Die Gartenlaube (1889)/Heft 36
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No. 36. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Sicilische Rache.
In einer kleinen Zelle im ersten Stockwerke des Klostergebäudes waren mehrere Männer versammelt; vor der Thür hielt ein altersgrauer Mönch Wache und bat mit gedämpfter Stimme die Nahenden, die Andacht des Priors und der Aeltesten nicht zu stören. Von einer andächtigen Stimmung war freilich dort drinnen nichts zu merken; auch waren es nicht lauter Mönche, die um den grobgezimmerten Tisch Platz genommen hatten. Dem Prior gegenüber saß, in einfacher Bürgerkleidung, ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, unscheinbar, in etwas gebeugter Haltung, den mit dichtem, schon silberdurchzogenem Haarwuchse bedeckten, zwischen den Schultern eingesunkenen Kopf nach vorn geneigt. Seine breiten Hände und dicken Finger deuteten auf einen Arbeiter; aus seinem klugen, jugendlich blitzenden Auge leuchtete aber eine Klarheit des Denkens und eine selbstbewußte, ihres Zieles sichere Kraft des Wollens, die auf eine nicht gewöhnliche Bildung schließen ließen, und zugleich schaute das Auge mit so langsam bedächtigem Ueberlegen von einem Sprecher zum andern, daß man sich fragen mußte, ob diese schlichte Kleidung und dies bürgerlich einfache Aeußere nicht einen andern als einen gemeinen Handwerker verbärgen. Dem war jedoch nicht so, denn dieser Mann war kein anderer, als Romeo, der Tischlermeister aus der Straße Ferdinanda in Messina, – dieser aber war wieder kein Geringerer, als der von den kleinen Leuten vergötterte, von den Großen gefürchtete und gehaßte mächtige Capo Popolo, von dessen Wort und Wink die Ruhe und Sicherheit der Stadt und der Provinz abhingen, der mit einer Silbe, mit einer Gebärde die nur leise schlummernden Leidenschaften des Volkes zu hellem Aufruhr zu erwecken oder, sofern es ihm nöthig schien, die immer ungestümer drohende Revolution zu beschwichtigen, die drängenden Genossen zu längerem, vorsichtigem Aufschieben zu veranlassen vermochte. In keinem Herzen brannte flammender als in Romeos der Haß gegen den Bourbonen; keiner ertrug mit tieferem Ingrimm als er das Joch der Neapolitaner; keiner erwartete mit größerer Ungeduld den Tag, wo das Volk sich in offenem Kampfe gegen die Unterdrücker erheben würde. Nur von offenem und ehrlichem Kampfe wollte aber Romeo wissen, und mit seinem Genossen, dem andern messinesischen Volksführer, dem alten Salvatore Merlo, der heute neben ihm an des Priors Tische saß, war er öfters deshalb in Streit gerathen. Denn mit allen und jeglichen Mitteln, meinte dieser, sei der Bourbonenwirthschaft ein Ende zu machen; das Vorbild der sicilianischen Vesper dürfe nicht vergessen werden, und mit Hilfe der geheimen Gesellschaften, der Maffia und der Briganten, käme man schneller und sicherer zum Ziele als mit einem ungleichen Kampfe des schlechtbewaffneten Volkes gegen die kriegstüchtigen und zu allem entschlossenen schweizer Regimenter.
[598] Mit diesen Ansichten konnte der gerade und ehrliche Romeo sich nicht befreunden, und heute wieder war er deshalb in heftigen Wortwechsel mit dem alten Merlo gerathen.
„Siciliens Ehre willst Du beflecken, Salvatore!“ rief er aus; „mit Mördern dürfen wir nichts gemein haben!“
Merlos hagere Gestalt richtete sich auf, ein unheimliches Funkeln flog durch sein Auge.
„Waren unsere Väter Mörder, als sie die Vesperglocke läuteten?“ erwiderte er scharf.
„Andere Zeiten, andere Waffen!“
„So soll das Blut unserer Brüder fließen? so sollen unnützerweise unsere Kinder vor die Kanonen der neapolitaner Henker geführt werden?“
„So soll gesagt werden, daß die sicilischen Bürger sich mit Banditen und mit entlaufenen Galeerensträflingen verbündet haben? und daß ihnen der Muth fehlte, ihr eigenes Leben für die Freiheit des Landes zu opfern? und daß sie, um ihre Unabhängigkeit zu erringen, Söldner dingen mußten, – wie König Ferdinand, um seine Krone zu vertheidigen? Und welche Söldner, heilige Madonna! Dieselben Gesellen, die für einen reicheren Lohn ihren Dolch gegen uns und unsere Freunde zu zücken bereit wären, dasselbe Gesindel, das dem ersten besten eifersüchtigen Ehemann, dem ersten besten abgewiesenem Freier die Hilfe seiner feilen Mörderhand zusagt und dem Sicilien verdankt, in Europa als eine Räuberhöhle verrufen zu sein!“
„Ich nehme die Waffen, die ich vorfinde und die am sichersten treffen. Mit Schergen kreuzt man nicht den Degen, gegen Schergen zückt man den Dolch! – Und unter den Banditen, das weißt Du so gut wie ich, giebt es auch brave Männer … und,“ fügte er mit einem raschen Seitenblick auf die Mönche hinzu, „manche andere reichen sich heute die Hand, die sonst keine Freunde waren! Wir verfolgen alle dasselbe Ziel, allein es giebt eine Art, demselben nachzustreben, – die viel eher ein Verrath …“
Er wurde von dem Prior unterbrochen.
„Salvatore Merlo!“ sagte dieser, indem er begütigend die Hand auf des erregten Volksmannes Schulter legte, „haltet Eure Gedanken zurück und laßt solche Worte sich nicht unter die heißblütige Menge verirren! Denn nur unseren gemeinsamen Feinden würden sie Nutzen bringen. Von Messina allein hängt dies übrigens nicht ab, wir müssen mit den andern Städten Siciliens übereinstimmen. Padre Bartolomeo, den uns gestern die Brüder aus Palermo sandten, mag uns sagen, wie Siciliens Hauptstadt denkt.“
„Palermo ist nur Palermo, nicht mehr als Messina!“ rief Salvatore unwillig zurück, „eine Hauptstadt Siciliens giebt es nicht!“
„Erlaubt, daß ich spreche!“ unterbrach mit klangvoll tiefer Stimme der durch des Priors letzte Worte zum Reden Aufgeforderte den Messineser.
Von einem alten Normannengeschlechte mochte wohl dieser urkräftige, wie aus einer mittelalterlichen Statuengruppe herausgebrochene Mönch stammen, den das Palermitaner Kloster della Gancia zu den Messineser Freunden geschickt und um dessentwillen der Prior heute die Volksführer nach San Placido zusammenberufen hatte. Seine Worte entsprachen seiner Gestalt; sie fielen wuchtig wie Keulenschläge:
„Das Werk, das wir zusammen vorbereitet haben, müssen wir zusammen ausführen! Verräther sind diejenigen, die in dieser Stunde Zwietracht unter uns ausstreuen. Ob Messina oder Palermo Hauptstadt des künftigen unabhängigen Siciliens sein soll, ist heute Nebensache. Messina und Palermo sind Schwesterstädte; gehen sie Hand in Hand, so fällt die neapolitanische Herrschaft in Trümmer; gehen sie auseinander, so bricht Sicilien in Stücke! Nicht immer werden wir ja alle, die wir hier versammelt sind, zusammen gehen; aber heute gehen wir zusammen! und an heute müssen wir heute denken! Wie Ihr in Messina es anfangt, um die Neapolitaner zu verjagen, ist Eure Sache! Wie wir in Palermo, ist die unsrige! Aber verjagt müssen sie werden durch uns alle zusammen! Noch eine Woche brauchen wir in Palermo, dann sind wir zum Kampfe bereit; – wie viel Zeit braucht Messina?“
Tiefes Schweigen antwortete dem Mönche. Die Augen der Brüder richteten sich auf die beiden Volksmänner. Romeos Blick haftete auf der Erde. Seine Antwort hätte lauten können: Messina braucht weder eine Woche, noch einen Tag; morgen steht es kampfbereit auf der Straße! – Anders aber lautete Romeos Antwort: „Den Brüdern in Palermo darf es nicht einerlei sein, mit welchen Waffen Messina kämpft, denn auch unsere Ehre muß gemeinsam sein. Giebt mir Salvatore sein Wort, daß unser Volk nicht Gefahr läuft, neben Mordgesindel kämpfen zu müssen, so bin ich bereit, morgen schon das Zeichen des Aufstandes zu geben, – morgen, oder in einer Woche, oder in einem Monat, oder in einem Jahr! – giebt er mir aber dies Wort nicht, dann, soweit ich allein zu gebieten das Recht hätte, weder morgen noch in einem Jahre!“
Salvatore war aufgesprungen; er ballte die Faust gegen ihn.
„Romeo!“ rief er, „das ist …“
„Laß mich ausreden, Salvatore! – Soweit ich allein zu gebieten das Recht hätte, sagte ich; dies Recht erkenne ich mir aber nicht zu! Gebt mir eine Woche, ich werde sie benutzen, um mit unsern Freunden in Taormina und in Milazzo zu überlegen, ob wir auf die Gefahr hin, mit Salvatores … Freunden verwechselt zu werden, vorgehen wollen oder nicht.“
„Wer sind Deine Freunde in Taormina und Milazzo?“ fragte der Palermitaner.
„Der Marchese della Rovere in Taormina.“
„Welchen meinst Du? Don Filippo oder Giuseppe Russo?“
„Den Marchese meine ich!“ erwiderte Romeo mit Nachdruck, als läge diesem Titel eine besondere Bedeutung bei.
„Ich weiß ja! Auch für uns bleibt Don Filippo der einzige und echte Marchese. Aber so lange eben die Richter kein endgültiges Urtheil gefällt haben, ist sein ehemaliger Verwalter, der Giuseppe Russo, im Besitze des Titels, den er dem Alten streitig macht. Nächster Tage wird der Gerichtshof in Palermo entscheiden.“
„Der Giuseppe Russo ist ein Hund!“ fuhr Salvatore dazwischen; „mein Sohn Antonino weiß ein Lied davon zu singen. Er schindet die Bauern, als wären sie Sklaven … aber heute oder morgen …“
Er sprach den drohenden Satz nicht aus.
„In Milazzo,“ fuhr der Mönch fort, „gedenkst Du wohl den alten Petrone zu besuchen? Ein Freund der Kirche ist er nicht, aber als Verbündeten nehmen wir den ehrwürdigen Philosophen und Patrioten gern an. Ueberbringe ihm meine Grüße! Sein Wort ist lauter wie lauteres Gold.“
„Ja! ein ehrlicher Phantast!“ lachte Salvatore hämisch.
Romeos und des Palermitaners Blicke begegneten sich. Der Mönch war aufgestanden.
„Eine Woche braucht Romeo; eine Woche braucht Palermo; nach einer Woche sprechen wir uns in Messina wieder!“ – Und dem Tischlermeister lächelnd die Hand reichend, fügte er hinzu: „Deine Tochter hat nun lange genug gewartet; rufe sie herauf zu uns! Das Essen mag wohl bereit sein, und das Essen soll man ebenso wenig warten lassen als … die Mädchen, wie man sagt.“
Als Felicita, dem Rufe ihres Vaters folgend, mit ihrer Begleiterin in das obere Stockwerk trat, wurde sie von dem wachehaltenden Mönch in die große, eine Ecke des gewaltigen Baues einnehmende Speisehalle geführt. Das weitgeöffnete Fenster schaute hinaus auf das blaue Meer und auf die im Schimmer der Abendsonne verglühenden Kalabresergebirge.
„Wie die Leutchen da unten sich sputen!“ sagte der Palermitaner, indem er sich über den Balkon zu dem Orangengarten hinunterbeugte, wo gerade die kleine gräfliche Gesellschaft damit beschäftigt war, ihre Siebensachen in Körbe einzupacken. – „Seht doch! ein Abbate ist auch dabei! Kennt Ihr diesen da, Bruder Jacopeo?“ fragte er den Prior.
„Wer kennt den Abbate Scaglione nicht?“ antwortete dieser, indem er mit den andern auf den Balkon hinaustrat; „ein weißer Rabe in der sicilischen Geistlichkeit! ein Freund der Neapolitaner … und der Gräfin Cellamare! … Sieh! er schaut herauf! … Seid gegrüßt, Abbate! wie geht es Euch?“
„Wie soll es gehen, Padre Jacopeo?“ antwortete es in launig pathetischem Tone, „so gut und so schlecht es einem eben gehen kann, der einen theuren Freund vermißt! Nehmt Euch in acht dort oben! Ein schweizer Offizier hat sich in Eurem Kloster verirrt – oder versteckt. Ich glaube gar, er läuft einem hübschen Mädchen nach.“
Die Gräfin schaute zu den Mönchen hinauf. Wie eine liebliche Blume lächelte Felicita aus der Mitte der dunklen Gestalten [599] zu ihr herab. Die Gräfin hatte das Mädchen erkannt; wie festgewurzelt blieb sie einen Augenblick stehen; dann wandte sie sich zu Scaglione.
„Abbate!“ flüsterte sie ihm mit bebender Stimme ins Ohr, „seht Euch diese Dirne an! Ich muß wissen, wer sie ist, wie sie heißt, wo sie wohnt.“
Während des Essens wurde in dem Kreise der Mönche und der Volksführer mit keinem Worte der vorhergegangenen Besprechung erwähnt; alle plauderten vergnüglich zusammen, als wären sie nur zu harmloser Geselligkeit versammelt; selbst Salvatore fand fröhliche Worte, und unter Lachen und Scherzen brach die Nacht herein. Als sie sich endlich erhoben, wandte sich Romeo zu seiner Tochter.
„Felicita,“ sagte er, „Du wirst im Wagen unseres Freundes Merlo nach Hause fahren; ich kehre heute nicht nach Messina zurück.“
„Wo gehst Du hin, Vater?“ fragte sie, und es flog wie ein banges Ahnen durch ihr Herz, als sollte die Abwesenheit des Vaters die Pforte ihres Hauses einem drohenden Unglück eröffnen.
„Zu den Freunden nach Taormina und Milazzo muß ich reisen; in acht Tagen bin ich wieder zurück. Nina,“ fügte er zu ihrer Begleiterin gewendet hinzu, „hüte mir meine Tochter sorgsam; in die Stadt soll sie mir nicht gehen, nur zur Kirche im Badiazzakloster!“
„Trägst Du Deinem Vater keine Grüße für Antonino auf?“ fragte Salvatore das Mädchen.
Verwundert schaute sie ihn an.
„Weshalb sollte ich’s? Ein Mädchen, sagst Du ja selber, darf sich nichts mit jungen Männern zu schaffen machen.“
„Dem Bräutigam aber darf jede …“
Scharf schnitt sie ihm aber das Wort ab.
„Antonino ist doch nicht mein Bräutigam! … Einen Bräutigam habe ich nicht.“
Das Wort flog rasch und kräftig. Das Mädchen erröthete dabei bis zu den Wurzeln ihrer Haare. Was war es doch, das dabei so besonders in ihrem Herzen klopfte?
Salvatore hatte sich zu Romeo gewendet.
„Was die Väter verabredet …“
„Lassen wir das, Salvatore! Du weißt ja, sie denkt nicht wie wir darüber. Bringe sie glücklich nach Hause; ich danke Dir zum Voraus.“
Und als hätte niemals auch nur die kleinste Wolke ihre Eintracht getrübt, schüttelten sich die beiden die Hände zum Abschied.
„Was nur der schweizer Offizier dort hinten noch so spät auf der Landstraße zu suchen hat?“ sagte beim Heimfahren Salvatore, indem er mit der Peitsche auf zwei Reiter deutete, die in gemessener Entfernung hinter dem Wagen hertrabten.
Felicita sah sich um. Das helle Mondlicht leuchtete über Meer und Berge.
„Wird’s Dir zu kühl, Felicita?“ fragte Salvatore, als er sah, daß sie ihre Mantille fester über den Kopf zog.
Nicht kühler war es ihr geworden: wie eine Welle heißen Blutes war es ihr zum Herzen geschossen, als sie in dem vorderen Reiter den Offizier aus dem Klostergarten erkannte.
Still und leer lagen die Straßen Messinas, in welche das kleine Fuhrwerk zu später Stunde einlenkte. In der Mitte der Straße Ferdinanda, wo die Paläste der Aristokratie lagen, leuchtete die Fensterfassade eines einzigen Hauses in vollem Lichterglanze; in dem weiten Hofe hielten herrschaftliche Wagen, ein betreßter Diener stand unter dem Portal.
„Guten Abend, Benedetto!“ rief ihm im Vorbeifahren Salvatore zu; „habt Ihr wieder Gäste?“
„Empfangsabend der Gräfin!“ antwortete der andere; „nimmer Ruh in diesem Hause!“
„Wird auch schon ruhiger werden!“ warf Salvatore zurück und ließ die Peitsche knallen.
„Wollen ’s abwarten!“ tönte es lachend dem Davonfahrenden nach. –
In den weiten Räumen des Palastes Cellamare herrschte ein reges Leben. Hier versammelten sich einmal in der Woche die alten adeligen Familien, die Offiziere, die höheren Beamten, alles, was noch zum Könige hielt. Auch der Herzog von Montalto, der Gouverneur von Messina, beehrte seit kurzem diese Abende mit seiner Gegenwart. „Je drohender die Gefahr,“ meinte er zu seinen Freunden und Untergebenen, „desto enger müssen sich die Königlichen zusammenscharen.“
Als einer der letzten erschien heute der Herzog. Mit ritterlicher Grazie küßte der alte Edelmann die Hand der Gräfin.
„Früher wohl,“ sagte er zu ihr, „hätte mich mein Herz hierher gezogen, aber der Dienst unseres Königs verbot es; ich mußte Nachricht erwarten von San Placido, wo unsere Feinde heute zusammen beriethen.“
Die Gräfin zuckte leicht zusammen: „Der Dienst?“ Dasselbe Wort hatte sie heute schon einmal gehört.
„Sind Sie wirklich der Meinung, Excellenz,“ fragte sie mit einem seltsamen Lächeln, „daß des Königs Dienst jederzeit dem Frauendienst vorzugehen habe?“ Ihr Auge flog bei diesen rasch hingeworfenen Worten der Thür zu, die sich einem neuen Gaste, einem schweizer Offizier, geöffnet hatte; – der, den ihr Blick wohl suchen mochte, war aber nicht hereingetreten.
„Schönste Gräfin!“ antwortete der Herzog, „wenn Ihr mir erlaubtet, Euch meine Königin zu nennen, so ginge Frauendienst jedem andern vor.“
Der Major von Büren war zu der Gräfin hingetreten.
„Kommt Ihr ohne Euren Freund, den Hauptmann von Hattwyl?“ fragte Teresina.
„Den Hauptmann, gnädige Frau, gedachte ich hier zu treffen; er ritt zu Ihnen nach San Placido.“
Ein schelmisches Lächeln spielte um des Herzogs Lippen.
„Wie werden wir den Abwesenden zu ersetzen vermögen?“ meinte er.
Die Gräfin schien den neckenden Scherz nicht zu verstehen.
„Ach, ja! San Placido!“ antwortete sie lachend. „Ja! wohl haben wir Ihren Abtrünnigen dort gesehen! Im Klosterhofe hatte er sich ein Rendezvous mit einem bildschönen Mädchen bestellt. Dort sahen wir beide – nicht wahr, Scaglione, ein reizendes Bild! und eine köstliche Idylle! Am sprudelnden Brunnen – im lauschigen Gange! – sie reicht ihm eine Blume – er drückt sie an sein Herz – sie flieht in das Kloster – er setzt ihr nach – der Brunnen plätschert das ewige Lied von der ewigen Liebe dazu.“
„Eine Sicilianerin?“ fragte rasch und bestürzt der Major.
„Nun ja, eine Sicilianerin! An was Besonderes denkt Ihr denn dabei, Herr Major?“
Dem nach einer passenden Antwort Suchenden half der Herzog aus der Verlegenheit. „Wer kennt nicht des Hauptmanns Abenteuer und sein Frauenglück! Die plätschernden Brunnen scheinen darin eine ganz besondere Rolle zu spielen; die Unfindbare, die er bei dem Brunnen von San Gennaro aus den Händen der betrunkenen Matrosen errettete, beim Brunnen von San Placido hat er sie wohl wieder gefunden, der glückliche Schwärmer.“
Das Herz der Gräfin schnürte sich zusammen. „Wer kennt nicht des Hauptmanns Abenteuer und dessen Frauenglück?“ Und vor ihr hatte er mit keiner Silbe dieses Abenteuers erwähnt. Sie hatte sich also nicht getäuscht, als ihr Zorn und ihre Eifersucht dort im Klosterhofe in hellen Flammen aufloderten. Nein, noch viel schändlicher, als sie es dort ahnte, war sie von ihm mißachtet worden, und wie der frechste Hohn klang jetzt in ihren Ohren die Entschuldigung wieder, die er ihr dort unter den Orangenbäumen entgegengestammelt hatte. Sie mußte sich Gewalt anthun, um die wild in ihrer Brust auftobenden Gefühle zu unterdrücken. Das Lächeln verschwand nicht von ihren Lippen; kaum merkbar spielte nur ein grimmig spottender Zug um ihre Mundwinkel, als sie langsam erwiderte:
„Ach, wie schade! Da hätte ich ja beinahe, ohne es zu ahnen, ein schönes, langerhofftes Liebesglück gestört! Das Mädchen, sagtet Ihr, hatte er dorthin bestellt? … Ei, seid mir gegrüßt, Herr Bankier Lerche! wie freundlich, daß Ihr uns nicht vergeßt! … und nun haben sie sich gefunden! – Wußtet Ihr auch schon, Lerche, von dem Liebesglücke unseres Freundes, des Hauptmanns von Hattwyl?“
Lerche schaute sich behutsam forschend um.
„Aengstigt Euch doch nicht, Lerche!“ lachte der Herzog, dem sonderbaren Menschen auf die Schulter klopfend, „Ihr vergebt Euch nach keiner Seite etwas; wir kennen alle die Geschichte.“
„So darf ich sie auch kennen,“ antwortete schief lächelnd Lerche. „Dummes Zeug, die Liebe! Hab’s den jungen Offizieren schon oft wiederholt … eine Sicilianerin lieben ist eine schlimme Sache! … [600] noch schlimmer, von ihr geliebt zu werden! … Soll sich in acht nehmen, der brave Hattwyl! Bruder, Vater, Bräutigam …“
Die Gräfin fiel ihm rasch ins Wort.
„Bruder? Vater? Bräutigam sagt Ihr? So kennt Ihr das Mädchen? Wer ist sie? Sprecht!“
Glatt wie ein Aal entwand sich aber Lerche ihrer Frage.
„Wie sollt’ ich das Mädchen kennen! Ihr habt sie ja gesehen, nicht ich, und nur vom Hörensagen kenne ich des Hauptmanns Liebe.“
Des Hauptmanns Liebe! … Wenn man von Eckarts Liebe sprach, so war also jene andere gemeint! … Vom Hörensagen! … Die ganze Stadt wußte also davon! … und sie, die Verschmähte, die Verlachte, sie hätte nicht auf Rache sinnen sollen gegen den Verräther? Auch sie war eine Sicilianerin – und der Verächter sollte es erfahren! Da – es kam wie eine mahnende Antwort auf den Sturm, der sich in ihrem Herzen zusammenzog – da flüsterte leise, keinem andern hörbar, Scagliones Stimme in ihr Ohr: „Die Rache ist ein Gericht, das kalt genossen werden muß!“
Und siehe! Was war mit ihr geschehen? Mit ihrem verführerischen Lächeln auf den Lippen wandte sich die Gräfin zu dem Herzog. „Reicht mir den Arm, Excellenz!“
Und zu den Umstehenden gewendet, fügte sie mit huldvoller Grazie hinzu: „Sie werden mich wohl einen Augenblick entschuldigen; Staatsgeschäfte bespricht man unter vier Augen.“
Als sie sich allein mit dem Herzog in einem dem Gewoge des Festes entzogenen Boudoir sah, blieb sie vor dem Gouverneur stehen, und mit der süßesten Stimme, die ihr zu Gebote stand, und in dem flehend natürlichsten Tone sagte sie zu ihm:
„Excellenz! Diesem, einem Ihrer besten Offziere, droht Gefahr; Lerche wollte es nicht aussprechen; er weiß es aber wohl besser als wir alle – denn er verkehrt ja mit allen. Bruder, Vater, Bräutigam sind da, die das Mädchen an dem fremden Liebhaber zu rächen trachten. Darf ich den allmächtigen Gouverneur um eine Gnade bitten?“
„Eine Gnade, schönste Frau? Eine Gnade werdet Ihr mir verleihen, wenn Ihr mir erlaubt, einen Eurer Wünsche zu erfüllen.“
„Darf ich? und ist meine Bitte erhört?“
„Was verlangt Ihr von mir, Teresina? Sprecht, und morgen ist Eure Bitte erfüllt!“
„Morgen schon? … Morgen ist wohl zu schnell! … Die Gefahr, die dem jungen Manne droht, ich kenne sie ja noch nicht. Aber am Tage, wo ich sie wissen werde, dann gelobet mir, zu erfüllen, was ich … für den Hauptmann … von Euch erbitten werde!“
„Mein Wort habt Ihr.“
Sie reichte ihm die Hand; er drückte einen langen Kuß darauf.
Als sie am Arme des Herzogs die Runde in ihren Salons machte und nach rechts und links mit leicht lächelnder Gebärde grüßte, da sang tief unten in ihrem Herzen eine nimmer zum Schweigen zu bringende, immer wieder das Geräusch der Unterhaltungen und der fröhlichen Tanzmusik durchbrechende, leise flüsternde Stimme den Kehrreim des sicilischen Liebesliedes:
„Die Rache ist ein Gericht, das kalt genossen werden muß.“
Langsam kletterte in den ersten Nachmittagsstunden des folgenden Tages der Esel, auf dessen Rücken Romeo seine Reise unternommen hatte, den letzten, steilen Felsenweg hinan, der vom Meere zu dem alten Sarazenenneste von Taormina führt.
Wie würde wohl die Antwort lauten, die Romeo von dort oben zu holen kam? Seinen alten Freund, den der Palermitaner Mönch gestern schlechtweg Don Filippo und den er selber mit so energischer Betonung den Marchese genannt hatte, kannte er seit langen Jahren; er wußte, daß auch er in früheren Zeiten von einer Gemeinschaft mit Briganten und mit der Maffia nichts hätte wissen wollen; – aber war er jetzt noch der alte? Konnte man nach den schweren Schicksalsschlägen, die in den jüngsten Monaten auf ihn niedergeschmettert waren, noch auf seine früheren Gesinnungen zählen? Und würde er nicht, in seinem nur allzugerechten Zorn und auch in Vermengnug seiner persönlichen mit der gemeinsamen sicilischen Sache, bereit sein, nur um sich an seinen Feinden zu rächen, zur ersten besten, – auch zu gemeinsten Waffe zu greifen?
Don Filippo mit seinem urgermanischen Gepräge, mit seinem früher blonden, jetzt weißen Haupthaar und seinen blauen Augen, mit seinen breiten Händen und breiten Füßen, mit seinem alle andern um eine Kopfeshöhe überragenden herkulischen Wuchs und mit seinem derben, fast bäuerischen, rücksichtslos geraden Wesen war eine seltsam gewaltige Erscheinung inmitten jener Mischrasse von Griechen, Römern und Sarazenen. Er war der letzte Abkömmling einer der im elften Jahrhundert mit den Normannen- und Schwabenkönigen nach Sicilien eingewanderten Baronenfamilien, und machte man ihm auch heute das Recht streitig, den Namen seiner Ahnen und den Titel eines „Marchese della Rovere, Barone di Roccafiorita“ zu tragen, so stand dies Recht doch in unauslöschbarem Gepräge in seinen Gesichtszügen und seiner ganzen Gestalt, andrerseits aber auch in seinen sorgfältig in eiserner Truhe aufbewahrten Familienurkunden eingeschrieben.
Eigenthümlich genug und für die damaligen Zustände bezeichnend war die Geschichte des Prozesses, der den alten Edelmann aus der Gemeinschaft seiner Standesgenossen ausgeschieden und aus dem Marchese vorderhand einen einfachen Bürgerlichen gemacht hatte. In früheren Jahren hatte sich Don Filippo eben so wenig um die Verwaltung seiner Güter gekümmert, als dies sein Vater und Großvater gethan hatten; er hatte sich damit begnügt, am Ende jedes Vierteljahres, ohne zu zählen noch nachzurechnen, seine Einkünfte aus der Hand seines Verwalters, des Rechtspraktikanten Giuseppe Russo, einzukassieren; er hatte nicht daran gedacht, sich bei diesem reichbezahlten Diener zu erkundigen, wie es mit seinem Vermögen stehe, und war höchlichst erstaunt, als ihm derselbe eines Morgens mit unterthänigster Verbeugung eröffnete, die Schulden des gnädigen Herrn wären nun so hoch gestiegen, daß man an eine Veräußerung der Liegenschaften in Roccafiorita und des alten Schlosses della Rovere denken müßte; es lägen sehr vortheilhafte Anerbieten zum Ankaufe dieser ohnedies werthlosen Besitzungen vor; das sogenannte Schloß della Rovere sei ja nichts als ein mit Einsturz drohender Haufen Steine, die Oliven- und Citronengärten von Roccafiorita kosteten mehr, als sie eintrügen, und durch den Verkauf dieser unnützen und kostspieligen Ländereien befreie sich der Marchese nicht nur von seinen Schulden, sondern verschaffe sich auch noch eine erhebliche Summe flüssigen Geldes, die ihm erlauben würde, den Palazzo in Taormina besser in stand zu setzen und die damit zusammenhängenden weit erträglicheren Grundstücke ausgiebiger zu verwerthen. Wie unerwartet diese Eröffnung auch dem Marchese kam, so mußte er sich doch dazu bequemen, den Rath seines Verwalters zu befolgen. Schloß und Acker wurden verkauft, und zwar mit solcher Eile, daß es fast schien, als sei die Sache schon längst mit dem Käufer abgekartet gewesen, um so mehr, als letzterer kein anderer war denn der weit und breit als der schlaueste Fuchs und geriebenste Geschäftsmann bekannte Bankier Lerche, von dem die Steine auf den Straßen erzählten: keiner verstehe besser als er, den altadeligen in Schulden versunkenen Geschlechtern aus ihrer Verlegenheit, sich selber aber, dank diesem geschickten Zuvorkommen, zu einem der beträchtlichsten Vermögen von ganz Messina zu verhelfen. Die Hälfte wohl der früheren Feudalbesitzthümer war durch seine Hände gegangen, denn er kaufte nur, um wieder zu verkaufen.
Auch diesmal blieb des Marcheses Besitzthum nicht in seinen Händen hangen. Zur nicht geringen Verwunderung des alten Edelmanns entpuppte sich nach einiger Zeit sein Rechtspraktikant Giuseppe Russo in höchst eigener Person als sein endgültiger Nachfolger in Rovere und in Roccafiorita; so unnütz und so kostspielig mußten denn doch die Steinhaufen und Oelbäume nicht gewesen sein! Die Verwunderung des Marchese schlug aber in grimme Entrüstung um, als er wenige Tage nachher einen Brief von seinem ehemaligen Verwalter empfing, in welchem ihm derselbe mit der ausgesuchtesten Höflichkeit mittheilte, daß er sich von nun an, auf Anrathen seiner Familie und obgleich er selber gar wenig von solchen Aeßerlichkeiten und Nobilitätstiteln halte, den Titel und das Wappen eines Marchese della Rovere, Barone di Roccafiorita beizulegen gedenke; das Recht dazu besitze er unstreitig, da aus den noch in Händen des „bisherigen“ Marchese sich befindenden, von ihm aber in beglaubigter Abschrift bei den Gerichten niedergelegten Urkunden klar hervorgehe, daß der Marchesentitel an dem Besitze des Schlosses und Grundeigenthums hänge und folglich durch Ankauf auf ihn, Giuseppe Russo, übergegangen sei. Er schloß mit dem ehrerbietigen Erwarten, daß der „bisherige“ Marchese ihm wohl die Originalurkunde einhändigen und seinerseits seinen „bisherigen“ Titel „zur Vermeidung von unliebsamen Verwechselungen“ ablegen werde.
Jagdleben im Hochland.[1]
Wer einen Jäger nach seinen weidmännischen Fähigkeiten beurtheilen will, braucht nicht erst mit ihm hinauszuziehen in den rauschenden Wald. Jeder echte Jünger des heiligen Hubertus trägt das Zeichen der grünen Gilde deutlich auf der sonnverbrannten Stirne; und wenn er auch erst in Ausübung des Weidwerks voll und ganz zu zeigen weiß, wie hoch er unter Jägern zu schätzen ist, so verräth sich doch, bevor er noch mit einem Schritte das Revier betritt, das Maß seines weidmännischen Werthes schon in mancherlei Zügen. Es verräth sich in der festen Entschiedenheit des Charakters und in jener behäbigen, abgeklärten Ruhe des ganzen Wesens, welche immer als Wirkung des andauernden, nahen Verkehrs mit der Natur auftritt, den der Beruf eines Jägers bedingt; es verräth sich in der forschenden Emsigkeit seiner blitzenden Augen, die das achtsame Schauen und Spähen, das Merken auf das Kleinste auch außerhalb des Waldes nicht lassen können; und es verräth sich in seiner Art zu sprechen, sei es nun in bravem Deutsch oder im unvermeidlichen Jägerlatein. Zwei Merkmale aber sind es besonders, welche immer einen untrüglichen Schluß gestatten; man sehe, wie er sein Gewehr in stand hält, und vor allem, wie er seinen Hund behandelt.
Jeder richtige Jäger hat ein Herz für seinen Hund und hängt mit fürsorglicher Zuneigung an dem treuen Thiere, ungeachtet der Strenge, welche die richtige Erziehung eines Jagdhundes nun einmal erfordert. Und wenn schon dem Flachlandsjäger der schlaue, schneidige Teckel oder der flüchtige, wohlgeschulte Feldhund mehr ist als nur ein nöthiges Werkzeug, so gestaltet sich in den Bergen das Verhältniß zwischen Jäger und Hund noch weit enger und inniger. Hier machen die beiden fast einen einzigen Körper aus, hier ist der Hund gleichsam des Jägers lebendig gewordener Schatten. Dem Hochlandsjäger ist der Hund nicht nur Geselle im wörtlichen Sinne, er ist ihm Kamerad und Genosse – und es ist kein Zufall, daß gerade der Name „Söllmann“, d. h. Gesellmann, für Gebirgsschweißhunde am häufigsten gebraucht wird. Wenn ein Jäger von den langen Sommermonaten erzählt, die er hoch oben in entlegener Jagdhütte einsam zu verbringen hat, kann man ihn häufig sagen hören, daß in dieser Zeit sein Hund für ihn die einzige „Ansprach’“ sei. Da haben die beiden nun freilich Gelegenheit und Muße, einander zu studieren und sich gegenseitig näher zu treten, so daß hier die Scheidewand fast zu schwinden scheint, welche zwischen Mensch und Thier errichtet ist.
Einem Beobachter, der mit den Verhältnissen nicht vertraut ist, mag es wohl komisch erscheinen, wenn er solch einen Jäger in Ernst und Scherz mit seinem Hunde sprechen hört gleich wie mit einem Menschen. Da ist aber ein jeder Zweifel, ob der Hund diese Sprache denn auch verstehe, gar übel angebracht. „Was? Mein Bürschl, meinen S’, der versteht mich net? Der versteht a jede Silben, akrat wie wann er in d’ Schul’ ’gangen wär’. Bloß daß er selber net reden kann.“ Und solchem Glauben vermag man schwer zu widersprechen, wenn man beobachtet, mit wie klugen, verständnißvollen Augen das Thier auf seines Herrn Worte lauscht, wie es Ernst und Scherz schon im ersten Ton der Stimme unterscheidet, jeden Augenwink und jede leise Bewegung des Jägers begreift, und wie es sogar mit den Launen, Gewohnheiten und Stimmungen seines Herrn zu rechnen weiß. Aber auch der Jäger versteht die stumme und laute Sprache seines Hundes, den flehenden Blick des hungrigen oder dürstenden Thieres, sein Scharren und Trippeln, sein Knurren und Murren, sein Winseln und Klagen, und er hat ein feines Ohr für des Hundes Gebell, so daß er genau zu unterscheiden vermag, ob der treue Wächter die Nähe eines Fremden meldet, ob der Hund „verloren“ bellt, wenn er in Dickicht oder Gestein sich verstiegen hat, oder vor dem gestellten Wilde „Standlaut“ giebt. So hat jeder von beiden Theilen seine Sprache, die der andere versteht, und sie reichen damit aus für alles, was sie einander zu sagen haben.
Hand in Hand mit der Zuneigung, die der Jäger seinem vierbeinigen Kameraden schenkt, geht der Stolz, den er auf ihn hat. Da hält ein jeder seinen Hund für die Perle des Geschlechtes, und wer einen Jäger so recht ins Herz hinein kränken will, der braucht ihm nur zu sagen, daß sein Hund keinen Schuß Pulver tauge. Mit solch einem Worte kann man sich einen Jäger mitunter zum unversöhnlichen Feinde machen; ebenso leicht aber wird durch ein freundliches Lob, das man seinem „Hirschmann“ oder „Bürschl“ spendet, sein Zutrauen gewonnen und seine Zunge ins Plaudern gebracht. Man muß sie nur hören, diese braunen, wetterharten Berglandssöhne, wenn sie bei einander sitzen und das Lob ihrer Hunde singen. Einer will da den andern übertrumpfen, und wenn sie mit der Wahrheit nicht mehr ausreichen, nehmen sie ihre Zuflucht zu dickem „Latein“. Ehrliche Burschen sind sie alle, aber so ehrlich ist dennoch keiner, daß er die etwaigen Mängel seines Hundes eingestehen würde, nicht einmal im Walde draußen, wenn der Hund vor Zeugen schlecht auf der Schweißfährte arbeitet oder durch knurrige Unruhe den Pirschgang verdirbt. „Na, jetzt da schau, was der Hund heut’ hat,“ heißt es in solchem Falle, „jetzt das is aber g’spaßig – so ’was thut er doch sonst nie!“ Natürlich ist man auch um Ausreden nicht verlegen, und da muß es bald der „elende“ Wind sein, welcher den sonst so verläßlichen Hund „fexiert“, oder der „Bergmandl“, der „halt gar so viel selten an Menschen sieht“, ist durch die Anwesenheit eines Fremden „verschüchtert“, oder es hat ihm „d’Nässen vom Gras sein’ Nasen verlegt“ u. s. w. Wie anders aber, wenn Bergmandl mit promptem Fleiße arbeitet und etwa ein Meisterstücklein liefert, indem er nach stundenlanger Suche einen erbärmlich angeplänkelten Hirsch „ausmacht“, den „unter hundert Schweißhund’ net an einziger mehr z’ Stand ’bracht hätt’“! Da leuchten dem Jäger vor Stolz und Freude die Augen, da weiß er gleich mit einem Dutzend ähnlicher Geschichtchen aufzuwarten, und zärtlich tätschelt er mit den braunen Händen den Kopf seines Lieblings, an den „in der ganzen Welt schon gar kein Hund mehr hinkann“.
Für Bergmandl aber setzt es in den folgenden Tagen gute Zeiten und gute Bissen. Darben muß er freilich auch sonst nicht. Redlich theilt der Jäger die karge Hüttenkost mit seinem Hunde, breitet ihm den weichen Wettermantel zum Lager neben den kleinen eisernen Kochherd, behütet ihn nach Möglichkeit vor Nässe und Kälte, und wenn eine Krankheit das Thier befällt, oder wenn es bei einem Sturze sich verletzt hat, widmet er seinem leidenden Gesellen eine so ausdauernde und achtsame Pflege, wie er sie kaum sich selbst bei eigener Unpäßlichkeit angedeihen läßt. Der Hund versteht und fühlt diese Sorge, und er lohnt sie seinem Herrn durch schmeichelnde Anhänglichkeit und nicht selten durch Treue bis in den Tod. Die viel erzählte Geschichte von dem Hunde, welcher bei der Leiche des von einer meuchlerischen Wildschützenkugel ins Moos gestreckten Jägers ausharrte, bis er vor Hunger verendete, ist ebensowenig eine Fabel wie die minderbekannte, im Gegensatz zu solcher Tragik recht lustige Geschichte des braven „Haßl“, den ein alter Förster des Oberisarthales sein eigen nannte. Der fidele Graukopf liebte einen guten Trunk, und da trank er häufig ein paar Krüglein über den Durst. Das „bißerl“ Zuviel spürte er nun immer „woltern“ in den Knieen, und dann war’s mit dem Heimmarsch vom Wirthshaus eine böse Sache. Da wär’ es ihm häufig gar übel ergangen, wenn er seinen „guten“ Haßl nicht gehabt hätte. Der diente ihm als Führer und – Laterne: der Förster brauchte ihn unter der Wirthshausthüre nur bei der Ruthe zu fassen, und dann zog der Haßl an, leitete seinen Herrn im Schlepptau heimwärts über die finstere Straße und zu guter Letzt noch über die steile Treppe hinauf ins Kämmerlein.
Nicht immer ist der Jäger in der Lage, bei der Annahme eines jungen Hundes seinem Geschmacke oder seiner weidmännischen Einsicht zu folgen. Den Ankauf eines theuren Rassehundes gestattet ihm sein mageres Beutelchen nicht, und weiterhin bedenkt er wohl auch, daß ein kleiner Teckel sich leichter füttert als solch ein hochstämmiger Geselle mit weitem Magen. Und schließlich begnügt er sich eben mit jenem Hunde, den ihm der Zufall bringt, den ihm ein Vorgesetzter zur Führung zuweist, oder den er von einem freigebigen Jagdgaste zum Geschenk erhält. So kommt es, daß man im weiten Gebiet der Berge, mit Ausnahme der [603] standesherrlichen Jagdbezirke, in denen das edelste und für die Gebirgsjagd tauglichste Hundematerial gehalten wird, fast alle Jagdhundrassen vertreten findet, den mehr oder minder krummbeinigen Dächsel, die leichte Bracke, den schweren hannövrischen Schweißhund und daneben allerlei Kreuzungsprodukte. Diese Thatsache birgt nun mancherlei Uebelstände in sich, und häufig müht sich da ein Jäger durch Jahre mit der Erziehung eines Hundes ab, welcher von vornherein aus natürlichen Gründen für die Bergjagd entweder völlig unbrauchbar oder nur ungenügend tauglich ist. Die Arbeit des Schweißhundes ist eben im Gebirg eine ganz andere als im Flachland; denn während hier der Schweißhund mit all seinen Fähigkeiten doch immer nur ein Werkzeug in der Hand des leitenden Jägers bleibt und bleiben soll, verlangt die Bergjagd vom Hunde einen hohen Grad von Selbstständigkeit und einen ganz eigenartig ausgebildeten, speziell den vorliegenden Verhältnissen entgegenkommenden Instinkt, noch abgesehen von den Anforderungen, welche die Natur des Berglandes an den Körperbau des Thieres stellt.
So ist der große hannövrische Schweißhund für das steile und zerrissene Gelände des Gebirges viel zu schwerfällig, allzusehr dem Abstürzen ausgesetzt, und daneben zu robust und ungestüm gegenüber dem aufgespürten Wilde, das er in toller Hetze zu endloser Flucht veranlaßt – und häufig geschieht es, daß ein angeschossener Hirsch, um sich vor solch einem geifernden Ungethüm zu retten, in das steilste Gewände einsteigt, in welchem er sich unvermeidlich „zu Scherben“ fällt. Da gestaltet sich die Sache beim kleinen Dächsel schon langsamer und gemüthlicher; der muß sich um seiner kurzen Beine willen gehörig Zeit lassen; und der wunde Hirsch ist fast zu stolz, um vor dem kleinen Wichte Reißaus zu nehmen, er stellt sich schon nach kurzer Flucht; der scharfe, durchdringende Laut des Hundes ruft den Jäger herbei, und da ist es oft possirlich, anzusehen, wie die niedliche Krabbe mit Kläffen und Belfern vor dem stattlichen Recken umhergaukelt, der gleichsam verächtlich auf seinen winzigen Quälgeist niederblickt und nur manchmal den allzu Kecken durch eine drohende Senkung des Geweihes in die gehörigen Schranken zurückweist. Nur schade, daß die körperlichen Kräfte des Dächsels, besonders seine geringe Sprungfähigkeit, bei einem halbwegs schwierigen Boden nicht mehr ausreichen. Da ist es oft zum Erbarmen anzusehen, wie das arme Thier sich winselnd über Felsrisse und grobes Gestein hinwegzappelt, wie es sich abschindet bis zur völligen Erschöpfung, über kleine Wände niederpurzelt und sich blutig schlägt – und manchmal mag es ihm auch begegnen, daß es bei einem unzureichenden Sprung in eine tiefe Felsschrunde stürzt, aus der es für das gequälte Bürschlein keine Rettung mehr giebt, wenn nicht glücklicherweise seine klagende Stimme noch das Ohr des Jägers erreicht.
Aber die Natur ist gar geschickt und weise. Sie weiß ihre Geschöpfe so zu bilden, wie sie just am besten für den Fleck Erde taugen, der ihnen zur lieben Heimath oder zum herben Kampf ums Dasein angewiesen ist. Wie sie die Sehnen des Bergbewohners stählt und seine Lunge weitet, wie sie den Berghirsch rauher und gedrungener bildet als den Hirsch des flachen Landes, wie sie der Gemse den harten, zangenscharfen Kletterfuß verleiht, so hat sie sich auch den richtigen Berghund, wenn nicht erschaffen, so doch erzogen. Ueber das ganze Gebirge ist, und sogar in beträchtlicher Zahl, eine Gattung von Hunden verbreitet, welche als das Kreuzungsprodukt einer älteren, rein deutschen Rasse mit dem leichteren, nordischen Schweißhund bezeichnet werden dürfte, wenn auch die Abstammung mit Sicherheit nicht mehr nachzuweisen ist. Einzelne verständige Jäger haben die Brauchbarkeit dieser Kreuzung für die Bergjagd erkannt und haben dieselbe weitergezüchtet, wobei die Natur im Geheimen fleißig mitgearbeitet hat, um im Laufe ungezählter Jahre den Körperbau und die Fähigkeiten dieser Hunde allmählich den Verhältnissen des Gebirges anzupassen. Die verwirrten Jagdzustände, welche das achtundvierziger Jahr auch über einen großen Theil des Gebirges brachte, haben nach dieser Richtung wieder viel geschadet; aber es hat doch manch eine stille Försterklause jenen Hunden eine treue Herberge geboten, bis sich in jüngster Zeit ein edler Weidmann, Baron von Karg-Bebenburg, der Jagdherr der schönen Reichenhaller Berge, mit ganz besonderem Eifer und Verständniß um die Erhaltung und Weiterzucht dieser ebenso schmucken wie brauchbaren Thiere annahm. Seine dankenswerthen Bestrebungen haben im „Süddeutschen Verein für Züchtung reiner Hunderassen“ und in dem bekannten Thiermaler Otto Grashey, der diesen Artikel mit einer so charakteristischen Zeichnung schmückt, zwei emsige Förderer gefunden, auf deren Betreiben im Mai 1884 diese Hunde unter dem Tilel „Bayerische Gebirgsschweißhunde“ als selbständige dauernde Rasse anerkannt wurden – und im deutschen Hundestammbuch prangt nun „Hirschmann I“, ein Sprößling des Reichenhaller Zwingers, als geadelter Ahnherr des neuen Geschlechtes. Es sind das rothbraune, ockergelbe oder semmelfarbige Hunde, deren Größe, etwas unsportsmäßig ausgedrückt, zwischen dem Dächsel und dem hannövrischen Schweißhund die schöne Mitte hält. Der Leser kann sich nach dem Exemplar auf dem Bilde von Grashey ungefähr eine Vorstellung von dem Aeußeren derselben machen. Trotz ihres strammen und gedrungenen, so recht für die Verhältnisse des Gebirges passenden Körperbaues sind sie ungemein flüchtig und behend. Ihre dichte, bei aller Glätte fast stachlig rauhe Behaarung ist ihnen ein guter Schutz wider die strenge Witterung in den Bergen, und ihre Füße mit den gekrümmten stark entwickelten Nägeln und den rauhen lederzähen Ballen sind wie geschaffen, um sicher über glatte Felsen und schadlos über scharfes Gestein zu eilen. Auf einem kurzen, kräftigen Halse sitzt der halblange, energisch geformte Kopf mit der beweglichen Nase, den leicht überfallenden Lippen und den klaren, etwas vorliegenden Augen, deren gutmüthig freundlicher Blick in eigenthümlichem Gegensatze zu den ernst aufgezogenen Brauen und den altklugen Stirnfalten steht. Solch ein Hund und ein richtiger, echter Hochlandsjäger mit dem federgeschmückten Hütlein, den braunen, sehnigen Knieen und der blitzblanken Büchse, sie passen gar trefflich zu einander und geben ein prächtiges Bild, dem man bald immer häufiger begegnen wird, denn durch die Fürsorge des genannten Vereins wie durch Schenkungen des Reichenhaller Jagdherrn und anderer Kavaliere wird alljährlich eine Zahl von Berufsjägern mit dem besten und bildungsfähigsten Hundematerial versorgt, und daneben wird nun auch im eigenen Kreise der Jäger die Züchtung mit regerem Eifer betrieben, so daß die Zeit nicht allzu ferne ist, in welcher man an der Seite des Hochlandjägers ausschließlich den reinen Rassehund finden wird.
Der schöne Erfolg dieser Bestrebungen bedeutet einen doppelten Gewinn, denn es ist ja selbstverständlich, daß der Jäger mit weit größerer Freude und regerem Fleiße die Erziehung und Schulung eines Hundes betreiben wird, dessen natürliche Fähigkeiten allen Ansprüchen entgegenkommen, als die Abrichtung eines Thieres, dessen unvortheilhafte Eigenart sich schon den nothwendigsten Forderungen gegenüber spröde verhält. Und es ist ein weiter Weg, den der Jäger seinen Hund zu führen hat, vom Korbe bis zur jagdgerechten Vollendung. Das kostet manchen Tropfen Schweiß, viel Aerger und rastlose Mühe; aber all diese Arbeit wird durch ein gutes Stück Humor gewürzt. Wieviel des rührend Ergötzlichen wäre schon von den ersten Wochen zu erzählen, in denen das Junge noch unter der Hut der wachsamen Mutter steht! Dann kommt der erste Schmerz über den just getauften „Söllmann“ – aber trotz der kleinen Leiden, die ihm die böse Reinlichkeit verursacht, ist auch des Hundes schönste Zeit die Jugend. Während seiner Flegelmonate wird er zumeist in Pension gegeben, in „Milchkost“ auf einen einsamen Bauernhof, wo er das zarte Gebiß an unbewachten Lederhosen, Filzhüten und Pantoffeln kräftigt und das erwachende Müthchen in unterschiedlichen Parforcejagden auf das „Katzerl“ zu kühlen sucht. Der fünfjährige Seppel spielt mit dem Söllmann „Jaager und Hundei“, und wenn sich die beiden „am Berg“, d. h. auf einem mit Fichtenreisern bestellten Sandhügel müde gejagt haben, strecken sie sich zur Ruhe auf den weichen, grünen Rasen und lassen sich unter einträchtigem Schnarchen von Gottes lieber Sonne „die Decke“ wärmen. Alle paar Wochen einmal kommt der Jäger, um sich von seines „Mandei“ gesunder und kräftiger Entwicklung zu überzeugen. Durch diese Besuche schon lernt Söllmann seinen Herrn kennen, der ja niemals kommt, ohne dem zuthunlichen Schmeichler einen „nobligen“ Bissen mitzubringen.
Ein Jahr ist vergangen, Söllmann ist zu einem prächtigen Burschen herangewachsen, und glücklich hat er auch die „Sucht“ überstanden, diese böse Hundekrankheit, die schon manch ein vielversprechendes Thier dahingerafft hat. Ein richtiger Festtag ist es für den Jäger, an dem er seinen jungen Gesellen zum erstenmal an der Leine mit zu Berge führt, und mit Ergötzen beobachtet er das neugierige Schauen und Staunen, das rastlose Schnuppern [604] und Winden des Hundes, den all die neuen Eindrücke „schier narrisch“ machen. Bald ist die Jagdhütte erreicht – nur eine breite Lichtung, über deren Kräutern schon der Abend dämmert, muß noch überschritten werden. Da zieht ein Gabelhirschlein, mit erhobenem Grinde (Kopfe) sichernd, aus den dunklen Tannen hervor. „Da schau, Mandei,“ flüstert der Jäger, „da schau her!“ Söllmann steht verdutzt, aber seine Augen funkeln, seine Haare sträuben sich, ein Zittern befällt seinen Körper, und jetzt erwacht in ihm das Blut, und kläffend stürzt er dem äsenden Wild entgegen, um sich freilich schon nach dem ersten Sprunge an der würgenden Leine zu überschlagen. Das ist die erste Lehre für Söllmann – scheu zieht er den Schweif zwischen die zitternden Beine und schleicht mit scheinheiligen Blicken hinter die Fersen seines lachenden Herrn.
Droben in der Hütte beginnt die „höhere Stubendressur“, welche bei der Energie, mit der sie gehandhabt wird, gewöhnlich schon nach wenigen Tagen beendet ist. Willig fügt sich Söllmann allen Geboten der „Propridät“; er lernt es, sich während der Nacht ruhig zu verhalten, statt durch rastloses Umhertrippeln den kurz bemessenen Schlaf seines Herrn zu stören, und gewöhnt sich das lästige Betteln bei des Jägers Mahlzeiten ab.
Inzwischen lernt er auch draußen im Bergwald, vorerst das richtige Gehen, immer zur Seite seines Herrn oder dicht hinter dessen Fersen, ohne daß es der zwingenden Leine oder eines mahnenden Lockens bedarf. Kein Wurzelstock am Wege soll ihn länger als nothwendig aufhalten, er darf sich keine privaten Spaziergänge und Entdeckungsreisen seitwärts in die Büsche erlauben, er soll über einen spitzen Stein nicht winseln, beim Anblick eines Wildes nicht knurren. Keine den Weg kreuzende Fährte, und wäre sie noch so frisch, darf seine Jagdlust in Versuchung führen, kein Schuß darf ihn „hitzig“ machen. Er soll nicht einmal aus dem Gleichgewicht seiner Ruhe fallen, wenn er das Wild im Feuer stürzen sieht, und muß sogar das harte Stücklein lernen, bei einem auf der Erde liegenden Rucksack oder Wettermantel ungefesselt auszuharren, bis der Jäger, welcher auf einem besonders heiklen Pirschgang seinen treuen Gesellen gerade nicht brauchen kann, wieder zurückkehrt, um den braven Söllmann aus seinem Zittern und Fiebern zu erlösen. Das ist schon eine schöne Summe von Künsten, und dennoch ist das nur die Vorbereitungsschule; bevor der Hund in all diesen Dingen nicht fest und ferm ist, sollte der Jäger mit ihm die Schweißarbeit nicht beginnen. Gegen diese Regel wird allerdings, aus Noth oder Ungeduld, vielfach gesündigt.
Es würde zu weit führen, wollten wir Schritt für Schritt der Schule folgen, welche Söllmann von der Stunde an durchzumachen hat, in welcher er zum erstenmal den rothen Schweiß (Blut des Wildes) zu kosten erhält. Er mag um zwei oder drei Jährlein älter werden und dann zeigen, was er gelernt hat. Da muß er auf gangbarem Boden am Riemen der Schweißfährte folgen, eifrig und doch nicht zu ungestüm; jedes Tröpflein Schweiß muß er „zeichnen“, damit der Jäger jede rothe Flocke untersuchen oder, wenn diese Zeichen nicht erfolgen und auch auf dem Schußplatz weder „Schnitthaare“ noch Schweiß zu finden waren, mit Sicherheit schließen kann, daß seine Kugel gefehlt hat. Wird das Gelände so unwegsam oder das Dickicht so streng, daß der Jäger dem ziehenden Hunde nicht mehr zu folgen vermag, so muß Söllmann, vom Riemen gelöst, ebenso ruhig und besonnen weitersuchen wie zuvor an der Hand des Jägers. Findet er das Wild im „Bette“ schon verendet, so muß er es so lange „todt verbellen“, bis der Jäger herbeikommt. Wird aber das noch kräftige Wild vor dem Hunde munter, so muß er dasselbe „stellen“, was ihm in manchen Fällen wohl erst nach langer und beschwerlicher Hetze gelingt. Auf dieser „freien Suche“ beweist der Gebirgsschweißhund die ganze Eigenart seiner Begabung und seines selbständig arbeitenden Instinktes, fast möchte man sagen: Verstandes. Da hört das Wild gar häufig zu schweißen auf, und dennoch darf er die einmal angefallene Fährte nicht mehr verlassen oder verlieren. Kein „Wiedergang“ und Seitensprung des Hirsches darf ihn täuschen, und wenn das flüchtende Wild über eine Kluft hinweg „fällt“, welche für die Kräfte des Hundes zu breit ist, muß ihm sein Orientirungssinn den nächsten Umweg zeigen und seine gute Nase muß ihn jenseit der Schlucht die richtige Fährte wiederfinden lassen. So oft und so lange er bei der Hetze das Wild erblickt, muß er es seinem Herrn durch lautes „Halsgeben“ anzeigen, und ist es ihm gelungen, den Hirsch zu stellen, so hat er unter unaufhörlichem Standlaut vor ihm auszuharren, bis der Jäger erscheint, um das Wild durch einen Fangschuß zu strecken. Das währt oft viele Stunden und manchmal den ganzen langen Tag, und es sind sogar Fälle zu verzeichnen, daß besonders tüchtige Hunde, wenn die Jagd nach irgend einem verlorenen Winkel ging, Tage und Nächte bei dem gestellten oder verendeten Wilde ausgehalten haben, und Fälle, in denen Hunde nach mehrtägiger Abwesenheit zurückkehrten und den im pfadlosen Bergwald suchenden Jäger aufspürten, um ihn zu der stundenweit entfernten Stelle zu führen, wo seine Beute zu finden war. Da mag man es wohl begreifen, wenn solch ein Hund dem Jäger um keine Summe feil ist, und mag es verstehen, wenn es von den beiden im Volksliede heißt:
„Und das is Dir a Lieb’
Ohne Falsch, ohne End’,
Und das is Dir a Lieb’,
Wo kein’ Eifersucht kennt.
Und ich und mei’ Hundei,
Wir zwei halten z’samm’,
Wie d’ Stern’ mit’n Himmi,
Wie der Wald mit die Baam’.“
Das alles, von Anfang bis Ende, lernt sich nun freilich für Söllmann nicht so leicht und schnell, wie es da gesagt ist. Und gar fleißig hat in dieser Schule das Haselnußstöcklein mitzureden. Es faßt und lernt der eine Hund wohl leichter als der andere, auch will ein jeder in dieser Schule nach seinem Temperament behandelt werden. Ein „weicher“ Hund will mehr mit guten Worten gezogen sein, ein Schlag zur Unzeit kann ihn für immer scheu und stützig machen; ein anderer wieder, einer von der „groben“ Art, der braucht seine gesunden Hiebe ebenso nothwendig wie die volle Schüssel. Der verständige Jäger wird in beiden Fällen das richtige Maß zu halten wissen, er wird seinen Hund weder verzärteln, noch durch grausame Strafen „verschlagen“. Allerdings giebt es auch Ausnahmen, aber sie beweisen immer jenen Satz, daß die falsche oder schlechte Behandlung des Hundes einen schlechten Jäger verräth. Solch einer wird sich schließlich auch des gealterten Hundes ohne sonderliche Gemüthsbewegung entledigen, während dem echten Weidmann mit dem Verluste seines Hundes immer ein Stück eigenen Lebens vom Herzen geht. Es ist aber auch eine harte Sache für den Jäger, wenn er dem treuen Gesellen, mit dem er in einsamer Höhe Leid und Freud’ getheilt hat durch lange Jahre, die Kugel geben muß, um das von Alter und Strapazen gebrochene Thier doch wenigstens vor elendem Siechthum zu bewahren. – –
Da kommt mir die Erinnerung an einen Oktobertag, an dem ich zur Hirschbrunft auf die Berge stieg. Der Jäger, welcher mich führen sollte, erwartete mich in der Jagdhütte. Ich freute mich schon des lustigen Alten, machte aber verdutzte Augen, als ich seine trübselige Miene sah und den mürrischen Gruß hörte, den er mir bot. „Ja was is denn?“ meinte ich kopfschüttelnd. „Was machst denn Du heut für an Kopf? Mir scheint, heut’ hast an schiechen Tag?“
„Ja,“ murrte er mit heiserer Stimme vor sich nieder, „woltern an schiechen Tag! Mein’ Söllmann hab’ ich derschießen müssen – weißt, weil’s halt gar nimmer mit ihm ’gangen is. Den ganzen Sommer hab’ ich ihm noch ’s Gnadenbrot ’geben – aber den Winter hätt’ er nie nimmer überstanden – auf ei’m Aug’ hat er schon nix mehr g’sehen, und ’s Schnaufen hat er auch bald nimmer vermocht. No mein, da hat’s schon ihm z’lieb sein müssen, wann’s mich gleich so viel hart an’kommen is – denn so an Hund giebt’s ja gar nimmer, und wie der an ei’m g’hängt is, das kann ich kei’m Menschen net sagen! Aber no – – heut’ in der Fruh, da hab’ ich ihm fürs letztemal noch a Fleisch auf’kocht, und nachher hab’ ich ihn ’nausg’führt ins Holz, an a recht a schöns Platzl hin. G’wiß wahr, dreimal hab’ ich auffahren müssen mit der Büchs, so viel haben meine Händ’ ’zittert – und wie ich’s dengerst z’samm’bracht hab’, da hat er sich g’streckt im Schnall – a kleinwunzigs bißl hat er noch g’wedelt – und g’rad a wengerl hat er den Grind noch g’hoben und hat sich umg’schaut nach meiner, mit zwei so trübe, traurige Augen, wie wann er im letzten Schnaufer noch sagen hätt’ mögen: So? so machst es Du mit mir – mit mir …“
Dem Alten schlug die Stimme über; schnüffelnd fuhr er sich mit dem Aermel über die Nase und wandte sich ab, damit ich die Zähren nicht sehen sollte, die ihm über die furchigen Backen niederkollerten in den grauen Bart.
Der Besuch des Kaisers Franz Joseph I. in Berlin.
Mit derselben Begeisterung, mit der jüngst die Berliner Bevölkerung dem König Humbert von Italien entgegenjubelte, hat sie diesmal unseren andern hohen Bundesgenossen, den Kaiser Franz Joseph empfangen. Die grün-weiß-rothen Farben wichen den schwarz-gelben, und nicht minder malerische Eindrücke empfing das Auge des Beschauers diesmal beim Durchschreiten der Linden, deren Bewohner sich freilich erst am Morgen des 12. August zur Ausschmückung rüsteten, aber dann auch in der alten Zaubergeschwindigkeit den Gebäuden ihr buntes, oft entzückend schönes Gewand verliehen. Als ich bald nach acht Uhr die Linden betrat, hatten eben erst die Tapeziere ihre Gerüste bestiegen, und nur aus einzelnen Fenstern und Dächern wehten bereits die österreichischen Fahnen in ihren kraftvollen Farben.
Um Mittag aber war bereits jedes Haus unter den Linden geschmückt, und um diese Zeit machte sich auch schon eine gewaltige Bewegung dort und in der nach den Linden mündenden Friedrichstraße bemerkbar. Der Fremdenzufluß wächst in Berlin mit jedem Jahre, und in diesem haben die Fürstenbegegnungen das Ihrige dazu beigetragen.
Auch diesmal waren die Empfangstage von herrlichem Wetter begünstigt. Die Sonne lachte gleichsam vom Himmel herab und gab Veranlassung, daß halb Berlin sich nachmittags aufmachte, um – vom Schloß bis zum Thiergartenbahnhof Aufstellung nehmend – dem großartigen Gepränge zuzusehen. Immer dieselben Bilder und doch stets wieder neue! Aber am 12. August hatte namentlich die Empfangseinholung des Kaisers Franz Joseph am Bahnhof etwas überaus Imposantes.
Zwar der Zug, der bald nach fünf Uhr langsam in die Bahnhofshalle einfuhr und den Kaiser Franz Joseph und sein Gefolge mit sich führte, zeigte ein etwas düsteres Aussehen. Kein Schmuck, keine Blumen! Aber ein solcher ringsum in reichster Fülle, und als der hohe Gast nahte, brausten die Klänge: „Gott erhalte Franz den Kaiser“ als Willkommensgruß durch die Halle, und die Töne drangen hinaus zu der in athemloser Spannung harrenden Menge, die, dichtgedrängt, sich hinter dem Militär aufgestellt hatte; die Leibkompagnie des I. Garderegimentes zu Fuß mit der Fahne des I. Bataillons war auf dem Perron zur Ehrenwache kommandirt. Hier Blechmützen, dort rothe Federbüsche, glänzende Pickelhauben und Waffen! Etwa zehn Minuten waren nach der Einfahrt des Kaisers vergangen, als das Kommando „Das Gewehr über!“ erscholl und sich fortsetzte auf der langen Linie bis zum Schloß, in welcher das Militär im Spalier aufgestellt war. Wie plötzlich die Luft durchschwirrende unzählige Silberpunkte erschienen die stählernen Gewehrläufe, und als ob mit einem Zauberstab lautlose Ruhe geboten wäre, so verharrte neben dem Militär das Publikum. Plötzlich entstand eine Bewegung oben auf dem Perron; die Kaiser nahten, das laut schallende, markige: „Achtung! Präsentirt das Gewehr!“ erfolgte, und nicht als ob eine aus Hunderten zusammengesetzte Masse sich rühre, sondern als ob durch eine einzige stramme Kette ein blitzschnelles und ein neues Bild hervorzauberndes Zucken ginge, so flogen die Gewehre zum Präsentiren. –
Eben drang die Sonne, die sich hinter den Wolken versteckt hatte, durch die grünen Bäume des Thiergartens, und in derselben Sekunde – ein wundervoller Anblick – erschienen, hoch zu Roß, die Gardekürassiere in ihren silberglänzenden Rüstungen und Helmen. Das flimmerte und blitzte und silberte; und die Trompeten schmetterten, die Pferde bäumten und drängten sich, das Publikum schob sich ungeduldig vor, die Unruhe wuchs, die Schutzleute wehrten ab und die vor dem Bahnhofe haltenden höheren Offiziere sprengten zur Seite oder voraus.
Und nun die beiden Kaiser in einem mit vier feurigen Rappen bespannten Wagen! Kaiser Wilhelm in österreichischer Husarenuniform, der Kaiser von Oesterreich in der seines preußischen Kaiser Franz-Garde-Grenadier-Regiments, umjubelt von der Bevölkerung mit Hoch-, Hurrahrufen und Tücherschwenken, das sich fortsetzte bis zum Schloß und unterstützt ward von den Klängen der Musikcorps sämmtlicher Spalier bildender Gardetruppen. Ein großartiges Bild, alle diese kraftvollen, strammen Gestalten! Hier weiße Federbüsche, dort schwarze. Hier Lanzen mit Fähnlein, dort Kanonenmündungen und ungeduldig an den Trensen zerrende Gäule, hier die Gardeschützen, dort die Gardedragoner. Mann an Mann, geradlinig, unbeweglich, mit funkelnden Lichtern auf den Helmen, Epauletten und Waffen. Und hinter ihnen die grünen Coulissen des Waldes, und zwischen diesen und den Truppen Hunderttausende von jubelnden und begeisterten Menschen: Männer, Weiber, Kinder. Und Wagen, Droschken, Kremser und Equipagen!
Heil! heil dem Friedensfürst und Bundesgenossen, Kaiser Franz Joseph! Heil unserm Kaiser, dem Unermüdlichen, nie Rastenden, stets Schaffenden! – ging neben den lauten Begrüßungen der stumme Ruf durch die Massen. –
Nach Ankunft der Majestäten bestieg ich einen an dem Ende der Straße zurückgelassenen Wagen, um noch Eindrücke von dem regen Leben in der Bevölkerung zu gewinnen. Ein solcher ward mir, als ich, von den Zelten kommend, den Platz vor dem Brandenburger Thor und der Ecke der Dorotheenstraße erreichte.
Es ist schwer, diesen bunten Tumult zu beschreiben. Es war auch für die Schutzleute unmöglich, hier die strenge Ordnung aufrecht zu erhalten. Vom Brandenburger Thor, das noch nicht passirt werden durfte, drängten sich die Menschenmassen, von Charlottenburg kommend, theils in die Königgrätzerstraße, theils hierher. Wie ein vielseitig seinen Weg nehmender Strom breiteten sich die Massen aus. In der Sommerstraße war anfänglich noch Bewegung und Fortschritt, Droschken Lastfuhrwerk und Menschen wichen einer Abtheilung der in ihre Kasernen zurückkehrenden Gardetruppen aus. Aber bald änderte sich das Bild völlig.
Wohin das Auge sah, vorwärts, rückwärts, über den großen Platz, nach der Charlottenburger Chaussee, nach der Königgrätzerstraße – nur Menschenköpfe, Fuhrwerke, schwarz, dichtgedrängt eine enge Masse.
An der Ecke der Dorotheenstraße ist überhaupt kein Durchkommen. Das Publikum steht eingepfercht, kann weder vor- noch rückwärts. Da plötzlich biegt aus der Richtung der Linden an der Ecke der Kriegsakademie in der Dorotheenstraße eine Kolonne Artillerie um die Ecke. Die Schutzleute suchen die Straße frei zu machen, und die Menschen weichen auch so weit zurück, wie sie vermögen. Ein berittener Hauptmann der Artillerie sprengt voraus. Pferde und Kanonen rücken vor. Das rasselt und dröhnt [606] und zittert. Da stürzt eines der vor die Kanonen gespannten Pferde zu Boden. Als es sich wieder emporgerichtet, schiebt sich die Deichsel hoch in die Luft. Schreien und Rufen! Ein einzelner Fußgänger, der sich herangewagt, fällt, rafft sich auf und ein Schutzmann nimmt ihn beim Kragen. Nun ein furchtbar erregter Wortwechsel, das Publikum nimmt Partei, bis ein großer Holzwagen wieder Stockung verursacht und die Aufmerksamkeit abwendet. Zuletzt stehen die Köpfe der Fuhrwerkspferde fast Stirn gegen Stirn einander gegenüber und es giebt überhaupt kein Vorwärtskommen mehr. Ein Postwagen, der Eile hat, noch zur Bahn zu gelangen, hält bereits seit Minuten dicht am Trottoir, und ein Ulan, das Pferd am Zügel, hat Mühe, den ungeduldigen Gaul, mitten unter den Menschen eingezwängt, zu zügeln.
Endlich, endlich, nach schwerer Mühe wird die Straße freier und schrittweise kann’s weiter gehen. An der Ecke der Wilhelmstraße halten, wohlgezählt, neunzehn Droschken mit Koffern auf dem Bock. Reisende, die an den Lehrter Bahnhof wollen und sicher zu spät kommen! Und Trab giebt’s nicht, nur langsam vermögen sie sich durchzuwinden. Als ich, den Weg durch die Schadowstraße nehmend, die Linden erreichte, waren die Seitenwege und der Mittelhauptweg gedrängt voll Menschen, und das Café Bauer glich einer mit Fähnchen geschmückten belagerten Burg. Und das wälzte sich fort, endlos, hin und her, bis an den Abend, wo dann der Zapfenstreich abermals ein Bild von großartigster Wirkung bot.
Vor dem Königlichen Schlosse waren sämmtliche Musikcorps der Berliner, Potsdamer und Spandauer Truppen aufgestellt. Schon an sich ein kleines Heer! Gegen halb neun Uhr tauchten die langen Reihen der Fackelträger auf, – wandernde, flammende Lichter –, die sich allmählich mehr verengten und den ganzen Platz einschlossen. Hier das feurige Wogen in der Luft, dort das riesenhaft aus dem Dunkel emporragende Schloß mit seinen erleuchteten Fenstern und seinem vergoldeten, weit geöffneten Mittelbalkon, einsam und doch umgeben von Tausenden von Harrenden.
Nun erfolgt das Zeichen; die Wasser des Lustgartens springen, das Licht durchfluthet die Fontänen mit grünem und rothem Schein. Die Majestäten erscheinen auf dem Balkon, ein grandioser dumpfer Wirbel erfolgt, und dann setzen sämmtliche Instrumente zum „Gott erhalte Franz den Kaiser“ ein. Zugleich aber erschallt ein tausendfältiges Hurrah, das den Herrschern auf dem Balkon, das der Kaiserin gilt, die auch erscheint und deren Diamantengeschmeide durch die dunkle Nacht blitzt. Auch hinter den Fenstern erscheinen die Köpfe zweier Herrscher, Herrscher auf anderm, auf geistigem Gebiet, zwei Köpfe, bei deren Anblick jedem Deutschen das Herz höher schlägt: Bismarck und Moltke. Sie sind neben andern hohen Persönlichkeiten Gäste im Schloß. Nun erklingt der Radetzkymarsch zu Ehren des Kaisers Franz Joseph, andere österreichische und deutsche Märsche schließen sich an; dann kommt der große Zapfenstreich, und noch einmal nach langem anhaltenden Trommelwirbel – zum Schluß – wiederholt die Riesenkapelle die österreichische Hymne.
Dann aber ist’s vorüber! Die Menschen zerstreuen und ergießen sich in die einmündenden Straßen, in die Restaurants und Bierlokale. Nach 25 Minuten liegt der Lustgarten und dessen Umgebung wieder einsam da, und dem Zuschauer ist’s, als habe er ein Märchen erlebt. – –
Der zweite Haupttag in den öffentlichen Feierlichkeiten, die dem hohen Gast durch unsern Kaiser geboten wurden, war die große Parade des Gardecorps auf dem Tempelhofer Felde, die um neun Uhr begann und gegen zwölf endete.
Gegen die erstgenannte Stunde ritt Kaiser Wilhelm in großer Generalsuniform, mit kleinem Gefolge und Spitzreitern, durch die Friedrichstraße dem Tempelhofer Felde zu. Schon um diese Zeit waren bis zum Eingang dort alle Straßen mit Menschen besetzt, sämmtliche Häuser trugen reichen Schmuck, Fahnen, Blumen, Teppiche, oder was sonst ihnen festliches Gepräge gewähren konnte; und fast kein Fenster war leer. Dem Monarchen folgte eine halbe Stunde später der Kaiser von Oesterreich im offenen Wagen; er blickte an diesem Morgen sehr ernst, doch den stürmischen Grüßen der Bevölkerung mit freundlichem Dankesblick aus seinen milden Augen begegnend. Die neue Leibgarde der Kaiserin, in der Galauniform mit kirschrothen Aufschlägen, war eben vorausgeritten, um die hohe Frau vor der Kaserne des ersten Gardedragoner-Regiments zu erwarten, von wo später dieselbe in einem weißen Reitkleide mit den Abzeichen des Regimentes Königin-Kürassiere, dazu den breitkrämpigen Hut mit wallenden Federn – hoch zu Roß – in Begleitung des Kaisers Franz Joseph, der ebenfalls in der Gardedragoner-Kaserne zu Pferde gestiegen war, auf das Paradefeld sprengte.
Die Parade auf dem Tempelhofer Felde selbst bot diesmal ein militärisches Schauspiel ohnegleichen. Zunächst ritten die hohen Herrschaften, nachdem sie von dem Kaiser begrüßt worden waren und sich ihnen die glänzende Suite, unter ihnen der künftige Herrscher der österreichisch-ungarischen Lande, Erzherzog Franz Ferdinand d’Este, und der Regent von Braunschweig, angeschlossen hatte, die endlos langen Reihen der Truppen ab.
Nachdem der Präsentirmarsch verklungen war, erschollen die Klänge der österreichischen Kaiserhymne über das Feld, und wer für militärische Schauspiele empfänglich war, hatte an dem heutigen Morgen eine wahre Augenweide, als sich nun auch der Vorbeimarsch der Truppen vollzog. Endlos schienen die Massen. Immer neue Bilder; die Augen den Monarchen zugewandt, schritt ein Heer von Männern und Jünglingen vorüber, die jedes Land mit Stolz sein eigen nennen würde, und es schien, als ob die Mannschaft sich heute besonders bewußt wäre, welchen prüfenden Blicken sie unterstellt sei.
Der Kaiser führte die gesammten Truppen seinem hohen Gaste vorüber, nur das Kommando seines Kaiser Franz-Regiments übernahm der Gast selbst, und das erste Dragonerregiment der Prinz Albrecht. Zuerst die Fußtruppen in Kompagniefront, dann in Regimentskolonnen, die Kavallerie in Eskadron-, die Batterie in Batteriefront – beide zuletzt im Trab – zogen vorüber, und es war schwer zu entscheiden, welcher Truppengattung man den Vorzug geben sollte.
Auf dem Belleallianceplatz, in der Bellealliance- und Friedrichstraße stand das Publikum stundenlang. Namentlich als die Kaiserin bei der Rückkehr erschien, jubelte das Publikum hoch auf. Ihr bezaubernd freundliches Kopfneigen – der Kaiser mit seinem gleichsam aus Erz geschnittenen Gesicht salutirt stets mehr, als daß er die Grüße erwidert – reißt jedesmal die Berliner hin, die für eine zuvorkommende Erwiderung ihrer Huldigungem eine sehr lebhafte Empfindung haben.
Vereint in einem Wagen fuhren die Monarchen zurück, und auch an diesem Tage schien die Sonne und tauchte alles, Straßen, Menschen, Häuser und was sonst in Berlin sich geschmückt hatte, in Gold und lichte fröhliche Farben.
[607] Des Abends um 7 Uhr fand in dem herrlich und mit großer Pracht geschmückten Weißen Saale des Schlosses das Galadiner zu Ehren des Kaisers Franz Joseph statt, an welchem die österreichischen und deutschen höchsten Würdenträger der Diplomatie und des Militärs theilnahmen. Hier tauschten die beiden Herrscher jene hochbedeutenden Freundschaftsbeweise aus, welche lauten Widerhall in ganz Europa geweckt und das Vertrauen in die Erhaltung des Friedens aufs neue gestärkt haben.
Der folgende Tag, Mittwoch der 14. August, war verschiedenen kleineren, mehr familiären Feierlichkeiten gewidmet, und am 15. August verließ der Kaiser Franz Joseph die deutsche Residenz, wo er als Freund und Bundesgenosse unseres Kaisers und als „Herrscher des mächtigen Nachbarreiches, mit welchem uns geschichtliche Traditionen, gemeinsame Interessen und gleiche Liebe zum Frieden verbinden,“ aufrichtig und herzlich von der gesammten Bevölkerung begrüßt worden war.
Gold-Aninia.
Als Madulani am andern Morgen, dem ersten Weihnachtstage, sich zum Kirchgange vorbereitete, sagte er in seiner finstern Weise mit abgewendetem Antlitz zu seinem Weibe:
„Ich weiß, wo Du gestern abend warst, welche Gesellschaft Dir lieber war – als die Deines Mannes.“
„Ich war dort, wo ich hingehöre,“ entgegnete Frau Barbla ruhig, „Du hast mich selbst dorthin getrieben. Fängst Du an, die Leere um Dich zu spüren? Um so besser für Dich! Wäre ich so hart wie Du, empfände ich kein Mitleid mir Dir, so wärest Du tagaus, tagein, immerfort allein, denn die Bettlerin bliebe bei denen, die Du elend und zu Bettlern gemacht hast. – Gian!“ fuhr sie plötzlich mit weicher Stimme fort, sich ihm nähernd und die Hand auf seine Schulter legend, „gehe in Dich und beuge Dich einem Willen, der höher ist als der Deinige! Bedenke, es ist auch Dein Kind, und bald – bald naht ihr die schwerste Stunde ihres jungen Lebens. Gehe in Dich, Gian, und verzeihe – es möchte sonst vielleicht auf einmal zu spät dazu sein!“
Madulani hatte ihre Hand abgeschüttelt und war an das Fenster getreten, wo er, immer noch das Antlitz von seinem Weibe abgekehrt, stehen blieb. Er hatte die Zähne zusammengebissen und blickte unverwandt in den Schnee hinaus. Frau Barbla stand erwartungsvoll. Plötzlich lachte er höhnisch auf und rief, ohne sich dabei nach ihr umzusehen:
„Haha! Du meinst wohl gar, ich müßte – sie um Verzeihung bitten? Das wäre Dir schon recht, aber Du bist im Irrthum. Ich will Dir sagen, wie ich denke, damit all diese Reden ein für allemal aufhören. Was Du für sie – Deine Tochter gethan hast, ich wußte es vom ersten Augenblick an, doch ich wollte es nicht wissen – merke dies wohl! – ebenso wenig, wie ich sehen und hören werde, was Du weiter noch für sie thun wirst. Es mag drum sein, in des – –“ Die letzten bösen Worte gingen in einem häßlichen Zischen unter, doch kehrte er sich nun auch seinem Weibe zu. Wieder flammte sein Auge auf und seine Stimme klang hart und rauh. „Was aber ihn betrifft, an den ich nicht denken darf, ohne daß mich Zorn und Wuth übermannen, so möge er sich hüten! Ich will ihn nicht mehr im Dorfe sehen! – auch dies merke Dir! Dem Büttel werde ich befehlen, ihn zu fassen, wo er ihn auch in den Gassen findet. Wird er im Dorfe ergriffen, lasse ich, der Cavig, ihn gebunden über die Grenze des Bündnerlandes bringen, und zeigt er sich dann noch einmal in Surley, so ist er vogelfrei, und ich schieße ihn nieder wie einen räudigen Hund. Und nun – Gott befohlen!“
Damit nahm Madulani seinen Hut und verließ dröhnenden Schrittes Stube und Haus, um als Cavig der Gemeinde mit gutem Beispiel voranzugehen und an diesem hohen Feiertage dem Gottesdienste anzuwohnen.
Bei Beginn der Nacht fand der arme Beppo das bewußte Fensterchen erleuchtet, doch drinnen im Hause vorerst nur Mutter Barbla, die ihm bedeutete, daß Aninia nicht wohl sei und er sich rasch wieder entfernen müsse. Er fand sein Weib zu Bette liegend, und nur wenige Worte wechselten beide zusammen, dann gaben sie sich den Abschiedskuß. Schweren Herzens kehrte Beppo zu Mutter Barbla zurück, die ihn hastig mit sich fort aus dem Hause zog und den Weg nach dem Crestalta einschlug. Auf der ersten Höhe unter den Arven angelangt, hielt sie inne, theilte dem Horchenden die neuen, entsetzlichen Drohungen ihres Mannes mit und beschwor ihn, vor der Hand dem Dorfe und der Wohnstätte Aninias fern zu bleiben. Nach der Geburt des Kindes, die bald erfolgen würde, werde sich gewiß alles zum Besseren wenden, so meinte sie tröstend. Sie selbst werde ihm Nachricht über Aninia bringen oder durch Clo senden und werde ihn benachrichtigen, sobald es ohne zu große Gefahr anginge, daß er des Abends zuweilen sein Weib besuche. Sie drängte ihn hastig zum Gehen und wandte sich dann selbst nach dem Dorf zurück.
Stumm seinen Gedanken nachhängend, schritt Beppo die Höhe weiter hinan. Endlich blieb er stehen und sagte laut:
„– Mutter Barbla täuscht sich! Der Cavig hat’s ja geschworen: er wird nur dann verzeihen, wenn er ein Bettler geworden ist – und ein Bettler soll er werden!“
Von Stunde an ward Beppo von einer bestimmten Vorstellung beherrscht, die sein enges Denken ausfüllte und seinen heftigen Willen beherrschte: der reiche und grausame Madulani mußte ein Bettler werden, durch ihn, Beppo, und mit Hilfe des Surleywassers! Das stand ihm jetzt so fest wie die Felsen rings umher, er verwandte seine ganze Denkkraft nur noch darauf, Mittel und Wege dazu ausfindig zu machen. Hatte er am Morgen Clo oder Mutter Barbla gesehen, Nachricht von Aninia empfangen, so verbrachte er den ganzen Tag bis zur nächtlichen Dämmerung in der Fuorcla da Surley, dem Wildbach nachspürend, wie er die Kraft der Fluthen steigern, sie die rechten Wege leiten könnte, damit sie als verheerender Strom über des Verhaßten Besitzthum hereinbrächen. Vor den Einzelheiten eines solchen Zerstörungswerkes würde Beppo sicher zurückgeschaudert sein, es fiel ihm aber gar nicht ein, sie sich überhaupt vorzustellen, ihn beherrschte nur der eine Gedanke: „Madulanis Haus muß der Erde gleich gemacht, sein Vieh vernichtet werden, daß er arm wird wie ich!“ und in wahnsinniger Freude streckte Beppo die Arme empor und flog dann in wilden Sätzen über die Steinblöcke hin, dem Lauf des Wassers nach. Er lernte ihn bald in all seinen Windungen kennen, hoch oben von der Fuorcla an, wo der Wildbach am Fuße des Mortelgletschers entsprang, bis dort, wo er in der Thalsohle auslief; er wußte die Anzahl der großen Felsblöcke, die in seinem Wege lagen und die, durch die Macht des Wassers hinuntergeschwemmt, das ganze Dorf vom Erdboden hätten wegreißen müssen; er hatte ferner – und dies war das Gefährlichste in der Hand eines haltlosen und bis zum Wahnsinn aufgeregten Menschen wie Beppo – die Stelle entdeckt, wo im Frühjahr die Hauptmasse des Gletscherwassers einen Seitenabfluß fand, der in raschem Fall in den Silvaplanaer See mündete. Es war eine verhältnißmäßig schmale Felsenspalte in der schroffen Wand der Fuorcla, die er so oft und schon als Knabe mit Aninia hinabgeklettert war. Vom Boden auf sich langsam verbreiternd, wurde der schluchtartige Riß bald zu einer weiten Rinne, die jäh hinab in die Tiefe führte. Wurde dieser Ausfluß abgeschnitten, der Felsenspalt geschlossen, in irgend einer Weise fest verstopft, so mußte sich im Frühjahr hier eine große Wassermasse ansammeln, die den zu Thal fließenden Bach in einen reißenden Strom verwandeln konnte, der, an dem Gehöft des Cavigs vorbeifließend, gar wohl imstande war, das geplante Zerstörungswerk zu vollenden.
[608] Beppo jauchzte grimmig auf, als er sich davon überzeugte. „Heißa!“ schrie er, von einem Felsen zum andern hüpfend, „das soll donnern, das soll an Dein Haus klopfen, Cavig von Surley, daß Du vor Angst laut zu heulen anfängst! Und dann: drauf! drauf! Thüren und Mauern brechen, und immer höher steigen die Wellen und nehmen ihn mit, Deinen gottverfluchten Reichthum, alles, alles – bis Du ein Bettler geworden bist wie der arme Beppo, den Du so tief verachtest! – Und Aninia –“ er hielt zögernd inne, es war, als streife ein Lichtstrahl seine verwilderte Seele beim Gedanken an ihr warnendes, frommes Gesicht, aber dann flammte sein Zorn neu auf: „Hat er sie nicht auch elend gemacht, der Unmensch, sie, die früher weich gebettet war und nun auf dem harten Strohlager der Büssin liegen muß? Thue ich nicht recht, wenn ich ihn strafe, wie er es verdient? Das Geld, der Reichthum!“ schrie er wild auf, „sie kommen vom Teufel, sie machen alle schlecht, den Cavig, den Franzosen-Peider – alle! Es soll niemand mehr reich sein in diesem Thal, das Wasser soll alles mitnehmen, fort – hinunter – in den See hinein –“ seine Stimme brach in heiserem Flüstern und er stierte wie ein Wahnsinniger vor sich hin.
Von da an, mit den ersten Wochen des neuen Jahres 1791, begann in der Fuorcla da Surley ein unheimliches Treiben. Ueber die weiße Schneedecke huschte die in dicke zottige Felle gekleidete Gestalt Beppos, eher einem wilden Thiere als einem Menschen ähnlich, wie auch der Ausdruck seiner glühenden Augen jedem, der ihm während seiner seltsamen Hantierung begegnet wäre, Schrecken hätte einflößen müssen. In der Hütte am Crestalta hatte er die roh gearbeiteten Werkzeuge gefunden, welche von Fra Battista lange benützt worden waren: eine schwere eiserne Haue, eine Schaufel und eine Säge. Dies alles hatte Beppo nach der Surleyalpe geschleppt und dort unter dem Felsstücke verborgen, das vordem der Schäferkarre Paolos als Schutzwehr gedient hatte. Arven und Rothtannen sägte er am Boden ab und zerrte sie in die Fuorcla hinab, dorthin, wo der Felsenspalt sich öffnete, der dem Surleywasser im Frühjahr den Durchlaß nach dem Silvaplanaer See gewährte. Hier schichtete er in wochenlanger, angestrengter Arbeit, die ihm trotz der Kälte unter seinen dicken Fellen den Schweiß aus allen Poren hervortrieb, eine förmliche Balken- und Felsenwand auf. Die gefällten Bäume mit zahllosen Aesten, kleinere und größere Steine und Erde bildeten einen Verhau, der diesen Durchlaß vollständig sperrte. Trat jetzt ein rasches Thauwetter ein, so mußte die Wassermenge in der That eine ganz gewaltige werden und nicht minder gewaltig die schon dadurch verursachte Zerstörung.
Doch so weit dachte Beppo nicht mehr: er mußte die Ueberschwemmung zuwege bringen, die Madulani zu Grunde richten sollte, alles andere spielte in seinen Gedanken, die sich nur um den einen Punkt drehten, keine Rolle.
Tag für Tag hatte er mit schier übermenschlicher Anstrengung hantiert, bis er endlich erlahmte und eines Morgens nicht mehr imstande war, seine Klause zu verlassen. Da fand ihn Clo, der Beppo auch in dessen Abwesenheit mit Nahrungsmitteln versorgte. Selten hatte er Beppo getroffen, der stets vor hellem Tag den Crestalta verließ. „Wo steckst Du denn eigentlich, was treibst Du?“ fragte er den Einsamen neugierig. „Komme ich in der Früh, bist Du auf und davon geflogen, und komme ich am Abend, bist Du noch nicht zurück – und bei diesem Wetter, dieser Kälte!“
„Am Abend warte ich die rechte Zeit ab, wo ich mich in das Haus Deiner Mutter zu Aninia schleichen kann,“ antwortete Beppo verlegen, „und am Tage – gehe ich nach Campfèr. Dort ist es in der Herberge wärmer als hier.“
„Daß Du abends dann und wann bei Deinem Weibe bist, das weiß ich, auch daß Deine Schwieger den Büttel, der besser ist als – sein Herr, vermocht hat, ein Auge zuzudrücken, wenn er Dich etwa bemerken sollte. Mache nur, daß der Cavig nichts davon erfährt – es könnte sonst böse Zeit für Dich anbrechen. Daß Du Deine Tage in Campfèr zubringst, hast Du mir schon einmal gesagt, aber als ich jüngst dort in der Herberge einkehrte, wußte man mir nichts von Dir, noch von irgend einem andern Bergamasker zu berichten. Ich fürchte, Beppo, Du gehst auf bösen Wegen!“
„War ich nicht in Campfèr, so war ich in San Maurizio, bei dem Mönche, der dort haust – oder anderswo!“ warf Beppo recht ungebärdig hin. „Warte es ab, Du wirst es erfahren.“
Clo sah ihn scharf von der Seite an, doch sagte er nichts und dachte sich: „Ich werde es erfahren, jawohl, und ohne Deine Erlaubniß!“
Wie Clo es eben schilderte, so verhielt es sich. Des Cavigs Befehl war von dem Büttel im Anfang streng, dann aber nur scheinbar streng ausgeführt worden. Beppo hatte nach der Weisung von Aninias Mutter das Haus der Büssin nicht mehr betreten. Als die gute Barbla jedoch das Leid ihres Kindes, seine Thränen und Klagen nicht länger ertragen konnte, da hatte sie sich an den alten Mann gemacht, der die Stelle des Büttels und zugleich die des Nachtwächters der Gemeinde innehatte und sein hartes Amt nur deshalb so pünktlich ausführte, weil er eine heillose Angst vor dem Zorn des strengen Cavigs hatte. Der Mann ließ mit sich reden, und es wurde ausgemacht, daß, wenn er nächtens als Wächter in die Nähe des Hauses der Büssin käme und dort an einem bestimmten Fenster ein Lichtchen bemerkte, daß er dann einen andern Weg einschlagen und den Beppo nicht sehen sollte, selbst wenn dieser dicht an ihm vorüberliefe. So war es denn gekommen, daß trotz Madulanis Befehl und Willen Beppo manche Stunde an der Seite seines jungen Weibes weilen durfte, das seines leidenden Zustandes halber die meiste Zeit im Bette zubringen mußte. Es waren für die beiden Hartgeprüften nur kurze Augenblicke eines Glückes, das nicht mehr in heller Freudigkeit aufleben wollte. Beppo hoffte, doch Aninia trug eine Ahnung in sich, als ob ihr Schicksal sich nimmermehr zum Besseren wenden würde.
Mittlerweile war das erste Viertel des Jahres vergangen, und der nahende Frühling kündete sich durch wärmeren Sonnenschein und ein langsames Aufthauen der glänzenden Schneekrusten an. Da trat eines frühen Morgens – es war kaum hell geworden – Clo in das Gewölbe, wo Beppo noch immer fest schlief. Er rüttelte kräftig den Schlaftrunkenen, und als dieser sich endlich aus seinen Fellen herausschälte und sich die Augen reibend aufrichtete, da sprach der lange Clo mit einer sichtlich freudigen Theilnahme:
„Steh auf, Du Faulpelz! Heute kannst Du scheint’s schlafen, statt Dich schon in der Frühe draußen herumzutreiben! Ich bringe Dir Neues und Angenehmes, will Dich von hier, aus diesem elenden Steinloche fort und mit mir nehmen. Seit zwei Tagen suche ich Dich überall vergeblich und deshalb komme ich heute noch bei halber Nacht zu Dir.“
„Was ist’s mit Aninia?“ stieß Beppo, aufspringend, noch schlaftrunken heraus; „es ist doch nichts Schlimmes geschehen?“
„Nein, dort ist noch alles beim alten,“ entgegnete Clo, „wiewohl meine Mutter sagt, jede Stunde könne Euer Kindlein bringen. Doch handelt es sich in diesem Augenblick nicht um einen Eintritt ins Leben, sondern um einen Abschied auf Nimmerwiederkehr. Meine Schwieger, die alte Cadruvi, ist vor zwei Tagen gestorben – sanft eingeschlafen – und gestern haben wir sie begraben. Zugleich sind wir, meine Frau und ich, aus den Dachkammern in das Gelaß der Hausleute gezogen, wie sich dies gehört. Deshalb konnte ich Dich nicht in der Fuorcla aufsuchen, wo ich Dich endlich vom Dorfe aus erspäht habe. Nun sollst Du in den Dachkammern, die gar nicht übel sind, wohnen, wie später, wenn alles glücklich vorüber ist, auch Dein Weib, die Aninia dort einziehen wird – oder der alte Bär, der Cavig, müßte denn sein Knurren und Brummen einstellen und Euch das Thor seines Palazzos aufthun. Wir alle wollen hoffen, daß es geschieht; aber einstweilen ziehst Du zu mir. Komm!“
„Du guter Clo!“ sagte Beppo mit nassen Augen, zugleich die Arme dem Langen um den Hals legend. „Für mich, den armen, wie ein Wild gehetzten Beppo, willst Du Dir den Zorn des Cavigs aufladen?“
„Oho!“ rief der andere langgedehnt und mit trotzigem Ton: „In meinem Hause bin ich jetzt Herr und Gebieter so gut wie der Madulani in dem seinigen und wie ein jeder andere Häusler in unserem Bündnerlande, und ich kann in meinem Hause beherbergen, wen ich will, das ist mein gutes Recht. Er wird sich hüten, mir nur ein Wort dagegen zu sagen, mich nur mit einem Blick merken zu lassen, daß ihn Dein Aufenthalt bei mir wurmt. War ich bis vorgestern auch noch abhängig von meiner Schwieger, so bin ich heute ein freier, eingesessener Mann wie der Madulani und in meinem Hause meine eigne Obrigkeit. – Nur eines hast Du Dir zu merken: Laß Dich bei Tag nicht in den Gassen sehen! – Erkennt Dich der Büttel abends, dann geht er wie bisher einen andern Weg; doch trifft er Dich am Tage, dann muß er zugreifen,
[609][610] das ist seine Pflicht, und es zu befehlen, dazu hat der Cavig ein Recht. Das merke Dir wohl! Am Tage bleibst Du von jetzt an hübsch daheim; damit Du nicht allzusehr verwilderst, kannst Du meinetwegen meiner Frau am Herde helfen, die Suppenbrühe kochen, oder das Maronen- und Roggenbrod backen. Am Abend gehe ich dann selber mit Dir zu Deinem Weibe.“
„Ich will thun, wie Du sagst, um meiner lieben Aninia willen. Freilich – ihr so nahe zu sein und sie nicht immer sehen zu können –“
Clo ließ ihn nicht ausreden, packte ihm seine Habseligkeiten unter den Arm und zog ihn fort.
Beide waren unter den letzten Arven am Fuß des Crestalta, in der Nähe der Häuser von Surley angelangt. Clo hielt inne und spähte scharf nach dem Dorfe hin, denn nahe der Wohnstätte des Cavigs, gleichsam unter dessen Augen mußten sie Clos Haus zu erreichen suchen. Dann aber rief er mit raschem Entschluß: „Voran! Gleichviel, ob der Brummbär uns sieht oder nicht – erfahren wird er es doch!“ und beide eilten über die Schneefläche der Wiese dem Dorfe zu.
Da wurden sie unvermuthet und just am Ziel aufgehalten. Aus dem Hause der Cadruvi trat in großer Hast die Maria Büssin, ein in Leinen gehülltes Päckchen unter dem Arm und begleitet von der Staschia. Kaum hatte erstere die beiden Männer erblickt, als sie mit einem Freudenruf auf sie zueilte und fast überlaut rief: „Beppo, freue Dich! Deine Aninia hat Dir vor einer Stunde ein kleines Mädchen geschenkt. Sie ist wohl, und das hübsche kleine Ding zappelt und schreit recht kräftig und lustig.“
Beppo war bei dieser unerwarteten Freudenbotschaft wie erstarrt stehen geblieben. Dann schlug er die Hände zusammen, stammelte einen Freudenlaut und im folgenden Augenblick riß er sich von der Seite Clos und stürmte ohne Rücksicht auf Ort und Zeit, auf den Freund und seine Mutter in der Richtung nach dem Hause der Büssin davon. Die anderen eilten ihm besorgt nach, doch Beppo, der wie im Fluge weiterstrebte, hatte bereits einen großen Vorsprung. Jetzt mußte er über das Wasser – nun an dem Hause Madulanis vorüber; er bemerkte nichts davon in seiner Aufregung, ebenso wenig wie er die funkelnden Augen des Cavigs bemerkte, der hinter dem kleinen Fenster stand und mit größtem Erstaunen und aufloderndem Zorn den Verhaßten und Gebannten am hellen Tage in Surley erkennen mußte. Mit keinem Blicke sah Beppo, daß der Wächter und Büttel ihm gerade entgegenkam – und diesmal konnte der wackere Mann dem Bergamasker nicht ausweichen, denn der Cavig stand bereits unter der Thür seines Hauses und kehrte die scharfen Augen nach ihnen beiden hin. Schon aus der Ferne schrie der Büttel dem Dahinstürmenden zu: „Halt ein! – halt!“ – Da fuhr Beppo jäh zusammen und blickte auf. Kaum hatte er das Hinderniß erkannt, das sich ihm auf seinem Wege entgegenstellte, da erfaßte ihn eine sinnlose Wuth. Die Fäuste geballt, sprang er in weiten Sätzen wie ein Raubthier auf den Mann zu, erfaßte ihn, und noch bevor der andere sich des plötzlichen Angriffs voll bewußt worden war, schleuderte er ihn mit wilder Gewalt mehrere Schritte zur Seite und zu Boden. Dann setzte er seinen eiligen Lauf fort und war in wenigen Augenblicken für die ihm Nachschauenden verschwunden.
Schon war der Cavig zur Stelle. Am ganzen Leibe bebend vor Zorn, sagte er zu dem sich ächzend vom Boden erhebenden Manne mit keuchenden Lauten nur die Worte: „Komm! jetzt will ich ein Ende machen – für immer!“
Mit dem ihm nachhinkenden Büttel schritt er weiter, sich nicht um die Büssin, den langen Clo und dessen Weib kümmernd, die voll Entsetzen über das, was da vorgegangen war – und was jetzt geschehen konnte, ihre Schritte beschleunigten, an Madulani vorbeieilten und in das Haus, wo die junge Mutter weilte, eintraten, als jener noch eine ziemliche Strecke davon entfernt war. Bald hatte auch Madulani den Eingang erreicht, da erschien im selben Augenblick sein Weib Barbla auf der Schwelle. Mit blitzenden Augen und einer heftig abwehrenden Bewegung rief sie ihm zu:
„Hinweg! hier hast Du nichts zu suchen – wenn Du nicht mit Reue im Herzen kommst, um Deinen Frevel gutzumachen!“
„Gieb Raum, Weib!“ donnerte Madulani ihr entgegen, „ich, der Cavig, befehle es Dir – wenn ich mich nicht an Dir vergreifen, mir den Eingang nicht mit Gewalt erzwingen soll.“
Da reckte sich hinter Mutter Barbla die lange Gestalt des Clo hoch empor, und mit gemüthsruhigem Ton sagte er: „Was fällt Euch ein, Herr Madulani? Wäret Ihr zehnmal der Cavig, so habt Ihr in diesem Hause – und mit Gewalt erst recht nichts zu schaffen. Ihr vergesset, daß ich seit zwei Tagen eingesessner Bündner bin und in meinem Hause wie in dem meiner Mutter jetzt allein Recht zu sprechen habe, beherbergen kann, wen ich will, und Gewalt mit Gewalt begegnen darf. Versucht’s nur und Ihr sollt es erfahren!“
Madulani fuhr einen Schritt zurück, einen dumpfen Zorneslaut ließ er hören und schwer athmend mußte er sich an der Mauer des Hauses halten. Die Worte Clos hatten ihn wie Keulenschläge getroffen, denn er wußte genau, daß jener im Rechte war und er nichts gegen ihn ausrichten konnte. Da sprach Mutter Barbla ruhig zu Clo: „Gehe hinein, Clo, und siehe zu, daß der Beppo in seiner Aufregung keine Dummheiten macht – ich habe mit dem Cavig zu reden.“
Clo entfernte sich, im Grunde wohl froh, einer weiteren Auseinandersetzung mit dem gefürchteten Manne überhoben zu sein, und Madulani keuchte höhnisch: „Was könntest Du mir zu sagen haben? Schmach und Schande habt Ihr reichlich auf mein Haupt gehäuft und nun wollt Ihr auch noch dem Cavig Trotz bieten?“
„Laß den Mann dort sich entfernen,“ sprach Mutter Barbla, auf den Büttel weisend, mit gleicher Ruhe wie früher, „was ich dem Cavig, meinem Mann, zu sagen habe, braucht vor der Hand kein anderer zu hören, wenn es auch bald das ganze Dorf erfahren wird.“
Einen Augenblick zauderte Madulani, eine seltsame Unruhe überkam ihn, dann gab er dem noch immer in seiner Nähe harrenden Büttel einen Wink, und der Mann, selber froh, einer peinlichen Obliegenheit überhoben zu sein, eilte so rasch davon, als seine geschundenen Gliedmaßen es nur erlaubten. Dann sagte der Cavig: „Jetzt rede! es hört und sieht uns niemand mehr.“
„Weißt Du, was da drinnen in dem elenden Steinkasten vorgeht, weshalb der Beppo ein Recht hat, dort bei Deinem Kinde zu sein, während Du, der Vater, draußen in Schnee und Kälte wie ein Büßer harren mußt? Ich will es Dir sagen. – Vor wenigen Stunden hat Deine – unsere Tochter, das Weib des Beppo, einem Kinde das Leben gegeben, während ihr eigenes Leben an einem Faden hing. Doch Gott der Herr hat die Aermste beschützt, die Mutter und das Kindchen, ein liebes Mädchen mit goldblonden Härchen, sie sind gesund – und werden es mit Gottes Hilfe und unserer Pflege auch bleiben.“
Ihre Stimme zitterte von verhaltenen Thränen. Madulani stand noch immer gegen die Mauer gelehnt, keines Wortes war er im Augenblick fähig; was er da vernommen, hatte bei ihm eine Empfindung im Herzen erweckt, die er bis dahin noch nie gespürt hatte. Es war wie ein heißes Aufwallen von innen heraus, er wollte sagen: „Laß mich hinein zu meinem Kinde!“ Aber er vermochte die Worte nicht auszusprechen. Er würgte sie hinunter. Im gleichen Augenblick schoß ihm der Gedanke durch den Kopf: „Sie wollen dich übertölpeln!“ und hiermit war die bessere Regung verflogen und der alte Haß und Grimm kehrten wieder. Da er kein Wort laut werden ließ, mit keiner Gebärde kundgab, was in ihm arbeitete, zum Guten oder zum Schlimmen, sprach Mutter Barbla, die erwartungsvoll in sein Gesicht gesehen hatte, hoffnungslos und traurig:
„Nun weißt Du, was ich Dir zu sagen hatte, nun gehe heim, denn ich muß zu meinem Kinde, bei dem ich auch die nächsten Tage bleiben werde!“
Nach diesen Worten trat sie in das dunkle Innere des Hauses zurück und schloß die beiden Theile der Thür. Madulani stand noch eine ganze Weile stumm und regungslos an derselben Stelle, endlich machte sein Körper eine unwillige, trotzige Bewegung, dann schritt er davon, seinem öde gewordenen Heim zu, ohne nur den Versuch zu wagen, heimlich durch eines der Fenster in die Stube zu schauen, wo seine Tochter mit ihrem Kindchen ruhte.
Dort war Beppo bei seinem Eintritt in die Kniee gesunken und, die Hände gefaltet, die von Freudenthränen nassen Augen auf Aninia und sein Kindchen, das an der Mutter Brust lag, gerichtet, schien er in vollkommener Verzückung sich zu befinden. Sein junges, [611] bleiches Weib schaute ihn matt, doch mit einer verklärten Freude an, und erst nachdem die Büssin Aninia das Kind weggenommen hatte, näherte sich Beppo ihr auf den Zehen und hauchte vorsichtig, leise einen Kuß auf seines Weibes bleiche Stirn. Dann vergrub er seinen dunkeln Lockenkopf zwischen die Decken auf ihre Hand und blieb lange, lange so liegen.
Mutter Barbla aber sagte leise: „Arm seid Ihr wie die Bettler, das ist wahr, aber was Ihr hier habt, das kann sich der Reichste nicht kaufen. Oder meinst Du, Beppo, daß jetzt in dem öden Hause da drüben dem Cavig seine vielen Thaler was nützen?“ – Aber Beppo hörte sie nicht, er erhob die Augen zu seiner Aninia und beide fühlten sich im innersten Herzen selig. –
Zwei volle Wochen lang durfte das junge Paar sein stilles Glück ungetrübt genießen, denn Beppo hauste ja in Surley und fand fortan auch kein Hinderniß mehr auf seinen Wegen, wenn er von dem Hause Clo zu dem der Büssin schlich. Es war auch in anderer Hinsicht gut für ihn, daß er den Crestalta hatte verlassen dürfen; es regnete unaufhörlich und wie in Strömen vom Himmel herab, sein Gewölbe auf dem Crestalta war mit Wasser gefüllt und unbewohnbar geworden. Er achtete nicht darauf, ebenso wenig wie er jetzt noch an das dachte, womit er sich seit Monaten in der Fuorcla da Surley beschäftigt hatte. Aber die Mahnung daran sollte nur zu bald kommen!
Die Anschauungen von den Alpen im Wechsel der Zeiten.
Unter den Tausenden, die alljährlich im Spätsommer von ihren Ausflügen in das Gebirge, namentlich in die Alpen, heimkehren und in schwärmerischer Begeisterung an die Schönheiten und ästhetischen Genüsse, die sie hier in reichster Fälle gehabt haben, zurückdenken, sind sicher nur wenige, die sich dessen bewußt sind, daß der Mensch in früheren Zeiten diese Genüsse nicht gekannt und am allerwenigsten sie in solchen Gegenden erwartet und gesucht hat.
Der ästhetische Genuß an den Schönheiten der Alpenlandschaft ist erst ein Kind der neuesten Zeit. Ja, in früheren Jahrhunderten waren die in Alpenlandschaften aufgenommenen Eindrücke gerade die entgegengesetzten, und es ist nicht uninteressant, den historischen Gang dieser Wandlung zu verfolgen.
Schon die Römer hatten durch Hannibal, die Cimbern und Teutonen, die helvetischen Kriege Kunde von den Alpen. Aber diese Welteroberer kamen nie über ein unheimliches Grauen hinaus, welches die Hochgebirgswelt ihnen einflößte. Die Anschauungen der Römer von Grauen und Finsterniß in den Alpen gingen auch auf das Mittelalter über.
Schneegebirge fand man unschön und abschreckend; man bewunderte sie nicht, sie erfreuten auch nicht – man staunte sie nur als etwas Ungeheuerliches mit Entsetzen an. Es fehlte die ästhetische Freude an der Natur, und wer die Pässe und Uebergänge benutzen mußte, machte vorher sein Testament. Die Thäler und Höhen des Gebirges glaubte man mit menschenfeindlichen, geisterhaften Wesen bevölkert, und spukhafte Sagen knüpften sich an einzelne Berghöhen an, wie z. B. an den Pilatus.
Erst Konrad Gesner war es, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei den Wanderungen im Hochgebirge freudigen Naturgenuß empfand. Diese neuere Anschauung begeisterte einzelne Männer zu dichterischen Beschreibungen. Rebmann führt sogar (in seinem „poetisch Gastmahl“) den Niesen und den Stockhorn in poetischer Unterredung – am 8. August 1600! – zusammen. Bei aller Komik seiner Poesie war auch ihm schon ein Dämmerschein von der Schönheit und Erhabenheit der Hochgebirgswelt aufgegangen. Aber trotz alledem förderte das ganze 17. Jahrhundert infolge der kriegerischen Unruhen weder in wissenschaftlicher noch in ästhetischer Beziehung die Kenntniß und Werthschätzung der Alpen.
Der belgische Gelehrte Daniel Eremita behauptete zu Anfang des 17. Jahrhunderts in seiner Beschreibung der Schweiz, „die Aelpler, die auf den höchsten Gebirgen ihre Viehheerden weiden, würden durch diese gänzliche Abgeschiedenheit dermaßen ihren Thieren gleich, daß sie die menschliche Sprache völlig verlernten.“ Selbst Künstler empfanden, mit Ausnahme des einzigen Salvator Rosa, nicht den Reiz der Alpenschönheit, während flache, kahle Ebenen als „feine, lustige“ Landschaften galten. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts kann der Schweizer J. C. Füßli in seinem Werke „Staats- und Erdbeschreibung der schweizerischen Eidgenossenschaft“ nicht begreifen, wie man das Engelberger Thal schön heißen möge. „Was findet man da?“ ruft er aus; „nichts als scheußliche Berge, zwischen denselbigen ein schönes Kloster, aber ein schlechtes Dorf, hin und wieder zerstreute Häuser und eine kahle Almend. Keine Gärten, keine Fruchtbäume, keine das Auge belustigenden Felder sind da!“
Selbst die Alpenluft war im Verruf, und noch 1705 wurde mit großem Aufwand von Gelehrsamkeit behauptet, die „Schweizerluft“ mache wegen ihrer „Ungesund- und Grobheit“ die Gemüther der Bewohner ganz „dumm“. Daher rühre bei den Schweizern auch das Heimweh, weil sie in der Fremde eine gesündere und reinere Luft nicht vertragen könnten „gleich den Wiedehopfen, die, an den übelriechenden Mist gewöhnt, anderswo nicht leicht gedeihen.“
Der Züricher Stadtarzt Scheuchzer wurde endlich im Anfange des 18. Jahrhunderts der Verkündiger einer besseren Anschauung. Er empfand in den Alpenlandschaften „größere Belustigung und mehr Eifer zur Aufmerkung, als bei den Füßen des großen Aristoteles, Epicur und Cartesius“. In dem Hochgebirge sah er ein erhabenes, bis in seine einzelnen Theile wohldurchdachtes prachtvolles Bauwerk. Er hat das unschätzbare Verdienst, das Dunkel wesentlich erhellt zu haben, welches dem menschlichen Auge so lange die Schönheiten der Alpen entzog.
Was Scheuchzer begonnen, führte Albrecht v. Haller seit 1728 weiter aus. In ihm hatten die Schönheiten der Alpen ihren würdigen Sänger gefunden, und seitdem erst sind auch die zeichnenden Künste nicht mehr zurückgeblieben.
So wurden durch das Zusammenwirken verschiedenartiger Anregung die Alpen schon häufiger besucht und bewundert, und so wurden die montagnes maudites und der Montblanc, der höchste Alpenriese, der Scheuchzer im Anfange des 18. Jahrhunderts noch unbekannt geblieben war, durch die Briten Windham und Pocock entdeckt. Aber erst die Forschungen eines La Condamine unter dem Aequator, auf den Gipfeln der Cordilleren in Peru, wirkten nach Europa zurück, um 1787 Horace de Saussure mit Barometer und Thermometer auf den Gipfel des Montblanc zu führen. Seitdem begannen die zahlreichen Wanderungen in die Alpen und die Besteigungen ihrer Höhen.
Ueber Beweggrund, Zweck und Ziel dieser Wanderungen sagt Fr. v. Tschudi: „Ein unbekanntes Land, ein Land voll Zauber und märchenhafter Pracht schimmert über den letzten grünenden Bergstufen, über den letzten und breiten, grauen Felsengalerien, still und ernst wie der Tod, erhaben und majestätisch, wie die Herrlichkeit des Ewigen, ein Bindeglied zwischen Himmel und Erde, wo der Mensch und die ihm gerechte warme Natur keine Heimath mehr findet, wo dieser stolze Herrscher der Welt, von dem Gefühle seiner Ohnmacht übermannt, nur stundenlang, nur mit flüchtigen Pilgerschritten einen Gang zu den höchsten Wundern der Erde wagt. Es ist ein geheimnißvoller, unerklärlicher Reiz, der ihn anlockt, den überall lauernden Todesgefahren zu trotzen, sein warmes, zerbrechliches Leben über viele Meilen lange Gletscher zu tragen, oft in der selbsterbauten elenden Hütte es mühselig gegen tobende Stürme und tödlichen Frost zu bergen und dann, zwischen Tod und Leben hängend, mit kurzem Odem und zitternden Gliedern die schmale Sohle eines majestätisch thronenden Schneegipfels zu gewinnen.“
Der Besuch der schweizer Alpen hat seither sich von Jahr zu Jahr gesteigert; heutzutage sind der Besteigungen unzählige, sie sind zu einem förmlichen Sport geworden, der denn auch nicht verfehlt hat, berechtigte Mißbilligung herauszufordern.
Oft werden ja leider solche Besteigungen nicht um der körperlichen und geistigen Erfrischung, nicht um eines wissenschaftlichen Zweckes willen unternommen, sondern um einer Leidenschaft oder gar einer Eitelkeit zu fröhnen.
Der „Bergfex“ sucht den Reiz der Gefährlichkeit, wie der verwöhnte Gaumen nach immer raffinirteren Speisen verlangt; für ihn ist nicht mehr das die Hauptsache, daß er einen Gipfel erreicht, um sich von seiner Höhe aus in die Anschauung einer großartigen Bergwelt bewundernd zu versenken, sondern das, daß er diesen Gipfel auf möglichst unbetretenem und möglichst halsbrecherischem Pfade oder vielmehr Nichtpfade „nimmt“. Das ist eine Verirrung, gegen die ebensosehr Verwahrung eingelegt werden muß, als wenn ein Feldherr eine Schlacht in absichtlich ungünstig gewählter Stellung schlagen wollte, um dadurch den Reiz des Sieges zu erhöhen. Diese unsinnig waghalsigen Bergtouren, die fast alljährlich ihre Opfer fordern, mögen noch so sehr mit erhabenen Empfindungen verbrämt werden, sie sind und bleiben ein Spiel mit Menschenleben und darum sind sie unsittlich. Ein Menschenleben darf nur dann eingesetzt werden, wenn ein erhabener Zweck da ist, der den möglichen Verlust aufwiegt.
Es verdient aber andererseits anerkannt zu werden, daß neben diesen Sportsleuten auch eine stets sich mehrende Zahl solcher Männer sich der Erschließung neuer Regionen in den Alpen widmet, die wirklich wissenschaftliche Zwecke, sei es auf dem Gebiete der Topographie und Geologie, der Botanik, Mineralogie und Zoologie oder auf dem der Meteorologie und verwandter Zweige, verfolgen. Sie sind würdige Nachfolger eines La Condamine und Saussure; ihnen folgt, auch wenn sie auf dem stets sich verengenden Felde des Unbekannten nur kleine Erfolge erzielen, doch die Achtung der Gebildeten und ein ehrendes Andenken, falls sie über solchem Thun ihr Geschick ereilen sollte. Julius Löwenberg.
Blätter und Blüthen.
Gegen das Strumpfband! Den Herren von der Gefolgschaft Aeskulaps ist auch gar nichts recht zu machen – bald wird es keinen Toilettengegenstand mehr geben, gegen welchen sie nicht schon geeifert haben. Die Schnürbrüste, die Rockbänder, die hohen Absätze, nichts findet Gnade vor ihren Augen. Und jetzt soll gar noch das unschuldige Strumpfband auf den Index gesetzt werden!
Ein so harmloses Ding! Wie kann denn dieses kleine Bändchen, welches um die Beine geschlungen wird, gewaltigen Schaden anrichten?
Nun, der Schaden ist just groß genug, um einmal zu einer Betrachtung herauszufordern. Der menschliche Organismus ist ein sonderbar Ding – er kann recht gut einen gehörigen Ruck vertragen. Eine einmalige heftige Gewalt schadet oft weit weniger, als man erwarten sollte, ihre Folgen schwinden, wenn sie nicht allzu heftig waren, manchmal überraschend schnell.
Ganz anders wirkt ein dauernder Druck, selbst wenn er von geringer Stärke ist. Er stört sämmtliche Gewebe, auf die er sich erstreckt, in ihrer Ernährung, so daß in denselben die Stofferneuerung viel langsamer und unvollständiger von statten geht, als es sein soll. Nicht nur die weichen Gewebe, auch die Knochen werden auf diese Weise angegriffen. Jeder Theil des menschlichen Körpers nun, welcher sich nicht in normaler Weise entfalten kann, unterliegt einer mehr oder weniger hochgradigen Zerstörung. Am schnellsten aber und schwersten tritt dieselbe bei Organen auf, welche eine besondere Funktion ausüben, so bei den Drüsen und – was hier für uns vorwiegend in Betracht kommt – den Muskeln. Diese büßen von dem ihnen eigenthümlichen Stoffe mehr und mehr ein und werden an der betroffenen Stelle zum großen Theil in funktionsuntüchtiges Gewebe verwandelt.
Das ist die eine Hälfte der schädlichen Wirkung eines Strumpfbandes. Es übt einen beständigen Druck aus. Der Einwand, dieser sei doch sehr gering, gilt gar nichts, denn auf eine etwas größere oder kleinere Stärke kommt es nicht im geringsten an. Viel wichtiger ist der Umstand, daß der Druck nur eine verhältnißmäßig schmale Zone trifft, sich also nicht gehörig vertheilt und deshalb Schnürwirkung zeigt. Dabei ist es gleichgültig, ob das Band von Gummi, also elastisch ist oder nicht, die Wirkung ist immer dieselbe: Störung der Ernährung in der abgeschnürten Strecke, besonders aber in den Muskeln, daher Schwäche der Wadenmuskulatur. Wie stark der Druck wirkt, beweisen die tiefen Rinnen, welche durch ihn erzeugt werden und die selbst bei solchen Frauen nicht schwinden, welche seit Jahren keine Strumpfbänder mehr getragen haben. Am schädlichsten ist dieser Einfluß bei Personen, die sich in der Wachsthumsperiode befinden; hier kann er recht bedenkliche Entwickelungshemmungen zur Folge haben. –
Die bis jetzt angeführten Nachtheile des Strumpfbandtragens sind aber die am wenigsten wichtigen. Von weitaus größerer Bedeutung sind die dadurch erzeugten Kreislaufstörungen. Durch die Abschnürung des Unterschenkels wird der Zufluß von frischem (arteriellem) Blut erschwert, der Theil bekommt also zu wenig Nährmittel und kann sich nicht gehörig entwickeln. Er bleibt infolgedessen schwach und wenig leistungsfähig. In noch höherem Grade ist jedoch der Abfluß des verbrauchten (venösen) Blutes behindert. Hierdurch entstehen Stauungserscheinungen aller Art. Die nächste Wirkung sind die so häufigen und überaus lästigen Krampfadern mit ihren manchmal gefährlichen Folgeerscheinungen. Sie finden sich beim weiblichen Geschlecht weitaus häufiger als beim männlichen, und ein Hauptgrund hierfür ist das Strumpfband. Außerdem trifft man ungemein oft, zumal bei jungen Mädchen, Schwellung der Füße an, die abends am stärksten ist und ein vorzeitiges Gefühl der Ermüdung und Arbeitsunfähigkeit erzeugt. Die Kranken – diesen Namen verdienen sie – sind dann thatsächlich nicht mehr imstande, ihren häuslichen Pflichten nachzukommen, sie können nur unter großen Beschwerden gehen. Wird das Strumpfband weggelassen, so verschwindet die Stauungserscheinung fast immer schnell, wenn aber mit diesem Heilmittel zu lange gewartet wird, so können sich Veränderungen herausbilden, die den Gebrauch der Beine stark beeinträchtigen und nicht mehr rückgängig zu machen sind.
Fort also mit dem Strumpfband! Es ist ein schädliches und entbehrliches „Kleidungsstück“. Das letztere werden allerdings die Damen nicht zugeben wollen, allein es ist sehr leicht, Ersatz zu schaffen. Welcher Art dieser Ersatz sein soll, das zu entscheiden ist Sache der Damen, und ich würde, vorausgesetzt, daß meine Predigt gegen das Strumpfband überhaupt den wünschenswerthen Erfolg hat, nur dann wieder dreinreden, wenn auch er gesundheitsschädlich sein sollte. Das ist aber leicht zu vermeiden, wenn man nur im Auge behält, daß die Schädlichkeit des Strumpfbandes in seiner Schnür- und Druckwirkung begründet ist. Dr. K.
Der Name „Amerika“. Seit langer Zeit steht es fest, daß die Neue Welt nach dem Entdeckungsreisenden Amerigo Vespucci „Amerika“ genannt wurde und daß der Urheber dieser Benennung ein Deutscher aus St. Dié in Lothringen war. Er hieß Waldseemüller oder Waltzeemüller und übersetzte im Jahre 1507 ins Deutsche die Reiseberichte des berühmten Florentiners, die unter dem Titel „Vier Schifffahrten des Amerigo Vespucci“ erschienen. In der lateinischen Vorrede zu dem Werke schrieb Waldseemüller: „Diesen vierten Erdtheil darf man wohl füglich Amerigland oder America nennen, weil er von Amerigo entdeckt worden ist.“ Das Büchlein Waldseemüllers wurde verbreiteter als viele bessere Schriften über die neuen Entdeckungen, und der Name Amerika wurde zuerst in Deutschland und dann in der Welt allgemein angenommen.
In neuester Zeit fanden sich nun Gelehrte, die Waldseemüller den fraglichen Ruhm nicht gönnten und nach einem andern Ursprung des Wortes forschten. Ein Gebirge zwischen dem Nicaraguasee und der Moskitoküste heißt „Amerrique“, das heißt „das Land der Winde“, und nach diesem Gebirge soll ein Franzose den Namen Amerika vor Waldseemüller erfunden haben. Der Streit, der an und für sich ziemlich müßig ist, hat dennoch eine merkwürdige Thatsache zu Tage gefördert. Amerigo ist kein Vorname, es giebt im Kalender keinen Heiligen, ja es giebt überhaupt keinen Menschen, der so hieße, und man behauptete darum, Vespucci habe sich erst später, nachdem der Name Amerika feststand Amerigo genannt. Dem Streit ist durch den italienischen Gelehrten Govi ein Ende gemacht worden. Neuerdings veröffentlichte derselbe einen Brief Vespuccis vom 30. Dezember 1492, also aus der Zeit vor dem Jahre 1507, der unterzeichnet ist:
„Ser. Amerigho Vespucci
merchante fiorentino in Sybilia.“
Wie kam aber Vespucci zu dem sonderbaren Vornamen Amerigo?
Auch das erklärt uns Govi. Die Florentiner hatten die Sitte, die Taufnamen umzuändern; so sind z. B. bekannt die Umänderungen Dante für Durante, Stagio für Anastasio, Goro für Gregorio, Beco für Domenico.
Ebenso ist Amerigo nur eine Umänderung für den Namen Emmerico oder Emery. – Es bleibt also beim alten: die Neue Welt heißt „Amerika“ nach dem Florentiner Amerigo oder Emmerico Vespucci. *
Ein Führer durch die Privatheilanstalten. Viele der neuen Heilmethoden, welche die ärztliche Wissenschaft ersonnen hat, lassen sich im Hause nicht gut durchführen, es sind dazu Einrichtungen und Apparate nöthig, über die lediglich eine Anstalt verfügen kann. Selbst die Krankenhäuser sind nur selten in der Lage, solche besondere Einrichtungen zu beschaffen.
Alles das führte zu der Entstehung von Privatheilanstalten, deren Zahl bereits sehr groß geworden ist. Wir haben diätetische Heilanstalten, physikalisch-mechanische Heilstätten, Wasserheilanstalten, Anstalten für Gemüths- und Nervenkranke, Special-Heilanstalten für Lungenkranke, Augenkranke, Kinderheilstätten, Sprachheilanstalten u. s. w. Diese Anstalten wetteifern mit den Bädern, und wie es für jene Bäderlexika giebt, in denen sich der Arzt rasch zurechtfinden kann, so schien auch ein Führer durch die Privatheilstätten nöthig zu sein. Ein solcher ist soeben von Dr. Paul Berger in Berlin herausgegeben worden. Sein Titel lautet „Führer durch die Privatheilanstalten Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz“ (Berlin, Hugo Steinitz). Derselbe ist zum Handgebrauch für Aerzte und Laien bestimmt. Wenn auch der Heilbedürftige bei der Wahl der Anstalt stets dem Rathe des ihn behandelnden Arztes folgen soll, so wird es ihm doch angenehm sein, sich über die fraglichen Einrichtungen vorher zu unterrichten. In diesem Sinne wird der neue Führer auch weiteren Kreisen nützen können. *
M. D. in O. Der „Gottesfriede“, von dem Ihr Dichter singt, ist nicht eine poetische Redensart, sondern ein höchst reales Ding: die nothgedrungene Abwehr der mittelalterlichen Geistlichkeit gegen die furchtbaren und unausgesetzten Fehden und Ueberfälle im ganzen Land. Der Gottesfriede (pax Dei, treuga Dei) forderte, daß vom Mittwoch abends bis Montag früh keine Fehde irgend welcher Art ausgefochten werden dürfe bei Strafe des Bannes. Einzelne erleuchtete Bischöfe führten im 11. Jahrhundert diesen wohlthätigen Frieden, der vier Tage in der Woche die mordlustigen Arme band, in ihren Diöcesen ein, die Synode von Clermont erhob ihn 1095 zum Beschluß, und die Kaiser verliehen ihm Rechtskraft. Er behielt diese durch die nachfolgenden drei blutigen Jahrhunderte, bis endlich 1495 unter Maximilian die Einführung eines allgemeinen Landfriedens dem Faustrecht ein Ziel und den Gottesfrieden außer Wirksamkeit setzte.
H. A. in Frankfurt a. M. Die Schriftstellerin, nach der Sie fragen, ist geboren am 17. April 1852 zu Bergedorf und lebt gegenwärtig in Lübeck; ein Verzeichniß ihrer Werke finden Sie in „Kürschners Litteraturkalender“ 1889.[WS 1]
Dr. Eugen Wolff, Kiel. Wir erfüllen hiermit Ihren Wunsch und bestätigen, daß die Worte, welche zu der Berichtigung von Klaus Groth in Nr. 29 Anlaß gegeben haben, im Manuskripte ursprünglich folgende Fassung hatten: „‚Quickborn‘ zeigt ausgeprägte Ortsfärbung; wir spüren ditmarscher Erdgeruch. Die Dichtungen gruppiren sich um das Dorf dieses Namens“ etc.
Hausfrau in Bielefeld. Der beschwerlichen Arbeit des Plättens der Wäsche ist der Erfindungsgeist der Neuzeit durch verschiedene zweckmäßige Vorrichtungen zu Hilfe gekommen. Vielleicht kennen Sie schon das „freistehende transportable Plättbrett“, den „Plättofen“, mittels dessen mehrere Plätteisen gleichzeitig erhitzt werden können, die „amerikanischen Doppelspitzeisen ohne Bolzen“, bei denen man die hölzernen Griffe während des Erhitzens der Plätteisen leicht abnehmen und wieder befestigen kann etc. – Obgleich diese Hilfsmittel der Hausfrau, beziehungsweise der Plätterin manche Erleichterung beim Plätten der Wäsche verschaffen, so gelingt es selbst der geübtesten Hand nicht, die Wäsche so glänzend herzustellen, wie dies bei neugekaufter Ware der Fall ist. Sehr zufriedenstellende Ergebnisse liefern nach letzterer Richtung hin die praktisch erprobten „Plättpräparate“, die in jeder Haushaltung leicht und mit wenig Kosten hergestellt werden können und zwar wie folgt: 1) 75 Gramm borsaures Natron und 7½ Gramm Tragant werden in 1¼ Kilogramm Fluß- oder Wasserleitungswasser unter Umrühren aufgelöst und durch ein reines Tuch filtrirt. Die erhaltene Flüssigkeit parfümirt man mit 5 bis 6 Tropfen Lavendel- oder mit 6 bis 8 Tropfen Bergamottöl. Dieses Präparat wendet man in der Art an, daß man 1 Liter frisch gekochter Stärke mit ¼ Liter der Plättflüssigkeit innigst durch Umrühren vermischt und die damit gestärkte Wäsche auf die gewöhnliche Weise plättet. – 2) 28 Gramm reines kohlensaures Kali, 85 Gramm Stearin, 170 Gramm Spiritus (nicht denaturirten), 340 Gramm Fluß- oder Wasserleitungswasser werden in einem irdenen Topfe unter Umrühren so lange erhitzt, bis der Topfinhalt eine gleichmäßige Masse bildet; ist dies der Fall, so verdünnt man die Masse unter Umrühren mit 1075 Gramm Wasser. Das fertige Präparat füllt man in weithalsige Gläser, die fest zu verkorken sind. Beim Plätten der Wäsche verfährt man mit diesem Präparate wie folgt: Die Wäsche wird auf die gewöhnliche Weise gestärkt und geplättet; dann überstreicht man mittels eines in das Präparat getauchten und etwas ausgedrückten Schwämmchens die geplätteten Wäschestücke und bügelt sie nochmals.
Inhalt: Sicilische Rache. Ein Kulturbild aus den vierziger Jahren von A. Schneegans (Fortsetzung). S. 507. – Bianca. Illustration. S. 597. – Jagdleben im Hochland. Geschildert von Ludwig Ganghofer. 5. „Dem Jaager sein G’sell“. S. 602. Mit Abbildung S. 601. – Der Besuch des Kaisers Franz Joseph I. in Berlin. Eindrucksbilder vom zwölften und dreizehnten August. Von Hermann Heiberg. S. 605. Mit Abbildungen S. 605, 608 und 609. – Gold-Aninia. Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué (Fortsetzung). S. 607. – Die Anschauungen von den Alpen im Wechsel der Zeiten. Von Julius Löwenberg. S. 611. – Blätter und Blüthen: Gegen das Strumpfband! S. 612. – Der Name „Amerika“. S. 612. – Ein Führer durch die Privatheilanstalten. S. 612. – Kleiner Briefkasten. S. 612.
- ↑ Vergl. „Gartenlaube“ 1888, Nr. 39.