den Athem zu verringern, und schweigend liegen bleiben, bis die Kamele wiederkommen oder die Nacht den noch am Leben Gebliebenen den Weitermarsch gestattet.
Und welches Schicksal erwartet die Elenden, wenn sie der Tod von ihren Qualen nicht erlöst hat und ihre Gerippe nicht im Wüstensande bleichen? Glücklich, wer die Nordküste erreicht! Aber der Sklave wird auch unterwegs verkauft, und wehe ihm, wenn er für ein Kamel in die Hände wilder Nomaden wie der Tubu gelangt. Gustav Nachtigal hat uns das Los solcher Sklaven in der Wüste geschildert. In Tibesti wurden ihm kranke Sklaven vorgeführt, und ihr Leiden bestand – in einem langsamen Verhungern! Die Kinder des Sudans wissen wohl, was ihnen in einer solchen Sklaverei, bei Herren, die sich selbst kaum satt essen können, bevorsteht. Und während sonst der Sklave in Afrika mit bewunderungswürdigem Gleichmuth sein Los erträgt, wird er hier von wilder Verzweiflung gepackt. Er kann nicht fliehen, denn allein in der Wüste findet er den Tod, er kann nicht hoffen, daß er in die Hände eines besseren Herrn gelangt, und so beschließt er selbst seine Qual – hier ist der Selbstmord der Sklaven nichts Seltenes. –
Diese wenigen Worte werden genügen, um dem Leser das verständlich zu machen, was in den Herzen der schwarzen Sklavenschar vorgeht. – Es ist gleich, woher die Händler kommen, ob von den Haussaländern oder von Bornu, das Los ihrer Opfer in der Wüste ist stets das gleiche. Fühlen kann man es, aber schwerlich mit Worten wiedergeben.
Ein Fest in Pompeji. (Zu dem Bilde S. 745.) Aus dem verschütteten Pompeji graben nicht nur die Alterthumsforscher merkwürdige Ueberreste heraus, sondern auch die Maler glückliche Motive. Da führt Diana Coomans zwei schöne Pompejanerinnen vor, die auf einer Veranda Platz genommen haben, um sich einen vorüberziehenden Festzug mit anzusehen. Ganz Pompeji scheint in freudiger Bewegung zu sein, die Fenster, die Galerien gegenüber sind dicht mit Menschen besetzt. Unten im Zug erblickt man eine Festjungfrau auf einer Tragbahre, von den Genossinnen begleitet, von denen die eine über sie den Wedel hält. Die beiden Mädchen auf der Veranda sind in anmuthigen Gegensatz gestellt; die schlanke Blondine in lichter Gewandung wirft den Vorüberziehenden Blumen auf den Pfad. Die Brünette aber, die auf einem über die Brüstung gebreiteten Bärenfelle sitzt, kümmert sich weniger um die Himmlischen und ihre Verehrer; sie hat ein spähendes Männergesicht entdeckt, das zu ihr in die Höhe blickt; der Ausdruck ihrer Züge verräth, daß sie ihn wohl erkannt hat, und indem sie scheinbar harmlos den Blumenstrauß an ihre Wange drückt, scheint sie nur auf den günstigen Augenblick zu lauern, um den Kecken mit wohlgezieltem Wurfe zu treffen. †
„Hans Dampf“ in allen Gassen. Pelz, Fußsack und Muff, wenigstens aber ein paar derbe Filzschuhe waren noch vor wenigen Jahrzehnten die unerläßlichen Ausstattungsstücke eines Eisenbahnreisenden im Winter; denn die wenigsten Bahnen hielten die künstliche Erwärmung der Eisenbahnwagen für erforderlich, und diese auch nur in den höheren Klassen. Die Leipzig-Dresdener Bahn begann mit der Erwärmung der Personenwagen allerdings bereits im Jahre 1840 mittels Wärmflaschen und Sandkästen. Immerhin war aber dieselbe äußerst unvollkommen, und ein Fachmann der damaligen Zeit empfiehlt daher als probates Mittel gegen Kälte „das Essen eines Apfels“, wie dies namentlich in Rußland üblich sei. Neben und nach einander finden wir später die Preßkohle, heißes Wasser, dann unsern Stubenofen und endlich den „Dampf“ als Wärmeerzeuger.
Die Heizung mit Dampf von der Lokomotive aus scheint in der That eine Zukunft zu haben. So wurden im Jahre 1887 im Königreich Sachsen 64 % der Personenwagen mit Dampf geheizt; in der Schweiz, in Nordamerika (Michigan) beabsichtigt man die allgemeine Einführung der Dampfheizung im Wege des Gesetzes.
Auf den nordamerikanischen Bahnen giebt es sogar heizbare Güterwagen mit doppelten Wandungen für die Beförderung von Obst und Kartoffeln. Im Sommer dienen diese Wagen dann ihrer Kühle wegen zum Transport von Butter und Fleisch.
Auf jeden Raum
Pflanz’ einen Baum
Und pflege sein,
Er trägt dir’s ein.
E. Br. in Freiburg im Breisgau. An Büchern über unser deutsches Heerwesen können wir Ihnen verschiedene nennen. Am ausführlichsten ist das Werk von Poten, „Unser Volk in Waffen“ (Stuttgart und Berlin, Spemann), etwas kürzer das andere von Vogt, „Das Buch vom deutschen Heere“ (Bielefeld und Leipzig, Velhagen und Klasing). Die amtlichen Bestimmungen sind in der „Deutschen Wehrordnung“ und der „Deutschen Heerordnung“ enthalten. Dort finden Sie auch das Nöthige über die Bedingungen, unter denen der Eintritt bei einer bestimmten Waffengattung erfolgen kann. Ihr Verbleib innerhalb einer und derselben Garnison während der ganzen Lieutenantszeit ist kaum wahrscheinlich, doch hängt dies lediglich von dem Ermessen der Vorgesetzten ab.
Al. V., Lauingen. Mit den „Lacrymae Christi“ hat diese „Thräne“, die Ihnen so viel Kopfzerbrechen gemacht hat, nichts zu thun, ebenso wenig mit der Thräne, die bekanntlich in Heines Gedicht „Das Meer“ von der Geliebten weißer Hand „fortgetrunken wird“. Wenn ein später Gast zu seinen Zechkumpanen sagt: „Trinken wir noch eine Thräne,“ so ist dies einerseits ein ironischer Ausdruck für ein in Wirklichkeit etwas größeres Quantum Flüssigkeit, andererseits ein Ausfluß von des Trinkers eigener rührseliger Stimmung.
N. N. in A. Eine solche Liste giebt es unseres Wissens nicht. Warten Sie, bis ein „Verzeichniß sämmtlicher lebenden Menschen“ erscheint, da finden Sie vielleicht auch Ihren Degelovsky drunter, wenn er nicht schon gestorben ist.
Inhaltsverzeichniß des 1. Heftes, Band VIII (Preis des Heftes 40 Pf.):
Pedro. Eine Geschichte aus den spanisch. Befreiungskriegen von J. Wilhelmi. Mit Zeichn. von A. Zick. – Beherzigenswerthe Aussprüche. Walter Scott an seinen Sohn. – Die Schafe in den Alpen. Von Georg Lang. Mit Bild von F. v. Pausinger. – Von Indianern verfolgt. Ein Abenteuer in den Rocky Mountains von Friedrich J. Pajeken. Mit buntem Bilde von A. v. Rößler. – Mein Aeffchen. Von L. H. Noirclere. Mit einer Zeichn. von F. Flinzer. – Ein Geburtstagsfestspiel. Von Sophie Gudden. – Knackmandeln, Räthsel u. s. w.
Inhalt: Sakuntala. Novelle von Reinhold Ortmann. S. 741. – Allerseelen. Gedicht von Victor Blüthgen. S. 747. Mit Illustration S. 741. – Ist das Radfahren gesund? Eine kurze Betrachtung von Geheimrath v. Nußbaum. S. 747. – Ein Hasenfuß. Illustration. S. 749. – Unter dem Glockenstuhl. Novelle von Gerhard Walter (Fortsetzung). S. 751. – Blätter und Blüthen: Sklavenzug in der Wüste. S. 756. Mit Illustration S. 753. – Ein Fest in Pompeji. S. 756. Mit Illustration S. 745. – „Hans Dampf“ in allen Gassen. S. 756. – Auflösung des Rösselsprungrebus auf S. 688. S. 756. – Kleiner Briefkasten. S. 756.
- ↑ Der „Ergostat“ ist eine von Dr. Gärtner ist Wien erfundene, jetzt viel benutzte Maschine. Dieselbe enthält ein Rad, welches verschieden schwer belastet werden kann und welches der Kranke zur Stärkung seiner Muskeln täglich ein paar hundertmal umtreibt.
- ↑ Vergl. „Im Herzen der Haussaländer“. Von Paul Staudinger. Berlin, Adolf Landsberger, 1889.