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Die Gartenlaube (1889)/Heft 34

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[565]

No. 34.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Gold-Aninia.

Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué.
(Fortsetzung.)


Wer in diesem Streite am ruhigsten blieb und doch am eifrigsten und lautesten theil daran hätte nehmen müssen, war der bisherige Bräutigam, der Franzosen-Peider selbst. Seine vorher so gehaltene Miene heiterte sich zusehends auf, die alte lebhafte Beweglichkeit, welche er auf dem Gang zur Hochzeit vollständig eingebüßt hatte, kehrte zurück, er mußte sich wahrhaft Gewalt anthun, um nicht sein Entzücken über die unverhoffte Lösung der Schlinge, in der er sich gefangen sah, allzu offen an den Tag zu legen. Was konnte der fürchterliche Madulani ihm jetzt noch anhaben? – Nichts! und so wollte er, ohne lange zu zaudern, auch den günstigen Augenblick ausnützen, um seine Freiheit vollends wieder zu erlangen und zu sichern. Plötzlich raffte er sich auf, trat einen Schritt vor, machte eine gebietende Armbewegung und rief mit der ganzen Kraft seiner Lungen, sogar mit einem Anflug von Humor, als ob er gute Miene zum bösen Spiele machte, in den Aufruhr hinein:

„Hört mich, Ihr Bündnerleute!“ – und als der Lärm überraschend schnell sich legte, sogar der tobende Madulani sich ruhig verhielt und erwartungsvoll auf diesen neuen Redner schaute, fuhr der Peider also fort: „Ich hoffe, es giebt keinen unter Euch, der bezweifelt, daß ich imstande bin, mein gutes Recht zu verfechten. Ihr habt die Probe davon gesehen. Aber es wäre eines galanten Mannes wenig würdig, eine Schöne, die widerstrebt, zur Annahme seiner Hand zwingen zu wollen, nachdem er fälschlich geglaubt hatte, daß sie den Werth derselben zu schätzen wüßte. Ferne sei es von mir, mich auf die Macht des Vaters zu stützen, nachdem meine bisherige Braut mir einen andern vorgezogen hat. So schlimm steht es mit dem Gold-Peider doch noch nicht, der jeden Tag die größten Partien an besseren Orten als Surley machen kann! Wenn die schöne Aninia so einfach denkt, daß sie am liebsten unter der Schafherde ihr Leben zubringen will, so kann ich begreiflicherweise nichts dagegen haben, und da sie schon vor acht Tagen diesem Jüngling in der Zotteljacke ihre reizende Hand gereicht hat – was bleibt mir übrig, als jetzt alle Feindschaft zu vergessen und den beiden meinen Glückwunsch darzubringen?“

Damit schritt er leichtherzig auf Beppo zu und schickte sich an, zu thun, wie er gesagt hatte.

„Halt!“ schrie der Cavig mit donnernder Stimme, um dann zähneknirschend vor sich hinzumurmeln: „Der elende Feigling!“ Dann sich mit aller Gewalt bezähmend, fuhr er mit starker Stimme fort: „Ich, der Cavig von Surley und Ammann der Pfarrgemeinde, sage: Die Trauung ist ungültig, und hier unser Pfarrer soll es bestätigen. Tretet vor und redet!“

„Unser Cavig und Ammann hat recht,“ sagte jetzt der Geistliche. „Die Trauung


Der „Wilde Mann“ an der Kleinen Windgelle im Maderaner Thal.
Nach einer Skizze von C. Käsli-Schultheß gezeichnet von R. Püttner.

[566] von einem einfachen Mönch vollzogen, ist ungültig – oder der Churer katholische Bischof der Bündnerlande müßte sie denn mit Brief und Siegel bestätigt haben.“

„Ihr hört es, Landgenossen – und auch Du, Peider, mein Weib, meine Tochter – Ihr alle habt es jetzt vernommen: die Trauung ist ungültig!“ rief Madulani mit triumphirendem Ton.

„Verzeiht, Cavig und Ammann,“ sprach da ruhig und bestimmt eine fremde Stimme, „die Trauung und Heirath ist vollständig gültig: hier die Unterschrift und das Sigillum des Bischofs von Chur.“

Es war der Mönch Fra Battista, der auf seinem Grauthier die Reise von und nach Chur genau, wie er sie geplant, zurückgelegt hatte. Schon vor einer Weile war er unbemerkt herangetrabt, hatte in der Menge geborgen den Vorgang beobachtet und war im entscheidenden Augenblick in den Kreis getreten, mit seinen letzten Worten dem Madulani in hocherhobener Hand ein Schriftstück entgegenhaltend, von dem an einer breiten und bunten Doppelschnur ein großes, rothes Siegel niederhing.

Die Mutter, das junge Paar stießen bei seinem Erscheinen einen dreifachen Freudenruf aus, und durch die Menge ging ein so gewaltiges Staunen, daß es sich nicht anders als in einem hauchartigen Flüstern Luft zu machen vermochte. Selbst der starke Cavig war wie niedergeschmettert, seine mächtige Gestalt zitterte und kaum noch vermochte er sich auf den Beinen zu erhalten; seine ganze Kraft, den Rest seines eisernen Willens mußte er zusammenraffen, um nicht niederzusinken.

Fra Battista grüßte seine Schützlinge im Vorbeigehen leicht mit dem Haupte, schritt auf den Cavig zu und reichte ihm die Urkunde, welche in der That die Unterschrift und das Siegel des Bischofs von Chur trug. Madulani ergriff zögernd das inhaltschwere Papier und begann die darauf befindliche Schrift zu lesen. Der große weiße Bogen mit seinem herabhängenden Siegel zitterte merklich in seiner Hand und die Buchstaben schwirrten kaum erfaßbar vor seinen Blicken. Doch, was er zu entziffern vermochte, war für ihn genug; er sah, er erkannte die Unterschrift, das Siegel des Bischofs und wußte, daß jetzt alles verloren war, daß sein Weib – sein eignes Weib! – ihn besiegt – oder vielmehr überlistet und tödlich getroffen hatte. Eine ganze Weile stand er da, als ob ihm mit der körperlichen Kraft auch alle Kraft seines Denkens abhanden gekommen – als ob er ein alter, schwacher Greis geworden wäre.

Alle Zeugen dieser Vorgänge schienen nicht minder ergriffen zu sein als deren Hauptpersonen, wie Mutter Barbla, Aninia und Beppo folgten sie in athemloser Spannung dem Thun des gefürchteten, nun sichtlich gebrochenen Mannes. Plötzlich – ganz unerwartet schnellte Madulani empor, noch einmal loderte sein wilder Zorn ungebändigt auf. Das Schriftstück mit beiden Händen fassend – als ob er es zerreißen wollte, schrie er, jetzt in der That sinnlos vor Wuth:

„Und ich sage nochmals: die Heirath ist dennoch ungültig! ich, der Vater und der Cavig, trenne – zerreiße den unnatürlichen Bund, wie ich dies elende Papier hier –“

Doch weiter kam der Tobende nicht. „Halt ein! – Halt ein!“ schrie es von allen Seiten, und zugleich erfaßten die ihn umringenden Männer mit aller Kraft seine Arme, um ihn mit Gewalt an dem gesetzwidrigen Thun zu hindern, das nur schlimme Folgen für ihn wie für die ganze Gemeinde haben konnte.

Mit dem herzzerreißenden Ausruf: „Vater! Vater!“ waren Mutter Barbla und Aninia, Beppo mit sich reißend, auf Madulani zugestürzt und hatten sich ihm zu Füßen geworfen. Weinend streckten sie die Hände nach ihm aus und in verzweiflungsvollem Ringen flehten sie um seine Vergebung.

Keuchend stand Madulani da, mächtig hob und senkte sich seine Brust, und mit aller Gewalt rang er, nur noch einige Augenblicke Ruhe zu gewinnen, denn er fühlte, daß es mit seiner Kraft zu Ende ging. Dann stieß er keuchend – abgerissen hervor:

„Nun denn – da alles gegen mich ist – sollt Ihr Euren Willen haben. Ziehe hin und werde eine Bettlerin! – meine Tochter bist Du nicht mehr! Das einzige, was ich Dir noch gebe, ist – dieser Wisch!“ Damit schleuderte er mit roher Gewalt die Urkunde den Seinigen vor die Füße. – „Und als Papisten verbanne ich Euch beide aus Surley; das ist mein, des Cavigs Recht! Niemand – wer es auch sei! – soll und darf Euch als Eheleuten Unterkunft geben – so lange Grund und Grath stehen. Niemals soll ein Dach mit Euch mich decken. Das schwöre ich hier, im Angesicht des Himmels und der Pfarrgemeinde! oder – oder ich müßte denn ein Bettler geworden sein – wie Ihr!“

Mühsam hatte er die letzten Worte, den frevelhaften Schwur, hervorgekeucht, und nun war es wie mit seiner Kraft so auch mit seiner Besinnung zu Ende. Taumelnd drang er durch die ihn Umringenden, welche entsetzt zur Seite wichen, und auf Umwegen suchte er sein Haus zu erreichen, sich in seine Kammer zu vergraben, dort seine Schmach zu bergen, seinen Zorn, seine Wuth auszutoben. –

In der Menge vor der Kirche war kein Laut hörbar geworden, der erschütternde Vorgang ließ jede Aeußerung verstummen. Wohl näherten sich einige Nachbarn Frau Barbla und Aninia, die wie ohnmächtig zusammengebrochen war, doch die mit ihrem Kinde beschäftigte Mutter wehrte ihnen ab und schweigend verließen sie mit den übrigen den Platz, der bald nur noch wenige einzelne Gruppen zeigte, die noch eine letzte Zwiesprach hielten, um sich dann auch zu entfernen. Nur der Mönch war bei den dreien geblieben, er bemühte sich, Worte des Trostes für die tief gebeugten Frauen zu finden.

„Nach Surley dürfen die beiden hier nicht zurück,“ sagte er, „das ist nun leider unmöglich geworden. Kommt mit mir, folgt mir auf den Crestalta. Dort räume ich Euch meine kleine Zelle ein – für mich wird sich auch noch ein Obdach finden. Kommt!“

„Fra Battista hat recht,“ sagte Mutter Barbla. „Geht mit ihm und ich will daheim für Euch – zu wirken versuchen. Geht!“

Aninia hatte sich wieder gefaßt, sie ergriff Beppos Hand; ein letzter, inniger Abschied beider von der Mutter, dann folgten sie dem Mönche.

Mutter Barbla wankte heim, den Kopf sinnend auf die Brust gesenkt. „Wenn er nur den frevlen Schwur nicht gethan hätte!“ murmelte sie in einem fort vor sich hin, „er wird uns alle ins Unglück bringen – zu Bettlern machen.“ –

Seltsam! Auch Beppo vermochte denselben Gedanken nicht loszuwerden, er beschäftigte ihn, wenn auch in anderer Weise, mehr als das Nächstliegende. Während er neben seiner Aninia herschritt und mit ihr Worte der Liebe und des Trostes wechselte, leuchtete der Schwur Madulanis wie mit feurigen Zeichen in seinem Hirn auf: „Keine Vergebung! – oder ich müßte denn ein Bettler geworden sein – wie Ihr!“


7. Während des Sommers. – Daheim und in vollem Sonnenschein.

Der Sommer war gekommen und vieles hatte sich während der Zeit in Surley und dessen Bereich geändert. Wenige Tage nach dem verhängnißvollen Sonntagmorgen vor der Kirche war der Franzosen-Peider, schwer beladen mit seinen goldenen Schätzen, doch leichten Herzens auf und davon geflogen. Viele seiner Freunde gaben ihm das Geleit bis nach Samaden, wo ein letzter Abschiedsschmaus und Rundtrunk gehalten wurde. Dann trabte er auf einem jungen, kräftigen Maulthier, das inhaltreiche Felleisen hinter sich aufgeschnallt, dem Unterengadin, dem Finstermünzpaß und Innthal entgegen, um über Innsbruck, Salzburg und Linz die schöne Kaiserstadt Wien an der Donau zu erreichen, allwo er ganz bestimmt den seiner würdigen Wirkungskreis und auch das rechte Glück zu finden hoffte. Beim Abschied von seinen Genossen hatte er in stolzem Selbstbewußtsein noch zu diesen gesagt: „Will einer oder der andere von Euch sein Glück auf demselben Wege probiren, auf dem ich es gefunden habe, so sucht mich in Wien auf, der Peider wird Euch beistehen, unterbringen und seine Kunst Euch lehren. Dann hängt es nur von Euch ab, es so weit zu bringen wie ich. Und nun – Addio! doch auch auf Wiedersehen, meine Freunde! – Addio! meine schöne Heimath! mein liebes, theures Bündnerland!“

Daß diese bedeutsame Abschiedsrede auf die Gemüther der jungen Silser einen ganz besonderen Eindruck machen mußte, war selbstverständlich, und schon jetzt durfte man als gewiß annehmen, daß über kurz oder lang mehr als einer von ihnen den erhaltenen Wink befolgen, den gleichen Weg ziehen werde, um unter der Leitung des kunstfertigen Landsmanns sein Glück in der Welt als „Schweizer-Konditor“ zu versuchen.

[567] Wenige Sonntage nach der Abreise des Franzosen-Peiders fand in der kleinen Kirche von Surley eine Trauung – diesmal eine wirkliche und ohne Hindernisse – statt. Es war der lange Clo der Maria Büssin, der die nicht minder lange Staschia Cadruvi ehelichte, doch nun auch der Mutter ärmliche Wohnstätte verließ, um in das recht stattliche, feste Haus seiner Schwieger, das jenseit des Surleywassers lag, einzuziehen. Es war ein guter Tausch, denn die Büssin hatte eine Feuerstelle inne, die eher einem Steinhaufen ähnlich sah als einem Wohnhause und noch dazu abseits nahe den Felswänden lag, so daß sie im Frühling, wenn Schnee und Eis zu schmelzen begannen, viel und oft von den wilden Wassern zu leiden hatte. Die neue Wohnung des Clo aber bestand aus einem Gelaß so lang wie das ganze Haus und zwei Nebenkammern, wovon die eine als Schlafstelle der alten Mutter Cadruvi, die andere, recht düstere, als Vorrathsraum und Keller diente. Eine schmale, leiterartige Treppe führte zu zwei niederen Dachkammern, welche freilich für die stattliche Länge des jungen Ehepaares, das sie bewohnte, nicht berechnet waren. Es mußte sich allemal beim Eintritt tief bücken. Unten, in dem großen Raum, der den Insassen Wohn-, Eßzimmer und Küche war, befand sich der steinerne Herd nebst einigen Truhen und Schränken aus gedunkeltem Arvenholz, die wie die Bettstelle, Tisch und Schemel in unbeholfener Weise verfertigtes Schnitzwerk zeigten. So einfach sich dies alles auch darstellte, mußte es doch dem langen Clo, wenn er an die öde und kahle Wohnung seiner armen Mutter zurückdachte, wie ein Palazzo vorkommen, noch dazu, da er die Räume an der Seite einer jungen Frau bewohnen durfte, die im Grunde gar nicht so übel war, und an deren Länge er keinen Anstoß zu nehmen brauchte. Vermochte er sie doch aus gleicher Höhe herzhaft auf den rothen Mund zu küssen!

Nicht so gut hatte es seine Mutter, die Maria Büssin – ihr fehlte jetzt erst recht viel! Hauste sie doch nun ganz allein in ihrem kalten Steinhaufen. Doch sollte sich ihre gedrückte Lage bald und in überraschender Weise zu ihren Gunsten ändern.

Nach jenem erschütternden Auftritt vor der Kirche war Madulani den ganzen Tag nicht mehr zum Vorschein gekommen; am folgenden Morgen erschien er, wenn auch ernst, finster, bleicher als gewöhnlich und mit unheimlich funkelnden Augen, doch im übrigen auffallend ruhig. Mit keinem Wort erwähnte er gegen sein Weib das Vorgegangene; es war, als ob er es gar nicht erlebt, aber auch – als ob er nie ein Kind sein eigen genannt hätte. So blieb es, und sah er die Büssin bei seinem Weibe, so schien er ihre Anwesenheit, den Verkehr der beiden Frauen gar nicht zu beachten, während er sonst für die Schwester, traf er sie in seinem Hause, stets nur schlimme Worte gehabt hatte. Auch dies änderte sich mit der Zeit nicht. So ergab es sich denn ganz von selbst, daß die Büssin, nachdem ihr Clo sich verheirathet hatte, immer häufiger bei der Schwägerin anzutreffen war, endlich sogar fast von morgens früh bis abends in dem Hause des Cavigs weilte, ohne daß dieser ein Aergerniß daran zu nehmen schien. Er beachtete es sogar nicht mehr, wenn Frau Barbla seiner Schwester irgend etwas zusteckte – was sonst ein Donnerwetter entfesselt hatte.

Es mußte seit jenem Sonntage eine überraschende Umwandlung mit dem sonst so rücksichtslos harten Manne vorgegangen sein, in allem, was er that und sprach, zeigte sich dies – nur nicht in einem Punkte.

Frau Barbla ging still ihrer Wege wie bisher, sie ließ ihren Mann gewähren; ruhig sprach sie mit ihm, in ihrer gewohnten, kurzen, etwas rauhen Weise, ohne dabei viel von ihrer Hantierung aufzublicken. Doch beobachtete sie ihn scharf, und zu ihrer geheimen Freude gewahrte sie die mit ihm vorgegangene unverkennbare Veränderung, von der sie glaubte, sich für die Zukunft das Beste für ihr Kind und dessen Gatten versprechen zu dürfen. Aber sie kannte, trotz des langen Zusammenlebens, ihren Mann noch immer nicht genug. –

Eines Abends, es mochten wohl der Wochen acht verflossen sein, seit die beiden allein hausten, saßen sie still und schweigend einander gegenüber in ihrer großen Stube. Die Sonne ging für das Hochthal unter und ihre letzten Strahlen streiften mit einem fremdartigen rothglühenden Schein die zackigen Felswände, die Schnee- und Eisfelder des Juliers und des Piz Albana, welche theilweise in ihren scharfen Umrissen von der Stube aus sichtbar waren. Der massige Tisch stand gegen das breite, niedere Fenster gerückt, und auf der einen Seite saß Frau Barbla, die Spindel mit dem Flachs der lombardischen Ebene unter dem Arm. Mit der Rechten zog sie den groben Faden. Durch die Tafel von ihr getrennt saß Madulani, mit dem Ellbogen schwer auf die Platte gestemmt, und rauchte seine Pfeife. Vor ihnen lag ein angeschnittenes Roggenbrot und auf einem irdenen Teller ein Stück Ziegenkäse; sie hatten zu Nacht gegessen, ohne nur ein Wort miteinander zu reden, und gleich stumm saßen sie auch jetzt noch da. Doch oftmals schweifte der Blick der Mutter verstohlen nach ihrem Manne hinüber, der, den Wölkchen seiner Pfeife nachschauend, dies nicht zu bemerken schien. Sie mußte etwas auf dem Herzen haben und den Augenblick für günstig halten, es auszusprechen, denn endlich ließ sie die Spindel ruhen, wandte leicht den Kopf ihrem Manne zu und sagte leise, doch mit eindringlichem Ton:

„Gian, ist Dein Herz denn wirklich so hart geworden wie die Felssteine da drüben – daß Du so gänzlich vergessen kannst, wie fern von uns ein armes Geschöpf lebt, das von unserem Fleisch und Blut ist und sich in Sehnsucht nach dem Vater verzehrt? Und Du hattest sie doch immer so gerne, unsere Aninia!“

Kaum hatte sie den Namen ausgesprochen, da ging eine jähe, schreckenerregende Veränderung mit Madulani vor. Wie von einer Natter gestochen, schnellte er von seinem Schemel empor und die Pfeife zu Boden schleudernd, daß sie klirrend in Stücke brach, schrie er sein Weib an:

„Sprich den Namen nicht aus! – oder es geschieht ein Unglück!“ Alles Blut war ihm nach dem Kopf gestiegen, denn sein Antlitz war tiefroth geworden und blutunterlaufen quollen die Augen daraus hervor. Zugleich hatte die freigewordene Hand das große, bei dem Brote liegende Messer ergriffen, als ob er damit seine letzten Worte hätte bekräftigen wollen. Nach einem tiefen, keuchenden Athemholen fuhr er fort: „Wer für sie, die ihren Vater mit Schmach und Schande bedeckt hat, zu mir spricht, ist mein Todfeind, das merke Dir!“

Mit diesen Worten stieß er das Messer mit aller Gewalt in die Tischplatte, daß es tief darin stecken blieb, und stürmte aus der Stube.

Frau Barbla war aufgesprungen, die Hände vor Entsetzen zusammenschlagend; eine ganze Weile starrte sie ihrem Manne nach, ihre Augen füllten sich mit Thränen, dann sank sie unter stillem Weinen auf ihren Sitz zurück, leise vor sich hinmurmelnd:

„Ich bin zu Ende. – Sein Weib vermag nichts mehr – ein Stärkerer muß über ihn kommen – und er wird kommen!“

Noch eine ganze Weile saß sie da, sinnend mit gefalteten Händen, wohl im Gebet sich an den wendend, der allein hier noch helfen konnte. Ruhiger geworden, nahm sie ihre frühere Arbeit mit der Spindel von neuem auf. –

* * *

Wieder waren wohl zwei Monate vergangen, mit ihnen der schöne, wenn auch nur kurze Sommer des Engadins, und kein Wort über Aninia war mehr zwischen Madulani und seinem Weibe gewechselt worden. Der Cavig befand sich jetzt schon in der dritten Woche draußen; mit seinem Ochsengespann hatte er eine Fuhre der schönsten Arvenstämme thalabwärts über den Malojapaß, durch das Bergell, dann über Chiavenna nach dem Comersee geführt, wo sie von einem Mailänder Handelsmanne in Empfang genommen wurden, um vorerst zu Schiff nach Como geschafft zu werden. Madulani hatte ein gutes Geschäft gemacht, und eine große Anzahl dicker, silberner Fünflivres-Thaler in seinem Ledersack, kehrte er mit seiner Ochsenfuhre in zufriedener, fast heiterer Stimmung heim. Die Rückreise dauerte lange, sehr lange, denn es ging aufwärts und immer aufwärts. Doch endlich hatte er den steilen Malojapaß überschritten und nun war er in wenigen Stunden daheim. Frau Barbla, die sich in einer ungewöhnlichen, doch sichtlich freudigen Aufregung befand, sah ihn kommen; sie hörte in der Stube, wo sie ihn erwartete, wie er zuerst die beiden Thiere in den Stall brachte, ihnen Futter gab, wie er dann den schweren Wagen mit den plumpen Rädern im Schuppen unterstellte. Jetzt erst lenkte er auf das Haus zu, und bald darauf stand er in der Stube vor seinem Weibe.

Zum erstenmal seit Monaten zeigte Madulanis Antlitz lächelnde Züge; zum erstenmal war der Gruß, welcher seinem Weibe wurde,

[568]

Das Menuett.
Nach dem gleichnamigen Gemälde von Luis Jimenez.
Photographie im Verlage der „Photographischen Union“ in München.

[569] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [570] freundlich. Mit dem schweren Ledersack auf der linken Schulter stand der Mann in seiner mächtigen Gestalt hochaufgerichtet vor Frau Barbla und reichte dieser sogar zum Willkomm die Hand – etwas ganz Unerhörtes seit jenem Auftritt vor der Kirche. Aber auch die Frau schien ungewöhnlich freudig bewegt und erwiderte Gruß und Handschlag in gleicher Weise; es war in diesem Augenblick des Wiedersehens, als ob nie ein Zwiespalt zwischen ihnen geherrscht hätte.

Der kalte Ernst war von dem Gesicht der Frau gewichen, sie bemühte sich geschäftig, ihrem Manne beim Ablegen behilflich zu sein, konnte aber mit der Mittheilung, die ihr auf den Lippen schwebte, nicht warten, bis er zum Sitzen kam, sondern sagte ihm schnell, ohne Vorbereitung, ein paar Worte ins Ohr.

Auf der Stelle veränderte sich sein eben noch freundlicher Gesichtsausdruck, eine dunkle Röthe stieg auf seine Stirn und, sich hart abwendend, sagte er mit einem Ausdruck von Hohn und bitterer Verachtung: „Ein Bettler mehr!“ Zugleich ließ er den Ledersack schwer auf die Tischplatte niederfallen, daß die darin enthaltenen Silberstücke laut klirrten. „Wenn ich einmal zu derselben Zunft gehöre,“ fuhr er in gleichem Tone fort, den Ledersack aufnestelnd, „dann klopfe wieder an. Doch damit hat’s, wie Du siehst, gute Wege!“

Nun schüttete er die dicken Thaler mit einer solchen barschen Bewegung auf den Tisch aus, daß eine ganze Anzahl davon über den Rand zu Boden fiel und klirrend in der Stube umherrollte.

Frau Barbla war zurückgefahren, ihr Antlitz hatte sich entfärbt und mit zusammengeschlagenen Händen, weit offenen Augen starrte sie ihren Mann an, als ob sie an das, was sie da hatte hören müssen, nicht glauben könnte. Endlich kam ihr das bittere Verständniß und sie hob wehklagend die Arme gen Himmel. „Ist es denn möglich? Der eigene Vater!“ rief sie in Jammertönen. „O Gian, Gian, verblendet Dich der Geldteufel so, daß Du unsern Herrgott nicht mehr fürchtest und sein Gericht, das über einen Unmenschen wie Dich hereinbrechen muß? Gehe in Dich!“ flehte sie ihn mit dringender Herzensangst an, „komm! Du bist ja nicht böse, ich weiß es, nur rasch und zornig, und Du kannst nicht einlenken. Laß mich es für Dich thun! Gieb mir die Hälfte von dem Geld dort, daß ich es unserer Aninia bringe, die es wahrlich nothwendig haben wird, laß mich ihr dazu sagen –“

„Weib,“ schrie jetzt der Cavig, auf sie zufahrend, vor Zorn kirschbraun im Gesicht „noch ein einziges Wort und –“ er hob drohend die schwere Faust.

Aber die Frau schrak nicht mehr zurück wie sonst. Blaß bis in die Lippen und regungslos sah sie ihn an und sagte zuletzt mit einer stählernen Entschlossenheit, die seine geballte Faust sinken machte:

„So nehme ich unsern Herrgott zum Zeugen, daß ich nicht länger Deinen Willen thun kann. Ich habe Dich Unrecht auf Unrecht häufen sehen und habe dazu geschwiegen, jetzt aber schreit Deine Sünde zum Himmel, und ich will nicht länger daran mitschuldig sein! Deinen gottlosen Schwur hast Du erfüllt und Dein Kind zur Bettlerin gemacht, Dein Weib will nichts mehr vor ihm voraus haben. Von heute an gehe ich zu den beiden – wenn auch mit leeren Händen, Gott sei’s geklagt! Aber Aninia soll wissen, daß sie wenigstens noch eine Mutter hat. Versuche nicht, es mir zu wehren,“ rief sie, als er eine Bewegung machte, „sonst verlasse ich Dein Haus für immer. Du kennst mich und weißt, daß ich Wort halte!“ Damit verließ sie, ohne noch einmal umzublicken, die Stube.

Verständnißlos starrte Madulani ihr nach, dann zuckte er verächtlich die Achseln und begann, die zu Boden gekollerten Silberthaler mühsam aus den Ecken hervorzusuchen und zusammenzuraffen. –

* * *

Es ist ein herrliches Fleckchen Erde, das stille Ruheplätzchen unter den Arven der Alp Surley, etwa eine Stunde von dem Crestaltahügel entfernt und einige hundert Fuß höher als dieser gelegen. Weit breitet sich die grüne Matte aus, mit bunten Blüthen übersät bis zu den Felsschroffen, die, steil ansteigend, die mächtigen Schnee- und Eisfelder der Firnen auf ihren Schultern tragen.

Mitten in der Matte erhebt sich, wie von kundiger Menschenhand gepflanzt, die kleine Baumgruppe, von Arven, einigen Rothtannen und Lärchen gebildet, und zwischen ihnen drängen sich dichte Gebüsche von Alpenrosen. Bemooste Steinblöcke sind als ungeheure Ruhebänke durch das ganze Thal verstreut, jeder bietet eine andere herrliche Ausschau. Zur Rechten steigt der zackige, eisbedeckte Piz Surley empor; links erhebt sich der freundlichere Munt Arlas, und über diesem in ziemlicher Ferne, doch durch die Klarheit der Luft dem Auge nahe gerückt, thürmt sich der gewaltige Piz Corvatsch auf, dessen weite Schnee- und Eisfelder in der Sonne wie Silber glänzen und strahlen. Doch näher der Baumgruppe und zwischen den beiden erstgenannten Bergriesen befindet sich eine weite, tiefe Einsattlung, die wie die Alpe mit einer frischgrünen blumigen Wiese überdeckt ist. Ein Bächlein schießt ungestüm hindurch zur Tiefe, recht vernehmlich rauschend, und seine Wasser schäumen, spritzen hoch auf an den Felsblöcken, die es auf seinem Wege trifft. Und an solchen fehlt es nicht, von oben bis unten liegen sie in der grünen Schlucht zerstreut. Alles deutet darauf hin, daß das jetzt im Hochsommer so kleine Bächlein im Frühjahr, wenn Schnee und Eis schmelzen, die großen Felssteine nicht mehr umgehen wird, sondern, zum Wildbach angeschwollen, sie gewaltsam zu Thal führen kann. Es ist dies das Surleywasser, und die Einsenkung, in der es entspringt, die Fuorcla da Surley.

Die wilde Bergherrlichkeit der Surley-Alpe wird an Schönheit aber noch übertroffen durch den Ausblick der andern Seite auf das Thal, auf die Silberspiegel der Seen von Sils, Silvaplana und Campfèr, die dunkeln Nadelwälder und verstreuten Häuser und Hütten der Dörfer an ihren Ufern. Diesseits, am Fuße der Fuorcla, erblickt man das Dorf Surley mit seinen weitzerstreuten Wohnstätten und der kleinen Kirche, überragt von dem bewaldeten Crestaltahügel, der weit in den See von Campfer hineinragt. Von drei Seiten wird dies herrliche Bild eingeschlossen durch eine Kette gewaltiger, himmelanstrebender Felsmassen, die mit ihren zackigen Eishäuptern gleichsam die Wächter und Schützer des einsamen Hochthales bilden. –

Wahrlich, es ist ein herrliches, schönes Fleckchen Erde, die Arvengruppe der Alp da Surley!

Dies fühlten zwei glückliche Menschenkinder, denen das Ruheplätzchen während des Sommers, da unsere Geschichte spielt, zum Lieblingsaufenthalt geworden war. Sich umschlungen haltend, saßen sie jetzt auf einem der bemoosten Felssteine und blickten trunkenen Auges in die Herrlichkeit zu ihren Füßen, die den beiden wie ein Paradies dünken wollte, eigens geschaffen für sie und ihr junges Glück.

Sie waren allein, und auch aus der Tiefe herauf drang keine Spur von einem Menschengetriebe. Eine so feierliche Ruhe herrschte in dem weiten, sonnigen Hochthal, ein so wolkenloser blauer Himmel wölbte sich über der majestätischen Einsamkeit seiner Berge und Felsmassen, daß dies alles, verklärt von ihrer glückseligen Liebe, ihnen wohl den Eindruck machen konnte, als lebten sie in einem Erdenparadiese.

Sie waren allein, Beppo und die schöne goldblonde Aninia – oder doch so gut wie allein, denn die große Herde hochbeiniger Schafe, die zu ihnen gehörte, weidete entfernt von ihnen theils in der Fuorcla, theils auf den Matten der jenseitigen Höhen, wo auch hoch oben ein kaum dem Knabenalter entwachsener Bursche mit einem großen zottigen Hunde zu erkennen war. Der Junge, in einer Felljacke so zottig wie sein Hund, hatte sich in das duftende Gras hingestreckt; den breitrandigen Filz ins Gesicht gedrückt, sich vor den Strahlen der Sonne zu schützen, schlief er, während sein wolfsartiger Hund, die Vorderpfoten fest aufgestemmt, die wohl mehrere hundert Stück starke Herde für seine beiden Herren bewachte, die im Augenblick ganz anderes zu thun hatten.

Beppo, der noch immer seine Jacke von Bärenfell trug, hielt den Kopf seines jungen schönen Weibes eng an seine Brust gepreßt, und das hübsche, lebhaft geröthete Gesichtchen Aninias, mit den dunklen Augen und dem Strahlenkranz des goldblonden Haars, sah reizend aus dem dunklen Zottelpelz hervor.

So saßen sie lange in stummem Umfangen und sahen in das Thal nieder.

(Fortsetzung folgt.)




[571]

Der Tanz in Deutschland.

Kulturhistorische Skizze von Hermann Streich.

Die vergleichende Völkerkunde lehrt uns, daß der Tanz überall in religiösen Gebräuchen seinen Ursprung hat; am besten wird uns diese Thatsache ja durch das Beispiel der Völker des klassischen Alterthums, der Griechen und Römer, veranschaulicht. Daß dem auch bei unseren germanischen Vorfahren so war, wird uns merkwürdigerweise durch keine unmittelbare Mittheilung überliefert; nur von Waffentänzen weiß der Römer Tacitus aus dem ersten Jahrhundert nach Christus zu berichten. Aber Spuren davon, daß auch bei unseren Altvordern der Gebrauch heimisch war, gottesdienstliche Verrichtungen durch Tänze zu verherrlichen, haben sich doch noch bis heute erhalten.

So war es z. B. in Mecklenburg noch bis in die jüngste Zeit Sitte, bei der Ernte ein Aehrenbüschel ungeschnitten so lange stehen zu lassen, bis das ganze Fruchtfeld abgeerntet war, worauf die Schnitter um die noch stehenden Aehren herumtanzten und dabei sangen:

„Wode, Wode, hol dinen Rosse nu Voder!“
(„Wodan, Wodan, hol deinem Rosse nun Futter!“)

Dieser Brauch herrschte auch in anderen Gegenden in ähnlicher Weise und das Aehrenbüschel hieß „Wodans Antheil-Strauß“.

Ein noch deutlicherer Beweis liegt darin, daß mit dem Auftreten des Christenthums unter den Germanen sofort auch das Tanzen als ein wesentlicher Theil ihres christlichen Gottesdienstes sehr eifrig ausgeübt wurde. Es ist aber erwiesen, daß die christlichen Glaubensboten sich bei Einführung gottesdienstlicher Handlungen möglichst eng an diejenigen Gebräuche hielten, die von den heidnischen Priestern bei ihren Opfern und andern Verehrungen ihrer Götzen beobachtet wurden.

Wie hold unsere Vorfahren dem Tanze waren, davon geben auch die altgermanischen Sagen Zeugniß, in denen von tanzenden Elfen, Nixen, Riesen und Zwergen gar oft die Rede ist, und ein Volk, das in seinen Sagen Götter und Halbgötter, Menschen und Thiere, ja sogar die Hausgeräthe tanzen läßt, hat gewiß den Tanz nicht nur bei kriegerischen Festen und bei heiligen Opfern, sondern auch bei allen häuslichen Feierlichkeiten, bei Hochzeiten und Todtenfesten ausgeübt.

Die gottesdienstlichen Tänze fanden in den Kirchen statt. Dort war für diesen Zweck ein eigenes, erhöhtes Podium errichtet, welches den Namen „Chor“ erhielt und von der übrigen Kirche abgesondert war. Auf diesem Podium tanzten die Andächtigen und die Priester unter Vortanz der Bischöfe an den Sonn- und Festtagen und wie jedes Fest seine eigenen Lobgesänge hatte, so hatte es auch seine eigenen Tänze.

Mit den jetzt üblichen Gesellschaftstänzen hatten diese religiösen Tänze freilich gar keine Aehnlichkeit. Es waren theils pantomimische Aufführungen, in welchen Begebenheiten oder Gleichnisse der biblischen Geschichte dargestellt wurden, theils „Ringeltänze“, eine Art Reigen mit ernsten würdevollen Bewegungen, wobei Tanz, Wort und Melodie unzertrennlich verbunden waren.

Bald arteten aber diese Tänze aus. Da sie gewöhnlich bei Nachtzeit gehalten wurden, so gaben sie mitunter auch Anlaß zu Ausschweifungen und Unordnungen, die endlich einen so hohen Grad erreichten, daß die Geistlichkeit, um das Uebel mit der Wurzel auszurotten, zum Verbot der Tänze in den Kirchen schritt. Insbesondere nahm der Apostel der Deutschen, Bonifacius, den Kampf gegen das zur Unsitte gewordene Tanzen mit dem ihm eigenen Feuereifer auf, aber nur langsam thaten die Gegenmaßregeln der Geistlichkeit ihre Wirkung. In vielen Gegenden, namentlich am Rhein, hielt das Uebel noch lange an, und noch im Jahre 1617 mußte der Erzbischof von Köln dagegen einschreiten.

Dem Volke war aber das Tanzen eines seiner liebsten Vergnügen geworden, welches es sich nicht ganz und gar nehmen lassen mochte, und als der Tanz aus den Kirchen verdrängt wurde, schlug man außerhalb derselben, ja sogar auf den Kirchhöfen, große Leinwandzelte auf, die man Ballatoria oder Chorearia nannte und unter welchen nun, unbekümmert um Regen oder Sonnenhitze, lustig getanzt wurde.

Aber dort, neben und vor den Kirchen, arteten die Tänze, der Aufsicht der Priester entbehrend, noch weit mehr in Unziemlichkeiten und Rohheiten aus, und das im Jahre 1298 zu Würzburg gehaltene Konzil mußte auch diese Tänze und Tanzspiele verbieten; um das Verbot wirksamer zu machen, wurde jedem Uebertreter desselben eine dreijährige Bußstrafe angedroht.

Draußen auf den Dörfern wurde indessen nach wie vor im Freien getanzt, was gewöhnlich unter einer großen Linde geschah, und hier lebte so mancher altheidnische Tanz in den Ringelreigen wieder auf, sich bis in unsere Zeit erhaltend; in vielen Kinderspielen sind, allerdings durch die Länge der Zeit sehr entstellt, diese Tänze noch deutlich erkennbar.

Das ganze Mittelalter hindurch hielt das Volk an jenen heidnischen Tanzresten fest, die aber leider nach und nach zu zügellosen Ausschreitungen führten. Häufig kam es auch zu blutigen Raufereien auf den Tanzplätzen, und da jeder Bauer bewaffnet zum Tanze ging, so geschah es oft, daß förmliche Gefechte die Festtage beschlossen. So wird einmal erzählt, daß in Oesterreich eines geringfügigen Anlasses wegen bei einem Tanze Streit entstand, der über dreißig Bauern das Leben kostete. Vergeblich wandte sich eine große Anzahl obrigkeitlicher Erlasse gegen diese Unordnungen.

Die Namen vieler Tänze aus dem Mittelalter finden sich in den Minnesingerausgaben; die meisten klingen gar sonderbar und seltsam, so z. B. Hoppaldei, Firlefanz, Rimpfenreie, Gimpelgampel etc., Namen, die wahrscheinlich aus dem Rhythmus der verschiedenen Tänze entstanden sein dürften.

In den größeren Städten, namentlich aber in den Freien Reichsstädten, gestalteten sich die Tanzunterhaltungen in weit erfreulicherer Weise, und dort erst erhielt der deutsche Tanz in den Bürger- oder Geschlechtertänzen seine edlere Ausbildung, die ihn zu einem sittlichen und bildenden Vergnügen machte.

Jede Ausgelassenheit wurde in strengen Tanzordnungen untersagt, und die unbedeutendste Handlung, welche Ehrbarkeit und guter Sitte widersprach, wurde unnachsichtlich geahndet; dafür wurde der Tanz aber nicht nur auf den Rathhäusern und in besonderen Tanzhäusern in Anwesenheit der angesehensten Bürger und Patricier geübt, sondern er wurde jetzt sogar hoffähig. Auf den Burgen und Schlössern des Adels und in den Residenzen der Fürsten gehörte zu jedem frohen Feste ein Hoftanz und der Glanz der Turniere wurde durch zierliche anmuthige Tänze erhöht.

Welch peinliche Ordnung namentlich in den großen Städten bei den Tanzveranstaltungen galt, zeigt die in vielen Städten herrschende Sitte, daß von den Tänzern „weder Wehrlein noch Sporn“ getragen werden durfte, ebenso verstieß es sehr gegen Sitte und Anstand, wenn ein Tänzer, ohne seinen Mantel über die Schultern zu hängen, an einem Reigen theilnahm. Dieser gewiß ebenso sonderbare wie lästige Brauch findet darin seine Erklärung, daß der Mantel das Ehrenkleid des deutschen Bürgers bildete, ohne welchen er weder vor der Obrigkeit noch bei Festlichkeiten erscheinen durfte.

Bei fürstlichen Hochzeiten kam der sogenannte Fackeltanz in Aufnahme. Wann und wie dieser Tanz entstand, läßt sich nicht erweisen, gewiß ist nur, daß er auch bei den Römern bekannt war und wahrscheinlich von diesen nach Deutschland gebracht wurde. Bei dem Fackeltanze, der bis in die jüngste Zeit herein noch bei deutschen Fürstenhochzeiten zur Aufführung kam, so z. B. bei der Vermählung des Prinzen Friedrich Leopold von Preußen mit der Prinzessin Louise Sophie zu Schleswig-Holstein am 24. Juni 1889, mußten dem tanzenden Brautpaare zwölf Pagen in festlicher Kleidung, Windlichter tragend, voranschreiten, während der Hofmarschall das fürstliche Brautpaar mit dem Marschallsstabe „aufführte“. Dem Fackeltanze folgte dann später gewöhnlich noch ein anderer Tanz, bei welchem die fürstliche Braut mit verbundenen Augen in einen Kreis tanzender Paare geführt wurde. Denjenigen drei ledigen Personen, welche die Braut aus den um sie herumtanzenden Paaren erhaschte, sagte man voraus, daß sie in demselben Jahre noch in den Ehestand treten würden.

In vielen Gegenden ist bei Hochzeitsfeierlichkeiten heute noch der sogenannte Ehrentanz üblich, welcher gewöhnlich darin besteht, daß das Brautpaar zuerst ganz allein einen Tanz ausführt; erst dann, wenn dies geschehen ist, beginnt der allgemeine Tanz der Hochzeitsgäste. Da und dort ist dagegen auch Brauch, daß noch weiteren Personen, so z. B. den Brauteltern, den Braut- oder [572] Kranzjungfauen und den Brautführern, ebenfalls ein Ehrentanz zusteht. In Magdeburg war es Sitte, daß der Geistliche bei dem Hochzeitstanze anwesend war und sogar die Braut zu ihrem Ehrentanze anführte, wie man in früheren Zeiten überhaupt keinen Anstoß daran nahm, wenn Geistliche, was namentlich bei fürstlichen Festlichkeiten sehr oft vorkam, in den Tanzsälen zugegen waren. Ist doch in einigen Chroniken zu lesen, daß Geistliche entweder selbst tanzten oder zum Tanz die Fiedel strichen.

Zum Tanze wurde in Deutschland von den frühesten Zeiten an und das ganze Mittelalter hindurch gesungen, und zwar sang gewöhnlich nur eine Person, während die anderen nur den Kehrreim mitsangen. Mit dem Gesange wechselten dann die Spielleute ab; früher waren dies nur Trommler und Pfeifer, später kamen dann noch Geigen, Zinken, Posaunen, Trompeten und die Drehleier sowie die Laute hinzu und erst mit dem 18. Jahrhundert erhielt die Tanzmusik eine Zusammenstellung von Instrumenten, wie dies in der Hauptsache heute noch üblich ist; gleichzeitig erschien auch das Klavier in den Tanzsälen.

Bis zum Eintritte der Reformation hatte sich sowohl auf dem Lande, als auch in den Städten eine Unzahl charakteristischer Tänze herausgebildet, die meisten derselben gingen jedoch in den verheerenden Zeiten des Dreißigjährigen Krieges spurlos verloren. Immerhin ist aber noch eine solch große Anzahl auf unsere Zeit überkommen, daß man mit der Beschreibung aller ganze Bücher füllen könnte; hat doch jedes Land und jeder Gau seine eigenen Tänze.

Zu einer Zeit, wo die Innungen in höchster Blüthe standen, also vom 15. Jahrhundert an, hatte auch jede Innung ihren eigenen Tanz, der indeß nur einmal im Jahre, an den sogenannten Jahrtägen der Innungen getanzt wurde. In manchen Städten genossen aber auch einige Innungen das meist von den Kaisern ihnen verliehene Recht, an bestimmten Tagen öffentlich auf Straßen und Plätzen gewisse Tänze aufführen zu dürfen, welche übrigens nur von den Gesellen und Lehrjungen ausgeführt wurden, während die Frauen und Töchter der Handwerksmeister sich nicht daran betheiligten. Diese Zunfttänze waren besonders in der alten Reichsstadt Nürnberg heimisch, wo sämmtliche Zünfte ihre eigenen Tänze hatten. Besonders hervorgehoben zu werden verdienen der Schwerttanz der Messerschmiede in Nürnberg, Frankfurt, Augsburg, Braunau und der Fleischer in Zwickau, der Fahnentanz der Nürnberger Tuchmacher u. a. m.

Der bekannteste unter den Handwerker- oder Zunfttänzen dürfte wohl der Schäfflertanz sein, der sich bis heute erhalten hat und von dem die „Gartenlaube“ 1879, Nr. 6 eine anschauliche Abbildung gebracht hat. Er wird von den Münchener Böttchergesellen infolge eines kaiserlichen Privilegiums alle sieben Jahre im Fasching aufgeführt. Die Böttcher (in Bayern auch Schäffler und in Schwaben Kübler genannt) erscheinen bei diesem Tanze in der Tracht der Edelknaben zuerst vor der Kgl. Residenz, wo sie, mit Buchszweigen und farbigen Bändern verzierte Reifen in den Händen tragend, unter der Melodie eines eigenen Liedes ihren Tanz, den sie den „großen Achter“ nennen, aufführen. Nach Beendigung des Tanzes stellt jeder ein gefülltes Weinglas in seinen Reif und schwingt den letzteren über seinem Haupte im Kreise herum, wobei weder das Glas zu Boden fallen, noch der Wein verschüttet werden darf; sodann wird auf den Regenten die „G’sundheit“ ausgebracht und das Glas leer getrunken. Unter Vorantritt einer Musikkapelle treten die Schäffler alsdann den Marsch vor die Wohnungen anderer angesehener Personen und schließlich vor eine Reihe Wirthshäuser an, wo jedesmal der Tanz wiederholt wird. Dieser Tanz, der schon oft Malern Stoff für ihre Darstellungen geliefert hat, wird auch noch in einigen anderen Städten, so namentlich in Nürnberg und Salzburg, zu gewissen Zeiten aufgeführt, als einziger Ueberrest echter volksthümlicher Tänze.

Die Ausschreitungen, zu welchen das Tanzwesen gegen das Ende des Mittelalters geführt hatte, riefen im Reformationszeitalter eine förmliche Literatur gegen den „Tantzteuffel, d. i. wider den leichtfertigen unverschempten Welttantz und sonderlich wider die Gottszucht- und ehrvergessene Nachttentze“[WS 1] hervor. Dieser Krieg dauerte fort bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts. Wie die Deutschen damals in allem die Franzosen nachahmten, so thaten sie es auch mit den Tänzen: die alten deutschen Reihentänze und Schleifer verschwanden an den Höfen und in den Städten, um den französischen Menuetten, Sarabanden, Gavotten, Müsetten etc. Platz zu machen, die sich theilweise bis in das 19. Jahrhundert hinein erhielten, wo sie wieder von anderen fremden Tänzen, z. B. Ecossaise, Redowa, Imperial, Anglaise etc. verdrängt wurden, die dann abermals den modernen Rundtänzen Platz machen mußten. Neben den fremden Tänzen Polonaise, Mazurka, Schottisch, Polka, Lancier und Française erfreuen sich zwei echt deutsche Tänze in der Neuzeit besonderer Gunst, es sind dies der Ländler und der Walzer. Letzterer, der mit Recht als echt deutscher Nationaltanz bezeichnet wird, entstand wahrscheinlich aus dem alten Ländler. Von alten Walzermelodien hat sich bis jetzt namentlich das bekannte Spottliedchen „O du lieber Augustin“ erhalten, das auf einen Sackpfeifer Augustin, der zu Ende des 17. Jahrhunderts in Wien lebte, gedichtet wurde. Zuerst gewöhnlicher Volkstanz, wurde der Walzer vom Jahre 1787 an in Deutschland allgemein üblich und in der Neuzeit ist er durch Lanner, den älteren Strauß u. a. zum beliebtesten Tanze geworden.

Ehe wir unsere Skizze schließen, müssen wir noch der ländlichen Tänze gedenken, die zwar leider immer rascher auszusterben beginnen, in denen aber solch charakteristische Züge echter Volkssitte sich wiederspiegeln, daß manche davon werth wären, der Vergessenheit entrissen zu werden.

Auf dem Lande wurde früher ebenso wie in den Städten an allen Sonntagen, mit Ausschluß der sog. geschlossenen Zeiten, die heute noch beachtet werden, getanzt; die hauptsächlichsten Tanzgelegenheiten waren aber neben Hochzeiten Kirchweihe und Fastnacht, die Pfingstzeit mit den Maitänzen, das Erntefest, das Johannisfest und endlich der St. Katharinentag als letzter Tanztag im Jahre.

Wohl einzig in seiner Art war ein in Langenberg bei Gera üblicher Tanz, welcher der „Fronentanz“ genannt wurde. Dieser Tanz, zu welchem sich die Bauern, sowohl Männlein als Weiblein, aus den umliegenden Ortschaften einfinden mußten, fand auf dem Markte unter einer alten Linde statt und wurde von dem Stadt- oder Landknechte mit einem Mädchen, das er aus den Umstehenden auswählte, eröffnet. Hatte nun der Stadtknecht seinen Umtanz gehalten, so waren die Bauern verpflichtet, ebenfalls mit Tanzen zu beginnen und ohne Ruhepause solange fortzutanzen, bis sie nebenher noch ein Faß Bier ausgetrunken hatten. Dieser Tanz, bei welchem auch der Stadt- und Landrichter zu erscheinen hatte, mußte jedes Jahr am dritten Pfingsttage abgehalten werden, gleichviel ob es regnete oder stürmte, ob gute oder schlechte Zeiten über das Land gekommen waren. Den Ursprung dieses Tanzes leitet man bis in das 10. Jahrhundert zurück, und zwar erzählt die Sage, daß Heinrich der Vogler an einem dritten Pfingstfeiertage durch Langenberg gekommen sei, um nach Leipzig zu reisen. Außerhalb der Stadt blieb nun sein Fuhrwerk an einer Steige stecken, so daß der König Vorspann verlangen mußte, welcher ihm aber verweigert wurde, da sich jung und alt eben unter einem Bäume vergnügte und niemand von dem Tanzplatze weggehen mochte. Hierüber sei nun Heinrich so sehr erbost worden, daß er einen Fronentanz angeordnet habe, welcher alljährlich am dritten Pfingsttage abgehalten werden mußte.

Andere eigenthümliche Bauerntänze waren der Siebensprung, welcher nur von einem Paar getanzt wurde und wobei der Bursche sich niederknieete und in sechs weiteren Stellungen (Sprüngen) allmählich so weit auf den Boden kam, daß er denselben mit der Nase oder Stirn berührte, ferner der Hahnentanz, der Holzäpfeltanz, der Hammeltanz, der Schuhplattltanz und noch viele andere. Ueberdies haben die Bauern in vielen Gegenden bei Hochzeiten und Erntefesten noch besondere Tänze. Die früheren Tänze der Bauern bestanden gewöhnlich in Ringelreihen, die aber längst aufgegeben und vergessen sind – andere Zeiten, andere Sitten!

Ob die Tänze der Gegenwart etwas Schönes seien oder nicht, darüber sind die Ansichten getheilt. Mancher Lobredner der alten Zeit hegt wohl, wenn er heutzutage in einem Tanzsaal aufmerksam die tanzenden Paare betrachtet, wie sie in rasender Eile dahinstürmen, hochgeröthet und fliegenden Athems, den aufrichtigen Wunsch, daß der deutsche Tanz wieder zur alten Strenge und Einfachheit zurückkehren möchte. Andererseits aber wird man doch auch nicht verkennen dürfen, daß die heute üblichen Rund- und Kontretänze, richtig und sinngemäß betrieben, in der Erziehung der Jugend zur Anmuth und Gewandtheit der Bewegung, in der Weckung des Sinns für Maß und Ordnung, für Rhythmus und Harmonie eine keineswegs zu verachtende Rolle spielen.




[573]

Das Siebente deutsche Turnfest in München.

Von Prof. Dr. C. Euler. Mit Zeichnungen von Fritz Bergen.

Massen-Freiübungen.

Siebzig Jahre sind es her, da wurde das eben erst im Entstehen begriffene deutsche Turnen wieder gewaltsam vernichtet; seinem Begründer Friedrich Ludwig Jahn wurde der Prozeß gemacht, weil er die „höchst gefährliche Lehre von der Einheit Deutschlands“ aufgebracht. Siebzig Jahre! Und welche Wandlungen auch in Bezug auf das Turnen! Bereits 1844, zwei Jahre nachdem Friedrich Wilhelms IV. Königswort es wieder neu belebt hatte, durfte Jahn die allbekannten Worte äußern: „Das Turnen, aus kleiner Quelle entsprungen, wallt jetzt als freudiger Strom durch Deutschlands Gauen. Es wird künftig ein verbindender See werden, ein gewaltiges Meer, das schirmend die heilige Grenzmark des Vaterlandes umwogt.“ – Jahn soll einmal geäußert haben, er sei fünfzig Jahre zu früh geboren worden, d. h. seine Anschauungen über das zu einigende deutsche Vaterland seien um fünfzig Jahre verfrüht gewesen; was hätte er, fünfzig Jahre jünger, alles noch erlebt, er, dem die Liebe zu seinem Vaterland eine „Brautliebe“ gewesen und für sein Leben geblieben ist!

Eine stolze, aber berechtigte Freude ist es für die Turner, zumal die älteren, welche die zweite schwere Krisis des deutschen Turnens vor fünfzig Jahren noch erlebt, sie überwinden geholfen und seitdem gekämpft, gearbeitet und gerungen haben, das Turnen immer mehr zu einem Gemeingut des deutschen Volkes zu machen – zu sehen, wie dieses Turnen mehr und mehr feste Wurzeln faßt und in gesundester Entwickelung wächst und gedeiht.

Jedes Jahr bekundet einen Fortschritt. Der Verband der deutschen Turnerschaft umfaßt nach neuester Schätzung mit den Zöglingen gegen 400 000 Turner in 3843 Vereinen!

Wie es jetzt um das deutsche Turnen steht, das hat das Münchener Fest wieder in erfreulicher Weise gezeigt. Es ist aber nicht allein das, was geleistet wurde in turnerischem Können und Vermögen, nicht allein die begeisterte Theilnahme der Gesammtbevölkerung einer großen Stadt, es ist auch die Stellung, welche das Herrscherhaus zu demselben genommen hat, die dem Fest seine große Bedeutung verleiht. Der Herrscher des Landes war Protektor, der Sohn, der künftige Regent, Ehrenpräsident des Festes, die Prinzen, die Prinzessinnen bis zu den jüngsten hinab waren eifrigste Zuschauer und Zuschauerinnen der turnerischen Uebungen, welche sie zum großen Theil selbst einst gepflegt haben, bezw. noch pflegen

Es ist das siebente derartige Fest, an welchem Alldeutschland theilgenommen hat. Das letzte fand 1885 in Dresden statt; auch damals hat ihm die Gunst des Landesherrn nicht gefehlt, und der greise Kaiser ließ den ihm zugesandten telegraphischen Gruß dankend mit dem Wunsche erwidern, „daß die deutsche Turnkunst als eine bildende Pflanzstätte für die Wehrhaftigkeit der Nation in ihrer Entwickelung auch ferner kräftig fortschreiten möge.“ Schon in Dresden wurde München als nächster Festort neben Nürnberg in Aussicht genommen. Die endgültige Wahl fiel auf erstere Stadt; die Münchener Turnerschaft gab selbst dazu Anregung.

Als Festtage wurden die Tage vom 28. bis 31. Juli bestimmt. Es wurden die allgemeinen Freiübungen festgesetzt; der technische Unterausschuß der deutschen Turnerschaft stellte die Pflichtübungen für das Wettturnen an den Geräthen: Reck, Barren und Pferd auf; die Kampfrichter, 134 an der Zahl, wurden gewählt. – Durch alle Turnvereine ging ein gewaltiges Regen und Sichbewegen. Möglichst viele wollten sich am Feste betheiligen; und wer sich seiner turnerischen Leistungsfähigkeit bewußt war, der gedachte auch in den Wettkampf einzutreten und um den Siegespreis zu ringen. Leicht war es nicht gemacht; die vorgeschriebenen Uebungen gehörten zu den schwierigsten, welche eine allseitig ausgebildete Körperkraft und Gewandtheit voraussetzten; eine besondere „Kürübung“ mußte sich jeder aussinnen. Das Stabspringen mußte tüchtig gepflegt werden; das Steinstoßen beanspruchte gewaltige Spannkraft der Muskeln und im Wettlauf mußte in kürzester Frist das höchste an Schnelligkeit erreicht werden. An den allgemeinen Freiübungen sollten und wollten sich möglichst viele betheiligen; auch sie wurden eifrigst geübt.

Als Festplatz wurde die Theresienwiese mit dem Koloß der Bavaria und der Ruhmeshalle im Hintergrunde gewählt. Dann ergingen Aufrufe an die Vereinigungen der deutschen Turnerschaft zu zahlreichem Besuche des Festes, auch die Turner des Auslandes wurden aufs herzlichste eingeladen. Die gesammte Einwohnerschaft Münchens wurde um die Mitwirkung zum würdigen Gelingen des Festes gebeten, durch Zeichnung zu dem Garantiefonds, besonders aber durch die Gewährung von Freiquartieren. Die Meldungen zum Feste gingen ein, immer zahlreicher kamen sie, die Zahl der Angemeldeten stieg in die Tausende; schließlich konnte festgestellt werden, daß etwa 20 000 Turner zu den Festtagen in München eintreffen würden. Dank dem Entgegenkommen aller, auch der Behörden, gelang es, alle unterzubringen. In 26 Schulhäusern wurden über 10 000 Turner einquartiert und mit allem Nothwendigsten versehen. Die Wettturner, deren über 800 angemeldet waren, erhielten möglichst Einzelquartiere, um [574] die nöthige Ruhe und Schonung für die heißen Tage des Kampfes zu haben.

Am 20. Juni erschien die erste Nummer der „Festzeitung“, von J. Ritter von Schmaedel redigirt, aufs trefflichste mit Aufsätzen und künstlerischen Gaben ausgestattet. In Tausenden von Exemplaren versandt, gab sie über den Fortgang der Vorbereitungen zum Feste genaueste Auskunft.

Die Festwoche begann für München bereits am Sonnabend den 21. Juli mit einem Turnen des Turngaues München, dem auch der Ehrenpräsident Prinz Ludwig beiwohnte, welcher, von dem Bürgermeister Dr. von Widenmayer begrüßt, in seiner Erwiderung den Wunsch aussprach, daß das Fest „zur Verherrlichung ganz Deutschlands, Bayerns und dessen Hauptstadt“ gereichen möge, und alsdann das Siebente deutsche Turnfest für eröffnet erklärte. Zu dem am Mittwoch den 24. Juli stattfindenden Turnen von 3000 Volksschülern hatten sich bereits nicht wenige Gäste, besonders Turnlehrer, eingefunden. Der 27. Juli brach an; alles war bereit, die Eisenbahnen hatten namhafte Fahrpreisermäßigungen gewährt, und von früh ab rollten die Sonderzüge mit fröhlichen Turnerscharen von allen Seiten heran, von Mitgliedern des Festausschusses mit herzlicher Ansprache und einem Willkommentrunk empfangen. Ein Turnverein (Tölz) kam sogar auf einem Floß die Isar herabgeschwommen. Leider war das Wetter sehr ungünstig. Die Berliner z. B. fuhren unter strömendem Regen in den Bahnhof ein. Und dieses Wetter hat auch die folgenden Tage angehalten, den Festplatz fast ungangbar gemacht, den Hauptverkehr und auch das Turnen in die Festhalle gebannt, und daß trotzdem das Fest als ein besonders auch turnerisch gelungenes bezeichnet werden kann, verdankt es in erster Linie den trefflichen Anordnungen des Festausschusses, aber auch der musterhaften Disciplin und dem willigen Gehorsam der Turner sowie der trefflichen Haltung des Münchener Publikums.

Den Verlauf des Festes eingehend zu schildern, kann hier nicht die Aufgabe sein. Es möge an dieser Stelle nur einiges hervorgehoben werden. Zunächst ist des Empfangsabends am 27. Juli in der Festhalle zu gedenken, die trotz ihrer bedeutenden Größenverhältnisse für solche Massen doch bei weitem nicht ausreichte. In der Mitte war ein Raum freigelassen für die Ehrengäste und den Ausschuß der Turnerschaft und der Stadt München. Laute Hochrufe verkündeten die Ankunft des Ehrenpräsidenten Prinzen Ludwig. Er trat ein, nicht ohne Mühe wurde eine Gasse freigemacht, die in den mittleren Raum führte. Hier ließ er sich an einem der kleinen runden Tische nieder, rechts und links saßen der Ehrenvorsitzende der deutschen Turnerschaft, Rechtsanwalt Georgii aus Eßlingen, und der stellvertretende Vorsitzende, Professor Böthke aus Thorn (der erste Vorsitzende Direktor A. Maul aus Karlsruhe war durch schwere Familientrauer am Besuch des Festes gehindert), ferner der Geschäftsführer der deutschen Turnerschaft, Dr. Goetz aus Lindenau-Leipzig, der zweite Vorsitzende, Verlagsbuchhändler Rudolf Lion aus Hof, der erste Bürgermeister von München, Dr. v. Widenmayer, und andere. Als die Musik ihr Stück beendet hatte, erhob sich der Prinz und hielt unter lautloser Stille die unsern Lesern durch die Tagespresse längst bekannte Ansprache, welche den tiefsten Eindruck auf die Zuhörer machte, ihren begeisterten Beifall erregte und freudigen Wiederhall in ganz Deutschland und besonders auch in Oesterreich gefunden hat. Der Prinz sprach mit Feuer und fester Bestimmtheit, offenbar jedes Wort erwägend und durch Handbewegungen gleichsam bekräftigend.

Nicht zu beschreiben ist der begeisterte Beifall, der die Halle durchbrauste.

Musterriegenturnen am Pferd.

Und als Georgii dann die Rednertribüne bestieg und, betonend, daß gerade die deutschen Turner seit 1860 mit ihrem ganzen Schaffen und Thun und Trachten dahin gestrebt hätten, aus dem deutschen Volk ein ganzes und einiges zu machen und ein wehrhaftes und tüchtiges Geschlecht für alle Zeiten zu erziehen – auf den Prinzen ein dreifaches donnerndes Hoch ausbrachte, da wollte der Jubel kein Ende nehmen.

Noch andere tüchtige Reden wurden gehalten; besonders zeichnete sich die des Bürgermeisters von Widenmayer durch Frische und Kernigkeit aus; ihm erwiderte Professor Böthke. Eine Deputation der Stadt Dresden, an ihrer Spitze der Stadtrath Karl, überbrachte die seit 1885 verwahrte Bundesfahne, welche mit einem von den Frauen und Jungfrauen Münchens gestifteten prächtigen Fahnenbande geschmückt wurde. Dr. Goetz gedachte der nichtdeutschen turnerischen Gäste in warmen, zu Herzen gehenden Worten.

Darauf erhob sich der Vorhang der Bühne für das von Felix Dahn gedichtete Festspiel, das in flottester Weise gespielt wurde. Prinz Ludwig wohnte noch dem Festspiele bei, in den Pausen sich eifrigst mit seiner Umgebung unterhaltend.

Am folgenden Tag, Sonntag den 28. Juli, hatte sich München in sein Festgewand gehüllt. Die Häuser waren mit Fahnen, mit Teppichen, Laubgewinden und Blumen geschmückt. Trommelklang ertönte durch die Straßen, die Turnvereine zogen nach den Sammelplätzen. Um zehn Uhr sollte der Festzug beginnen. Da öffnete der Himmel wieder, wie an den vorhergehenden Tagen, seine Schleusen, ein endloser Regen strömte herab, der Zug mußte vertagt werden. Man begab sich nachmittags auf den Festplatz; hier spielten Mitglieder des Akademischen Turnvereins zu Berlin trotz grundlosen Bodens und drohenden Regens mit gewohnter Meisterschaft ihr beliebtes Schleuderballspiel.

In der Festhalle sammelten sich mittlerweile die Turner, um dem Turnen der „Musterriegen der Ausländer“ zuzuschauen. Niemand konnte schließlich mehr hinein, niemand heraus! Die Schweizer (Züricher) führten vorzügliche Uebungen am Pferd vor, zeigten die Schule des Schwingkampfes in regelrechtem Griff und Wurf, die Bukarester turnten am Reck, die Moskauer am Barren, die Londoner bekundeten ihre außerordentliche Gewandtheit im Keulenschwingen, einer neuerlich sehr beliebten Uebung, und trieben, die Fäuste mit dicken gepolsterten Handschuhen umwunden, das Boxen; mit Spannung verfolgte man die blitzschnellen Bewegungen, Schläge und Stöße, bekehrt wurden wir aber zu diesen Uebungen nicht. Sie widerstehen dem deutschen Charakter. Auch aus Kansas City in Amerika traten Turner auf mit wohlgelungenen Eisenstab- und Keulenübungen.

Am Montag den 29. Juli sollte der Festzug bestimmt stattfinden; das Wetter zeigte sich auch günstig, der Zug ging vor sich. [575] Aber nicht alle Turner konnten theilnehmen, denn auf Montag früh war das Turnen der Wettturner und Musterriegen programmmäßig festgesetzt, davon durfte nicht abgewichen werden, und so mußte eine Anzahl der tüchtigsten Turner mit ihren Kampfrichtern auf den Festzug verzichten. Durch die Hauptstraßen bewegte sich derselbe. Voraus berittene Gendarmen, hundert Trommler, ein Fahnenzug, dann die Turner des Auslandes in verschiedenartiger, zum theil sehr kleidsamer Tracht. Die Holländer, in großer Zahl erschienen, waren kenntlich durch ihre blauen Mützen. Es folgten die Turner mit ihren reichgestickten Fahnen in bestimmter Reihenfolge in schier endlosem Zug; dann kamen Vertreter des bayerischen Veteranen-, Krieger- und Kampfgenossenbundes, einzelne Krieger-, Veteranen-, Gesellen-, Kranken-, Gesang-, Ruder- und andere Vereine. Wieder Turner mit ihren Fahnen. Darauf schöne kostümierte Gruppen, die erste die gymnastischen Leibesübungen im Alterthum, die zweite die Blüthezeit der ritterlichen Spiele im Mittelalter, die dritte das Entstehen der Turnerei, die Zeit Jahns darstellend. Dann, von sechs Schimmeln gezogen, der Festwagen, auf dem die Germania thronte, vor ihr die Kolossalbüste Jahns und darunter die Reliefbilder seiner Zeitgenossen Eiselen, Friesen, Gutsmuths und Maßmann. Mitglieder des Turnvereins München gaben dem Festwagen das Ehrengeleite. Wieder kamen Turner, Fahnen- und Standartenträger, kostümierte Trompeter zu Pferde, Herolde zu Fuß und darauf der achtspännige Wagen, auf dem die Monachia thronte, ihr zu Füßen die allegorischen Frauengestalten der sechs Städte, in denen bereits allgemeine deutsche Turnfeste gefeiert worden waren: Coburg, Berlin, Leipzig, Bonn, Frankfurt a. M., Dresden. Der Wagen wurde gelenkt vom „Münchener Kindl“. Es folgten der Ausschuß der deutschen Turner, der Festausschuß, die Ehrengäste, zum größten Theil in schön geschmückten Wagen, dann schloßen sich wieder Turner an. Es war ein herrlicher, farbenprächtiger Zug. Dicht gedrängt stand auf der Straße die jubelnde Menge; aus den Fenstern flogen die Blumen und Kränze in ungezählter Menge herab. Mit Gutheilrufen fingen die Turner sie auf.

Am Abend war das Festbankett, an dem etwa sechshundert Gäste theilnahmen. Wieder floß der Redestrom; besonderen Anklang fand die Rede des Schweizer Turnlehrers Wäffler, der zugleich den Münchner Turnern einen Pokal überreichte. Auch die beiden Turnveteranen Kallenberg und Dr. Wassmannsdorff sprachen.

Am Dienstag den 30. Juli wurde der Vor- und Nachmittag dem Turnen gewidmet. Es turnten gleichzeitig die Wettturner und die Musterriegen. Erstere führten den Stabsprung bis zu einer Höhe von 3 Metern, ja darüber aus, sie stießen den 17 Kilogramm schweren Stein bis zu 6,10 Metern Weite. Das Wettlaufen fand draußen auf besonders hergerichteter Bahn von 200 Metern Länge statt. Sie wurde von der Mehrzahl in 30 bis 32 Sekunden durchlaufen, die besten Leistungen waren 26 Sekunden. Je nach den Leistungen wurden Punkte angerechnet; die im Stabsprung erreichte Höhe von 3 Metern trug deren zehn ein.

Außer diesen Uebungen mußten die Wettturner auch ihre Meisterschaft am Pferd, Reck und Barren bekunden. 514 betheiligten sich an diesem Wettturnen; 59 gingen mit einer Zahl von 68 bis 50 Punkten als Sieger hervor.

Zeigte das Wettturnen vorzügliche Leistungen, so bot sich nicht weniger Erfreuliches in dem Musterriegenturnen – 208 Musterriegen waren angemeldet – ja die Kenner legten diesem Turnen fast noch größeren Werth bei als dem ersteren. Man konnte so recht den gewaltigen Fortschritt erkennen, den das deutsche Turnen seit 1885 in Bezug auf Schulung, Sauberkeit und Sicherheit der Ausführung der Uebungen, Korrektheit und Schönheit aller Bewegungen gemacht hatte. Manche Riegen rissen zu einem wahren Beifallssturm hin. Und daß auch die älteren Turner noch rüstig waren und etwas leisten konnten, zeigten die „Altersriegen“, in denen sich Männer von vierzig bis fünfundvierzig, von fünfzig bis sechzig Jahren und darüber zusammengethan hatten, um unter einem gleichalterigen Vorturner an Reck, Barren, Pferd zu turnen. Einer von ihnen, der am Barren wacker turnte, wog 260 Pfund. Auch zum Lauf, und zwar zum Dauerlauf hatten sich einige vereinigt. Und auch hier gab es überraschende Leistungen. Lief doch ein Sechsundvierzigjähriger in 52 Minuten 7600 Meter, ein Neunundfünfzigjähriger in 23 Minuten 3600 Meter, ein Vierundsechzigjähriger in 29 Minuten 4800 Meter. Das Gewaltigste leistete aber der sechsundvierzig einhalb Jahre alte Herr Hoffmann aus Reichenberg in Böhmen. Ohne Unterbrechung legte er, die 200 Meter lange Laufbahn dreißig mal umkreisend, in 77 Minuten 12 000 Meter zurück!

Am Dienstag konnten auch die allgemeinen Freiübungen noch vorgenommen werden, da sich das Wetter aufgeklärt hatte. Allerdings traten nur etwas mehr als tausend Turner zu den Uebungen auf dem dazu bestimmten Platze an, während derselbe für etwa 8000 berechnet war; aber auch die Freiübungen dieser geringeren Zahl, durch Fahnen und elektrische Zeichen von erhöhtem Standpunkte aus geleitet, machten in ihrer gleichmäßigen Ausführung einen überwältigenden Eindruck auf die Tausende von Zuschauern und Zuschauerinnen, welche die Tribünen besetzt hatten und den Platz rings umgaben.

Abends wurde in der Festhalle eine „Varieté-Vorstellung“ des Münchener Turnvereins gegeben, wobei in körperlicher Gewandtheit und Kraft, in schön ersonnenen Reigentänzen ganz Vortreffliches geleistet wurde.

Und nun kam Mittwoch den 31. Juli der letzte Festtag und endlich ein ununterbrochen heiterer Tag. Es wurde gefochten und am Nachmittag fand das Ringen statt, dem wohl an 50 000 Menschen mit athemloser Spannung zuschauten. Es giebt nichts Aufregenderes als solchen Ringkampf, in dem Kraft, Gewandtheit, rasche List, Zähigkeit im Ausharren, feste Beharrlichkeit in der einmal eingenommenen festen Stellung in gleicher Weise sich geltend machen müssen. Und wenn nun endlich ein Sieg errungen war, dieser Beifallsjubel der Menge! Uebrigens sei bemerkt, daß nur solche zum Ringkampf zugelassen wurden, welche sich am übrigen Wettturnen betheiligt und mindestens 25 Punkte erlangt hatten. Der Prinz-Regent schaute von dem im Freien zwischen den Tribünen errichteten Pavillon dem Ringen eine halbe Stunde zu; Prinz Ludwig war ebenfalls erschienen, er sah noch, wie die beiden Gewaltigsten um den schließlichen Sieg kämpften und wie der Frankfurter Gräser den Gegner, einen Mainzer, warf. Damit waren die Kämpfe zu Ende. Die Kampfrichter zogen sich zur Schlußberathung zurück, die Zahl der Sieger wurde festgestellt und der Vorsitzende Prof. Böthke verlas nach einer Ansprache die Namen der 59 Sieger. Auch die Sieger im Ringen wurden verkündet und eine Anzahl tüchtiger Wettturner, welche aber 50 Punkte nicht erreicht hatten, wurde genannt. Unter den Siegern befanden sich drei Brüder Klein aus Idar; der älteste hatte bereits zu Frankfurt a. M. 1880 und zu Dresden 1885 gesiegt, und er war 1880 von der ganzen Bevölkerung mit Musik bei der Rückkehr eingeholt worden.

Mit einem Hoch auf das Wittelsbacher Haus, auf die gastliche Stadt München, auf das deutsche Vaterland wurde das Fest geschlossen.




Schatten.

Novelle von C. Lauckner.
(Schluß.)


Der Morgen ist da, lichtlos, mit schwer herabhängenden Wolken. Ohne Bewegung liegt das große, graue Wasser da, an dessen Rand alte, mit spärlichem gelben Laub bedeckte Bäume stehen.

Die Luft ist weich, fast wie Frühlingsluft. Und einem Frühlingssturm gleich rauscht es auch in den alten Kronen auf – mit tausend Stimmen, die sich erst flüsternd, dann rauschend, zuletzt brausend von Baum zu Baum schwingen. Aber es sind keine Frühlingsstimmen, der weiche sausende Wind rüttelt keine erwachenden Knospen zu neuem Leben auf, – er jagt die letzten gelben Blätter von den kahlen Aesten, daß sie über das trübe Wasser tanzen und die letzten Sommerträume hierhin und dorthin tragen.

Die Staketthür des Gartens wird leise geöffnet. Noch ist das Leben im Hause nicht erwacht, nur aus einem Fenster im zweiten Stock glimmt ein Licht trübe in den werdenden Tag.

[576] Die Frau, die den kleinen Garten betritt, sieht triumphirend nach oben und eilt dann vorwärts nach dem Teichrand, der durch einen schmalen Holzzaun vom Garten getrennt ist. An einer Stelle ist der Zaun unterbrochen. Man tritt da auf einen Steg, an dem im Sommer ein Boot angekettet liegt. Eine alte, verkrüppelte Weide, deren Wurzeln schon im Wasser hängen, ragt mit einigen Aesten darüber.

Da steht nun die blonde Frau wie schon oft, oft zuvor, greift in die überhängenden Aeste und starrt brütend in das Wasser.

Eben erhebt sich ein neuer Stoß des Windes. Magdalene sieht auf. Ihr ist, als müßte dieser Sturm sie an etwas erinnern. Hat er nicht ein ungeheures, nicht auszudenkendes Leid zu ihr gebracht? Erzählt er ihr die alte Geschichte von ihrer Liebe, – erinnert er sie an den schönen Traum von kurzem Glück, den bösen von langem Leid? Flattern in ihrer armen, kranken Seele ein paar irre Gedanken zu dem Verrath, durch den sie ihre kurze Liebesseligkeit erkaufte? Etwas von allem erwacht in ihrem Sinnen, wie sie auf dem Steg steht, die Weide umklammernd und halb unbewußt den tausend Stimmen lauschend, die um sie ertönen.

Der Wind reißt an dem Tuch, das sie über ihr leichtes Morgenkleid genommen hat, und verwirrt ihr Haar, das in starken, goldschimmernden Flechten über den Rücken hängt. Eben peitscht er eine lange Strähne über ihr Gesicht. Was war das? Stroh? Waren es die Blumengewinde, die auf dem Bilde damals ihr Haar geschmückt?

Wie ein elektrischer Schlag durchzuckt es ihren Körper.

Sie weiß es jetzt, was sie von dem warmen Lager fortgetrieben hat, neben dem ihre treue Hüterin erschöpft in tiefem Schlaf ruht, – und hierher, gerade hierher.

Ophelia . . . das ist’s! Sie muß die Weide rauschen, das Wasser murmeln hören . . . sie ist ja jene Unglückselige, und alles andere ein Traum, der nun zu Ende geht.

Magdalene? Werner? Ein irres Lächeln huscht über ihre Züge. Er ist ja doch da gewesen, – er hat sie geküßt, und dann hat er sie Ophelia genannt und ist davon gegangen. – Ein gebrochener Schmerzenslaut entringt sich ihren Lippen, aber gleich darauf muß sie lachen.

Ein welkes Blatt schlägt in ihr Gesicht und springt dann hinunter ins Wasser. Und da noch eins, und da wieder eins, und da tanzen sie auf den grauen Wellchen und treiben weiter hinein. Sie muß immer mehr lachen, zuletzt ist es ein unheimliches, gellendes Schreien, das sich mit dem Sausen des Windes vermischt. Dazu stürzen Thränen aus ihren Augen, Wahngebilde mischen sich mit dem, was sie sieht, und mit leisen Anklängen aus der Wirklichkeit.

Das graue Tuch flattert von ihren Schultern, sprühender Nebel um sie her, – die Bäume vom jenseitigen Ufer strecken ihre halbkahlen Arme nach ihr herüber und die welken Blätter wirbeln durch die Luft.

Eine plötzliche Angst faßt sie; das Heulen des Windes verstärkt sich in ihren Ohren zu einem Toben, aus dem drohende, unverständliche, wirbelnde Geräusche sie umbrausen. Sie schwellen an wie ein gewaltiger Orgelklang, der näher und näher auf sie zukommt … „Ophelia, Ophelia“ rauscht es um sie …

Sie umklammert den Weidenast, sie tritt vorwärts – der Ast bricht – sie stürzt in das Wasser …

Einen Augenblick halten ihre Kleider sie noch oben, dann, mit Wasser getränkt, ziehen sie sie hinab. – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Und so endete der Traum des schönen Weibes, das nur für ihre einzige, große Leidenschaft gelebt hatte.

Das Bild, das einst den ersten Schritt in ihr Unglück vorbereitet hatte, war eine düstere Prophezeiung für sie geworden, – gleich wahr für ihr Leben wie für ihr Sterben.

Wie auf dem berühmt gewordenen Gemälde spielten die gelben Blätter auf dem Wasser, die Weide hing ihre entlaubten Aeste hinein, und trüb und grau lag der Herbsthimmel auf dem Ganzen.

Die Stelle aber, wo die liebreizende Ophelia noch vor Minuten gestanden, mit leerem ängstlichen Blick in unbekannte Weiten starrend, – war leer. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Gertrud war spät erwacht. Nun stand sie traurig am geöffneten Fenster, ließ sich von der linden Luft die brennenden Augen kühlen und dachte an ihn, der allein ihrem Leben Inhalt geben konnte.

Die gestrige Aufregung war verflogen, nur noch in leisen Nachklängen zitterte sie durch die bewegte Seele.

Es war ihr klar geworden, daß sie keinem Jüngling ihr Herz gegeben hatte, daß Konrad Erfahrungen im Leben gemacht haben mußte, an denen sie kein Theil haben konnte. Aber was ihr gestern, verstärkt durch den Eindruck, den sie durch die schöne Frau empfangen hatte, unüberwindlich für ihren Stolz erschienen war, das sah sie heute in einem andern Lichte.

Wie konnte sie erwarten, die erste, die einzige Liebe eines Mannes wie Konrad zu sein, – wie hatte sie nur den Muth finden können, das vor ihm auszusprechen!

Sie schämte sich jetzt ihres leidenschaftlichen Ausbruches, und ein furchtbarer Schreck faßte sie, wenn sie dachte, daß er ihre trennenden Worte für Ernst hätte nehmen können.

Nein, nein, sie wollte zufrieden sein mit dem, was er ihr gab. Vielleicht, wenn sie ganz und für immer bei ihm wäre, würde sie sich langsam erringen, was ihre feurige erste Liebe von ihm erwartet hatte. Wenn er nur erst wieder da wäre! Aber was würde sie ihm sagen? Und in welcher Stimmung würde er ihre Worte entgegennehmen? Weiß Gott, was Miß Sikes gestern noch von ihm gewollt hatte! Ernstes mußte es gewesen sein. Ob es mit der Anwesenheit des verrätherischen Freundes zusammenhing? Ob Konrad noch bekümmert war? O, sie wollte ihn zu trösten versuchen, – sein Leid war ja ihr Leid! Wenn nur die kranke Frau nicht so wunderschön gewesen wäre! Sie mußte dieselbe sich wieder vorstellen, und wenn sie sich dachte, daß er diese Lippen geküßt, diese goldenen Haare gestreichelt, in diese leuchtenden Augen voll sehnender Liebe geblickt habe, dann stiegen ihr von neuem brennende Thränen auf, und sie sagte sich muthlos: „Es ist alles vergebens, – er wird sie nie vergessen!“

Darüber kam Tante Lina, der Gertrud noch gestern abend eine vollkommene Beichte abgelegt hatte.

Sie war seltsam erregt; mit gespannten Blicken schaute sie auf Gertrud und setzte mehrmals zu einer Rede an, die doch nicht über die Lippen wollte. – Gertrud bemerkte es. Sie lächelte traurig und küßte die liebe alte Freundin, die sich sicherlich schwere Gedanken um ihretwillen machte, die nach Trostworten für sie suchte und sie nicht finden zu können schien.

„Beunruhige Dich nicht um mich, liebe Tante,“ sagte sie. „Ich bin schon wieder ganz vernünftig. Ich war sehr thöricht gestern und vergaß ganz, wie lieb ich ihn habe. Wenn Konrad mich will, so wie ich bin, – ich werde mir rechte Mühe geben, weniger anspruchsvoll zu sein, und . . .“ nun wollten die Thränen doch schon wieder kommen.

Tante Karoline strich über ihr blondes Haar.

„Das ist recht!“ sagte sie. „Die echte Liebe darf auch nicht fragen, ob sie in derselben Münze wieder erhält, was sie hergiebt. Aber das ist es nicht, was mich bekümmert, – ich habe Dir etwas Erschütterndes mitzutheilen und weiß nicht, wie Du es auffassen wirst.“

„Um Gotteswillen, – Konrad!“ rief Gertrud mit versagender Stimme.

„Die schöne Irrsinnige ist plötzlich gestorben!“ sagte Tante Lina nun ohne Umschweife.

Gertrud sah sie mit weitgeöffneten Augen an.

„Ophelia?“ fragte sie mechanisch.

Die alte Dame nickte.

„Ich habe mich bisher um die Nachbarschaft der alten englischen Lehrerin nicht gekümmert,“ sagte sie, „außer daß ich mich auf Deinen Besuch freute, wenn Du aus der Stunde kamst. Heute aber wurde unser ganzes Stift durch die Nachricht alarmirt, welche von den Hausleuten zu uns getragen wurde. Ich nahm natürlich nach Deiner gestrigen Erzählung noch besonderen Antheil daran.“

„Erzähle!“ bat Gertrud, noch wie erstarrt. „Ist es gestern abend gewesen?“

„Gestern abend soll sie heftig erkrankt sein. Miß Sikes und das Mädchen haben bei ihr gewacht, bis sie selbst eingeschlafen ist, und sind dann gegen morgen beruhigt zu Bett gegangen. Als sie erwacht sind, ist die Kranke verschwunden gewesen und man hat sie, kurz gesagt, nicht lange danach in dem Schloßteich, an den das Gärtchen des Hauses stößt, aufgefunden.“

„Mein Gott, davon phantasirte sie gestern,“ brach es von Gertruds Lippen. „Ich verstand sie nicht, sie sprach von Ophelia, – o, wie war sie lieblich . . . Ach Tante . . . “ Ihre Erregung

[577]

Der Festwagen im Zuge des Siebenten deutschen Turnfestes in München.
Zeichnung von Fritz Bergen.

[578] brach sich in einem heftigen Schluchzen Bahn. Plötzlich fuhr sie auf . . . Konrad – was würde er sagen, wie würde er leiden, was mochte vorgegangen sein? Vielleicht war er betheiligt. – Ihr Herz zog sie zu ihm. Da waren alle Bedenken, aller Stolz, aller Trotz ganz verschwunden vor dem einen Gedanken: es wird ein großer Schmerz für den Geliebten sein und du mußt ihn ihm tragen helfen, ihn trösten, ihm zeigen, daß du ihm auch in ernsten Lebensstunden etwas sein kannst.

Zögernd sagte sie zu Tante Lina: „Ich möchte Konrad sprechen.“

„Er ist gewiß benachrichtigt,“ meinte die Tante, „aber wenn Du meinst, können wir ja hinschicken.“

„Nein, nein, ich möchte selbst hin,“ sagte Gertrud. „Gehst Du mit?“

„In sein Hotel? Gott bewahre, Kind – Ihr seid noch nicht verlobt, und selbst dann wäre es ein unpassender Schritt, der Deines Vaters Billigung schwerlich finden würde.“

„Darauf käme es mir jetzt nicht an,“ sagte Gertrud trotzig. „Ich gehöre zu Konrad, und es ist für unser ganzes kommendes Leben von Wichtigkeit, daß ich jetzt bei ihm bin.“

„So lasse ihn bitten, sofort zu kommen,“ redete Tante Karoline zu.

„Darüber vergeht zu viel Zeit, und Miß Sikes kommt mir zuvor, und . . . ach, Tante, ich kann nicht anders, ich muß zu ihm, – und ich gehe allein, wenn Du nicht mitkommst!“

„Das darf ich nicht, und ich dulde auch einen so auffallenden Schritt von Deiner Seite nicht. Dein Vater hat Dich mir übergeben, – Du weißt selbst noch nicht, ob er diese Verbindung billigen wird.“

„Das wäre mir jetzt gleichgültig,“ rief Gertrud mit glühenden Wangen. „Ich ginge doch mit Konrad.“

Tante Lina schlug entsetzt die Hände zusammen, aber sie kam zu keiner Erwiderung, denn das Mädchen meldete: „Herr Rechtsanwalt Herrendörfer“.

Gertrud flog ihm jauchzend entgegen, warf sich in seine Arme, trotz der Anwesenheit der Tante, und er, auf eine kleine Scene gefaßt, machte sie heute nicht auf den Wunsch des Vaters aufmerksam, – weich gestimmt, wie er nach dem gestrigen Erlebniß war, küßte er sie zärtlich, gab ihr tausend Schmeichelnamen und schmückte sie mit den duftenden Rosen, die er ihr gebracht hatte.

Tante Lina hatte sich entfernt. Sie wollte kein strenges Wort in die junge Glückseligkeit hineinreden – sie ging still ins Nebenzimmer, und vielleicht wanderten ihre Gedanken zu den eigenen, längst vergangenen Rosentagen.

Konrad war noch ahnungslos. Er wollte nach den gestrigen Erfahrungen mit Gertrud nicht von der Tragödie sprechen, die er mit erlebt hatte, – obgleich sie ihn unausgesetzt beschäftigte.

Sollte der Elende seine Drohung wahr machen und seinen, Konrads, Namen in die Scheidungsklage verwickeln, dann mußte er eben das Weitere abwarten. Jedenfalls wollte er nicht mit Gertrud, sondern mit deren Vater vorher die Angelegenheit besprechen.

Höchlich überrascht war er, als Gertrud ihn plötzlich fragte, was Miß Sikes gestern noch von ihm gewollt habe.

Sie sagte ihm, wodurch sie von seinem Besuche unterrichtet sei, und als er zögerte, bat sie ihn so inständig, als Zeichen, daß er ihr ihre gestrige Unvernunft vergeben habe, – ihr von allem zu sprechen, so daß er ihr schließlich die Vorkommnisse des Abends kurz berichtete, auch mit der peinlichen Wendung, die sie zuletzt für ihn genommen hatten, – und von seiner Verabredung mit Miß Sikes, sie noch vormittags aufzusuchen.

„Sie erwartet Dich also,“ sagte Gertrud leise, – „daher . . .“

„Was?“

Und da legte sie den Kopf an seine Schulter, umschlang ihn fest mit ihren Armen und erzählte ihm unter Thränen von dem tragischen Ende der schönen Ophelia.

Eine Weile schwieg er erschüttert. Er war sehr blaß geworden und ein heftiges Frösteln durchschauerte ihn.

„Also das mußte das Ende sein!“ sagte er leise. „Arme Magdalene!“ Er legte die Hand über die Augen – „und arme Miß Sikes!“ sagte er, sich gewaltsam zusammennehmend und schnell aufstehend. „Ich muß sofort hin; ich will ihr in jeder Weise beistehen, was ich ihr gestern verweigern mußte.“

„Nimm mich mit,“ bat Gertrud; „es giebt da gewiß manches für eine weibliche Hand zu helfen!“

Er überlegte. „Und Dein Vater?“ fragte er.

„Er wird es billigen, daß ich jetzt bei Dir bleibe, – da ich durch nichts mich von Dir trennen lassen würde.“

„Und wenn Dein Vater Dir sagte, daß ich Deiner Liebe nicht würdig wäre?“

Ein ungläubiges Lächeln flog über ihr Gesicht, das erste heute. Sie erwiderte kein Wort, – aber sie lehnte sich fest, fest an ihn, – und ihre glänzenden Augen sagten: „Du bist der Herrlichste, der Beste, – und ich das glückseligste Weib!“ – – –

Er nahm sie nicht mit in das Sterbehaus. Sie war der armen Miß Sikes immerhin eine Fremde, während er selbst sich zu ihr gehörig fühlte. War sie doch der einzige Halt des armen, verlorenen Weibes gewesen, dem einst seine heiße Liebe gehört hatte, und in dieser Stunde ernster, schwermüthiger Trauer gelobte er sich, ihre uneigennützige Treue nie zu vergessen, sich ihr gewissermaßen als Ersatz für das verlorene Schmerzenskind zu bieten.

Er fand sie gefaßter, als er gedacht hatte. Ihre Thränen flossen zwar unaufhörlich, und ihr Gesicht schien noch spitzer und vergrämter, – aber ihre strenge Religiosität hinderte sie daran, sich in ihrem großen Schmerz gehen zu lassen.

„Die Aermste konnte nicht wissen, was sie that, – wenn wir nicht einen Unglücksfall annehmen wollen,“ – tröstete Konrad sie. „Die Vorstellung des unglückseligen Bildes muß sie immer verfolgt haben.“

Und er erzählte ihr von Gertrud Heins Zusammentreffen mit Magdalene, und wie sie von dem Teich unten und den Weiden gesprochen habe.

„Meine Ahnung führte mich auch sofort hinunter,“ schluchzte Miß Sikes, „als ich erwachte und ihr Bett leer fand. Sie hat den kleinen Garten immer geliebt. Wir liefen sofort hinunter, mein Mädchen und ich, – da lag ihr Tuch halb auf dem Steg, halb im Wasser, – und da haben wir sie denn auch bald gefunden. Der Arzt sagt, ein Schlagfluß müsse sie getroffen haben. Ihr liebes schönes Gesicht zeigt keine Spur eines Kampfes, – nur ein wenig ängstlich erstaunt sieht sie aus . . . o Gott, der Bube, der dieses holde Geschöpf vernichtet … möge die Strafe des Himmels ihn treffen!“

„Die hat ihn längst ereilt,“ sagte Konrad. „Er konnte Großes leisten und ist in den Schlamm gesunken, – und er ist sich dessen auch in vollem Maße bewußt. Eine härtere Strafe giebt es kaum für ihn. Doch jetzt nichts mehr von ihm! Lassen Sie mich Ihnen helfen, verehrtes Fräulein, – später will ich Ihnen noch einen andern Beistand bringen.“

Er erzählte ihr flüchtig von seinem jungen Glück, – und sie mit dem Edelmuth großer Naturen nahm theil daran, trotz ihres großen Schmerzes, trotz der Bitterkeit, die in ihr aufstieg, wenn sie bedachte, wie anders das Los ihres todten Lieblings an dieses Mannes Seite gewesen wäre.

Sie besprachen dann das Nothwendige, – und wenn möglich, so fand die arme Miß Sikes einen Trost darin, daß die Widerwärtigkeiten des drohenden Scheidungsprozesses ihr und ihrem Liebling fern geblieben waren.

Magdalene hätte unendlich leiden müssen, auch wenn ihr nicht ganz klar geworden wäre, um was es sich handelte, – nun ruhte sie in Frieden!

Ja, träumerische Ruhe, tiefer Friede, aber zugleich eine staunende Frage lag auf den wunderbar schönen, edlen Zügen. – In der fremdartigen Blumenpracht ihres Zimmers, in dem sie so lange geträumt, ruhte sie nun selbst wie ein verkörperter Traum von hinreißender Schönheit und Holdseligkeit.

Lange stand Konrad bei dem Lager, und wunderliche, hohe, ihm sonst nicht vertraute Gedanken zogen durch seine Seele.

Endlich beugte er sich nieder, küßte die kalte Stirn und legte die Rosen, die ihm Gertrud für sie gegeben hatte, in die schönen, starren Hände.

Alle Bitterkeit, die unbewußt die langen Jahre hindurch in ihn, gewirkt und ihm die Welt vergällt hatte, schwand aus seinem Herzen, und voller Wehmuth, aber innerlich frei, nahm er Abschied von dem Traume seiner Jugend, das Leben lag klar und reizvoll vor ihm. – – – – – – – – – – – – – –

Am Abend des nächsten Tages kehrte Gertruds Vater von Berlin zurück. Frohen Herzens wollte er nun, nach allem, was er über Konrad gehört hatte, den Bund seines Kindes segnen. Er fand zu seinem Erstaunen Konrad bereits als erklärten Bräutigam [579] in seinem Hause und Gertrud, sein sonst so gehorsames Kind, in ein bewußtes, liebendes Weib verwandelt, das seinen Segen dankbar als eine Vergrößerung ihres Glücks, aber nicht als dessen unerläßliche Bedingung hinnahm – und aufrichtig, wie sie war, auch kein Hehl daraus machte.

Es war ja nun gut so, – dachte der Vater bei sich, – aber es hätte auch anders kommen können, und – – nun, er wollte hoffen, daß für sein Kind alles zum Glück sich wenden würde, und, da sein Schwiegersohn ihm von Stunde zu Stunde besser gefiel, Gertrud auch freudigen Herzens in das selbsterwählte Leben ziehen lassen. – – – – – – – – – – – –

Am nächsten Morgen wurde die schöne Ophelia zur letzten Ruhe gebettet. Gertrud hatte den Geliebten zum Kirchhof begleitet, und nun standen sie, ein stilles Gebet sprechend, an dem frischen Hügel, an dem sie außer Miß Sikes und dem Geistlichen die einzigen Leidtragenden waren.

Nur ein Mann noch war zu der frühen Stunde in einiger Entfernung anwesend.

Als der Miß Sikes befreundete Geistliche das Vaterunser sprach, machte er eine Bewegung, als wollte er näher treten, – aber er wagte es nicht. Scheu blieb er hinter dem Stamme einer alten Ulme stehen und sah voller Erregung nach dem Sarge. Er hatte eigentlich das größte Recht, eine Handvoll Erde auf den schönen Leib dort zu werfen, – er sagte sich, es wäre thöricht, daß er es nicht thäte, – – nein, es wäre thöricht, daß er hierher gegangen, und er wollte auch der Komödie ein Ende machen!

Er wendete sich und eilte, innerlich von Reue geschüttelt, wie vor wenig Tagen von der lebenden, – heute von der todten Ophelia.

Aber ihr Bild kann er nicht mehr los werden, – wie sie sich flehend an ihn klammert, wie er sie von sich stößt, – und wie sie dann, ihrem unglücklichen Vorbild gleich, in den trüben Fluthen Ruhe sucht vor ihren Träumen.

Alles das steht ihm immerdar vor Augen, und damit zugleich auch sein Verschulden an dem Edelsten der Schöpfung . . . einer Menschenseele! –




Blätter und Blüthen.

Der Soldatenbrief. Der „Gartenlaube“ ist aus ihrem Leserkreise ein Schreiben zugegangen, dessen Verfasser sich eifrig dafür verwendet, es möchte doch die Portofreiheit, welche die Briefe an Soldaten genießen, ausgedehnt werden auf die Briefe von Soldaten an ihre Angehörigen. Und in der That, es hat den Anschein, als ob eine solche Maßregel wohl am Platze wäre. Nicht mit Unrecht weist die erwähnte Zuschrift mit beweglichen Worten auf die bedrängte Lage hin, in welcher sich der Soldat befindet, der von Hause nicht mit einem Zuschuß an Geld versehen wird und ganz auf seine täglichen 22 Pfennig (soviel bekommt der Soldat in die Hand) angewiesen ist.

„Von diesen 22 Pfennig muß der Soldat vorweg sein Putzmaterial und seine Wäsche bezahlen. Dann kann man doch wohl nicht von ihm verlangen, daß er sein Kommisbrot jeden Abend trocken genieße. Kommt er vollends auf Wache, was in Garnisonen mit starkem Wachdienst sehr häufig der Fall ist, dann verlangt die vermehrte Anstrengung auch eine vermehrte Zufuhr von Stärkungsmitteln. Man rechne einmal nach, und man wird finden, daß nach all diesem von den 22 Pfennig nicht mehr viel übrig sein kann.

Warum nun dem Soldaten, der ja doch auch auf der Eisenbahn ermäßigte Fahrtaxen genießt, nicht noch die 10 Pfennig erlassen, die, so gering der Betrag ist, in seinem Haushalte eine gar nicht unerhebliche Rolle spielen!“

So dachte der Verfasser der Zuschrift und so denken wohl noch viele unserer Leser mit ihm. Indeß liegen die Dinge doch nicht so einfach, als man anzunehmen geneigt ist.

Der Versuch mit der vorgeschlagenen Einführung ist früher schon einmal in einem der vor 1866 selbständigen norddeutschen Postgebiete gemacht worden. Die Soldaten mußten dort, wenn sie Portofreiheit genießen wollten, ihre Briefe auf dem Dienstzimmer des Feldwebels abgeben, der dieselben stempelte und zur Post bringen ließ. Anfangs wurden die Briefe in einen offenen, im Zimmer aufgestellten Kasten gelegt; aber Unteroffiziere und Mannschaften gingen fortgesetzt in dem Zimmer ab und zu, und so liefen wiederholt Klagen ein über abhandengekommene Briefe. Daher erfolgte die Aufstellung eines verschlossenen Kastens mit Briefeinwurf. Nicht lange dauerte es aber, da kamen von zahlreichen Landespostanstalten Beschwerden wegen Mißbrauchs der Portofreiheit.

Die Soldaten hatten eben für irgend einen Gegendienst den Briefkasten des Feldwebels wacker mit den Korrespondenzen ihrer Freunde und Freundinnen vom Civil gefüllt; den Beamten der Bestimmungspostanstalten, die ja an kleineren Orten die Verhältnisse der Briefempfänger einigermaßen zu kennen pflegen, wurde die Sache auffällig, und gelegentliche Erkundigungen offenbarten ihnen bald den Zusammenhang. – So ging es also wieder nicht; daher Verschärfung der Kontrolle. Die portofrei zu befördernden Briefe mußten fortan dem Feldwebel offen übergeben werden; dieser überzeugte sich – wenn er gelegentlich Zeit dazu hatte – ob keine Civilbriefe eingeschmuggelt wären, und ließ dann die Briefe verschließen und absenden.

Damit aber war die ganze Einrichtung so gut wie werthlos geworden: der Soldat sparte sich lieber 10 Pfennig vom Munde ab, um seinen Brief mit einer Freimarke zu versehen, als daß er die Ergießungen seines Herzens um den Preis einer vorangehenden Kontrolle durch die Vorgesetzten hätte kostenlos befördern lassen.

Das sind die Erfahrungen der Praxis, die uns ein sachverständiger Fachmann freundlich mittheilte, als wir uns mit ihm über den angeregten Gedanken besprachen. Sie laden nicht zur Wiederholung des Versuches ein.

Aber vielleicht könnte doch in einer andern Form dem dringendsten Bedürfnisse genügt werden, nämlich durch Einführung einer „Soldaten-Postkarte“. Sie müßte, mit dem Stempel der Kompagnie versehen, in den Kantinen um den Selbstkostenpreis (2 Stück um einen Pfennig) für den Soldaten erhältlich sein. Sie würde dem Soldaten ermöglichen, kurze Mittheilungen, Fragen etc. an seine Angehörigen gelangen zu lassen, sie wäre – auch durch die aufgenöthigte und daher entschuldigte Kürze der schriftstellerischen Leistung – eine Wohlthat für ihn, während die Bedenken wegen Mißbrauchs so gut wie ganz in Wegfall kämen.

Es würde uns freuen, wenn die deutschen Postverwaltungen diesem Gedanken näher treten und einen praktischen Versuch damit machen würden.

Der „wilde Mann“ an der kleinen Windgelle. (Mit Abbildung S. 565.) Amsteg, ein vor dem Bau der Gotthardbahn lebhafter Verkehrs- und Touristenort im Kanton Uri, ist auch der Ausgangspunkt einiger sehr interessanter Hochgebirgstouren; es liegt in engem Thalkessel zwischen den Abhängen des Bristenstocks (3075 m) und der großen und kleinen Windgelle (3189 und 3001 m) am Eingang in das großartige Maderanerthal. Geübte Berggänger, welche die kleine Windgelle besuchen wollen, steigen am Eingang des Maderanerthales über steile Wälder und Bergwiesen, über Schnee und Felstrümmer hinauf auf die obersten Alptriften der Oberstäfeli. Auf dieser Wanderung erblickt das erstaunte Auge ein sonderbares, menschenähnliches Felsgebilde, ungefähr so hoch wie eine große Tanne; ganz abgesondert und allein steht es da, man nennt es den „wilden Mann“. Unter den Bewohnern der Gegend knüpft sich daran die Sage, daß ein Gemsjäger, der dort an einem hohen Festtage entgegen dem kirchlichen Verbote eine Gemse erlegen wollte, zur Strafe sogleich in einen Fels verwandelt worden sei. Auch soll es unmöglich sein, in seine unmittelbare Nähe zu kommen. Der erste Besteiger der beiden Windgellen und überhaupt einer der frühesten Bergsteiger, Georg Hofmann aus Basel, entdeckte dieses Steingebilde mit den deutlich ausgeprägten Linien der Stirne, des Mundes und der Nase im Jahr 1844 und machte auf das seltene Naturspiel zuerst aufmerksam; aber die wenigsten Alpenbesucher haben Kenntniß von dieser merkwürdigen Figur. Umhüllt von durchsichtigen Nebelgebilden macht der „wilde Mann“ einen besonders tiefen Eindruck; unerschüttert, mit geheimnißvollen Kräften ausgerüstet, scheint er den Stürmen und Unbilden des Hochgebirges Trotz zu bieten.

Die Kunst zu reisen. Viele unserer Leser dürften ein bereits in vierter Auflage erschienenes Buch, „Reiseschule für Touristen und Kurgäste“ (Leipzig, H. Haessel), willkommen heißen, in welchem Arthur Michelis (Adolf Gumprecht) in geistreicher unterhaltender Weise ausführt, wie Reisende vor, während und nach der Reise sich am besten einrichten. Es ist ein Büchlein, in dem ein reicher Schatz an Erfahrungen und Lebensweisheit in liebenswürdiger Form dargeboten wird, das mit seinen mannigfaltigen Rathschlägen in der That Nutzen zu stiften berufen ist und darum bestens empfohlen werden kann.

Es wendet seine Aufmerksamkeit auch den Kleinigkeiten zu, deren Beobachtung selbstverständlich erscheint und die doch so vielen noch entgehen. Wie viel Aerger verursacht mitunter schon das Packen des Koffers, wenn der Raum nicht reichen will oder allerlei leichtgefährdete Sachen nicht unterzubringen sind! Da giebt die „Reiseschule“ praktische Anleitung: „Unten in den Koffer kommen dünne breite Stücke zu liegen, Schreibmappe, Papier, Landkarten. Dann folgen in einer Umhüllung schwere, eckige, scharfkantige gebundene Bücher, Kästchen, Stiefel und ‚Sperrgut‘, wobei zu sorgen, daß beide Seiten des Koffers ungefähr gleichmäßig belastet werden. Zur Ausfüllung der Lücken dienen Strümpfe, Nachthemden, Unterkleider und andere weiche, schmiegsame Gegenstände, die sich in jede Lage, auch die gedrückteste, schicken, die man deshalb recht haushälterisch vertheile, nicht leichtsinnig irgendwohin staue. Cigarrenpackete, nur in Papier gewickelt, lieben die unmittelbare Nachbarschaft von Büchern nicht, ertragen sie aber, wenn man ihre Oberhaut durch einen Strumpf schützt etc.“

In Sachen der Sparsamkeit beruft sich Michelis auf vielfache praktische Erfahrungen. Der Schein des Reichthums in Kleidung und Auftreten ist möglichst zu vermeiden, da derselbe, wie durch Beispiele aus eigener und fremder Erfahrung belegt wird, nicht selten erhöhte Reisekosten verursacht.

Selbst auf die Eisenbahnunfälle geht der Verfasser ein und führt einige beachtenswerthe Vorsichtsmaßregeln an. Er räth, wenn mehrmalige, rasch einander folgende Bremszeichen Gefahr anzeigen, eine zusammengekauerte Stellung einzunehmen, den Kopf tief zu neigen, die Füße auf den Sitz, die Kniee unters Kinn heraufzuziehen und mit den Armen zu umschlingen. Vor dem Verlassen des Wagens während der Fahrt warnt er, da ein Hinausspringen meist schwere Verletzungen nach sich ziehe; „muß aber durchaus gesprungen sein, so werde beachtet, daß nicht rück- oder seitwärts, sondern der Richtung der Fahrt thunlichst parallel nach vorn zu springen ist.“

Wenn indeß in dem Buche auch der Gefahr gedacht wird, welche das [580] mit dem Reisen verknüpfte Fahren auf der Eisenbahn mit sich bringt, so soll doch damit nicht die Häufigkeit von Unglücksfällen betont werden. Zur Beruhigung ängstlicher Gemüther wird vielmehr darauf hingewiesen, daß die Gefahren der Reise seit Nutzbarmachung der Dampfkraft für dieselbe bedeutend abgenommen haben und daß nach den Berechnungen von Gartiaux (1873) früher etwa um die Hälfte Todesfälle und Verletzungen mehr vorkamen als heute. „Einer, der 10 Stunden täglich auf der Eisenbahn führe, hätte 7439 Jahre zu reisen, ehe er befürchten müßte, sein Leben zu verlieren.“ –.

Das Buch von guten Abenteuern. Im Besitze des Fürsten von Waldburg-Wolfegg befindet sich eine höchst merkwürdige Bilderhandschrift aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, welche das germanische Nationalmuseum zu Nürnberg wegen ihrer hohen kulturgeschichtlichen Bedeutung unter dem Titel „Mittelalterliches Hausbuch“ in getreuen Faksimilenachbildungen herausgegeben hat (Frankfurt a. M., Heinrich Keller). Das Buch ist von einem unbekannten „guten Abenteurer“ – so nannten sich in jener Zeit Männer, welche seltsame, wunderbare und gewagte Dinge verrichteten – gezeichnet und verfaßt und giebt das ganze damalige technische Wissen und Können wieder, das natürlich noch sehr beschränkt, aber doch nur Eingeweihten bekannt war, die ihr Geheimniß sorgfältig hüteten. Verdankten sie doch diesen merkwürdigen Künsten ihr Ansehen, wußten sie sich doch durch diese Anerkennung und Nutzen zu verschaffen. Obgleich es sich also um geheime Kenntnisse handelt, um den Einfluß der Planeten auf die menschlichen Verhältnisse, um medizinische, chemische und technische Rezepte, um Gedächtnißkunst, Maschinen, Geschütze, Kriegskunst u. a., führen uns die Illustrationen des Textes doch das ganze frisch pulsirende Leben vom Schlusse des Mittelalters in charakteristischen und originellen Darstellungen vors Auge.

Man sieht Künstler und Handwerker in ihrer Thätigkeit, den Lehrer mit seinen Knaben, den Gelehrten bei seinem Studium, die Parteien vor dem Richter, aber auch den armen Sünder, der dem Hochgerichte zugeführt wird, Räuber und Diebe, Raubritter, die ein Dorf überfallen, das Leben und Treiben im Vorhof einer Burg, auf einem Landsitze und in den Bädern. An fröhlichen Gesellschaften, die sich mit Musik und Tanz, Schmausen und Spielen erlustiren, fehlt es nicht. Den Ackerbau, Mühlen und Bergwerke nebst allen dazu gehörigen Maschinen führt der gute Abenteurer ebenso vor wie Jagden und Vogelfang, Fechten, Ringen und Steinstoßen, Stechen, Schießen und Rennen, Geschütze und Wagenburg. Das fahrende Volk hat der Verfasser besonders berücksichtigt; man sieht den Bettler vor der Kirche, um Almosen flehend, Feuerschlucker, Schlangenbändiger, Quacksalber und Gymnastiker, deren Buden sich nur wenig von den heutigen unterscheiden. Mit einem Worte, man erhält durch das besprochene Werk ein so lebensvolles, durchaus nicht prüdes, vielmehr auch alle Derbheiten wiedergebendes Bild des Lebens der interessanten Zeit am Ausgange des Mittelalters, wie es kein zweites gleichzeitiges Werk bietet.

Wie schnell gehen wir? Wie schnell geht der Mensch? Eine sonderbare Frage! Der eine läuft, der andere schleppt sich mühsam vorwärts. Das ist wahr, aber der Durchschnittsmensch wird eine gewisse Schnelligkeit im Gehen zeigen, welche man als die normale bezeichnen kann. Einen solchen Durchschnittsmenschen können wir uns schaffen, wenn wir eine große Zahl von Menschen beobachten und den Durchschnitt der gewonnenen Beobachtungsgrößen berechnen. Joseph Kleiber hat solche Beobachtungen in Petersburg angestellt. Er beobachtete in den Straßen der Stadt den Gang von 6672 Personen und bestimmte daraus die mittlere Geschwindigkeit des Fußgängers auf 76,9 m für die Minute oder 4,61 km in der Stunde. Die Stadtstraßen dürften jedoch kein geeignetes Feld zur Beobachtung sein, denn hier wird die Geschwindigkeit der Füße durch viele Hindernisse und Rücksichten gehemmt. Auf der Chaussee kann man die Kraft der Beine besser ausnützen, und die von anderer Seite angestellten Untersuchungen ergaben als Mittel für den Fußgänger 6 Kilometer in der Stunde. Uebung macht den Meister, und so wird auch die Marschfähigkeit des Menschen durch Uebungen bedeutend erhöht. Es giebt Fußgänger, die 8 Kilometer in der Stunde zurücklegen, und ein forcirter Marsch ergiebt nach den Ermittelungen der Gebrüder Weber 9389 m in der Stunde. Die höchste Marschleistung des Menschen an einem Tage (24 Stunden) wird auf 120 km geschätzt, und sonderbarerweise ist sie der Tagesleistung berühmter Schnellläufer gleich, die auch 120 Kilometer erreicht.

Ausnahmen giebt es überall, und es wird auch auf diesem Gebiete von „Kunstleistungen“ berichtet, welche die obengenannten übertreffen; aber diese Ziffern beziehen sich auf ganz außerordentliche Menschen und entbehren zumeist der wissenschaftlichen Bestätigung. *




Kleiner Briefkasten.

C. M. in Jena. Der deutsche Kaiser bezieht als solcher keine Einnahmen vom Reiche. Doch ist ihm ein Dispositionsfonds von 2 400 000 M jährlich für Gnadenbewilligungen aller Art ausgeworfen. Von seiten des preußischen Staates wurde durch Beschluß des preußischen Landtags vom 12. Februar d. J. mit Rücksicht auf die gesteigerten Repräsentationsausgaben des Königs von Preußen als deutscher Kaiser dessen Krondotation von 12 219 296 M auf 15 719 296 M erhöht.


Inhalt: Gold-Aninia. Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué (Fortsetzung). S. 565. – Der Tanz in Deutschland. Kulturhistorische Skizze von Hermann Streich. S. 571. Mit Illustration S. 568 und 569. – Das Siebente deutsche Turnfest in München. Von Prof. Dr. C. Euler. S. 573. Mit Illustrationen S. 573, 574 und 577. – Schatten. Novelle von C. Lauckner (Schluß). S. 575. – Blätter und Blüthen: Der Soldatenbrief. S. 579. – Der wilde Mann an der „kleinen Windgelle“. S. 579. Mit Abbildung S. 565. – Die Kunst zu reisen. S. 579. – Das Buch von guten Abenteuern. S. 580. – Wie schnell gehen wir? S. 580. – Kleiner Briefkasten. S. 580.


Soeben ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

Gartenlaube-Kalender für 1890.
Fünfter Jahrgang.
15 Bogen 8º mit zahlreichen Illustrationen.
Preis in elegantem Ganzleinenband 1 Mark.

Aus dem reichen Inhalte des „Gartenlaube-Kalenders“ für das Jahr 1890 heben wir hervor:

Habe Muth! Gedicht v. A. Ohorn. Mit Illustrat. v. R. E. Kepler. – Nachbars Paul. Erzählung von W. Heimburg. Mit Illustrat. v. C. Zopf. – Das Elixir der Dubarry. Humoreske v. Paul von Schönthan. Mit Illustrat. v. Peter Schnorr. – Die Herrgottskinder. Erzählung von H. Villinger. Mit Illustrat. v. Fritz Bergen. – Ueber häusliche Krankenpflege. Von Sanitätsrath Dr. L. Fürst.Die Behandlung Ertrunkener. Von Dr. H. Tischler.Hühnerzucht für jedermann. Von Dr. Karl Ruß.Ein Kapitel von den Zähnen.Die kritischen Tage des Jahres 1890. Von Rudolf Falb.Rückblick auf die merkenswerthen Ereignisse vom Juli 1888 bis August 1889. Von Schmidt-Weißenfels. Mit zahlreichen Illustrat. – Polytechnische Umschau. Mit Illustrat. – Blätter und Blüthen. – Zahlreiche Tabellen. – Statistische Notizen. – Genealogie der europäischen Regentenhäuser. – Vollständiges Kalendarium des protestantischen, katholischen (für Deutschland und Oesterreich gültigen), griechischen und jüdischen Kalenders. – Handelskalender für die wichtigsten Messen. – Küchenkalender u. s. w. u. s. w. – Vollbilder von F. Sonderland, E. Rau, F. Hiddemann, C. Zopf u. a.

Vollständiger Post- und Telegraphen-Tarif, zusammengestellt von einem höheren Postbeamten.

Der „Gartenlaube-Kalender“ ist seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1885 den meisten Abonnenten der „Gartenlaube“ ein gern gesehener, alljährlich wiederkehrender Gast geworden, und dürfte es vermöge der Gediegenheit und Reichhaltigkeit des Inhaltes, sowie der glänzenden Ausstattung und des billigen Preises des soeben erschienenen neuen Jahrgangs 1890 in diesem Jahre gewiß auch für viele werden, welchen er bis jetzt fremd geblieben ist. Die Jahrgänge 1886–1889 des „Gartenlaube-Kalenders“ sind zum Preise von 1 Mark für den Band ebenfalls noch zu haben.

Bestellungen wolle man der Buchhandlung übergeben, welche die „Gartenlaube“ liefert. Postabonnenten erhalten den „Gartenlaube-Kalender“ in den meisten Buchhandlungen, oder gegen Einsendung von 1 Mark und 20 Pf. (für Porto) in Briefmarken direkt franko von der

Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Florian Daul: Tantzteuffel, Frankfurt 1567 MDZ München