Die Gartenlaube (1889)/Heft 35
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No. 35. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Sicilische Rache.
Die helle Sonne Siciliens glänzte von dem Frühlingshimmel herunter über Land und See. Lustig flatterten im Morgenwinde die farbigen Wimpel der im Hafen von Messina vor Anker liegenden Schiffe. Frohe, singende Scharen zogen die Marina entlang den Bergen zu.
Man zählte damals das Jahr 1847, und aus allen Gauen des sicilischen Eilandes kamen dem neapolitanischen Gouverneur in Messina beunruhigende Nachrichten zu von der immer unheimlicher drohenden Gährung im Volke, von dem immer weiter um sich greifenden Wiedererwachen des Brigantenthums, von dem immer enger sich zusammenschließenden Bunde aller Unzufriedenen zum gemeinsamen, gewaltthätigen Handeln. Nichts aber zeugte an diesem fröhlich lachenden Februarmorgen von den drückenden Besorgnissen, welche die einen, von den dumpfen Hoffnungen, welche die andern erfüllten, – nichts als etwa die von den Mauern der seeumflossenen Citadelle nach der Stadt hin gähnenden Kanonen, oder das Glitzern von den Gewehren der bis zu den äußersten Vorwerken hin- und herwandelnden Schildwachen der Schweizergarde.
Am Fuße der zu den Offizierswohnungen führenden Treppe stampfte, ungeduldig ob des langen Wartens, ein von einem berittenen Diener gehaltenes Roß. Zwei Offiziere erschienen unter der Thür.
„Also auf Wiedersehen heute abend!“ sagte der Major von Büren, indem er seinem jüngeren, durch enge Freundschaft mit ihm verbundenen Kameraden die Hand schüttelte; – „und,“ fügte er lächelnd hinzu, „nimm Dich in acht, Eckart!“
„Verfrühte Sorge!“ erwiderte heiter der Hauptmann; „soweit sind die Herren dort drüben noch nicht, und zu einer sicilianischen Vesper sind die Glocken noch nicht gegossen!“
„Du mißdeutest meine Worte, Hattwyl! Nicht vor den Sicilianern wollte ich Dich warnen, – gefährlicher sind die Sicilianerinnen für Dein junges, warmes Blut!“
„Ach!“ lachte Eckart von Hattwyl, „immer wieder meine schöne Unbekannte, der meine Reitpeitsche so wacker aus dem Gedränge half! Nun, ihretwegen, Robert, habe keine Sorge! – Ich habe sie leider nie wieder zu Gesicht bekommen.“
„Leider, sagst Du aber! Und geforscht hast Du nach ihr, als ob ohne sie das Leben nichts mehr für Dich wäre.“
„Und geträumt habe ich von ihr, das will ich nicht leugnen, als ob mit ihr das Leben zu einem Paradiese sich umwandeln
[582] würde! Nein, Robert, herrlicher strahlte noch keines Weibes Bild vor meinen Augen, tiefer grub sich noch keines in mein Herz! Wie eine aus ihrem Rahmen herausgestiegene Madonna …“
„Schwärmer!“ unterbrach ihn der Major.
„Träumer, sagtest Du besser; denn wie ein Traum war es ja, – entschwunden, verloren, wer weiß, in welche Ferne entrückt, – auf Nimmerwiedersehen!“
Ein trauerndes Sehnen klang durch die anscheinend lächelnd hingeworfenen Worte.
Still beobachtete der Major einen Augenblick seinen jungen Freund, dann fuhr er mit ernst forschendem Ausdrucke fort: „Und nun reitet der Träumer mit einer moschusduftenden Einladung dem Kloster von San Placido zu, wo unter blühenden Orangenbäumen dem Madonnasehnenden eine liebreizende Gräfin ein Stelldichein giebt!“
„Ein Stelldichein? … zusammen mit dem gräflichen Herrn Gemahl und mit dem Abbate Scaglione!“
„Thue nicht, als wüßte ich nicht, was alle Welt sich erzählt! Der schönen Gräfin von Cellamare macht Hauptmann von Hattwyl den Hof!“
„Alle Welt mag es erzählen, – so wäre alle Welt im Irrthum: der Gräfin Cellamare trage ich keine anderen Gefühle entgegen als diejenigen, die ein jeder von uns für eine liebenswürdige und – noch schöne Frau zu hegen pflegt. Sieh! ich möchte von Dir weder der Unbescheidenheit, noch eines eiteln Dünkels geziehen werden, – aber alle Welt, von der Du sprachst, kennt auch der Gräfin … ‚Eigenschaften‘; … ‚Tugenden‘ darf ich doch nicht sagen! Wenn eine Frau, deren Jugend eine lange Liebesangewöhnung und Liebesverwöhnung war, an die Schwelle der Vierziger gelangt, so pflegt die Liebesumworbene sich zur Liebeswerbenden umzuwandeln, und …“
„Ich weiß es! Die Gräfin sucht im letzten Jugendwallen die Rechte ihrer Schönheit zur Geltung zu bringen, und Du bist dieser vielleicht letzten Leidenschaft – vielleicht unbewußtes Ziel! Ob ihre Gefühle Erwiderung finden …“
„Du scherzest, Robert!“
„Ich scherze nicht. Nimm im Gegentheil ein ernstes Wort mit auf den Weg: Verschmähte Liebe ist – besonders zur Herbstzeit – ein gefährlich Ding, und in Sicilien flüchtet die verlassene Schöne nicht verzweifelt aus dem Leben, wie Dido bei Vergil.“
„Laß gut sein, Freund! Zur verlassenen Dido gehört ein ungetreuer Aeneas!“
„Und wenn Eckart von Hattwyl diesen Helden nicht zu spielen gedenkt, so möge er sich bei Zeiten vorsehen, daß die schöne Gräfin sich nicht in die Rolle der verlassenen Königin von Karthago versetzt dünke!“
„So gut der Rath gemeint, so leicht ist er auch zu befolgen. Lebe wohl!“
Mit raschem Sprunge saß Eckart im Sattel und, von seinem Diener begleitet, galoppirte er über die dröhnende Zugbrücke ins Freie.
O des jubelnden Reitens in die Lenzespracht hinein! Ein Jauchzen erfüllte Herz und Sinne des jungen Offiziers, wie er hinaussprengte aus dem finstern Thorwege der Citadelle in das offene, von glänzendem Lichte überfluthete Gelände. Gerade gegenüber, durch den breiten Hafen von der sichelförmig ins Meer hinausspringenden Landzunge getrennt, auf der sich Festung und Leuchtthurm erhoben, lag Messina mit seinen unzähligen Kuppeln und Thürmen, mit seiner herrlichen Reihe von Palästen am Ufer entlang, mit den die oberen Viertel beherrschenden langhingedehnten Klosterbauten. Was brüteten wohl hinter jenen düstern Mauern die im Kampfe gegen die Neapolitanerherrschaft verbündeten Verschwörer? Und wie lange würde es noch dauern, bis von einem jener Thürme das Zeichen zum offenen Aufruhr heruntertönte? Arme Leute! was konnten sie denn erhoffen gegen diese Kanonen und diese Festen? – Und dennoch! Hatten die alten Schweizer nicht dasselbe gethan, was diese jetzt zu thun trachteten, als dort am Vierwaldstätter See todesmuthige Männer sich zusammenscharten, um die Freiheit des Vaterlandes gegen die Fremdherrschaft zu verfechten? Rasch und kurz blitzte dieser Gedanke vor Eckarts Geiste auf; – wo war heute bei dem Drängen und Laufen und Lachen und Rufen auf den frühlingssonnigen Straßen Platz für solch trübes Denken? Mit frohem Zuruf erwiderte Eckart die Grüße der Freunde und Bekannten; Freunde durfte er ja alle, Sicilianer und Schweizer, nennen, welche ihm seit seinem kaum einjährigen Aufenthalt in Messina nahe gekommen waren; im Fluge hatte sein ritterliches Wesen, seine elegante Gestalt und der treue, fast noch kindliche Ausdruck seiner blauen Augen aller Herzen erobert, und es war nur natürlich, wenn dem sein Roß mit kräftiger Hand bändigenden und gleich einem nordischen Götterjüngling dahinjagenden blonden Reiter auch von Unbekannten Rufe der Bewunderung nachflogen.
„Wie schade, daß dieser ein Freund der Neapolitaner ist!“ konnte man den einen und den andern halblaut zum Nachbar hinflüstern hören; oder aber auch: „Ja! wenn sie alle so wären wie dieser da!“ –
Bis zu Eckarts Ohr drangen aber diese Worte nicht, und hätte er sie auch vernommen, weiter als bis zu seinem Ohre wären sie nicht gedrungen, denn nach ganz anderer Richtung hin bewegte sich sein Sinnen. In raschem Fluge war, nach des Majors letzten Worten, sein Geist zu seinen Träumen zurückgekehrt, zu jenem göttergleichen lieblichen Bilde, das sich mit so wunderbar unwiderstehlicher Gewalt in sein Herz gesenkt hatte und – warum sollte er’s zu leugnen versuchen? – das sich mit jedem Tage tiefer darin eingrub. Ein Lächeln flog über seine Lippen und er konnte ein rasches Achselzucken nicht unterdrücken, als er an seines Freundes letzte Mahnung zurückdachte. Was war denn für ihn die Gräfin von Cellamare? und wie konnte sie neben jener Unbekannten nur erwähnt werden? Dankbar hatte er ihr liebenswürdiges Zuvorkommen hingenommen, als sie den fremd inmitten dieser fremden Gesellschaft stehenden Offizier zu ihren Festen heranzog, als sie ihn – erst jetzt fiel ihm auf, in welch außergewöhnlicher Weise – vor allen andern auszeichnete und ihn durch die mannigfaltigsten und sinnigsten Gunstbezeigungen näher an sich heranzuziehen nicht müde wurde. Er dachte sich damals nichts weiter dabei, der unerfahrene, unverdorbene, mit dem südlichen Wesen und auch mit den Frauenherzen so durchaus unbekannte Weltneuling! Was wollte auch diese Frau in seinem Leben? Was drängte sie sich an sein Herz heran? Fast unwillig richtete sich Eckart in den Bügeln auf, als schüttele er ein lästiges Gewicht von den Schultern, und siehe! war es nicht, als gäbe jetzt eine sinnige Schicksalsfügung die versöhnende Antwort auf jene harten Fragen, die vor seinem Geiste aufstiegen? – Dort, an der Kreuzung jener zwei Straßen, bei jenem von einem alten, moosbedeckten Wassergott überragten Brunnen, dort war es gewesen, wo er vor kaum vierzehn Tagen das Mädchen erblickt hatte! Dort, um jene Straßenecke kam er herumgebogen, als ein Lachen und Schreien in fremder Sprache an sein Ohr schlug; ein paar betrunkene englische Matrosen drängten sich lärmend um die Stufen; eine Mädchenstimme klang durch das wüste Toben – irgend eine Magd wohl, die beim Wasserholen mit den dreisten Gesellen schäkerte oder sich ihrer derben Zudringlichkeiten erwehrte. Wie er aber näher hinzugekommen war, da entrollte sich vor seinen Augen ein ganz anderes Bild: ein Mädchen aus dem Bürgerstande, die schwarzseidene Manta über den Kopf gefaltet, lehnte an dem Brunnenpfeiler; drohend blitzten seine großen, zornentflammten Augen auf die Angreifer zu; mit beiden Händen riß es jetzt einen schweren Steinkrug vom Brunnenrande und schwang ihn gegen die lachende Horde.
„Zurück! Der erste, der mich berührt, ist des Todes!“
Das Wort war ihren Lippen noch nicht entflohen, da stand schon der Offizier an ihrer Seite, und wie in ein Rudel Hunde, so hieb er mit seiner Reitpeitsche unter die Matrosen hinein. Sie waren sechs gegen einen; der Wein tobte in ihren Köpfen, wüthend drangen sie auf den Schweizer ein; aber blutige Striemen riß ihnen die sausende Peitsche über Gesicht und Hände, und als führe er ein feuriges Schwert in der Rechten, so brachte Eckart die wilde Rotte zum Weichen und zur Flucht. Ja, wie ein Erzengel Michael, der den Drachen tödtet und dem bösen Feind den Fuß auf den Nacken stemmt, so mochte er wohl der ob dieser so unverhofften und so wunderbaren Rettung noch ganz betroffenen Jungfrau erscheinen! Unbeweglich stand sie da, den Gewaltigen anstaunend, – und an seinem Auge blieb ihr Blick wie gebannt haften, als er sich nun zu ihr wandte und mit freundlich gewinnendem Lächeln, als wäre nichts geschehen, zu ihr sagte:
„Wohin soll ich Euch geleiten?“
Was war es denn, daß er die Worte kaum zu beendigen vermochte? Es schien ihm, als flösse unter des Mädchens Blick all sein Blut in seinem Herzen zusammen, – da trat ein Mann herzu, – ein Sicilianer war es, ein Bürger, – ein Feind der Schweizer wohl, denn in ein sonderbares Gewand kleidete er den Dank, den er mit [583] unwillig scharfem Tone dem Offizier hinwarf: „Einem Schweizer soll eine Sicilianerin keinen Dank schulden!“ und mit gebieterischer Gebärde ihre Hand in die seine fassend, zog er die Halbwiderstrebende in eine Seitengasse. An der Ecke wandte sie sich um; ihr strahlender Blick hatte wie im Fluge sein Auge wieder getroffen, dieser Blick, so warm, so weich, so kindlich rein und doch so tapfer und so sicher, – wie er in seinem ganzen Leben noch niemals einen ähnlichen erschaut! Sie hob die Hand zu ihren Lippen, als wollte sie ihm von weitem noch ihren stummen Dank zuwerfen, und dann war das Bild entschwunden, entschwunden auf Nimmerwiedersehen! Denn vergeblich waren Eckarts Nachforschungen nach dem wunderbaren Mädchen geblieben, und nirgends, nirgends hatte er die Spur der Verlorenen wiederzufinden vermocht. In seinem Herzen haftete aber jene Erscheinung, und heute noch war es ihm, als fühlte er wie damals die sonnige Wärme, die aus ihrem Auge sich durch sein ganzes Wesen ergoß. Sinnend ließ Eckart seinem Rosse die Zügel und langsamen Schrittes zog er weiter, als gäbe es weder Gräfin noch moschusduftendes Stelldichein, – und ganz in sein heimliches Denken versunken, ritt er weiter … Und wer weiß? vielleicht würde er sie dort draußen wieder finden, dort in jenem Kloster, zu dem die ganze Stadt heute hinausgezogen war, alt und jung, Adelige und Bürgerliche, zum altberühmten Volksfeste des Schutzpatrons von San Placido!
In hellen Haufen umlagerte das lustige Völkchen den inmitten eines Orangenhaines gelegenen mittelalterlichen Bau, ein massives, drei Stockwerke hohes Quadrat, mehr Festung als Kloster, mit weiten, auf breite Terrassen mündenden Erkerfenstern und mit weithin vom Meere aus sichtbarer, im Sonnenschein glänzender Kuppel. Die dienstfertigen Mönche halfen bereitwillig den Leutchen ihr ländliches Mahl zubereiten und versorgten die nimmersatte Menge mit Feigen und Orangen und mit seinem zum Klosterfeste eigens gebackenen Zuckerwerk; eine besondere Freude aber war es, zu sehen, wie sie schmunzelnden Mundes die mit duftendem schwarzrothen Weine gefüllten, rundbäuchigen Fiasconi ohn’ Unterlaß durch die Klosterpforte unter die Hunderte nach dem süßen Safte Begehrenden vertheilten: „Trinkt nur, Brüder! Dieselbe Gesundheit bringen wir ja alle aus, und derselbe Klang ertönt von Euren und von unsern Gläsern, wenn wir verständnißvoll anstoßen!“
Alle da draußen verstanden, was die Mönche mit diesen und ähnlichen räthselhaften Worten sagen wollten, und alle dort drinnen verstanden die lustigen Zecher, wenn diese den Becher erhoben und mit zwinkerndem Auge, ohne ein Wort zu sagen, in einem Zuge leerten. Keiner ließ eine Silbe von dem Geheimniß verlauten, dessen alle Herzen voll waren, aber ein jeder wußte, daß er in dem andern einen treuen Bundesgenossen hatte. Nicht das Klosterfest allein war es ja, welches das lebensfrohe Völkchen heute beschäftigte; – dort oben, in einer versteckten Klosterzelle – das wußte ein jeder, und das sagte aber keiner – dort saßen die Anführer des Volkes beisammen, die „Capo popoli“, wie sie im Volksmunde genannt wurden, und beriethen unter einander die kommenden Ereignisse; und an das, was jene dort oben trieben, dachten hier unten alle, Mann und Weib, alt und jung.
In allgemeinen, unverfänglichen, aber in ihrer Doppelsinnigkeit oder scheinbaren Harmlosigkeit jedem Sicilianer verständlichen Redewendungen theilte man sich von einer Gruppe, von einem Tisch zum andern die Nachrichten mit: „Romeo, der Tischlermeister aus Messina, kam heute früh schon herausgefahren; – seine Tochter, die schöne Felicita wohnt zum erstenmal einem Klosterfeste bei.“
„Schöneren Festen wird sie wohl nächstens beiwohnen.“
„Und wird sich freuen! Denn sie ist brav wie ihr Vater.“
„Habt Ihr Romeos Gevatter, den alten Salvatore Merlo gesehen?“
„Er kam – aber ohne seinen Sohn.“
„Weiß schon! Antonino Merlo weilt seit einer Woche in Taormina; er baut sich eine Mühle im Thal; gutes Mehl wird das dortige Wasser mahlen.“
„Man sagt ja, er werde Romeos Tochter heimführen.“
„Das sagt nur er und sein Vater, der alte Merlo; er will es mit Felicitas Mutter vor ihrem Tode ausgemacht haben, und nun sollen die Kinder den Willen der Todten ausführen! Aber Romeo huldigt diesen alten Gebräuchen nicht, und Felicitas Herz ist frei.“
„Romeo trifft immer das Richtige! Er ist ein braver Mann, der es gut meint mit seinem Kind – und mit Sicilien!“
„Aus Palermo langten gestern abend zwei Mönche an; sie brachten dem Kloster ein neues Heiligenbild.“
„Aus Erz gegossen? – wäre besser als von Gold!“
„Welches Kloster schickte sie?“
„La Gancia!“[1]
„Sicilianische Vesperfeier!“
„Nehmt Euch in acht, Nachbar!“ raunte jetzt einer dem neben ihm Sitzenden zu; „da kommt einer, der zu feine Ohren und zu scharfe Augen hat. – Guten Morgen, Don Federigo! macht Ihr Geschäfte hier oben?“
Der Angeredete, ein hagerer Mann mit einem von tausend Fältchen spinnwebenartig überzogenen Gesichte, antwortete über die Achsel, mit fremdem, augenscheinlich deutschem Accent: „Um meine Geschäfte braucht Ihr Euch nicht zu kümmern! Wünsche Euch nur, daß die Euren nicht gar zu schlecht ausfallen mögen!“
„Guten Morgen, Herr Lerche!“ riefen von weitem, halb spottend, einige unter den Italienern verlorene Deutsche, und zu ihnen wandte sich nun langsamen Schrittes der in seinen zu langen und zu weiten Kleidern herumschlotternde Don Federigo, indem ein ironisches Lächeln um seine Mundwinkel spielte.
„Don Federigo? Nachbar, warum sagtet Ihr denn, daß man sich vor ihm in acht nehmen solle? Don Federigo ist ja unser Freund; er steht auf dem besten Fuße mit Salvatore Merlo und durch ihn mit allen geheimen Gesellschaften – ist ja selber mit in der Maffia!“[2]
„Mag sein! mag sein!“ erwiderte der Angeredete, „steht auf bestem Fuße auch mit dem Gouverneur und den Neapolitanern! Aller Menschen Freund ist eines jeden einzelnen Feind!“
So flogen die Reden von einem Tische zum andern, kurz, in anscheinend harmloser, für die Eingeweihten aber inhaltsschwerer Weise.
Fern von dem Getriebe, in einer abgelegenen Ecke des Orangengartens, hatte sich eine kleine, aristokratische Gruppe zusammengefunden. Nicht der gemeine Klosterwein, sondern perlender Champagner schäumte in den hochgeschweiften, mit dem gräflichen Wappen der Cellamare geschmückten Gläsern. Um den mit feinen Speisen beladenen Tisch bewegte sich in würdevoll vertraulicher Gemessenheit ein betreßter Diener. Drei Plätze nur waren besetzt; der vierte Stuhl stand noch leer – und leicht konnte man aus dem nervösen Mienenspiel der Gräfin ersehen, daß dieser leere Stuhl allein sie beschäftigte. Es war wohl auch das erste Mal, daß eine von ihr ergangene Einladung eine solche Erwiderung gefunden hatte. Wo mochte er geblieben sein? – und kein Wort der Entschuldigung! – kein Wort des Dankes! – Schwerer noch ertrug die Gräfin diese Kränkung, weil sie sich nicht verhehlen konnte, daß von allen Kavalieren, welche die trotz ihrer achtunddreißig Jahre noch viel umworbene Schöne umflatterten, keiner sich mit solcher Gewalt ihrer Sinne bemächtigt – keiner aber auch mit solch unbezwingbarer Kühle ihren Künsten Trotz geboten hatte. Was war das? Sollte sie, die ob ihrer Siege stolze Gräfin von Cellamare, die Waffen vor der Sprödigkeit dieses Schweizers strecken? War sie nicht mehr die unwiderstehliche, schönste Frau Siciliens? Wie ein leises, aber desto fühlbareres Mahnen an der Jahre unerbittliches unaufhaltsames Walten stellte sich diese unausgesprochene, aber nicht abzuweisende Frage vor ihren Geist.
Ein drückendes Schweigen hatte sich über die kleine Gesellschaft gelagert. Mit geschäftigem Finger löste der Abbate Scaglione Mandeln aus ihrer Schale; in blitzartigem Aufzwinkern ließ er den forschenden Blick auf seine Nachbarin und dann wieder zu seinem Teller zurückfliegen; der Graf hatte sich längst in seinem Stuhle zurückgelehnt und schlief mit verschränkten Händen, als gäbe es weder Gräfin, noch schweizer Offizier.
„Sollte ihm ein Unfall zugestoßen sein?“ fuhr die Gräfin plötzlich, zu dem Abbate gewendet, auf.
„Ach, gnädigste Gebieterin,“ erwiderte der Abbate, der wohl die Frage auf seinen nächsten Nachbar bezog, „er ist ja immer so! Wer die Nacht bis zum Morgengrauen bei Spiel und Wein verbracht hat, dem kann man wohl die Siesta gönnen!“
[584]
[585] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [586] „Ihr seid von Sinnen! Wer wird wohl hier an den Grafen denken?“
An den Grafen dachte man freilich am wenigsten in diesem gräflichen Hause – und der Herr Graf hatte sich längst sein Leben danach eingerichtet.
Eine Purpurgluth überströmte plötzlich das Antlitz der Gräfin – dort unter den Bäumen nahte eine Gestalt. Er war’s, der lang Vermißte, der heiß Ersehnte! Er kam, er hatte sie nicht vergessen! In wildem Toben kämpfte in ihrem Herzen die Freude, ihn zu sehen, und der Groll, daß sie ihn so lange hatte erwarten müssen. Ein Wort von seinen Lippen, ein reuiges Wort sollte die Lösung bringen – ein Blick aus seinen Augen, ein Blick der stummen Verehrung sollte die Freude und die triumphirende Liebe den Sieg davontragen lassen; – wie kühl aber und mit wie vollendeter, weltmännischer Eleganz verbeugte er sich vor ihr und vor dem schlummernden Grafen und dem Abbate und wie ruhig und gemessen, ohne auch nur das leiseste Erzittern unter einem wärmeren Gefühle, trafen seine Worte ihr Ohr:
„Der Dienst erlaubte mir nicht, Frau Gräfin, zur gewünschten Stunde zu erscheinen; ich bitte, mich entschuldigen zu wollen.“
Der Dienst? Was wollte er mit diesem Worte? Wußte sie doch wohl, daß er heute keinen Dienst zu versehen hatte, und hatte sie ja gerade für diesen Tag von ihrem Freunde, dem Gouverneur, die Erlaubniß für den Hauptmann von Hattwyl erwirkt, ihre Einladung anzunehmen! Was sollte diese Lüge? Was verbarg sich hinter dieser Ausflucht?
Sie that sich Gewalt an, um Herrin ihrer selbst zu bleiben. Kalt erwiderte sie seinen kühlen Blick; dann verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. „Dienst!?“ sagte sie endlich, ohne dem Harrenden die Hand zu bieten; „mich dünkt, Herr Hauptmann, es dürfte damit ein ganz besonderer ‚Dienst‘ gemeint sein, – und ein Mädchen ist wohl hier im Spiele!“
Eckart erröthete, das Wort hatte ihn getroffen, und der Gräfin entging diese verrätherische Röthe nicht. So hatte sie’s errathen? so verschmähte er sie um einer andern willen? Kaum war die zornerglühende Frau noch ihrer selber mächtig. Er wollte jetzt sprechen; mit gebieterischer Gebärde, als stünde der Richter vor dem Gerichteten, schnitt sie ihm aber das Wort ab, und fast rauh klang ihre Stimme, als sie, sich langsam erhebend und ohne ihn eines Blickes zu würdigen, zum Abbate sagte:
„Wir haben zu lange gewartet! Der Herr Hauptmann wird dem Grafen Gesellschaft leisten, während wir uns unter den Bäumen ergehen! Trage Sorge, Benedetto,“ fügte sie über die Achsel zum Diener hinzu, „daß es den Herren nicht an Champagner fehle!“
Einen Augenblick schaute Eckart der Gräfin nach. Was sollte diese Sprache, was sollte dies Aufbrechen bedeuten? Roberts mahnende Worte flogen ihm durch den Sinn. Er wandte sich zum Grafen hin – sanft schlummerte aber der edle Herr in seinem Strohsessel weiter und mit regelmäßig langsamem Pfeifen sang sein gesundes Schnarchen unter den Orangenbäumen hin.
„Der Herr Hauptmann müssen schon allein trinken!“ meinte, mit lächelndem Augenzwinkern zu dem schlafenden Gebieter hindeutend, der feiste Benedetto, und in der südlich familiären Weise, die kaum einen Rangesunterschied zwischen Diener und Herrschaft zugiebt, fügte er, mit dem umgebogenen Daumen nach der unter den Bäumen entschwindenden Gräfin zeigend, hinzu:
„Die Frau Gräfin sind heute gar schlechter Laune; es weht Sirokko übers Meer, da pflegen die Nerven …“
Das Ende hörte Eckart nicht mehr. Rasch kehrte er dem Tische den Rücken und entfernte sich in der entgegengesetzten Richtung dem Kloster zu, von wo das laute Singen und Lachen der fröhlichen Menschenmenge herübertönte.
Er trat durch die Klosterpforte in den ersten, innern Hof; es war ein weites, längliches, von einem Bogengang umrahmtes Viereck, in dessen Mitte ein antiker Brunnen krystallhelles Wasser in breiten, schimmerndem Silberwellen über den Rand seiner schöngeschweiften Schale in das untere Becken und von da in die in vollem Blumenschmucke prangenden Beete goß. Eine wohlthuende Stille erfüllte den von kühlem Schatten durchwebten, einsamen Raum. Oben an den Dachfirsten spielte die Sonne in hellem lachenden Licht. Weit hinten aus der Klosterkirche ertönte gedämpftes Singen und Orgelspiel.
Wie wohl fühlte sich Eckart in dieser lauschigen Ruhe! Sein ganzes Wesen öffnete sich mit einer Art von Wonne diesem heimlich trauten Eindruck. Er setzte sich auf eine der Steinbänke, die sich im Kreise um die Bäume herumzogen, und, den Kopf auf die Hand gestützt, ließ er den schönen Liebestraum seiner jüngsten Tage vor seinem Geiste sich entfalten und ungehindert, unbeengt, sein ganzes Denken und Fühlen durchdringen. Einen „Schwärmer“ hatte ihn sein alter Freund heute morgen geheißen, und fürwahr! ein Schwärmer war seit jenem Tage aus ihm geworden. Wie damals sah er jenes Mädchen wieder vor sich stehen, in seinem hohen, schlanken Wuchs, mit dem halbaufgelösten Haar über die Schulter, mit dem vor Schreck und Zorn funkelnden Auge, und dann mit welch lieblich suchendem und fast kindlich flehendem Gruß im Blicke! Wie damals hörte er heute noch des Mädchens Stimme … Und was war das? Er fuhr auf und schaute sich um. War es eine Täuschung seiner Sinne? oder war sein Traum zur lebendigen Wirklichkeit geworden? Vom Kreuzgang her hatte eine Stimme an sein Ohr geschlagen, so silberhell und wohllautend, wie die ihre gewesen war! Dort, nur halb durch einen Pfeiler verdeckt, standen zwei Frauengestalten; sie drehten ihm den Rücken; es schien als betrachteten sie eine in der hinteren Mauerwand angebrachte Gedenktafel. Die eine hatte sich umgewendet; sie schien den niederen Ständen anzugehören, die Magd wohl, die ihre Herrin begleitete.
„Dort sitzt ein schweizer Offizier,“ sagte sie, „der kann Dir die alte Inschrift vielleicht erklären.“
Eckart bemerkte, wie bei diesen Worten die andere zusammenzuckte; rasch bog sie sich um; – ja! sie war’s, die Langgesuchte, Langersehnte! Er sah, wie bei seinem Anblick eine dunkle Röthe ihr Antlitz übergoß, wie ein freudiges Funkeln aus ihrem Auge hervorblitzte, wie ihre Lippen sich halb öffneten, als sprächen sie ein frohes Wort des Willkomms. Rasch bemeisterte sie aber das aufwallende Gefühl.
„Ach!“ rief sie dem zu ihr hineilenden Offizier zu, „wie freue ich mich, Herr Hauptmann, daß ich Euch hier begegne und Euch endlich meinen Dank aussprechen kann!“ und zu ihrer Begleiterin gewendet: „Dieser war es, der mich damals vertheidigte, als ich mit meinem Pathen Salvatore zur Stadt gegangen war, und … mein Pathe,“ fügte sie, dem Offizier die Hand reichend, hinzu, „dankte in seiner Art, er versteht es eben nicht anders, – ich will aber in der meinigen danken, von ganzem, ganzem Herzen thue ich es!“
Eine tiefe Erregung zitterte durch ihre Worte.
Die Antwort des Offiziers schnitt sie durch die rasch hingeworfene Frage ab, ob er ihr wohl den Sinn der auf der Gedenktafel eingegrabenen Inschrift deuten könne.
„Es ist wohl Lateinisch, und Lateinisch,“ meinte sie lächelnd, verstehe ich nicht.“
„Wie mag Euch aber diese alte Inschrift interessiren, Fräulein?“ erwiderte Eckart, den des Mädchens seltsame Wißbegierde in Verwunderung setzte.
„Alles, was unsere sicilische Vergangenheit betrifft, soll uns Sicilianer doch interessiren!“ antwortete sie mit einer Bescheidenheit, die fast wie eine Entschuldigung klang.
Die Mönche hatten vor drei Jahrhunderten zum Andenken an Kaiser Karls des Fünften Aufenthalt in diesem Kloster, im Jahre 1535, nach dem tunesischen Feldzug, jene Marmortafel gestiftet. Aufmerksam hörte das Mädchen den Erklärungen zu, welche Eckart ihm über jene Begebenheiten gab.
„Kaiser Karl der Fünfte?“ sagte sie endlich; „von diesem hat mein Vater nie gesprochen. Für Sicilien hatte dieser Kaiser wohl auch kein Herz, sonst wüßte ich etwas von ihm. Ach! von den früheren Königen hat doch nur ein einziger Sicilien geliebt!“
„Und wie hieß denn dieser einzige?“ fragte Eckart, den ihre Worte und ihr Wesen in wachsendes Staunen versetzten.
„Ruggiero hieß er,“ antwortete sie mit einem stolzen Aufwerfen des Kopfes, als fände sie eine Ehre darin, diesen Namen auszusprechen; „der Graf Ruggiero, der Sicilien befreite und die Fremden aus unserem Lande …“
Das Wort, das schon auf ihren Lippen schwebte, hielt sie rasch zurück; den Fremden, der vor ihr stand, wollte sie nicht verletzen.
„Ach Fräulein,“ erwiderte aber Eckart, „ob das Wort ausgesprochen wird oder nicht – daß der Gedanke, den Euer Mund nicht verrathen will, in aller Herzen lebt, das wissen wir ja alle! [587] Und verdenken kann ich es Euch wahrlich nicht, daß Ihr Euer Land befreien wollt! Ein jedes Volk soll Herr in seinem Hause sein, und wie Ihr, so würde auch ich denken und handeln, hätte mich der Zufall in Sicilien das Licht des Lebens erblicken lassen.“
„So sprecht Ihr?“ rief das Mädchen mit leidenschaftlicher Erregung. – „So seid Ihr denn ein Freund des sicilischen Volkes?“
„Warum sollte ich es nicht sein? Haben wir Schweizer doch auch unsere Freiheit erkämpft! Dasselbe Recht habt auch Ihr! Eine Furcht aber kenne ich, seitdem ich dies Land und seine Bewohner kenne …“
„Eine Furcht? ein Offizier?“
„Die Furcht, daß der Rock, den ich trage, und der Eid, den ich geleistet habe, mich eines Tages zwingen könnten, meine Pflicht als ehrlicher Soldat gegen dies Volk – gegen Euch – zu erfüllen!“
„Nein! nein!“ rief bei diesen Worten das Mädchen, „das kann, das darf nicht sein!“
„So würdet Ihr mich lieber als Euern Freund an Eurer Seite sehen?“
Sie schwieg, die Frage setzte sie in Verlegenheit, sie wußte selbst nicht, warum.
„Oder,“ fuhr Eckart mit scherzendem Ernste fort, „würdet Ihr wirklich einen neuen Ruggiero heraufbeschwören, um uns alle sammt und sonders wie Sarazenen in Stücke zu hauen?“
Ihr Auge flammte wieder auf wie vorhin.
„Graf Ruggiero,“ antwortete sie nach kurzem Zaudern, „war auch ein Fremder; einen Fremden braucht Sicilien nicht mehr; Siclien wird sich selber befreien!“
Der Offizier ließ sein Auge mit bewunderndem Staunen auf dem Mädchen ruhen, das so ruhigen und festen Sinnes sich mit ihm über all diese Dinge unterhielt. Wie kam dies einfache Bürgerkind dazu, vom Conte Ruggiero, dem ersten Normannenherzog, zu sprechen? wie kam es dazu, die alten Inschriften entziffern zu wollen? wie kam es dazu, mit solcher Unerschrockenheit einem königlichen Offizier gegenüber die bevorstehende Vernichtung der Fremdherrschaft zu verkündigen? Unwillkürlich kam ihm dabei die Gräfin von Cellamare in den Sinn. Wie ganz anders war doch diese Unbekannte! Und wie fühlte er sich ergriffen von den Gesinnungen, denen sie Ausdruck gab, wie zu ihr hingezogen durch ihr ganzes Wesen, durch die liebliche Weiblichkeit, die aus ihrem Antlitz strahlte, durch die Tapferkeit ihrer Vaterlandsliebe, durch den Seelenadel, der aus jedem ihrer Worte sprach!
„Warum schaut Ihr mich an?“ fragte das Mädchen.
„Ich staune ob Eurem Wissen, ob Eurer Sprache, ob Eurer Gefühle, Signorina! Möget Ihr mir’s nicht verübeln – aber man ist nicht gewöhnt, im Süden – bei einem Mädchen – solche …“
Die Begleiterin, die bis dahin der Unterhaltung stumm zugehört hatte, unterbrach ihn und mit einem Ausdrucke von strahlendem Stolze rief sie aus:
„Ja, Herr Offizier! unsere Felicita kann lesen und schreiben! Sie ist nicht wie die andern! Sie ist die beste von allen in ganz Sicilien!“
„Das glaube ich gern,“ erwiderte lächelnd der Hauptmann. „Aber darf ich fragen, Signorina, wie es kommt, daß Ihr so ganz anders seid als Eure Gefährtinnen? und welchem Umstande habt Ihr diese für Sicilien so seltene Erziehung zu verdanken?“
„Mein Vater wollte es so. Er haßt die Unwissenheit der Frauen. Er pflegt zu sagen, daß die Bildung der Frauen der Samen sei, aus welchem die Macht, die Freiheit und der Ruhm eines Volkes erblühen, und weil die Normannenfürsten die Frauen ehrten, darum liebt sie mein Vater so sehr – wie auch, weil sie es waren, die zum erstenmal ein unabhängiges Fürstenthum Sicilien gründeten!“
„Euer Vater ist ein kluger Mann und wie ein Weiser spricht er; – wer ist Euer Vater?“
Das Mädchen stand im Begriffe zu antworten, als die andere es am Rocke zupfte und ihm ein paar schnelle Worte ins Ohr raunte.
„Mein Vater,“ antwortete zögernd das Mädchen, – „ist … ein bescheidener Bürger aus Messina.“
„Wohnt er dort?“
„Wir besitzen ein kleines Landhaus in der Nähe der alten Normannenkirche, im Thale der Badiazza.“
Ein Fenster klirrte oben in dem ersten Stockwerke.
„Felicita!“ rief eine scharfe tiefe Stimme herunter.
Sie fuhr zusammen. –
„Ich komme, Vater!“ antwortete sie, und, ihre Mantille zusammenfassend, winkte sie dem Offizier einen zögernden Gruß zu, als frage sie sich, ob sie denn jetzt schon und so rasch wieder Abschied von ihm nehmen müsse.
Die Blume, mit welcher ihre Finger spielten, fiel dabei zur Erde. Sie bückte sich rasch nach ihr hin; ihre Hand kam aber zu spät, schon hielt Eckart die Blume in der seinigen – und von seiner Hand fühlte sie plötzlich die ihre umfaßt, mit so warmem festen Drucke … es schien ihr, als ergösse sich von dieser Hand eine wonnige Gluth bis zu ihrem Herzen … Es war ein Augenblick nur und es schien ihr eine halbe Ewigkeit. Sprachlos schauten sich die beiden in die Augen.
Eckart wollte sprechen; er fand die Worte nicht.
Wie durch einen Traum schien es ihm, als hörte er sie sanft und leise flüstern: „Wer die Blume hält, dem gehört sie zu!“ – und rasch entrang sich ihm ihre Hand, – und unter den Gewölben des Kreuzganges verschwanden die beiden Frauen.
Eine Pforte öffnete sich zu den inneren Klosterräumen. Dort wehte des Mädchens Schleier. Ohne sich zu besinnen, eilte Eckart dem winkenden Zeichen nach.
Unter der Gartenthür hinter ihm standen unbeweglich zwei Gestalten, die lautlos diesen Vorgang beobachtet hatten. Leichenblässe bedeckte das Antlitz der Gräfin; ihre zusammengepreßten Lippen bebten, ein racheglühender Ausdruck belebte ihre funkelnden Augen, und hastig drängte sie den Abbate, um dessen Mundwinkel ein eisiges ironisches Lächeln spielte, zum Aufbruch.
Steinerne Schätze.
Auch Steine können reden, und redende Steine sind in der That jene über einander geschichteten Schiefermassen der Steinbrüche bei Solnhofen in dem bayrischen Bezirk Mittelfranken, die wir auf den trefflichen Bildern von Prof. F. Keller erblicken.
Die Forscher haben es verstanden, diese Sprache zu deuten, und sie haben uns Staunen erregende Aufschlüsse über längst vergangene Zeiten gegeben.
Was in Solnhofen durch die Hand der rastlos schaffenden Arbeiter ans Tageslicht gefördert wird, das ist nicht allein nützliches Gestein, das sind auch wirkliche Blätter aus dem Riesenbuche der Erdgeschichte.
Die mächtigen Lagen des lithographischen Schiefers entstanden nicht auf einmal in den Entwickelungswehen des Erdballs. Sie sind langsam in Jahrhunderten und Jahrtausenden gewachsen.
Ueber dem jetzt blühenden Lande, das mit Städten und Dörfern besät ist, fluthete einst ein Meer, und die Stelle, an der wir jetzt den Steinbruch erblicken, bildete eine stille Bucht der längst verschwundenen See.
Der Grund derselben war mit tiefem Schlamm bedeckt und aus dem benachbarten Hochlande brachte ein Fluß neue kalkreiche Niederschläge hinzu.
Ein reges thierisches Leben herrschte an den Ufern und in den Tiefen des Wassers; aber sonderbare Arten waren es, die sich hier des Daseins erfreuten und – zu Grunde gingen: Wesen, wie sie kein menschliches Auge jemals gesehen hat; denn in jener altersgrauen Epoche herrschte noch nicht der Mensch auf Erden. Aber die Erde schrieb damals selbst ihre Geschichte, in dem Schlamm des Meeres versanken die Ueberreste der damaligen Thierwelt, der Schlamm [588] bewahrte sie lange vor der gänzlichen Zersetzung; der Schlamm verdichtete sich allmählich zu einem festen kalkartigen Gestein und das Innere desselben barg nun oft wunderbar genaue Abdrücke der seltsamsten thierischen Körperformen.
Heute kennt jedermann, wenn auch oft nur vom Hörensagen, jene vorweltlichen Thiere; durch Scheffels Lieder ist ja der Ichthyosaurus volksthümlich geworden. Den Forschern ist es gelungen, aus einzelnen Fundstücken einzelne Arten zu „restauriren“, wie z. B. die „fliegenden Eidechsen“, häßliche Geschöpfe mit einer Flügelspannweite von 7 Metern und lang gestreckten, schnabelähnlich endenden Köpfen. Am bekanntesten dürfte aber der Solnhofener Urvogel Archaeopteryx sein; denn die Nachricht vom Auffinden desselben machte seiner Zeit die Runde durch alle Zeitungen und der Verkauf jener Versteinerung bildete einen merkwürdigen Handel. Im Jahre 1860 wurde in Solnhofen der Abdruck einer einzelnen Vogelfeder gefunden und ein Jahr darauf weitere Abdrücke, welche zusammen ein seltsames gefiedertes Thier darstellten. Das britische Museum erwarb den Archaeopteryx für 12 000 Mark, und sechzehn Jahre hindurch blieb der Fund ein Unicum, bis 1877 in den lithographischen Schiefern von Eichstätt, 3½ Wegstunden von dem ersten Fundorte, ein zweites viel vollkommeneres Exemplar ausgehoben wurde. Dieses wanderte nicht mehr nach England, sondern gelangte schließlich für den Preis von 20 000 Mark in das mineralogische Museum der Berliner Universität.
Ja, die Solnhofener Funde sind berühmt und die Brüche bilden eine wahre Schatzkammer der Wissenschaft, aber alle die Menschen, welche dort hämmern und pochen, arbeiten nicht im Dienste der Gelehrten. Solnhofen ist auch, wie die „Gartenlaube“ schon einmal es treffend genannt hat (vergl. Jahrg. 1865, Nr. 18), eine „steinerne Schatzkammer der Kunst“, denn hier wird der beste, ja der einzig brauchbare lithographische Stein gebrochen. Nur in Südfrankreich wird ein ähnlicher Stein in Blöcken (nicht Schichten) gewonnen, der jedoch für das Bedürfniß des Lithographen kaum die geringern Solnhofener Steine ersetzt. Die Kunst des Steindruckes, die Lithographie, wurde bekanntlich erst am Ende des vorigen Jahrhunderts von dem Münchener Senefelder erfunden. Die Steinbrüche von Solnhofen sind jedoch älter. Ueber die Entdeckung derselben erzählt man Folgendes:
Vor etwa 200 Jahren soll ein Hirtenknabe zum Zeitvertreib ein Loch in die Erde gegraben und die dabei gefundenen Plättchen mit Sand und Wasser so lange an einander gerieben haben, bis sie glatt wurden. Dies trieb er längere Zeit, bis ein Zufall ihn erfahren ließ, daß zum Dom in Eichstätt Muster von Fußbodenplatten verlangt würden. Ohne weiteres brachte er seine Plättchen dorthin. Der erste daraufhin gemachte Versuch einer Ausgrabung war erfolgreich, und der Dom von Eichstätt wurde zuerst mit Solnhofener Steinen belegt. Einen ungeahnten Aufschwung nahmen die Steinbrüche jedoch erst seit der Zeit, da man sich überzeugt hatte, daß die Verwendbarkeit dieses Steines zur Lithographie eine ausgezeichnete sei und daß alle Steinbrüche der Welt mit Solnhofen nicht in die Schranken zu treten vermögen.
Man unterscheidet in Solnhofen selbst zwei Sorten lithographischer Steine, eine gelbliche und eine blaugraue. Die letztere ist die härtere und bessere, kommt aber seltener vor, und darum kosten die blaugrauen Steine fast doppelt so viel als die gelben.
Außer den lithographischen Steinen liefern diese Brüche noch Material zu Fußböden und Kegelbahnplatten und zu Gerbertafeln; aber das sind minderwerthige Verwendungen, die Hauptsache bleiben die Steindrucktafeln. Mit diesen wird die ganze civilisirte Welt von Solnhofen aus versorgt; Solnhofener Geschäfte haben ihre Lager in allen Hauptstädten, und aus aller Herren Ländern kommen Kaufleute herbei, die gleich 10–20 Wagenladungen auf einmal erstehen; die größten Abnehmer kommen aus London und New-York.
Solnhofen liegt in einem anmuthigen Thale an der Altmühl, einem Nebenflusse der Donau, und ist Bahnstation an der Strecke Nürnberg-Ingolstadt. Schon bei der Ankunft in Treuchtlingen, bez. Dollnstein, merkt man an den Dächern, welche mit den gelben Steinplättchen belegt sind, daß man wohl nahe bei Solnhofen sein müsse. Von Solnhofen selbst aus erreicht man zu Fuße nach viertelstündigem Steigen die ersten Brüche und gewinnt nunmehr einen Einblick in das rege Leben, welches sich hier entwickelt. – Namentlich das Abräumen der Steine auf kleinen Karren, die bald durch Menschenkraft, bald von Pferden befördert werden, bald an steilen Abhängen vorüberrollen, bald durch künstliche hohe Felsenschluchten fahren, bietet ein das Auge fesselndes Bild. In einigen Brüchen wurden auch Rollbahnen mit Handbetrieb eingeführt. Aber dieses geschäftige Treiben geben unsere Abbildungen viel besser wieder, als es Worte vermöchten.
Versuchen wir hier, nur die Gewinnung und Bearbeitung der Steine selbst in den einzelnen Stadien zu schildern.
Das Brechen selbst geschieht in folgender Weise: Die Steine, welche schichtenweise aufeinander liegen, werden an der Kante zwischen den Lagen angemeißelt und zwar, je nach der Größe des zusammenhängenden Stückes, nöthigenfalls von mehreren Arbeitern gleichzeitig so lange, bis das Stück sich losheben läßt. Bei unvorsichtigem Verfahren kommt es hierbei nicht selten vor, daß der Stein in Stücken statt als Ganzes aufbricht. Kaum zu vermeiden ist dies, wenn der [589] Stein Adern hat, denn dann bricht er sehr leicht. Ist das Stück aber trotz der Adern ganz losgegangen, so versucht der Arbeiter, indem er mit einem Hammer daran klopft, an dem hellen – guten, oder dumpfen – schlechten Ton die Brauchbarkeit desselben zu prüfen. Ist der Stein für gut befunden, so bekommt ihn der nächste Arbeiter, der nach seinem Ermessen auf dem ungleichmäßigen Stein seine Vierecke aufzeichnet und mittels eines im Verhältniß zu den Steinen sehr kleinen, aber mit einem langen Stiel versehenen Hammers roh zurechthaut. Das verschiedene Hämmern erzeugt ein liebliches melodisches Durcheinander von Tönen, fast wie Glockengeläute.
Die Steine wandern hierauf in die Schleifhütten. Es ist merkwürdig, mit welcher Ausdauer die allerdings muskulösen Arbeiter solch schwere Platten den ganzen Tag über auf einander drehen und reiben. Die kleinen Platten werden von weiblicher Hand geschliffen, jedoch verdienen die Frauen nur etwa halb soviel wie die Männer. Der Sand, welcher, mit Wasser befeuchtet, zum Schleifen verwendet wird, muß vom Main und von der Donau bezogen werden, da jeder andere an näheren Orten gefundene Sand zu weich ist und nicht genügend angreift. Der gröbere Mainsand wird zum Vorschleifen oder Rauhschleifen, der bessere Donausand zum Feinschleifen, „Ausschleifen“ genannt, benutzt.
Sind die Steine geschliffen, so bekommt sie ein anderer Arbeiter in die Hand, um sie abzusprengen und fertig zu machen. Das Absprengen wird mit einem breiten, scharf geschliffenen Eisen gemacht, welches genau auf einen vorgezeichneten Strich gesetzt wird. Ein Schlag mit einem eisernen Hammer, und eine haarscharfe Kante zeigt sich am Steine. Merkwürdig ist, mit welcher Raschheit diese ziemlich genaue Arbeit vor sich geht, aber die dazu nöthige Fertigkeit läßt sich nur durch jahrelange Uebung erwerben und die „Absprenger“ sind deshalb auch die bestbezahlten unter den Arbeitern.
Auch der Dampf hat in die Solnhofener Brüche seinen Einzug gehalten. Auf Fischer und Kluges Anwesen befindet sich ein Dampfsägewerk, welches zum Auseinandersägen von zu dicken Steinen in zwei oder drei Platten erbaut worden ist. Das Werk soll sich sehr gut lohnen, da die genannte Firma auf dem Horstbruch sehr viele starke Steine bricht und die lithographischen Pressen nur für eine Stärke der Platten von 7–10 cm eingerichtet sind, sodaß stärkere Steine nur in höchst vereinzelten Fällen eine Verwendung finden. Das Dünnermachen [590] solcher Steine durch Behauen mit spitzen und gezahnten Hämmern, „Abspitzen“ oder „Abstocken“ genannt, wie es von den anderen Bruchbesitzern geübt wird, hat außer den Arbeitskosten noch den Nachtheil, daß man aus einem größeren Block eben nur eine Platte erhält. Neuerdings wurde beim Solnhofener Aktienverein auch ein erfolgreicher Versuch mit Dampfschleifmaschinen gemacht, welchen A. Daeschler in Treuchtlingen bereits nachgeahmt hat.
Man nennt einige der Solnhofener Brüche „Goldgruben“, namentlich den Mörnsheimer Bruch, welchen unser großes Bild S. 584 und 585 darstellt und der fast wie ein antikes Amphitheater aussieht; auch der Horstbruch wird so genannt, in welchem sich die blaugrauen Steine finden. Daß aber dieses „Goldgraben“ nicht ohne Mühe die Leute reich werden läßt, wird jeder zugeben, denn nicht nur der Arbeiter hat hier einen harten Stand, auch der Unternehmer ist nicht frei von Last und Sorge. Mehr als in einem anderen Industriezweige hängt hier der Erfolg vom Glücke ab. Die Schätze, die man graben will, sind dem Auge verborgen, und man muß oft nur auf Vermuthung hin graben und brechen. Manche Bruchstätten sind auch in Solnhofen bereits erschöpft und verlassen, aber immer wieder werden neue reiche Lager gefunden. Hoffen wir, daß das Glück den Unternehmern treu bleibt und die Solnhofener Steine nach wie vor über Länder und Meere wandern.
Gold-Aninia.
Weißt Du noch, Beppo,“ unterbrach Aninia endlich das glückselige Schweigen, „weißt Du noch, wie wir vor vielen Jahren hier, an dieser selben Stelle, als Kinder spielten? Du warst noch viel kleiner als der Paolo dort oben, da Dein Vater Dich zum erstenmal auf die Surley-Alp brachte, und ich war noch ein so kleines Ding, daß ich hier zu den Alpenrosen auf allen Vieren klettern mußte. – Weißt Du noch? – Da traf ich Dich; Du halfst mir den schönen großen Strauß binden und dann trugst Du mir ihn auch zu Thal.“
„Und Dich nahm ich auf den andern Arm, dort an der schroffen Stelle, die jäh in die Fuorcla und zum Wasser niederführt,“ entgegnete Beppo mit einem Aufleuchten seiner großen, träumerischen Augen. „O, ich habe es nicht vergessen, wie ich mich heute noch jedes Tags erinnere, an dem wir hier Jahr um Jahr spielen durften, bis –“
„Und Dein alter Vater half uns bei unseren Spielen,“ fuhr Aninia, sich immer mehr in die Vergangenheit versenkend, fort, das plötzliche Verstummen Beppos nicht beachtend. „Er schnitzte uns Stöcke und Reifen, die wir in die Luft warfen – um ihnen dann die grünen Hänge hinab um die Wette nachzulaufen.
„Ja, es war schön, und die Heimkehr im Herbst war mir wie das Sterben – mit jedem Jahre, das ich älter wurde, sehnte ich mich stärker nach dem Frühling und nach der Surley-Alp.“
„Weißt Du es noch,“ fuhr Aninia fort „es war im letzten Jahr Deines Kommens, als dort – auf der Schroffe der Fuorcla – ein Bär auftauchte und sich auf die Herde stürzte? Dein Vater stellte sich ihm mit Knüttel und Messer entgegen, sein Wolfshund fiel das Unthier an, und ich konnte vor Zittern keinen Schritt mehr machen und war einer Ohnmacht nahe. Da faßtest Du mich in Deine Arme und bargst mich dort, hoch oben auf dem Tafelstein – dann eiltest Du Deinem Vater zu Hilfe. Ach, es war schauderhaft, ich machte die Augen zu und betete zum lieben Gott um Eure Rettung. Noch jetzt graust mir, wenn ich daran denke!“
„Ja, ja, es war ein böser Augenblick und hatte schlimme Folgen. Der Vater kam zwar mit einer Wunde in der Seite davon, und sie schien nicht gefährlich zu sein, sie heilte noch hier auf der Alpe. Aber als wir im Herbst in unsere Berge, nach Branzi zurückkehrten, da brach sie wieder auf, kein Mittel wollte helfen und kein Gebet; gegen Weihnacht begruben wir ihn denn auf unserem kleinen Camposanto. Dann kamen traurige Zeiten, ich mußte jetzt zu Hause arbeiten und für die Mutter sorgen und durfte nicht mehr mit den Schafen ins Engadin auf die Alp Surley und zu meiner kleinen Aninia.“
„Im folgenden Frühjahr kam ein anderer fremder Schäfer, und ich stieg nicht mehr hinauf zu meinem Lieblingsplätzchen unter den Arven.“
„Meine Mutter war alt und schwach – ich ein kräftiger Bursche von Fünfzehn. Du warst damals zwölf Jahre alt, Aninia. Und sieben ganze, lange Jahre vergingen – ohne daß ich Dich wiedersah. Da starb auch meine Mutter, und im vorigen Sommer durfte ich zum erstenmal wieder mit unseren Schafen ins Engadin. Hinunter zu Euch traute ich mich nicht. Aninia war ja ein großes, schönes Mädchen geworden und hatte den armen Beppo vergessen! – Doch ich gedachte zu jeder Stunde meines Lebens Deiner!“ rief er rasch, als Aninia eine Einrede machen wollte, und auf seine Felljacke deutend, fuhr er fort: „Sieh hier! Dem Bär, der Dich so sehr erschreckte, der mir meinen guten Vater getödtet hat, ihm lauerte ich auf, unablässig, folgte seiner Fährte, so oft ich mich nur von der Mutter entfernen konnte. In seiner Höhle im Val Roseg traf ich ihn endlich, er ging aufgerichtet gerade auf mich los, aber ich sprang ihn an und stieß ihm das Messer des Vaters bis an das Heft in den Leib. Als er nicht verenden wollte, würgte ich seine Kehle mit diesen meinen Händen, denn ich war ein starker Bursche geworden, Aninia! Sein Fell zog ich ihm ab und brachte es meiner Mutter. Als sie es sah, da flammten ihre Augen auf, sie fuhr in die Höhe und unter Flüchen trat sie des Bären Fell mit Füßen. Dann legte sie sich hin und zwei Tage darauf – war sie todt. Aus dem Fell ließ ich mir eine Jacke machen,“ schloß Beppo, in den stillen Ton zurückfallend, der bei ihm oft genug der leidenschaftlichen Aufgeregtheit auf dem Fuße folgte.
Aninia faßte ihn um den Hals, strich ihm den dichten Lockenschwall aus der gesenkten Stirn und sagte: „Guter Beppo! Das hast Du für Deinen Vater gethan! Nun, er ist jetzt im Paradiese und sieht mit Deiner Mutter auf uns herab!“
„Der vorige Sommer,“ fuhr Beppo in seine Gedanken verloren fort, „war der schlimmste, den ich erlebte; ich hatte so große Sehnsucht nach Dir, Aninia, aber Du warst das schönste und reichste Mädchen im Engadin, an das durfte ich, der arme Schäfer, nicht denken. Doch nun ist alles anders geworden,“ rief er jetzt in helle Begeisterung ausbrechend, Aninia leidenschaftlich an sich pressend und mit Küssen bedeckend: „Jetzt bist Du mein geworden für immer und ewig!“
„Und wir bleiben beisammen und wollen uns nie – niemals wieder trennen, mein Beppo!“
Er sah sie etwas betreten mit seinen großen Kinderaugen an und sagte: „Trennen?! Ja freilich müssen wir uns trennen, und bald, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich muß doch die Herde meinem Grafen heimführen; der Paolo allein ist zu jung, zu schwach und unerfahren dazu. Aber Fra Battista ist ja bei Dir, der wie ein Vater für uns sorgt.“
Aninias Antlitz war bei diesen Worten bleich geworden, und erschrocken entgegnete sie: „Muß dies – wirklich sein?“
„Es geht nicht anders, Aninia, aber lange bleibe ich auf keinen Fall. Es ist freilich noch Hochsommer, aber der Herbst wird bald da sein und die Herde muß heim, ehe Schnee und Kälte kommt. In Zeit von vier bis fünf Tagen gedenke ich über den Bernina ins Valtellino nach Tirano zu gelangen, und von dort nach Branzi brauche ich wohl ebenso viel Zeit, denn ordentliche Wege giebt es in den Bergamaskerbergen nicht. Aber ehe der Berninapaß zuschneit, in höchstens drei Wochen bin ich wieder bei Dir; je eher ich mit der Herde heimziehe, je früher kann ich wieder da sein!“
Aninia seufzte schwer. „In Gottes Namen denn, wiewohl ich Dich bitter ungern ziehen lasse!“
Beppo erholte sich von dem ungewohnten langen Reden durch ungezählte Küsse auf Aninias frische Lippen, gelobte ihr nochmals und nochmals baldigste Rückkehr und dann traten sie Hand in Hand, wie zwei glückliche Kinder, den Heimweg, den Abstieg von der Alpe an, während auf der Höhe der junge Paolo mit Hilfe [591] seines Hundes die Schafe zusammentrieb und sich dann in seine mit duftendem Gras gefüllte Schäferkarre verkroch.
Die Nacht war längst gekommen, als das Paar unten in seiner Hütte auf dem Crestaltahügel anlangte, denn der Weg die Fuorcla hinunter war sehr beschwerlich und mehr denn einmal hatte der kräftige Beppo sein junges Weib über das steinige Geröll und einzelne Schroffen hinabtragen müssen – wie in der früheren schönen Kinderzeit.
Eine Wohnung konnte man die Behausung des wackeren Fra Battista auf dem Crestaltahügel nicht nennen – nur ein paar Mauerecken früherer Gebäude standen noch dort und zwischen ihnen, unter einem nothdürftigen Dach von Stämmen und Zweigen, hatten der Mönch und sein Maulthier seit Jahren Schutz gegen Wind und Wetter gefunden. Es war also nicht viel, was er dem jungen Paar anbieten konnte, als er es in der Entrüstung über Madulanis Unbarmherzigkeit mit sich hierher nahm, aber die gute That sollte ihm selbst zum Segen werden, denn durch die Büssin und ihren Clo war noch am selben Sonntagabend heimlich ein ordentliches Lager hinaufgeschafft worden, dem am folgenden Tage ebenso heimlich noch andere nothwendige Gegenstände folgten, welche Mutter Barbla ihren Kammern und Vorräthen entnommen hatte. Zugleich hatte Beppo, bald von Clo unterstützt, eine Anzahl Lärchenstämme gefällt, mit denen die klaffenden Oeffnungen der beiden Räume geschlossen wurden. Fra Battista erhielt dadurch selbst ein trockenes Obdach. Auch das Maulthier bekam einen neuen Stall, es würde also der Aufenthalt in diesen Steintrümmern ein für alle Betheiligten ganz angenehmer. Ringsum standen grüne Arven und Tannen, die einfallenden Sonnenstrahlen vergoldeten den Moosgrund – so lange der Sommer dauerte. Aber war er vorüber – was dann?
Das war nicht die einzige Sorge, die den guten Mönch beschäftigte. Zwar hatte er selbst es weit besser in Gesellschaft der jungen Leute; er erhielt nahrhafte, warme Speisen, die Aninia auf dem Steinherd zubereitete, schlief dabei in dem ehemaligen Stalle seines Grauthiers weit besser, bequemer und geschützter als früher in seinem niederen Gewölbe, aber er fühlte sich nicht wohler dabei. Im Gegentheil! Seit seinem überhasteten, anstrengenden Ritt nach dem fernen Chur und seiner noch beschwerlicheren Rückreise spürte er die stündliche Mahnung, daß es bald mit ihm zu Ende gehen könnte. Doch hütete Fra Battista sich wohl, seine jungen Freunde etwas von seinem bedenklichen körperlichen Zustande merken zu lassen. Er war heiter wie immer und suchte gesprächsweise, mit scheinbarer Unabsichtlichkeit, ihren Muth zu stählen für die herannahenden schweren Zeiten, die er nur zu deutlich ahnte.
Dann und wann sahen die beiden auch Mutter Barbla. Der guten, stets sorgenden Frau wurde es nicht leicht, sich heimlich von Hause fortzustehlen und unbeachtet den Gang nach dem Crestalta zu machen. Doch sie kam meistens am frühen Morgen, wenn sie ihre Kinder noch in ihrem elenden Heim wußte, und wie sie Trost brachte, so kehrte sie auch stets selbst getröstet wieder nach Surley zurück, denn sie sah, daß Aninia glücklich war, und das genügte der Mutter vor der Hand.
Als sie dann gar eines Tages die Tochter zu ungewohnter Zeit überraschte und von dieser erfuhr, was der guten Frau Barbla als das Heil aller erscheinen wollte, da schwoll ihr Herz von Hoffnung und Freude: jetzt konnte der Vater seinem Kinde die ersehnte Verzeihung nicht mehr vorenthalten – so meinte die Gute. Gian Madulani hatte just seine Fahrt nach dem Comersee angetreten, und noch eine lange – für Mutter und Tochter allzulange Zeit mußten sie warten, bis ihm die Mittheilung gemacht werden konnte, die ihnen allen das Glück bringen sollte.
Da Frau Barbla und Aninia in ihrer seligen Freude glaubten, fest auf eine Versöhnung mit dem Vater hoffen zu dürfen, drang Aninia, angesichts des sich mit raschen Schritten nähernden Herbstes, selbst nun auf die Heimfahrt Beppos, damit er noch zu einigermaßen guter Jahreszeit wieder bei ihr sein könnte, und er eilte auf die Alpe und ordnete so rasch als möglich den Abtrieb der Herde, der über den Kamm der Fuorcla und des Munt Arlas, dann durch das Rosegthal nach Pontresina, von dort über den Berninapaß stattfinden sollte. Am anderen Morgen in der Frühe wollte er auf dem Abhang des Munt Arlas zu Paolo stoßen und dann sollte es so rasch als möglich heimwärts gehen.
Die Nacht sank herein, als Beppo, ehe er den schweren Abschied von seinem Weibe nehmen sollte, sich noch vor Fra Battista niederwarf, der ihm schweigend die Hand auf den wirren Krauskopf legte. Wenn auch der arme Hirte keiner schönen Worte fähig war, so bewegte sich in seinem Herzen lebhaft die dankbare Liebe zu dem milden Greis, den er wie einen Heiligen verehrte. Ein Schluchzen brach aus seiner Brust, während er die Lippen auf die welke Hand des Alten senkte. Fra Battista strich ihm mit der anderen über die Haare und sagte:
„Ziehe mit Gott in Deine Heimath, mein Sohn, und kehre bald, heil und ungefährdet an Körper und Seele, zu Deinem jungen Weibe zurück. Und nun höre, was ich Dir noch zu sagen, ganz besonders ans Herz zu legen habe, und merke Dir meine Worte wohl, es sind vielleicht die letzten, welche ich an Dich richten darf, denn ich fühle mein Ende nahe, und wenn Du wiederkehrst, wirst Du wohl statt des alten Fra Battista ein Grab hier im Walde finden. – Glaube nicht, daß Ihr beide am Ende Eurer Prüfungszeit angelangt seid; das Herz des Vaters Deiner Aninia wird auch jetzt noch hart wie Stein bleiben. Was Euch aber auch auferlegt sein wird, was Ihr noch zu erdulden habt, ertragt’s ohne Murren, mit Geduld und Ergebung. Ganz besonders richte ich diese Mahnung an Dich, Beppo; Du bist gut, reinen Herzens, doch schwach und lenksam wie ein Kind. Halte den Bösen Dir fern, der sich in Deinen Gedanken Dir nähern wird; murre nicht über Deine Armut, beneide den Reichen nicht um sein Hab und Gut, und suche nie – hörst Du, niemals! – auf unrechtem, sündigem Wege die Kluft auszugleichen, die Dich von ihm trennt, überlasse dies der Weisheit des Herrn! – Und nun gehe zu Deinem Weibe, das jetzt allein noch ein Recht auf Dich hat, und überlasse mich der Ruhe – ich fühle mich matt und nicht wohl. Gehe mit Gott und gedenke stets der Worte Deines Priesters – Deines väterlichen Freundes. – Leb’ wohl !“ –
Mit den letzten Worten zog er den Knieenden zu sich empor, umarmte, küßte ihn, dann drängte er ihn fort. Tief ergriffen und gerührt, ohne imstande zu sein, nur ein Wort zu erwidern, verließ Beppo den kleinen Raum und kehrte zu Aninia zurück. –
Am andern Morgen in der Frühe nahm Beppo noch einen langen Abschied von seinem Weibe, dann riß er sich gewaltsam los und stürmte davon. Aninia blieb in Thränen zurück, aber Fra Battista stand ihr als Tröster zur Seite, und bald kam auch die Mutter, die lange Staschia, die Frau des Clo, welche zum erstenmal den Crestalta erstieg, mit sich führend. Das war ein rechter Trost für die arme junge Frau, denn Staschia war ihr immer eine gute Freundin gewesen. Aninia durfte hoffen, sie von jetzt an öfter zu sehen, wie auch die Mutter, denn der Vater war ja noch immer draußen, und wenn er heimkehrte, – ach! dann sollte ja all ihr Leid zu Ende sein – wie die Aermste im Verein mit der Mutter wähnte.
Die öftere Anwesenheit der beiden Frauen, zu denen sich bald noch die Büssin, die Mutter des Clo, gesellte, war in der Thal ein rechter und dabei höchst nothwendiger Trost für Aninia, denn Fra Battista wurde immer schwächer und hinfälliger und konnte schließlich sein armseliges Lager nicht mehr verlassen. Die Frauen pflegten den alten Mönch nach besten Kräften. Aninia verließ sein Lager nicht, aber die vereinten Bemühungen konnten das fliehende Leben nicht aufhalten, die schwach brennende Flamme nicht mehr zu frischer Gluth entfachen.
Es war zur Zeit, als Madulani mit seinem Ochsengespann den Malojapaß überschritten hatte, sich Sils, Silvaplana und Surley näherte, da umstanden Aninia, deren Freundin Staschia, die Büssin und ihr Sohn Clo das Lager des Mönches, mit dem es sichtlich zu Ende ging. „Reicht mir das Crucifix dort,“ sprach er mit leiser, kaum hörbarer Stimme, auf eine Stelle der zerbröckelten Mauer deutend, wo als einziger Schmuck des kahlen Raumes ein schwarzes Kreuzchen mit einem in Holz geschnitzten Heiland hing. „Und Du Clo, neige Dich näher zu mir und höre! – Etwa zehn Schritte von den letzten Steinhaufen des Hügels, zwischen den dichten Büschen der Alpenrosen, findest Du ein Grab – ich grub es mir in Gedanken an diese meine letzte Stunde; – ein Kreuz von Arvenholz steht dabei. Dort bettet Ihr mich morgen zur ewigen Ruhe. Und nun laßt mich beten zu dem Herrn, daß er mir ein milder Richter sei; habe ich doch im [592] Leben oft gefehlt, – auch dadurch – daß ich Deiner Mutter, Aninia, nachgab und Dich mit dem Beppo verband. Wache über ihn, denn er ist schwach, auf daß meiner armen Seele im Jenseits keine Sünde angerechnet werden kann und Euch – auf Erden des Himmels Strafe erspart bleibe. Betet auch Ihr für mich!“ – –
Er wollte weiter reden, doch schon die letzten Worte waren kaum noch verständlich gewesen. Nun sank er vollends auf sein Lager zurück, und die Hände über das kleine Crucifix gefaltet, bewegte er seine Lippen wie im Gebete. Die drei Frauen waren weinend in die Kniee gesunken und beteten inbrünstig. Als sie nach einer Weile ängstlich spähend die Blicke erhoben, lag Fra Battista unbeweglich da, seine freundlichen Züge lächelten, doch seine Lippen bewegten sich nicht mehr. – Er war sanft hinübergegangen in eine bessere Welt.
Alle vier hielten in der Nacht die Todtenwacht, und am andern Morgen trug Clo, von den Frauen begleitet, den erstarrten Körper des Mönchs zu dem nahen Alpenrosengebüsch, wo sie in der That das offene Grab und daneben das roh gearbeitete Kreuz vorfanden. Hier wurde Fra Battista zur ewigen Ruhe gebettet. Liebevolle Hände deckten ihn mit den letzten Alpenrosen und ihrem nur noch spärlich vorhandenen Grün, dann schaufelte Clo das Grab mit Erde zu und pflanzte das Kreuz darauf. – Unter Thränen noch ein letztes, stummes Gebet – und alles war vorüber. –
Nicht lange waren sie wieder in der ärmlichen Wohnstätte zwischen den Steintrümmern angelangt, da erschien in großer Aufregung Frau Barbla, keuchend rief sie schon unter der Thür:
„Es ist alles aus, wir haben umsonst gehofft, Aninia, mein armes Kind!“
Und nun kam in einem Strom von entrüsteten Worten alles heraus, was die Frau am Tage zuvor erlebt und was mit einem Schlag alle hoffnungsreichen Zukunftspläne vernichtet hatte, ihr Gespräch mit dem heimgekehrten Mann, seine neue starrsinnige Weigerung.
„Aber es giebt noch einen Gott über uns,“ rief sie mit leidenschaftlich funkelnden Augen, „der ihn richten und strafen wird. Sein frevelhafter Schwur ist zur Hälfte an mir in Erfüllung gegangen. Mich, die Mutter, hat er zur Bettlerin gemacht, und nun gehöre ich zu Euch, wie Du und Beppo zu mir gehören. Komm, Aninia, mein Kind, folge mir! Ich bringe Dich einstweilen in der Wohnstätte der Büssin unter, wo ich noch in der Nacht und heute ganz in der Frühe eine Schlafstelle für Dich zurecht gemacht habe. Dort sollst Du fortan hausen, und ich, Deine Mutter, werde täglich bei Dir sein. Und den will ich sehen, der mir dies wehren darf! – Komm!“
Willenlos folgte die leise weinende Aninia der Mutter; von der Büssin und Staschia begleitet, stiegen sie den Hügel hinab, indeß Clo die wenigen Habseligkeiten zusammenraffte, um sie ebenfalls in sein früheres ärmliches Heim zu schaffen, das von nun an den Aufenthalt Aninias bilden sollte – derselben Gold-Aninia, die noch vor wenigen Monaten als das reichste Mädchen des ganzen Engadins gepriesen worden war.
„– Wie sagte der Mönch? ‚Murre nicht über Deine Armut und beneide den Reichen nicht um sein Hab und Gut!‘ – Er hatte gut reden, der fromme, gerechte Mann! Aber ich? Soll ich mich darüber freuen, daß der da drunten im Ueberfluß sitzt, während ich hier frieren und hungern muß? Ist der Cavig besser und frömmer als meine armen Eltern, die zeitlebens darben mußten? Nein, nein, er ist ein harter, grausamer Mann, der die Armen drückt, wo er kann, und dennoch ist er reich! – Das müßte mir Fra Battista doch erklären, wenn er noch am Leben wäre. Er hatte unrecht, der Mönch,“ schrie Beppo – denn er war es, der dieses leidenschaftliche Selbstgespräch führte – und schüttelte die Faust nach dem Dorf hinunter, das tiefverschneit im Thale lag. Er saß auf der Surley-Alp, die einstmals im warmen Sommersonnenschein so lieblich gewesen war; jetzt lag sie in Eis und Schnee wie die Berge rings umher. Die blumigen Wiesen hatten sich in ein weißes Leichentuch gehüllt; die Spiegel der Seen waren zu starren Eisflächen geworden. Der Kranz der dunklen Nadelhölzer verschwand fast unter den Schneemassen, die fußhoch auf den Aesten der Arven und Rothtannen lagerten, sie bis zum Brechen zur schneebedeckten Erde niederdrückten. Die Häuser und Hütten der Dörfer waren kaum noch zu erkennen, so hatte des Winters rauhe Herrschaft alles ringsum, in Höhen und Tiefen, gleichgemacht, wie der Tod alle, Hohe und Niedrige, Arme und Reiche, die im Sonnenschein des Lebens friedlich neben einander hergehen oder sich feindlich gegenüberstehen, gleich macht.
„Warum leidet man es denn, daß einer reich ist und schlecht dazu?“ murmelte Beppo auf seinem Steine weiter. „Aber freilich, wie wollte man es ihm wehren, ohne selbst zu sündigen? Fra Battista sagte ja: ‚Suche nicht auf unrechte Weise die Kluft auszugleichen, die Dich von ihm trennt.‘ – Wenn ich nur genau wüßte, was er damit meinte, ob er dachte, ich könnte es, wenn ich wollte?“
Beppos armes Hirn begann angestrengt über dieses Räthsel zu grübeln, aber lange ohne Ergebniß.
„Ihm gleich werden, ich, ein armer Schäfer, das ist ja unmöglich – sein Geld stehlen – nein, das möchte ich nicht, auch wenn ich könnte!“ – Wieder starrte Beppo minutenlang vor sich hin, dann lachte er plötzlich laut auf und rief: „Ja, das wäre es! Ihn zum Bettler machen, wie ich einer bin, o, das müßte eine Wonne sein, das thäte ich auch, wenn ich es könnte! Dann wäre er bestraft für seine Hartherzigkeit, dann müßte sich sein Hochmuth beugen –“ mit funkelnden Augen und raschen Athemzügen verfolgte Beppo diesen für ihn entzückenden Gedankengang, er weidete sich an den Bildern, die seine lebhafte Einbildungskraft ihm vorzauberte, und vergaß darüber ganz, daß er sich vorerst in einer sehr elenden Lage inmitten der kalten Todtenstille des winterlichen Thales befand.
Nur ein Ton war hörbar inmitten des großen Schweigens – ein Rieseln und Rauschen. Aus der Höhe kam es, um in der Tiefe zu verstummen, doch unaufhaltsam, immerfort, in scheinbar ewigem Einerlei. Es war das Surleywasser, das, wenn auch von Eis und Schnee eingedämmt und überbrückt, doch ungefesselt den alten Weg von der Höhe der Fuorcla da Surley zum Thal und dem Selafluß suchte. Die Felsblöcke und Steine, welche ihm im Sommer die Bahn versperrten, lagen noch immer an alter Stelle; sie schienen durch die darauf lagernden Schneemassen riesig emporgewachsen, doch das Wasser trotzte ihnen auch heute noch; es stürmte gegen sie an, um dann auf Umwegen ihnen auszuweichen. War es doch, als ob sein Rauschen hätte sagen wollen: „Wartet nur! kommt der Frühling, führt die Sonne mir Hilfe zu, die das Bächlein zum Wildbach werden läßt, dann will ich Euch grobe Gesellen schon zur Seite schieben oder Euch zur Tiefe führen und vollends aus meinem Wege schaffen.“
Beppo saß zusammengekauert da, den Kopf nach dem Wasser hingewendet, die unheimlich funkelnden Augen weit aufgerissen, die Lippen geöffnet, als ob er mit aller Anstrengung horchte auf das, was er in dem Rauschen des Wassers zu vernehmen glaubte. Ja, ja! er hatte es verstanden – oder sollte ein anderer, sein böser Dämon es ihm zugeraunt haben? – Er setzte plötzlich die Rede des Wildbaches fort und zischelte mit scharfen Tönen nach dem Wasser hin: „Und wenn Du die Felsblöcke zur Tiefe führst und schleuderst sie wider das Haus des Cavigs, zertrümmerst seine Wohnstätte – seine Ställe – erschlägst, ersäufest sein Vieh, schwemmst ihm seinen Reichthum in den Selafluß und in den See – dann wäre er ein Bettler und uns allen geholfen. Ah! – Nur müßte dazu dem Surleywasser der richtige Weg gezeigt werden,“ setzte er keuchend hinzu, um dann laut aufzuschreien: „Und wäre es eine Sünde, wenn ich es thäte?!“ –
Von dem Steine schnellte er empor, als ob der Gedanke ihm im selben Augenblick, da er ihm Worte gegeben, die weit offene Hölle mit all ihren Schrecken gezeigt hätte, der er entgegeneilte. Sein ganzer Körper schüttelte sich wie im Fieber, und nun war es ihm wieder, als ob er Fra Battista leibhaftig vor sich sähe, der ihn tieftraurig anblickte. Da hielt es den armen gemarterten Burschen nicht länger; als ob die ganze Hölle, in die er zu schauen geglaubt hatte, hinter ihm wäre, stürmte er davon; weder der Steine noch des tiefen Schnees, des eisigen Wassers achtend, sprang er mehr, als er lief, die Fuorcla hinab, oft hinstürzend, rasch sich wieder aufrichtend und in seinem tollen Lauf nicht eher innehaltend, als bis er die Sohle des Thals erreicht hatte und in der Nähe der Häuser von Surley angelangt war.
Der Abend war mittlerweile gekommen, und schon blinkten hie und da in einzelnen der zerstreut liegenden Wohnstätten schwache Feuerscheine auf. An versteckter, doch offenbar wohlbekannter Stelle
[593][594] spähte Beppo nun unverdrossen nach einem der letzten Häuser hin, das sich, etwas entfernt von den übrigen Wohnungen, fast an die Felswand lehnte. Es war die ärmliche Feuerstelle der Maria Büssin, welche jetzt auch Aninia, das Weib Beppos, beherbergte. Der Abenddämmerung war rasch die Nacht gefolgt, und unheimlich leuchteten die schneebedeckten Dächer der kleineren und größeren Wohnstätten des Dorfes durch das tiefe Dunkel. Die einzelnen Lichter erschienen wie röthliche Fünkchen, die bald allerwärts aufblitzten, nur ein Haus, das der Büssin, blieb ohne irgend einen helleren Schein, und auf einen solchen schien Beppo zu warten, denn er bewegte sich nicht von seinem Platz und kehrte den Blick nicht von der dunklen schneebedeckten Steinmasse ab.
Wohl eine volle Stunde mochte er so gestanden haben, seine Glieder waren ihm durch die Kälte fast erstarrt und das Herz brannte ihm in wildem Schmerz, daß er so ausgestoßen und elend vor der Hütte seines angetrauten Weibes harren mußte. Das Lichtchen, das verabredete Zeichen, daß er den Eintritt wagen konnte, wollte nicht erscheinen, und doch fühlte er, daß die Kraft ihn zu verlassen drohte, daß er sich kaum mehr aufrecht erhalten konnte. „Es muß etwas Besonderes vorgegangen sein, daß ihre Stube dunkel bleibt, und jetzt ist die Stunde vorüber. – Ich muß weiter – bleibe ich länger hier, werde ich erfrieren.“
So sagte er sich und setzte dann seinen Weg fort. Bald darauf mußte er das Surleywasser überschreiten, und nochmals hemmte er seinen Fuß, den finstern Blick auf eine größere Wohnstätte gerichtet, die mit ihren Ställen und Stadeln breit an dem Ufer des Baches lag. Es war das Gehöft Madulanis. – „Und das Wasser fließt ihm so nahe!“ murmelte Beppo vor sich hin. „Schon oft wird es über seine Ufer getreten sein und hat ihm doch noch niemals Schaden gethan – die Felsblöcke müßte es ihm zuführen!“ Er stürmte, sich schüttelnd, den Arven des Crestaltas entgegen. Hier stieg Beppo auf einem von ihm getretenen Pfad zwischen den Stämmen hindurch die Höhe hinan und gelangte auf weitem Umwege zu den Steintrümmern und dem Gewölbe, das ihm als Wohn- und Schlafstelle diente. Er warf sich angekleidet, wie er war, auf sein Lager, das reichlich mit Fellen als Unterlage und Decken versehen war. Aber der Schlaf wollte diesen Abend nicht über seine müden Augen kommen. Unablässig wühlten die Gedanken in seinem Gehirn weiter, und als er gegen Morgen endlich in einen unruhigen Schlummer fiel, verwandelten sie sich in schreckliche Traumbilder, aus denen er mit einem wilden Schrei empor fuhr. – –
Beppo war nicht so rasch, wie er gehofft und gewollt, aus den Bergamasker Bergen nach dem Engadin zurückgekehrt. War es die ununterbrochene übergroße Anstrengung bei dem schleunigen Heimtrieb seiner Schafe, oder war es Unvorsichtigkeit im Trinken des eiskalten Bergwassers gewesen – kaum daheim, auf dem gräflichen Hofe zu Branzi, angelangt, verfiel der Aermste in ein Fieber, dem er wohl erlegen wäre, hätte er nicht durch die Güte des Grafen beste Unterkunft und Pflege gefunden. Dennoch dauerte es mehrere Wochen, ehe er an die Rückreise denken konnte, und als er sich endlich kräftig genug fühlte, den Wanderstab zu ergreifen, stand der Winter vor der Thür. Jetzt war kein Halten mehr; auch mußte er nun so schnell als möglich fort, wollte er noch in diesem Jahre den Bernina passiren, was schon jetzt, kam ihm nicht ein glücklicher Zufall zu Hilfe, nur noch mit äußerster Anstrengung möglich war. Und der arme, sich in Sehnsucht nach seinem Weibe verzehrende Beppo hatte Glück. Auf dem einzigen zu dieser Jahreszeit noch möglichen Umwege über Edolo war er, jetzt schon zum Tod erschöpft, in Tirano, dann bei der großen Wallfahrtskirche der Madonna von Tirano angelangt. Hier fand er eine Anzahl Handelsleute, die mit ihren auf Schlitten gepackten Waaren noch über den Bernina und weiter, theils über den Julier nach dem Bodensee und Deutschland, theils, dem Inn folgend, nach Tirol und Oesterreich gelangen wollten. Ihnen schloß er sich an, und nach kurzer Rast ging es hoffnungsfreudiger und fröhlicher als bisher weiter. Mancherlei Fährnisse hatte Beppo zu bestehen, im Verein mit den Händlern und Fuhrleuten oftmals hart zu arbeiten und zu schaufeln, um an den verschneitesten Stellen eine Bahn zu gewinnen. Doch es gelang, und wenn die Reise auch länger als eine Woche gedauert hatte, so war der ganze Schlittenzug doch ohne nennenswerthen Unfall in dem Dorfe Samaden angelangt. Hier nahm Beppo Abschied von seinen bisherigen Reisegefährten und eilte schneller, als die Zugthiere mit ihren Schlitten dies vermochten, nach Campfèr, dann auf wohlbekannten Pfaden nach dem Crestalta – um dort alles stumm und öde zu finden. Ein Schrecken schüttelte den armen Menschen, daß er glaubte, vergehen zu müssen, doch gewaltsam, mit einer fieberhaften Energie raffte er sich auf und eilte, das Verbot, den Zorn des Cavigs nicht achtend, ins Dorf und nach dem Hause der Büssin, wo sein Leid ein ebenso plötzliches wie glückliches Ende fand. Aninia hielt er wieder in seinen Armen und erfuhr alles, was geschehen, den Tod des guten Mönches und die neue grausame Weigerung Madulanis, seinem einzigen Kinde zu verzeihen. Vorerst machte sich Beppo daraus nicht viel, er war in diesem Augenblick des Wiedersehens zu glücklich, um viel an die Zukunft zu denken.
Nachdem der erste Freudenrausch vorüber war, trat Mutter Barbla zu dem Paare, und gleich ernst wie besorgt meinte sie, daß Beppo vor der Hand noch nicht bei seinem Weibe wohnen dürfe. Madulani habe als Cavig von Surley das Recht, ihm den Aufenthalt im Dorfe zu wehren, und um seinen Zorn nicht unnöthigerweise zu reizen, nicht auch eine letzte Hoffnung zu zerstören, solle Beppo wie früher auf dem Crestalta hausen und erst am Abend, wenn die Nacht gekommen und ein Lichtchen in der den Bergen zugekehrten Kammer zu schauen sei, sich leise und unbemerkt in das Haus zu seiner Aninia stehlen. So wurde es am ersten Tage des Wiedersehens verabredet und auch für die Folge gehalten. – –
Oktober war’s, als Beppo nach Surley zurückkehrte. Das alte Jahr ging seinem Ende entgegen, als den Einsamen auf der Surley-Alp, die er trotz Schnee und Eis fast täglich besuchte, jene gefährlichen Gedanken überkamen; als er in der Nacht seit Wochen zum erstenmal kein Lichtchen in dem kleinen Fensterchen erblickte und dann im Schlafe so seltsame, entsetzliche Bilder schaute.
Am Abend des folgenden Tages schien es, als ob sich dies vergebliche Harren in der erstarrenden Kälte für den armen Beppo wiederholen sollte, denn auch jetzt blieb das Fensterchen dunkel, während heute fast alle Wohnhäuser des Dorfes mit nur vereinzelten Ausnahmen sich ganz ungewöhnlich erhellt fanden. Was hatte dies zu bedeuten, Lichtfülle überall, und nur dies eine Haus tiefdunkel? Beppo sann grübelnd darüber nach. Da trat plötzlich eine Gestalt an ihn heran, die er sofort als die des langen Clo erkannte.
„Folge mir!“ flüsterte dieser dem freudig Ueberraschten zu. „Doch vorsichtig, denn der Cavig ist allein zu Hause und es könnte ihn wohl gelüsten, einen Gang durchs Dorf zu machen.“ Damit zog er ihn in einer Richtung fort, welche der nach dem Hause seiner Mutter gerade entgegengesetzt war.
„Wohin führst Du mich – und wo ist Aninia, was ist mit ihr geschehen?“ fragte Beppo hastig.
„In mein neues Heim bei der alten Cadruvi führe ich Dich – auf Umwegen, denn an dem Hause Madulanis dürfen wir nicht vorbei. Dort wirst Du Aninia und die Frauen finden. Armer Beppo!“ fuhr er mitleidig fort, „hast ganz vergessen, daß heute der heilige Weihnachtsabend ist.“
Nachdem sie an manchem Hause vorübergegangen waren, in dessen Innerem helle Lichtchen funkelten, dann das Surleywasser auf einzelnen hineingeworfenen Steinen überschritten hatten, langten sie bei dem Hause der Cadruvi, der Mutter von Clos Frau, an, und vorsichtig führte Clo den Beppo durch den angebauten dunklen Stall ins Haus und in die Vorrathskammer. Auch hier war es tiefdunkel, doch hörte man nun deutlich einen leisen frommen Gesang von Frauenstimmen. Da stieß Clo eine Thür auf, und von dem freundlich hellen Lichtschimmer fast geblendet, von dem überraschenden Anblick, der ihm wurde, wie gebannt, blieb Beppo, den Filzhut in den gefalteten Händen, auf der Schwelle stehen.
Auf dem sauber gedeckten Tische stand ein kleines, etwa zwei Fuß hohes Rothtannenstämmchen, auf dessen grünen Aesten sieben Lichtchen brannten. Daneben lag auf der einen Seite ein großes, mit Birnen gefülltes Roggenbrot, die Festspeise der romanischen Bewohner des Hochalpenthals, und auf der andern ein Berg von feinen Schnitten des köstlichen gedörrten Fleisches. Um den Tisch, auf einer Bank und auf Schemeln, von denen zwei leer waren, saßen vier Frauen: die Hausfrau, ein altes zusammengeschrumpftes Mütterchen, Frau Barbla, Staschia, die Frau des Clo, und Aninia. Leise, in feierlich frommer Weise sangen sie ein altes einfaches Weihnachtslied. Der Thür gegenüber, in der Beppo [595] stand, saß Aninia; ihr liebliches Gesichten hatte die volle Rosenfarbe früherer Zeiten verloren und die großen dunklen Augen blickten ernster drein als vordem; dennoch wirkte ihre Erscheinung in dieser festfreudigen Umgebung auf Beppo wie eine überirdische, und vor Ergriffenheit und Rührung wäre er in die Kniee gesunken, wenn nicht Clo ihn nach den freien Sitzen gezogen hätte, auf denen beide sich dann niederließen. Als das Lied zu Ende war, folgte eine stille herzliche Begrüßung des Angekommenen, denn die feierliche Stimmung, die alle beherrschte, gestattete diesem Augenblick noch keine lauten Freudenäußerungen.
Diese stille Weihnachtsfeier hatte einen heimlichen Zeugen. Vor dem kleinen Fenster, durch das die Lichtchen des Weihnachtsbäumchens schimmerten und das zugleich einen Blick in die Stube und auf die dort Versammelten gestattete, stand eine große Gestalt, im Dunkel des Hauses geborgen, eng in einen langen Rock gehüllt, den Filzhut tief in die Stirn gedrückt. Mit glühenden Augen, die Lippen zusammengepreßt, blickte der Mann eine ganze Weile starr in die Stube, dann murmelte er vor sich hin: „– Da sitzen sie alle beisammen, so unschuldig, als ob sie kein Wässerlein getrübt hätten, und haben mich doch verhöhnt und betrogen und sind allein an dem ganzen Elend schuld. Da sitzen mein Weib und mein Kind und feiern Weihnachten mit dem gottverd – – Hunde, und ich bin derweil allein in meinem öden Hause, aus dem es mich in die Nacht hinaustreibt. – Sieben Lichtlein haben sie angezündet und es sind ihrer doch nur Sechse! – Das siebente soll wohl für mich sein? – Haha! nicht übel! – Und sie haben nicht einmal unrecht, wenn sie auf meine Dummheit rechnen. Stehe ich nicht hier wie ein Narr, dem die Augen naß werden möchten, statt hineinzugehen und alles zusammen zu schlagen? Verdammt!“ – und mit einem Fluche den Schnee des Bodens stampfend, stürmte Madulani weiter in die dunkle Winternacht hinaus. – –
Blätter und Blüthen.
Fanny Lewald †. Am 5. August starb in Dresden, im Hause von Anverwandten, eine der vorzüglichsten deutschen Schriftstellerinnen, Fanny Lewald, im Alter von 78 Jahren. Auch unserem Blatte ist sie als Mitarbeiterin bis in die jüngste Zeit treu geblieben; wir brachten eine ihrer letzten Erzählungen „Josias“ im Jahrgang 1888. Ihr Bild und eine farbenfrische Skizze ihres Lebens aus der Feder Friedrich Spielhagens theilten wir bereits im Jahrgang 1862 mit; doch sie ist seit jener Zeit rastlos thätig geblieben und hat sich als Veteranin der Romandichterinnen auch unter den jüngeren zahlreich nachdrängenden in ihrer alten Bedeutung behauptet.
Fanny Lewald ist am 24. März 1811 zu Königsberg geboren; ihr Vater war ein jüdischer im Kneiphof wohnender Kaufmann. In der Stadt, in welcher Kant „Die Kritik der reinen Vernunft“ schrieb, weht noch immer ein Hauch vom Geiste jenes Philosophen, welcher so scharfsinnig die Grenzen der menschlichen Erkenntniß festgestellt hat; auch der ostpreußische Volkscharakter neigt zu ruhiger Erwägung der Dinge und zum ausdauernden Festhalten an der einmal gewonnenen Ueberzeugung. Abhold ist er allem Phantastischen und Ueberschwänglichen. Diese Eigenart finden wir auch bei der Schriftstellerin Fanny Lewald wieder. Sie besaß nicht die Neigung zu brillanten Einfällen, zu geistreichen Spielen des Witzes; sie war keine Jüngerin von Heine und Börne, noch weniger von Saphir; auch die farbenprächtige Einkleidung orientalischer Dichtung lag ihr fern, wohl aber hört man aus ihren Werken das Echo heraus, welches die weihevolle Tiefe und Andacht östlicher Weisheit erweckte.
Ihre ersten Romane fallen in die ostpreußischen Bewegungsjahre. „Der Stellvertreter“ erschien 1841, „Klementine“ 1842, „Jenny“ 1843, „Eine Lebensfrage“ 1845. Diese Werke trugen zum Theil das Gepräge jener Zeit, ohne sich aufdringlich in politische Fragen zu mischen: sie bewegten sich mehr auf gesellschaftlichem Boden; hier traten die Kämpfe religiöser Bekenntnisse und Ueberzeugungen in den Vordergrund, und manches eigene Erlebniß gab den Anhalt für die dichterische Erfindung. Sie hat in ihrem Werk „Meine Lebensgeschichte“ (6 Bde. 1861 bis 1863) mit besonderer Vorliebe ihre Jugenderinnerungen erzählt. Fanny wurde in ihrem siebzehnten Lebensjahre Christin, aus Liebe zu einem jungen Theologen Leopold. Das Glaubensbekenntniß, das sie bei der Taufe ablegte, nennt sie selbst ein Muster von „schwunghaftem Jesuitismus“; denn sie glaubte nicht an die Dogmen des Christenthums und das war auch der Grund, warum sie sich allmählich dem jungen Theologen entfremdete.
Diese Kämpfe schildert uns ihr bester Jugendroman „Jenny“, der zugleich die Frage der jüdisch-christlichen Mischehen behandelt. In „Klementine“ handelt es sich um die Störung des ehelichen Glücks durch eine frühere Jugendliebe; in „Eine Lebensfrage“ um die Ehescheidung. Besonders in dem letzteren Romane überwiegt ein juristischer Scharfsinn, welcher oft die poetische Stimmung stört; überhaupt drängt sich die Vorliebe für verstandesmäßige Zergliederung auch in den anderen Romanen oft in die dichterische Schilderung ein, doch das ernste Streben nach Wahrheit, das die Dichterin beseelt, bietet stets dafür Ersatz, wenn einmal der klare Spiegel der Schönheit getrübt wird. Und dabei wird man an jenes feierliche Gelübde erinnert, das sie ablegte, als sie, angeregt durch die Erfolge einiger kleiner Erzählungen und dem Zureden ihres Vetters August Lewald, eines damals sehr angesehenen Journalisten, folgend, beschloß, sich der Schriftstellerei zu widmen.
„Ich hatte,“ sagt sie selbst, „eine große Vorstellung von der Macht des Dichters auf den Geist seines Volkes und von der Gewalt des Wortes über das Herz der Menschen. Und weil ich die Wahrheit suchte und die Wahrheit über alles schätzte, wo ich sie erkannt hatte, so nahm ich mir vor, ihr in keiner Zeile und mit keinem Worte jemals abtrünnig zu werden und, wie groß oder gering mein Einfluß jemals werden könnte, ihn nie anders als im Dienste desjenigen zu verwenden, was mir Schönheit, Freiheit und Wahrheit heißt. Und das Versprochene habe ich mir treu gehalten.“
Eine entscheidende Wendung für die Schriftstellerin trat ein, als sie 1845 Königsberg verließ, um eine Reise nach Italien zu machen. Hier lernte sie Adolf Stahr kennen, dem sie persönlich näher trat und der ein begeisterter Anwalt ihrer Schriften wurde. Ihre unglückliche Liebe zu dem Politiker Heinrich Simon, einem ihrer Vettern, einem ebenso schönen wie geistreichen Mann, den sie früher in Breslau hatte kennen lernen, dessen Herz aber für eine andere, für die Gräfin Ida Hahn-Hahn schlug, wich jetzt den Empfindungen, die sie für jenen enthusiastischen Kunstgelehrten hegte. Adolf Stahr war ebenso leicht entzündlich als Fanny Lewald kühl besonnen – und so ergänzten sich ihre beiden Charaktere. Der Umgang mit ihm sowie die Eindrücke, die sie von Natur und Kunst des warmen farbenreichen Italiens empfing, gaben ihrer Darstellungsweise, die in der nüchternen Pregelstadt zu erblassen drohte, ein wärmeres Kolorit. Dies merkte man zunächst an ihrem „Italienischen Bilderbuch“ (2 Bde. 1847), welches wie ihre späteren Reiseschriften „Reisetagebuch aus England und Schottland“ (2 Bde. 1851–1852) und „Vom Sund zum Posilipp“ (1883) von scharfer Beobachtungsgabe, von der geistigen Vielseitigkeit, dem Gedankenreichthum und dem edlen Streben der Verfasserin ein rühmendes Zeugniß ablegt; aber auch die Werke ihrer freien Erfindung wurden seitdem belebter und glänzender, ohne gerade dichterischen Schwung und blendendes Kolorit zu gewinnen. Zunächst verschaffte sie noch einmal ihrem kritischen Scharfsinn volles Genügen, indem sie eine Parodie auf die Romane ihrer glücklichen Nebenbuhlerin, der Gräfin Hahn-Hahn, „Diogena“ (1847) schrieb, in welcher sich der schroffe Gegensatz zwischen der Lebens- und Weltanschauung der beiden Schriftstellerinnen, verschärft durch persönlichen Groll, aussprach. Dann machte sie einen Versuch auf dem Gebiete des geschichtlichen Romans: „Prinz Louis Ferdinand“ (3 Bde. 1849), in welchem der Held indeß ein etwas nüchterner Don Juan ist, während das Zeitbild mit den Charakterköpfen der damaligen Berliner Berühmtheiten wohlgelungen erscheint. Kleinere Erzählungen, „Dünen- und Berggeschichten“, „Liebesbriefe eines Gefangenen“ etc., gingen ihren zwei großen Hauptwerken „Wandlungen“ (3 Bde. 1853) und „Von Geschlecht zu Geschlecht“ (8 Bde. 1863–1865) voraus.
Von ihren weiteren kleineren Erzählungen, in denen die Lust am Fabuliren vorwiegt, ist die volksthümlichste „Das Mädchen von Hela“ (2 Bde. 1860), durch die baltische Lokalfarbe, die schlichte und doch spannende Handlung und die treue Schilderung der Volkssitte ausgezeichnet.
In den späteren Romanen der Fanny Lewald trat die Tendenz immer mehr zurück. Der Gang der Zeitereignisse entsprach nicht ihren begeisterten Wünschen und Hoffnungen. Sie wandte sich mehr der italienischen Schule, der Tragik der Herzenserlebnisse in Kloster und Atelier zu, wie in „Benedikt“ (1874), in welchem Roman der Held ein Mönch ist, der ein schönes Weltkind liebt; ja man kann eine Reihe ihrer Werke geradezu Künstlerromane nennen; auch spielen sie alle in Italien. So „Benvenuto“ (2 Bde. 1875), in welchem die Liebe eines Modells Gloria zu einem vornehmen Maler und der Selbstmord dieses Mädchens den Mittelpunkt der Handlung bildet; „Helmar“ (1880), worin die Liebe eines deutschen Malers zu einer italienischen Gräfin geschildert wird; „Stella“ (3 Bde. 1883), dessen Heldin wie Gloria einen englischen Maler liebt. Es war dies eine etwas einseitige Richtung, welcher die Schriftstellerin hier huldigte.
Ihre letzten Werke waren „Die Familie Darner“ (1887), die schon erwähnte, 1888 in der „Gartenlaube“ erschienene gemüthvolle Erzählung „Josias“ und „Zwölf Bilder aus dem Leben (Erinnerungen)“.
Im Jahre 1854 hatte sie sich mit Adolf Stahr vermählt und lebte fortan in Berlin, wo sie auch nach dem Tode Stahrs, 1876, ihren Wohnsitz beibehielt. An praktischen Fragen betheiligte sie sich mehrfach mit Takt, Geschick und Eifer, wie in den „Osterbriefen für die Frauen“ (1863) und in „Briefen für und wider die Frauen“ (1870); in beiden finden sich treffliche Bemerkungen und beherzigenswerthe Rathschläge.
So tritt das Gesammtbild der Dichterin vor uns hin: ein fest auf sich ruhender Charakter, von Ueberzeugungstreue, warmer Liebe für die Menschheit und unerschütterter Begeisterung für die Ideale ihrer Jugend, denen die Zeit zum Theil den Rücken gekehrt hatte. †
Hochzeitsbräuche der siebenbürger Sachsen. Eines deutschen Volksstammes Sitte und Brauch hat sich unter sprachlich gesonderten Völkern auf dem siebenbürger Hochlande erhalten. Diese Sitte hat manches Eigenartige, wie es neuerdings Heinrich von Wlislocki berichtet. Das gilt besonders von der Hochzeitsfeier. Die Hochzeiten werden gewöhnlich nach beendeter Feldarbeit im Herbste abgehalten. Der erste Schritt dazu wird durch die Werbung oder das „Heischen“ gethan. Der Bursche begiebt sich in Begleitung eines nahen Verwandten zu den Eltern seiner Geliebten. Der Letztere, der Brautwerber oder „Wortmann“, hält in feierlicher Rede um die Hand des Mädchens an. Sind die Eltern des Mädchens [596] einverstanden, so besiegelt ein frohes Mahl, das sogenannte „Brautvertrinken“, die Wichtigkeit des Tages, wobei freilich „die Mitgift“ das Hauptgespräch bildet. Vier Wochen nach dem „Vertrinken“ folgt der Ringwechsel, das „Eigenmachen“, das im Pfarrhause in Gegenwart von zwei Verlobungszeugen erfolgt. An dem darauf folgenden Familienfest betheiligen sich die zwei neuen „Freundschaften“ (Verwandtschaften), dann beginnen die Zurüstungen zur Hochzeitswoche. Der „Altknecht“ schickt sechs Brüder (die Unverheiratheten gehören alle zur „Brüderschaft“) in jedes Haus des Dorfs, welche die Hausthür öffnen und den Ruf erschallen lassen: „Bringt Rahm!“ eine Aufforderung, ins Hochzeitshaus irgend eine freundliche Gabe zu senden. Und in der That beeilt sich dann jeder, Milch, Rahm, Speck, Fleisch dorthin zu liefern. Am Trauungstage selbst, dem Ehrentage, begeben sich zwei Freunde des Bräutigams, die sogenannten „Lader“, im Sonntagsschmuck und mit einem buntbemalten Stock, dem „Laderstöckchen“, versehen, zu allen Verwandten des Bräutigams und der Braut, um sie nochmals zum Hochzeitsschmaus einzuladen. Ist die Trauung vollzogen, so gehen beide Freundschaften unter Vorantritt eines guten Sängers und unter Absingung eines Kirchenliedes ins Haus des Bräutigams. Bei diesem Einzug findet die Braut im offenen Thore vor einem umgeschlagenen Bottich, der als Pult dient, eine vermummte Gestalt mit langem weißen Bart, die ihr und ihrem Gefolge so lange den Eingang zu wehren sucht, bis die Köchin des Hochzeitsschmauses einen Aschentopf vor den Bottich geworfen hat. Im Hofe beginnt Beschenkung des jungen Paares von seiten aller Hochzeitsgäste, wobei der Vater der Braut seinem Schwiegersohn einen blanken Pflug als Symbol seines Berufes überreicht. Außerdem giebt es bei der Hochzeit, die dann durch Festmahl und Gesang gefeiert wird, allerlei Mummereien. Der Hochzeitsprediger, mit langem grauen Bart, in ein langes weißes Gewand gehüllt, reitet auf den Schultern eines Knechtes unter die Gäste und hält eine humoristische Predigt, in welcher er die Gegenstände der Mitgift bespricht. Dann folgen oft pantomimische Darstellungen, das sogenannte „Königslied“ und vor allem der „Rößchentanz“, bei welchem nach längerer dramatischer Einleitung zwei Rößchen in weißen Strümpfen, mit farbigen Tüchern und Bändern behangen, zur Belustigung der Gäste tanzen. Oft findet auch das „Gänserennen“ statt, bei welchem junge Burschen in wildem Rennen unter einem quer aufgespannten Seile hindurchreiten und, in den Steigbügeln aufgerichtet, den herabhängenden Kopf einer Gans oder schwarzen Henne abzureißen suchen. Am zweiten Hochzeitstage, „dem Jungfrauentage“, versammeln sich die Gäste im Hause der Braut, wo Vermummte die junge Braut erwarten und ihrem Gatten rauben, der sie dann im Kampfe zurückerobern muß.
Diese Sitte des Brautraubes findet sich ja in mannigfachen Formen bei den verschiedensten Völkern. †
Die Edelfäule. Alte Weinkenner am Rhein behaupten, daß man erst im Jahre 1822 gelernt habe, aus edelfaulen Trauben den köstlichsten Wein zu bereiten. In jenem Jahre war der Sommer dem Weinstock außerordentlich günstig, so daß schon Ausgangs September eine Ueberzeitigung eintrat und gelesen werden mußte. Die Weinbauer wurden dadurch sehr unangenehm überrascht, da allgemein der Oktober als Herbstmonat gilt und um jene Zeit Vorbereitungen zum Empfang des neuen Gastes getroffen werden. So kam es, daß an vielen Orten „eine faule Brühe“ gelesen wurde. Der Wein, den man erzielte, erwies sich jedoch ausgezeichnet, und man erzählt (vgl. J. Schlamp „Die Weinjahre des 19. Jahrhunderts“), daß auf dem Johannisberg nur zwei Stück zu 1200 Litern geherbstet wurden, diese aber auch dafür alle Erwartungen übertrafen. Der mildere Wein wurde Braut genannt und zu 15 000 fl. verkauft, der kräftigere erhielt den Namen Bräutigam und wurde mit 16 000 fl. für das Stück bezahlt. Seit jenem Jahre wurde der Werth der Edelfäule anerkannt; die „Gartenlaube“ berichtete darüber in dem Artikel „Aus der Zeit der Weinlese“ in Nr. 44 des Jahrganges 1884. Es dauerte aber lange, bis die Edelfäule wissenschaftlich erklärt wurde. Neuerdings ist dies gelungen, und wir entnehmen einer lehrreichen Arbeit von Dr. Hermann Müller-Thurgau folgendes:
Die Edelfäule wird hauptsächlich durch einen besonderen Pilz verursacht, der Peziza Funckeliana heißt. Die günstige Wirkung dieses Pilzes beruht nun darauf, daß er in den Beeren Zucker und Säure verzehrt, aber stets mehr Säure als Zucker; dabei verlieren die Beeren an Wassergehalt, so daß der Most zuckerreicher und säureärmer wird. Das ist das Geheimniß der Edelfäule, welches durch zahlreiche mühevolle Versuche und Analysen festgestellt wurde. Die Peziza Funckeliana ruft jedoch nur bei wenigen Traubensorten diese günstigen Veränderungen hervor. In erster Linie ist es der Riesling, dessen edelfaule Trauben die herrlichsten Weine des Rheingaues, die besten Sorten der Mosel- und Saarweine, die feurigen Franken- und vollen Haardtweine liefern. Dagegen führt das Befallen durch den Pilz bei den sogenannten „weichen“ Sorten entschieden zum Nachtheil.
Die Edelfäule zerstört bekanntlich das Rieslingbouqnet, erzeugt aber dafür ein anderes, welches dem Sherrybouquet ähnlich ist.
Neben der Peziza befällt noch ein anderer Pilz die Trauben: der bekannte Pinselschimmel (Penicillium glaucum); dieser verdirbt den Most und die Winzer werden von jetzt ab noch mehr darauf achten müssen, daß bei der Auslese die vom Pinselschimmel befallenen, eine schmutzig hellgrüne bis gelbliche Färbung zeigenden, speckig faulen Beeren ganz entfernt werden.
Peziza Funckeliana wollen wir in Ehren halten; sie ist eine der „wohlthätigen Mikroben“, vor denen die Menschen sich nicht durch Karbol- und Salicylsäure zu schützen brauchen. *
Taschenflora des Alpenwanderers. Wer in die Alpen wandert, dem thut sich eine neue Welt auf, und diese neue Welt schmückt sich auch mit ganz eigenartigen Blumen. Seit lange ist die Alpenflora der Gegenstand sorgfältigster Studien, und wir besitzen prachtvolle Darstellungen derselben, Werke, die wahre Kunstwerke sind. Leider kann man sie nicht in die Tasche stecken und bis zu der Gletscherregion hinauftragen; sie sind keine Taschenbücher. Und doch würde so manchem Touristen ein „Bädeker“ durch die alpine Pflanzenwelt recht willkommen sein, denn nur zu oft fesseln Alpenblumen seine Aufmerksamkeit und er kennt sie leider nicht.
Zwei Brüder, Ludwig Schröter, naturwissenschaftlicher Zeichner, und Dr. C. Schröter, Professor der Botanik am eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, haben sich zusammengethan, um eine solche „Taschenflora des Alpenwanderers“ herauszugeben. Das Büchlein ist im Verlage von Meyer und Zeller in Zürich erschienen und bringt uns farbige Abbildungen von 115 der verbreitetsten Alpenpflanzen nebst ganz kurzen botanischen Erklärungen derselben. Es beansprucht keinen besonderen wissenschaftlichen Werth, für den Touristen aber, der gleichzeitig Blumen- und Pflanzenliebhaber ist, bildet es den längst vermißten „Bädeker“ der Alpenflora. In diesem Sinne sei es für die Wanderzeit empfohlen. *
Die Schlange im Paradiese. Unter diesem Titel hat Rosenthal-Bonin einen Novellenkranz (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt) veröffentlicht, der einen mannigfachen, bunten Inhalt bietet. Der Vorzug dieser kleinen Erzählungen besteht darin, daß sie alles Langathmige vermeiden, während wir den eingefädelten Verwicklungen mit Spannung folgen.
Da werden wir durch die weite Welt geführt, in die Umgegend des meerbeherrschenden Genua, an das „Goldene Horn“, an die Spielbank von Monaco, in die Hauptstadt Kaliforniens. Die Schilderung versetzt uns mit ein paar kräftigen Zügen rasch in die Landschaft, in das Volksleben der verschiedenen Erdregionen. Eine Türkensklavin in Konstantinopel, welche einen dort lebenden Deutschen auf eine Zeitlang so verzaubert, daß er sie als Gattin heimzuführen beabsichtigt, bis er sich eines Bessern besinnt und eine für ihn schwärmende deutsche Witwe heirathet, ist die Heldin der einen Erzählung; in einer andern ist es eine schöne spanische Witwe in San Francisko, welche ihre Hand einem viel umhergetriebenen Manne reicht, der zuletzt als Straßenschreiber sich durch die Abfassung von Liebesbriefen sein spärliches Brot verdient. „Eine Aschermittwochsgeschichte“ knüpft an die zufällige Begegnung eines nach einem Maskenball in der Weinlaune über die Straße spazierenden Herrn mit einer schwerhörigen jungen Dame eine ganze Reihe von Verwicklungen, einen Wortwechsel mit dem Begleiter der letzteren, ein Duell zwischen diesem und dem übermüthigen jungen Manne, welcher sich bald darauf als der ausgezeichnete Specialarzt entpuppt, der die Dame von ihrem Leiden erlösen soll und dem zu Liebe sie in diese Stadt gekommen ist. Natürlich finden sich die Herzen und der bisherige Beschützer der jungen Dame hat das Nachsehen. Pikant ist die Erzählung „Die schwarze Rose“. Eine junge Kokette verlangt von ihrem Verehrer für den Ballabend ein solches Blumenwunder. Dieser weiß sich nicht anders zu helfen, als daß er ihr eine schwarzgefärbte Rose überreicht; doch diese heimtückische Blume entfärbt sich am Ballabend. Der maßlose Zorn der Schönen klärt den Verehrer darüber auf, daß er eine schlechte Wahl getroffen, als er diesem eiteln und herzlosen Mädchen huldigte, und er schenkt der anmuthigen Blumenverkäuferin Herz und Hand. Die Skizze „Haschisch“ enthält eine lebendige Schilderung der Wirkungen dieses Giftes, und seiner Vorliebe für Thierbilder huldigt der Autor wieder in der Geschichte „Henri Martin“. Es ist dem verschiedenartigsten Geschmacke in dieser Novellensammlung Rechnung getragen; nur das einzige verbotene Genre, das Langweilige, ist nicht darin vertreten. †
Otto P. in W. Der Bau der ersten sogenannten Trambahnen fällt, wie Sie richtig vermuthen, in den Anfang dieses Jahrhunderts. In den englischen Bergwerksdistrikten gewann die Eisenbahn, das heißt die zur bessern Bewegung der Förderwagen in den Zufuhrstraßen zu den Fabriken und Kohlenminen erbaute Holzbahn mit Eisenbelag, schon Ende des vorigen Jahrhunderts immer mehr an Ausbreitung. Jedoch erst im Jahr 1800 baute ein gewisser Outram in Derbyshire wirkliche Eisenbahnen im heutigen Sinne mit eisernen Schienen auf Steinunterlagen, welche nach ihrem Erfinder Outramways, auch blos Outrams oder Tramways benannt wurden und bald eine weite Verbreitung fanden. Später übertrug man den Namen Tramway auf die von Pferden gezogenen, der Personenbeförderung dienenden Schienenbahnen im Gegensatze zu den Lokomotivbahnen, die man Railways, Eisenbahnen, nannte.
F. M. in Genf. Ihre Mittheilungen treffen nicht zu. Die Sorbonne in Paris hat ihren Namen von einem Geistlichen, Robert de Sorbon, der im 13. Jahrhundert aus tiefer Armut, durch Almosen guter Leute unterstützt, sich emporschwang, die Weihen erhielt und Kapellan des Königs Ludwig des Heiligen wurde. In Erinnerung seiner harten und entbehrungsreichen Jugend wünschte er andern die Wege zu ebnen, erbat und erhielt von der Königin Blanca, damals Regentin, ein Haus zur Aufnahme armer Schüler, die dort in einer Art von kirchlicher Gemeinschaft leben und studiren sollten. Die Stiftung, im Jahre 1253 eröffnet, erhielt dann den Namen La Sorbonne; bald kamen außer den armen Schülern auch vermögende, die zahlten, statt Almosen zu nehmen; ausgezeichnete Theologen übten das Lehramt und die anfangs so bescheidene „Congregation der armen Lehrer von der Sorbonne“ erweiterte sich sehr bald zur theologischen Fakultät, die einen Weltruf genoß und alle europäischen Berühmtheiten anzog. Die große Revolution hat mit andern Resten des Mittelalters auch die Sorbonne aufgehoben. Napoleon benutzte dann die leerstehenden Gebäude zur Gründung der Universität. Neuerdings wurden dieselben sehr gründlichen Umbauten unterzogen, und vor wenigen Wochen erst wurde die „neue Sorbonne“ unter großen Feierlichkeiten bezogen und eingeweiht.
Ludwig Y. in A. Der größte Walfisch, der je existirt hat, ist Wohl derjenige gewesen, den Albertus Magnus, der große Gelehrte des 13. Jahrhunderts, gesehen haben will. Die Augenhöhle dieses Fisches sei nämlich so groß gewesen, „daß darinnen zum wenigsten zwanzig Personen sitzen konnten“. In Frankreich soll übrigens im Jahre 1640 ein Walfisch gefangen worden sein, der 320 Schuh lang, 62 Schuh breit und dessen Rachen 40 Schuh weit gewesen ist, so daß ein Reiter mit sammt dem Pferde darin Platz finden konnte.
Inhalt: Sicilische Rache. Ein Kulturbild aus den vierziger Jahren von A. Schneegans. S. 581. – Der treue Freund in Versuchung. Illustration. S. 581. – Steinerne Schätze. S. 587. Mit Illustrationen S. 584 und 585, 588 und 589. – Gold-Aninia. Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué (Fortsetzung). S. 590. – Ohne Argwohn. Illustration. S. 593. – Blätter und Blüthen: Fanny Lewald †. S. 595. – Hochzeitsbräuche der siebenbürger Sachsen. S. 595. – Die Edelfäule. S. 596. – Taschenflora des Alpenwanderers. S. 596. – Die Schlange im Paradiese. S. 596. – Kleiner Briefkasten. S. 596.