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Die Gartenlaube (1889)/Heft 19

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[309]

No. 19.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


Gerda und Alfred saßen zusammen auf der Veranda, ein trüber Regenschleier umzog Berg und Thal, und die leise niederstäubenden Tropfen hatten Sascha aus seinem Tannenhäuschen vertrieben. Er war hineingegangen, um dem Tantchen, das sich beim Witterungswechsel sofort, in Wolle verpackt, zu Bett gelegt hätte, haarklein zu beschreiben, wo sein Haus stehe, wie es aussehe und wie er es mit „Papa“ gebaut habe. Hauptsächlich aber dachte er von Tantchen einen kleinen Ausstattungsbeitrag zu erlangen und hatte seine Wünsche auf ein altes weißes Angorafell gerichtet, von dem Tantchen gestern gesagt, es sei zu schmutzig, als daß sie es noch über ihre Füße decken könne. –

„Du wolltest mit mir darüber sprechen, daß Du immer hier zu leben wünschtest?“

Dabei klang Alfreds Stimme doch etwas bedeckt von der inneren Erregung, die für ihn unausbleiblich war, wenn er mit Gerda über etwas anderes als ihre Liebe sprach.

Sie wickelte sich fröstelnd in das weiße Tuch, das sie des Regens wegen um die Schultern geschlagen hatte.

„Mir scheint, es handelt sich hier nicht um einen Wunsch, sondern um eine gegebene Sachlage. Aber ich bin froh, daß meine innerste Neigung mit den Verhältnissen zusammenstimmt,“ sagte sie, seinen Blick vermeidend.

„Bitte, willst Du nicht deutlicher werden?“ bat er.

„Mein Gott, das ist doch so einfach! Hier hast Du Deinen Besitz, hier müssen wir leben!“

„Das ist nicht genau, was Du meinst,“ sagte er zitternd, „weshalb sollten wir nicht, wie ich bisher gethan, nach unserer Laune einige Monate in Berlin, einige hier verleben?“

Gerda sah in die graue Ferne hinaus.

„Man kann doch nicht,“ sprach sie langsam, vorsichtig, wie jemand, der sich mit tastendem Fuß auf unsicherer Eisdecke vorwagt, „man kann doch nicht immerdar nach einer ‚Laune‘ leben. Ein Mann muß seinem Dasein doch Inhalt geben durch – durch einen Beruf.“

Alfred war ganz blaß geworden. Er hatte gewußt, gefühlt, daß es darauf hinaus sollte. Er faßte sich mit Gewalt. Er fühlte plötzlich, daß dies Gespräch die Entscheidung zwischen ihm und Gerda sei.

„Mein Leben hat den köstlichsten Inhalt bekommen,“ sagte er mit fast klangloser Stimme, „ich fühle mein Dasein vollkommen ausgefüllt durch die Liebe zu Dir und die Aufgabe, Deinen – unseren Sohn zu erziehen.“

„Das ist, wie mir scheinen will, nicht genug der Aufgabe für eine volle Manneskraft. Um den Knaben zu erziehen, bin ich auch noch da, und denjenigen Theil von Aufsicht und fördernder Antheilnahme, den ein Vater seinen Söhnen widmet, kann er ihnen noch reichlich in den Mußestunden zuwenden, die sein sonstiger Beruf ihm läßt,“ antwortete Gerda, immer an Alfreds Augen vorbeisehend, die flammend auf ihr ruhten.

„Und, wenn ich fragen darf, was für einen ‚Beruf‘ hast Du denn für mich erkoren?“ fragte er. „Da ich das Recht der Selbstbestimmung verloren zu haben scheine, wirst Du mir doch wenigstens einige Neugier gestatten auf das, was Du für mich gewählt.“


Das Grillparzer-Denkmal von Prof. Kundmann in Wien.
Nach einer Photographie von M. Frankenstein u. Komp. in Wien

[310] „Nicht diesen Ton!“ bat Gerda dringend und sie legte die Hände fest ineinander, „Du weißt, er reizt mich. Laß uns doch ruhig sagen, was gesagt werden muß! – Hättest Du denn keine Lust, Deine Scholle hier selbst zu bebauen?“

„Die armseligen paar Felder und Wiesen?“ fragte er spöttisch, „in der That, um dieser Zumuthung willen brauche ich mich nicht zu erregen.“

„O,“ sagte Gerda eifrig, „das hatte ich auch nicht gemeint. Sieh, der große Bauernhof, der dort unten an der Thalmündung liegt und seine Besitzgrenze fast bis an den Rhein vorschiebt, er ist verkäuflich. Der Verwalter hat es mir gesagt. Ich kaufe ihn, Du weißt, ich kann mit meinem Gelde frei walten, Sascha ist ohne dies sichergestellt. Dann haben wir ein schönes Gut; wir residieren hier oben, der Schwerpunkt der Wirthschaft wird nach dem Hofe unten verlegt. Wir sind die Herren auf einem herrlichen Fleckchen Erde und essen selbstgezogenen Kohl, eigengebaute Kartoffeln, selbstgebackenes Brot. Kann es ein feudaleres Leben geben als das des Grundbesitzers, der nicht um das wechselnde Erträgniß seines Bodens zu zittern braucht?“

„So, also mit dem Verwalter hast Du schon davon gesprochen?“ sagte er, „das war ja auch zunächst das Wichtigste. Nachher konnte man es mir mittheilen. Es thut mir leid, wenn es Dein Ideal gewesen ist, eigengebaute Kartoffeln zu essen, Dir dasselbe nicht verwirklichen zu können. Von der Landwirthschaft verstehe ich so gut wie nichts und hätte weder die Fähigkeit, noch die Neigung, den Krautjunker zu spielen. Auch sehne ich mich mit meinem ganzen Nervenleben nach der großen Stadt.“

Gerda schwieg einige Minuten. Sie sammelte ihre Sanftmuth und hielt ihre entfliehende Geduld mit letzter Anstrengung fest.

„Auf ein solches Nein war ich vorbereitet,“ sprach sie halblaut, „und deshalb habe ich noch einen anderen Vorschlag zu machen.“

Alfred war sekundenlang starr.

„Also einen förmlichen Kriegsplan hat Dein erfinderischer Kopf ausgearbeitet!“ rief er erbittert, „um mir wie einem Jungen, der die Schule verläßt, vorzuschlagen: willst Du Schuster oder Schneider werden?“

„Aber mein Liebling,“ bat sie zitternd, „es ist doch so natürlich, daß ich darüber nachgesonnen habe, mit welcher von Deinen beiden Berufsarten ich mich als Deine Gattin zu vertragen habe. Du willst nicht Landwirth sein. Gut, lassen wir das! Lebe Deiner Schriftstellerei und suche in ihr eine feste, viele Tagesstunden ausfüllende Beschäftigung!“

„Wie kann ich das?“ sagte er in höchstem Unwillen; „ich bin kein Schriftsteller. Ich habe das Talent, dann und wann in scharfer und, wie man sagt, geistvoller Form meine Meinung ausdrücken zu können über sociale Fragen, künstlerische oder litterarische Vorkommnisse, politische Ereignisse; das ist alles. Ich hätte vielleicht das Zeug zu einem Redakteur in mir, aber ich denke nicht daran, mich in solche Sklaverei zu begeben, abgesehen davon, daß meine Gesundheit das gar nicht aushielte.“

Gerda erhob sich. Sie sah auch sehr bleich aus.

„Also wenn das auch nichts ist, was willst Du dann thun?“ fragte sie.

„Wie ich Dir gesagt habe: Dir und unserem Sohne leben,“ antwortete er, hastig in der Veranda auf und ab gehend.

„Und wie ich Dir gesagt habe: das ist kein Lebensinhalt für die Vollkraft eines Mannes. Die Liebe eines Weibes, das Lächeln eines Kindes sind dem Manne die Belohnung nach saurer Tagespflicht. Die Liebe, die er für das Weib empfindet, ist sein heiliges Eigenthum; aber die Geisteskräfte in ihm sind das Eigenthum des Staates. Wenn er ein guter Bürger sein will und der menschlichen Gesellschaft ein nützliches Mitglied, muß er sie der Allgemeinheit dienstbar machen, in welcher Form auch immer. Mit neunundzwanzig Jahren unthätig durch die Welt zu gehen, ist fast ein Verbrechen.“

Alfred blieb neben ihr stehen.

„Du beleidigst mich,“ sagte er bebend, „siehst Du mich je unbeschäftigt?“

„Zwischen beschäftigt sein und thätig sein ist ein großer Unterschied,“ rief Gerda heftig, „sieh doch ein, daß Dein und mein Lebensglück davon abhängt, daß Du eine befriedigende Thätigkeit findest!“

Er umfaßte ihr Handgelenk, und sie sahen sich drohend in die Augen, drohend und feindselig wie zwei, die bereit sind, einander zu schlagen.

„Also,“ fragte er fast unverständlich, „Du machst Dein Lebensglück nicht von meiner Liebe, sondern von meinem Beruf abhängig?“

Eine Pause. Sie athmeten schwer.

„Ich kann einen Mann nicht achten, den ich nicht arbeiten sehe!“

Er schrie auf und schleuderte ihre Hand von sich.

„Weib!“

Gerda hielt sich mit der einen Hand am Geländer fest, die andere hatte sie gegen ihre Brust gelegt. Ihre Augen, wie von einer dämonischen Gewalt festgehalten, hingen an seinen wildverzerrten Zügen.

„Nimmst Du das Wort zurück?“ fragte er tonlos.

Und sie wußte, daß von ihrer Antwort der Tod oder das Leben ihrer Liebe abhängig war. Und doch kam es von ihren Lippen: „Nein!“

Er wankte. Er bedeckte sein Gesicht mit der Hand und schwieg. Aber nur sekundenlang, dann richtete er sich auf, trat einen Schritt auf Gerda zu, die immer wie versteinert dastand und ihn ansah, und sagte mit einer Stimme, die von innerem Zorn ganz rauh war:

„Dies Wort trennt uns für immer! Lebe wohl!“

Gerda schwieg und sah ihn an. Er wandte sich um und ging. Ihre Augen folgten ihm. Und immer stand sie, unbeweglich, lange, lange.

Der feine Regen wandelte sich in strömende Fluthen, der Wind peitschte die Nässe gegen ihre Schultern und feuchtete die blasse Hand, die auf dem Geländer lag. Die Abenddämmerung sank hernieder.

Hinter dem Hause wurde es laut. Ein Pferd wieherte und das Rollen eines Wagens wurde vernehmbar.

Aus der Thür des Wohnzimmers stürzte Sascha mit dem Ruf:

„Mama, Mama, er fährt mit dem Verwalter fort. Wohin? Ich will mit! Bitte, ich will mit!“

Gerda brachte kein Wort über ihre Lippen. Alle ihre Nerven dienten ihrem Ohr, das in peinvoller Genauigkeit das dumpfe Rollen der Räder und den schurrenden Ton des Hemmschuhes vernahm.

„Mama, so sprich doch! Wann kommt er denn wieder?“

„Niemals!“ sagte Gerda laut und rauh.

Der Knabe schrie auf. Er warf sich gegen seine Mutter und umklammerte ihre Kniee.

„Er soll wiederkommen – gleich – gleich,“ schrie das Kind, „er soll nicht fort, ich will es nicht haben! Du hast mir doch versprochen, daß er mein Papa sein soll!“

Sascha schrie und weinte, wie Kinder pflegen, bei denen Kummer sich mit unvernünftigem Zorn mischt, und die vor allem ihren Willen haben wollen. Aber allmählich ward sein Zorn geebnet, und zuletzt fragte er unter erwachender Ungläubigkeit, die mit Angst gemischt war:

„Mama, ist er wirklich fort?“

Sie sah in das verweinte Gesichtchen hinab, das sich in dringender Frage zu ihr emporwandte, und legte schwer ihre Hand auf sein Gelock.

„Ja!“ sagte sie tonlos, „ja – und für immer!“

Da fing der leidenschaftliche Knabe an, herzbrechend zu weinen.

Gerda knieete vor ihm nieder.

„Weine,“ flüsterte sie, ihn umfangend, „weine! Weine – über Dich und mich und ihn!“

Sie führte ihn in das Haus, in sein Schlafzimmer. Sie nahm ihn auf ihren Schoß und ließ ihn an ihrer Schulter weiterweinen. Ihre Lippen machten keinen Trostversuch. Und ihr Auge schaute unverwandt in die Nacht hinaus, die sich draußen vollends niedergesenkt hatte.

Sie versuchte zu denken, aber sie war nicht einmal imstande, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen.

Ihr Inneres glich der Stätte, wo eine Lawine niedergegangen ist: eine wüste Vernichtung hatte alles niedergeworfen.

Und immer sah sie ihn vor sich, wie er sie mit flammenden Augen anherrschte, das böse Wort zurückzunehmen, das von ihren Lippen gekommen war.

Aber dieses Wort – wenn er noch einmal so vor ihr stände – sie würde es noch einmal sprechen.

Und doch, während sie das begriff, fühlte sie in ihrem Herzen eine sinnlose, verzehrende Sehnsucht nach ihm.

Und ihre Arme umschlossen fester das weinende Kind; sie wußte es: ohne ihn konnte sie nicht leben, und alle ihre Tage würden sonnenlos bleiben.




[311]
6.

„Baden-Baden den 18. August 1885.

Mein Freund! Ich habe Dir das Aeußerste zu sagen: Gerda und ich sind getrennt. Fast vierzehn Tage sind seit jener unseligen Stunde vergangen, wo wir einander wieder in den Waffen der Meinungsverschiedenheit gegenüberstanden. Aber diesmal hat sie ein Wort gesprochen, das uns trennen mußte, wenn sie es nicht zurücknahm und bekannte, es nur in Zorneshitze gesprochen zu haben. Mit fieberndem Herzen habe ich darauf gewartet. Umsonst! Und so muß ich wohl glauben, daß ihr Verstand nachträglich billigt, was ihre schnellen Lippen gesprochen haben. Ich verließ an jenem unseligen Abend mein Haus, aber nicht Baden, denn ich will nicht fliehen vor ihrer Nähe. Sie soll es begreifen, daß ich der Möglichkeit trotze, ihr zu begegnen.

Am Tage nach meiner fluchtartigen Entfernung von meinem eigenen Grund und Boden ließ ich Gerda durch einen Advokaten schreiben, daß sie ruhig dort wohnen bleiben möge, bis das Haus verkauft sei, denn ich gedenke, es nicht mehr zu betreten. Sie solle nur gestatten, daß ich außer dem Bilde meines Vaters einige Gegenstände, die ich namhaft machte, abholen lasse; im übrigen solle der Hausrath mit dem Hause verkauft werden. Die erbetenen Gegenstände trafen noch am selben Tag in der Wohnung ein, die ich mir gemiethet. Aber keine Zeile von ihrer Hand dabei.

Seltsamerweise meldete sich bei meinem Advokaten schon andern Tags ein Käufer, der anonym blieb und durch einen Agenten vertreten war. Du begreifst, daß ich noch zu sinnlos verwirrt von dem Entsetzlichen war, um über irgend etwas nachdenken zu können, sonst hätte ich mir gleich sagen müssen, daß Gerda der Käufer sei. Und so ist sie nun Herrin meines Hauses – aber wie anders, als wir gedacht! Ich aber bin heimathlos und elend.

Und doch nicht ganz von allem Trost verlassen. Hier lebt ein Mädchen – die Tochter jener Frau, die ich im Gedächtniß an meinen Vater aufsuchen sollte und die am Tage meiner Ankunft starb. Wenn ich Dir doch sagen könnte, was mir dies Mädchen ist! Ruhelos sind meine Tage und Nächte, und die verzehrende Sehnsucht nach dem Weibe, das ich ewig lieben werde, versengt und vertrocknet mir das Blut in den Adern. Nur wenn ich dann bei ihr einkehre, kommt ein lösender Friede über mich. Sie, die jung und ohne Lebensfreuden ist, sehe ich schweren Kummer muthvoll tragen, und mir ist, als erstarke ich an ihrem Wesen. Und doch liebe ich sie nicht, ich werde sie auch nie lieben in jenem Sinne – so wie ich Gerda liebe – so – bis zum Haß. Aber weißt Du – heirathen könnte ich sie, gleich, gerade jetzt, nur um für immer diese sanftfeste Gefährtin neben mir zu haben.

Du siehst, ich bin fast toll. Du siehst, die Stunde ist da, wo Du mir beistehen mußt, Du Treuer, Oftbewährter. Ich flehe Dich an, nimm Urlaub, komm!

Dann sollst Du mir auch sagen, ob ein Mann sich nicht seiner Männlichkeit begiebt, wenn er dem Weib – und liebe er es noch so unsinnig – gestattet, tadelnd und bevormundend an seine Individualität zu rühren. Und das wollte sie.

Marbod, begreifst Du es, daß ich ohne sie leben soll? Ich kann es nicht. Aber ich weiß es, sie kann es auch nicht. Wir werden beide elend werden.

Eins muß ich Dir noch sagen, was sehr seltsam ist: ich sitze jetzt täglich meine fünf bis sechs Stunden am Schreibtisch. Ich habe, wie Du Dich erinnern wirst, schon oft beklagt, daß wir keine Uebersetzung von Spencers ‚Principles of psychology‘ haben. Niemals hätte ich daran gedacht, daß ich selbst einmal diese Riesenarbeit thun würde. Aber eine Wuth überkam mich – eine Wuth – nur arbeiten, nur etwas recht Mühseliges – und da ich die Principles zufällig bei mir hatte, fing ich an. Bei der Arbeit vergesse ich dann viel … nur gerade das eine nicht! Und will mein unruhvoller Körper widerspenstig das Sitzen nicht mehr vertragen, so höre ich immer das böse Wort und harre aus.

Ich weiß ja, sie würde diese Arbeit nur wieder eine Beschäftigung nennen. Aber vorerst fühle ich doch, ich leiste etwas, wenn auch nur als Vermittler.

Komm zu mir! Ich flehe Dich an. Ich muß wenigstens von ihr sprechen können.

Und Du begreifst, daß ich das mit meiner neuen, lieben und geduldigen Freundin doch nicht kann.
  Dein Alfred.“


„Berlin, den 20. Aug. 1885.

Lieber Alfred! Schon ehe ich Deine Briefbogen entfaltet hatte, wußte ich, daß Dir ein Unglück zugestoßen sei, denn Du hast mir, außer bei dem Tod Deines Vaters, nie andere Lebenszeichen gegeben, als Karten und Depeschen. Daß ich tiefbesorgt um Dich und die edle Frau bin, die gewiß ebenso leidet wie Du, weißt Du wohl. Ich ging deshalb auch sofort zu meinem Direktor und bat ihn um Urlaub, doch antwortete er mir, und zwar mit vollkommener Berechtigung, daß ein Urlaub, nachdem ich erst vor drei Wochen in meine Stellung getreten, eine Unmöglichkeit wäre. Der Wunsch in mir, zur Klärung Deiner Lage beizutragen, die mir unwahr und haltlos scheint, ward so lebhaft in mir, daß ich einen Schritt unternahm, den Du vielleicht mißbilligst. Ich schrieb an Gerda, die Zeilen gehen mit diesen zugleich nach Baden.

Derselbe Zug, der sie mitnimmt, führt noch andere Gäste hin, die Dir sicherlich unwillkommen sind. Ravenswann hat dem merkwürdigen Drängen seiner Frau nachgegeben und anstatt der beabsichtigt gewesenen Schweizerreise einen Aufenthalt in Baden zur Erholung gewählt. Ihre unzertrennlichen Freunde, Doktor Schneiders, begleiten sie, denn Du weißt, beide Ehepaare gehören zu den Menschen, die sich auch an dem schönsten Erdenwinkelchen nicht behaglich fühlen, wenn sie nicht die Atmosphäre ihrer heimischen Alltagsgespräche um sich haben.

Du wirst ihnen und ihren Fragen nicht ausweichen können, und damit Du Dich aufs Antworten vorbereitest, theile ich Dir ihre Ankunft mit. Sie werden Dir auch von mir erzählen, denn ich bin trotz ihrer umständlichsten Reisevorbereitungen noch dreimal dort gewesen, um mit Ravenswann und Schneider Skat zu spielen. Auch Frau Marie, Frau Schneider und eine ältliche Jungfrau, die man dazu geladen, haben dann Skat gespielt, eine Liebhaberei der Frau Assessorin, welche die Charakteristik zu ergänzen scheint, die Du einmal von ihr gabst.

Außer mit diesen bin ich zuweilen mit Doktor Bendel zusammengekommen, der mir recht gefällt und trotz seines in der That vorhandenen Größenwahns mir sehr anregend ist durch seine beißende Schärfe, mit welcher er die Mängel an anderer Werken beleuchtet. Auch mich nimmt er herbe mit. Und diese Offenheit hebt ihn vortheilhaft von den andern ab, die mich ins Gesicht loben und innerlich meine Mittelmäßigkeit bedauern. Herrn von Prasch und die Mollin habe ich zweimal im Café gesehen; aber beide waren stets so sehr in Zeitungen vergraben, daß sie meinen Gruß kaum bemerkten.

In meiner Berufsthätigkeit habe ich keine Ueberlast von Geschäften. Das ist mir im Hinblick auf das Schauspiel, an dem ich fleißig arbeite, doch sehr angenehm.

Für jetzt sei’s genug der nüchternen Berichterstattung! Du weißt, warum ich sie Dir mache. Besinne Dich, daß es außer Deinem vulkanischen Liebesgähren noch andere Dinge und Menschen in der Welt giebt. Auf Deine Reden von der Heirath, die Du mit jenem Mädchen einzugehen imstande seiest, erwidere ich nichts. Das war natürlich nur eine aufwallende Idee, geboren von der Bitterkeit. Zum Schluß erinnere ich Dich an das schöne Wort von Carlyle: ‚work and despair not.‘

Wenn Gerda antwortet, sende ich Dir ihren Brief.
 Dein Marbod Steinweber.“


„Berlin den 20. Aug. 1885.

Meine gnädigste Frau! Sie kennen mich nur wenig, und doch weiß ich, daß Sie meine Zeilen nicht als Unbescheidenheit auffassen. Denn es ist Ihnen bekannt, welche innige Freundschaft mich seit vielen Jahren mit Alfred von Haumond verbindet, und daß ich nur in meinem Freundesrecht handle, wenn ich, getrieben von Sorge und Mitleid, Sie frage: ist es denn so ganz unmöglich, daß Sie beide wieder den Weg zueinander zurückfinden? Fielen denn in dem Zwist, der Sie trennt, so harte Worte, daß sie nicht zu vergessen sind? Was Sie ihm gesagt haben, ich weiß es nicht – aber was es auch war, kann es nicht zurückgenommen werden? Die seltsame, unfriedliche Leidenschaft, die Sie zugleich verbindet und trennt, wird sich in der Trennung nur schmerzlich vergrößern, und – er hat es mir oft genug und überzeugend genug gesagt – Sie können ohne einander doch nicht leben.

Er weiß, daß ich Ihnen schreibe, aber er erfährt es erst, wenn es zu spät ist, es mir zu verbieten. Vielleicht mißbilligt

[312]

In der Pußta.
Nach einem Gemälde von Paul Böhm.

[313] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [314] er es. Aber er wird verzeihen, wenn mein Brief den heißersehnten Erfolg hat: Sie zur Versöhnung zu stimmen.
 In herzlichster Ergebenheit
 Ihr Marbod Steinweber.“


„Baden-Baden, den 23. Aug. 1885.

Verehrter Herr Doktor! Ich begreife, daß es Sie drängte, mir zu schreiben. Meine Antwort kann nur diese sein: eine Versöhnung wäre möglich gewesen, wenn er sich überwunden hätte, mir recht zu geben. Es handelte sich um eine Frage, von der ich seine künftige Zufriedenheit, und somit auch die meine, abhängig glaube. Es ist nun entschieden.

Sie sagen, daß wir nicht ohne einander leben können. Aber glauben Sie denn auch, daß wir mit einander hätten leben können?
 Ihre Gerda, Baronin von Offingen.“


„Berlin den 25. Aug. 1885.

Mein lieber alter Junge! Anbei die wenigen Zeilen, welche Gerda mir als Antwort schickte. Schon die Kürze derselben macht mich hoffnungslos. Wenn eine Frau Versöhnung und eine Neubelebung ihres Liebesglückes erhofft, nimmt sie sich die Mühe, ihren Zorn und die Gründe für denselben sehr lang auseinander zu setzen. Was ich Dir zum Trost sagen soll, weiß ich wahrlich nicht. Man pflegt sich auf den mildernden Einfluß der Zeit zu verlassen, aber ich weiß nicht, ob in Deinem Falle der Schmerz nicht gerade mit ihr wachsen wird.

Bis zu dem Augenblick, wo ich Gerdas knappe Antwort empfing, glaubte ich noch gar nicht an den Ernst der Lage, aber nun sehe ich, daß es einen Riß zwischen Euch gegeben hat, den vielleicht nichts mehr heilt. Wenn ich Dir aus vollem Herzen ein Warnwort sagen darf, ist es dies: lieber laß das Blut aus der Wunde hinströmen, und solltest Du Dich daran verbluten, aber klebe keine künstlichen Stillungsmittel darauf – ein ewiges Siechthum könnte die Folge sein. Gieb nicht im Toben des Schmerzes und in der Noth der Einsamkeit Deine Freiheit dahin an ein ungeliebtes Weib. Nur in der Freiheit kannst Du Dir die Hoffnung bewahren, daß die Eine, Ewiggeliebte doch noch eines Tages in Deine ihr entgegengeöffneten Arme sinkt.
 Dein Marbod.“


Es war an einem Frühmorgen, als Alfred diesen letzten Brief erhielt. Mit zitternden Fingern nahm er aus der Hand des Postboten das Couvert mit der wohlbekannten Handschrift. Nicht vor heute, das hatte er gewußt, konnte Marbod ihm Bericht über Gerdas Antwort oder Schweigen senden. Und doch zitterte er seit zwei Tagen, wenn er die Uniform des Beamten sah.

(Fortsetzung folgt.)




Zur Enthüllung des Wiener Grillparzer-Denkmals.

Im Wiener Volksgarten, an einem der schönsten Punkte der schönen Stadt, in der nächsten Nähe der Hofburg und des Burgtheaters, umrauscht vom Lärm der Ringstraße und doch von dem Gewühle durch die grüne Mauer geschieden, erhebt sich das Denkmal für Franz Grillparzer. Mehr als anderthalb Jahrzehnte sind seit dem Tode des Dichters (1872) verflossen. Nicht der Uebereifer der Trauerstimmung, nicht das Bedürfniß, das schwindende Andenken an eine lokale Berühmtheit zu retten, nicht das Streben nach Selbstverherrlichung hat dieses Denkmal gegründet, sondern die immer tiefer eindringende Erkenntniß von Grillparzers dichterischer Größe, die staunenswerth rasche Verbreitung seiner Werke, der innige Antheil an seinen erst seitdem allgemeiner bekannt gewordenen Lebensschicksalen riefen den Wunsch nach einem solchen hervor. Der halbvergessenen Dichtergestalt, die aus dem Schatten der Vergangenheit emporgestiegen war, sollte ein unvergeßliches Wahrzeichen für die Nachwelt gestiftet werden. Demjenigen, der sein Vaterland und seine Vaterstadt nach einer Entfremdung von Jahrhunderten wieder eingeführt in den geistigen Wettkampf Deutschlands, der den Namen Oesterreichs auf dem deutschen Parnasse wieder zu Ehren gebracht hatte, sollte die Dankbarkeit seines Volkes auch durch ein äußeres Sinnbild bezeigt werden. So ist das Verlangen nach einem Grillparzer-Denkmale aus dem Herzen seiner Landsleute erwachsen.

Mit allen Fasern seines Wesens wurzelt Grillparzer in seiner Vaterstadt, in welcher der bajuvarische Stamm in Berührung getreten ist mit dem bunten Völkergemisch des österreichischen Kaiserstaates und dadurch eine eigenartige Ausbildung und Umschmelzung erfahren hat. Alle guten wie alle verhängnißvollen Eigenschaften des Wieners wurden dem Dichter in die Wiege gelegt. Die heitere Lebenslust, die naive Hingabe an die Sinnenwelt wurden durch einige schwere Tropfen in seinem Blute gedämpft und getrübt. Sehnsüchtiges Begehren nach musikalischem Genuß verstärkte seinen Hang zur Träumerei, der sich wie Gift in seine Adern senkte, schwächte einen schlaffen Zug seines Charakters bis zur Energielosigkeit. Fleiß und Ausdauer hielten nicht Schritt mit der Kühnheit und Großartigkeit der Phantasie; die Zahl seiner ausgeführten Werke steht zu der Ueberfülle seiner Pläne und Entwürfe in keinem Verhältnisse; ein bedauerlicher Gegensatz zwischen seinen Jünglings- und Mannesjahren macht sich geltend. Rasche Erregungsfähigkeit wechselt bei ihm mit entschließungsloser Trägheit, weibliche Hingebung mit herbem Eigensinn; die köstlichen Stunden der Weihestimmung ragen wie Inseln hervor aus der Fluth der todten Wochen und Jahre. Altwienerische Derbheit und schlagender Witz sind sein Erbtheil, die Freude am Spaß, der Sinn für Humor; er giebt seinen dichterischen Landsleuten Bauernfeld und Raimund an Begabung für Lustspiel und Posse nichts nach. Mit der habsburgischen Dynastie ist er aufs innigste verwachsen, er macht sich gerne zum Herold ihres Ruhmes; aber auch die Aeußerungen des Unmuths über die politische Entwickelung Oesterreichs, die bei ihm nicht fehlen, sind ihm durch die grenzenlose Liebe eingegeben worden, welche ein starkes, ein einheitliches, ein deutsches Oesterreich wünschte. Der geschichtlichen Eigenart der einzelnen österreichischen Völkerstämme sucht er gerecht zu werden; mit Vorliebe schöpft er seine Stoffe aus der Geschichte Oesterreichs, besonders Ungarns und Böhmens; mit Begierde ergreift er die Gelegenheit, die ihm eines seiner Dramen giebt, um einen Lobspruch auf Niederösterreichs blühende Gefilde einzuflechten und in seiner Erzählung „Der arme Spielmann“ hat er eine Schilderung des Wiener Volkslebens gegeben, die bis heute schier unerreicht dasteht.

Es ist kein Zufall, daß der Dichter, der die besten Kräfte seines Könnens aus dem heimischen Boden gesogen hat, ein dramatischer Dichter geworden ist. In Oesterreich, in Wien insbesondere, nahm das Theater von jeher eine hervorragende Stellung ein. In jenen Jahrhunderten, da Oesterreich von den Fortschritten des deutschen Geisteslebens fast abgeschnitten war, entwickelten sich hier die Elemente zu einer Volksbühne, die gerade zur Zeit von Grillparzers Jugend einem Höhepunkte zustrebte. Zahlreiche begabte Dichter standen in ihrem Dienste, und die Musik verlieh einer an und für sich niedrig stehenden litterarischen Gattung eine ideale Weihe; in zahlreichen Variationen, als Ritter- und Räuberschauspiel, als Geister- und Märchendrama, als Verwandlungs- und Zauberspiel, als Lokallustspiel und Lokalposse, als Parodie und Travestie, hatte die Wiener Dramatik sich entfaltet. Grillparzer machte niemals ein Hehl daraus, daß man seinem ganzen Schaffen die an den Wiener Vorstadtbühnen gewonnenen Jugendeindrücke anmerke. Hier hat seine Vorliebe für märchen- und sagenhafte Stoffe ihren Ursprung, für das dämmerhafte Dunkel der ersten Geschichtsepochen, für den Gegensatz zwischen Kultur und Barbarei, der den Hintergrund vieler seiner Dramen bildet. Hier eignete er sich die Herrschaft über alle Mittel der Bühne an, so daß ihm keine dekorative und scenische Schwierigkeit zu groß erschien. Hier lernte er, wie viel man begabten Schauspielern und einem hingebungsvollen Publikum zutrauen dürfe, und aus dem Schüler der Vorstadtbühnen wurde sehr bald der Meister des Burgtheaters, das an den Werken Grillparzers zur ersten Bühne Deutschlands heranwuchs.

So wurde Grillparzers angeborenes dramatisches Talent durch zahlreiche günstige Umstände gefördert. Schon auf der Schule versucht er sich in eigenen Produktionen. Wie im Fluge macht er die ganze historische Entwicklung des Dramas durch; von Iffland und Kotzebue schwingt er sich bald zu Schiller und Goethe auf; er läßt sich von Shakespeare begeistern, er lehnt sich an Gozzis Märchenspiele an und findet in Calderon einen glänzenden Leitstern. Ueberall geht er bald von der bewundernden Lektüre zur [315] Aneignung und Nachahmung über. Unter zahlreichen dramatischen Jugendversuchen, welche theils keck hingepinselt, theils bis ins einzelne liebevoll ausgeführt sind, ragt eine umfangreiche Tragödie „Blanka von Kastilien“ (1807–1809) hervor, in welcher er alle Motive und Stilformen der Schillerschen Dramen vereinigen zu können meint, bei aller Breite und Unzulänglichkeit der Darstellung aber eine seltene Beherrschung der Technik und des iambischen Pathos bethätigt: ein klangvoller Einleitungsaccord zu den zwölf großen Dramen, die er in der Folgezeit dem deutschen Volke schenkte.

Das Werk, das Grillparzers Namen zuerst bekannt machte, „Die Ahnfrau“ (1816), gehört einer vielgeschmähten Gattung, der sogenannten Schicksalstragödie, an. Die dritte Welt ragt in der Gestalt der ruhelosen Sünderin in die düsteren Geschehnisse herein. Ueber ihr selbst und über den Ihrigen schwebt eine höhere Macht, gegen die niemand ankämpfen kann; die Willensfreiheit der handelnden Personen ist, wenn nicht ganz aufgehoben, so doch aufs äußerste beschränkt. Diese Gebundenheit breitet eine dumpfe Schwere über das ganze Werk aus. Indem aber der Dichter eine mächtige, glühende Leidenschaftlichkeit dagegen anstürmen läßt und den dargestellten Charakteren eine jugendliche Frische und überschäumende Naturkraft verleiht, reißt das Werk die Zuhörer mit der Gewalt eines Lavastromes mit sich fort. Die „Ahnfrau“ ist vielleicht das bühnenfähigste aller Grillparzerischen Stücke; es wirkt unter allen Umständen, ob man die Effekte mildert oder übertreibt; es spielt sich so zu sagen von selbst; es hat einen unverwüstlichen dramatischen Nerv.

In welch bedeutsamem Gegensatze dazu steht die ruhige Erhabenheit und fast antike Einfachheit seiner nächsten Tragödie „Sappho“, die kaum ein Jahr nach der „Ahnfrau“ entstanden ist! Eine tiefe Wandlung ist während kurzer Zeit in der Entwickelung des Dichters vor sich gegangen; eine Milderung und Mäßigung hat sich über sein ganzes Wesen ausgegossen; aus dem genialen Uebermuth seiner Sturm- und Drangzeit hat er sich durch das Studium der antiken Tragiker zu sonniger Klarheit und ewiger Formschönheit emporgerungen. Er will nun zeigen, daß er auch ohne den Aufwand des äußeren Effekts eine tragische Wirkung erreichen kann. Er schließt sich an den Stil Goethes in dessen idealisirender Epoche an; eine Weihestimmung wie aus der „Iphigenie“ weht uns aus der „Sappho“ entgegen; ein Künstlerdrama wie der „Tasso“, erhebt es einen individuellen Konflikt in die Sphäre des Allgemein-Menschlichen; zwischen drei Personen, in raschester Zeitfolge, an demselben Orte spielen die erschütternden Herzenskämpfe sich ab. Und über dem Wellengrabe der lesbischen Dichterin schwebt eine versöhnende Milde, die uns wie ein Nachklang des Humanitätszeitalters anmuthet. Zugleich aber liegt uns ein tiefes Selbstbekenntniß des Dichters in diesem Werke vor; denn er selbst empfand den Widerstreit zwischen Leben und Kunst aufs schmerzlichste; auch ihm erschien der dichterische Beruf oft als eine Schranke, die ihn ausschloß aus dem Kreise reinmenschlicher Freuden.

Was hier mehr in idyllischer Enge sich abspielt, wiederholt sich auf weiterem kulturhistorischen Untergrunde und in mehr romantischer Beleuchtung in der Trilogie „Das goldene Vließ“ (1822). Die Nichtigkeit und Vergänglichkeit des Ruhmes, die Sehnsucht nach dem Glück des stillen einfachen Lebens und des mit sich einigen Gemüthes wird mit eindringlicher Gewalt an den Schicksalen Iasons und Medeas dargestellt. „Medea“ ist Grillparzers großartigste Schöpfung; wie er die trotzig herbe Mädchenblüthe des ersten Theiles in dem seltsamsten Liebeskampfe während des zweiten Stückes zur holdesten Weiblichkeit sich erschließen und diese in den furchtbarsten Seelenschmerzen endlich bis zur dämonischen Rächerin und Kindesmörderin sich verhärten läßt, das darf als Meisterwerk psychologischer Darstellungskunst bezeichnet werden. Der Dichter selbst hat Stimmungen durchgemacht, in denen er vor der Furchtbarkeit seiner eigenen tragischen Gestalt zurückbebte. Trotzdem hat er die Reinheit der tragischen Wirkung in so hohem Grade selten wieder erreicht wie in der „Medea“.

Die Zeit vor und nach der Entstehung der „Medea“ ist die fruchtbarste für Grillparzers Erfindungskraft. Wo er geht und steht, sprießen die dramatischen Probleme wie die Blüthen unter den Strahlen der Frühlingssonne empor; alles verwandelt sich unter seinen Händen zu dramatischem Gold. Ein scharfer und kühler Beobachter, läßt er keine Lage seines Lebens vorübergehen, ohne aus ihr Gewinn für seine psychologischen Studien zu ziehen; alte und neue Schriftsteller, Sage und Geschichte dienen ihm gleichmäßig als Fundgruben.

Er entwirft einen großartigen Dramencyklus: „Die letzten Römer“. Marius und Sulla, Cäsar und Pompejus, Spartacus und Catilina, Antonius und Cleopatra leben gleichzeitig in ihm auf. Während ihn der Ring des Polykrates auf die Inseln des Mittelmeeres, der stumme Sohn des Krösus nach Lydien, die sterbende Mariamne nach Judäa entführen wollen, hält ihn die große geschichtliche Vergangenheit des eigenen Vaterlandes auf dem heimischen Boden fest, und auf den Trümmern eines „Friedrich des Streitbaren“ und eines „Kaiser Albrecht“ erwächst die historische Tragödie „König Ottokars Glück und Ende“, in welcher die Anfänge des Hauses Habsburg dichterisch verherrlicht werden. Mit Meisterhand hat er einen weitverzweigten Stoff in ein festes dramatisches Gefüge gespannt; eine Fülle von Personen, jede bis ins einzelne individualisirt, läßt er mit einer Leichtigkeit sich bewegen, welche Staunen erregen muß. Kampf- und Massenscenen sind von elementarer Wirkung. Im Glück und Ende des Helden schwebte ihm Napoleons auf- und absteigendes Schicksal eingestandenermaßen vor Augen, und auch zu den zeitgenössischen Zuständen Oesterreichs führten die politischen Fäden herüber.

Während diesem Stück aber doch nur der Widerwille nationaler Heißsporne nicht gerecht wurde, hat das der ungarischen Geschichte entlehnte Drama „Ein treuer Diener seines Herrn“ bis zum heutigen Tag um seine allgemeine Anerkennung zu ringen. Eine Karikatur des vormärzlichen Beamtenthums wurde dieses Hohe Lied der Unterthanentreue gescholten, in welchem Kants kategorischer Imperativ seine Verkörperung erfahren hat ohne die Milderungen der Schillerschen Ethik. Bancban kämpft für seinen König und das ihm anvertraute Königskind bis zur eigenen Erschöpfung, bis zur Selbstaufopferung; er erduldet Spott und Hohn, er giebt seine Ruhe und Gesundheit dahin, er muß die Ehre seines Hauses antasten, das köstlichste Juwel seines Lebens, sein eigenes Weib, sich entreißen lassen; und er erträgt das alles fast ohne einen Laut der Klage, weil ein Höherer da ist, in dessen Händen die Gerechtigkeit gelegen ist. Die Verschlossenheit seines Charakters, die ihn im höchsten Schmerz in dumpfe Wortlosigkeit versinken läßt, einerseits und ein humoristischer Anflug, den der Dichter seinem Helden zu geben wußte, andererseits erschweren die Darstellung des ausgezeichneten Stückes, das auch durch die Schilderung der unbändigen Leidenschaftlichkeit in der Gestalt eines fürstlichen Wüstlings Anstoß erregte und auf diese Weise zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt war.

Der Bancban weist in Anlage und Charakteristik, in Stil und Sprache zum ersten Male den entschiedenen Einfluß jenes spanischen Dramatikers auf, der die Einwirkung Calderons bei Grillparzer ganz verdrängen sollte, den Einfluß Lope de Vegas. Dieser wird von da ab Grillparzers einziges dichterisches Vorbild. Von ihm entlehnt er den Stoff zur „Esther“ und zur „Jüdin von Toledo“, mit ihm berührt er sich im Stoff zu „Hero“. Durch ihn steigert sich Grillparzers Vorliebe für das Märchenhafte und Wunderbare; mit ihm wetteifert er in der Herausarbeitung der individuellen Einzelzüge, in dem Streben nach Anschaulichkeit und Bildlichkeit, in der Vermeidung des bloß Begriffsmäßigen, in der Lebendigkeit und Fülle des Ausdruckes. Durch das jahrzehntelang fortgesetzte eindringliche Studium Lope de Vegas wird sich Grillparzer erst aller in ihm ruhenden Kräfte bewußt, und jetzt erst läßt er sie frei und schrankenlos spielen.

Leider ist die „Esther“, die ganz unter dem Banne dieser Einwirkung steht, nur bis zum Anfang des dritten Aktes gediehen, von dem aus ein Schluß auf das Ganze noch nicht erlaubt ist. Aber ich bezweifle nicht, daß das Stück sich auch im weiteren Verlaufe auf jener Höhe der Kunstvollendung gehalten hätte, auf welcher die beiden ersten Akte stehen, nur daß es aus dem Bereiche des Herzens in die politische und religiöse Sphäre hätte hinübergeleitet werden sollen. Was hier der Gehalt einer einzigen vielbewunderten, auch auf der Bühne bewährten Scene ist, erfüllt in „Des Meeres und der Liebe Wellen“ das ganze Stück: die alles bewältigende Macht der Liebe. Eine alte See- und Inselsage, die zu verschiedenen Zeiten der Weltlitteratur dichterische Bearbeitung erfahren hat, gestaltete Grillparzer zu einem Drama. Aus dem lieblichen Idyll der Exposition wächst eine tragische Verwicklung heraus, welche die Helden unaufhaltsam dem Untergange [316] zutreibt. Eine große Liebesscene steht in der Mitte, eine der herrlichsten, die wir kennen. Von dem leisen, echoartigen „Gute Nacht“ des eindringenden Leander durch alle Stufen der widerstrebenden, zagenden, fürchtenden, endlich leidenschaftlich ausbrechenden Neigung hindurch bis zu jenem frei bekennenden, offenen, naiv treuherzigen „Komm morgen“ Heros und bis zu dem einzigen Kusse, den sie nur gewähren will und den die Lampe nicht sehen soll: eine unwiderstehlich fortreißende Steigerung, von dem Schleier entzückendster Grazie bedeckt, bis zum leisen Flüsterton gedämpft; dabei von einer Schlichtheit und Einfachheit ohnegleichen. Es ist die zarteste deutsche Tragödie, die wir besitzen; sie ist mehr als andere Stücke Grillparzers mit seinem Herzblute geschrieben. Hero, dieser geliebtesten unter seinen dichterischen Gestalten, lieh er sein eigenes träumerisches sinniges Wesen: seine mimosenhafte Scheu vor der Berührung mit der Außenwelt, seinen Hang zur Einsamkeit, seinen Drang nach Sammlung, seine hohe Auffassung von dem Berufe des Dichters, seine Liebe zur Musik. Hero ist Grillparzer selbst in seinen besten und edelsten Stunden, in denen die Inspiration sein Gott gewesen. In der Hero verkörpert sich ihm die Blüthe seiner Jugend, das Ideal seines Lebens.

Mit „Des Meeres und der Liebe Wellen“ schließen die Tragödien aus der reifsten Zeit des Dichters ab. „Der Traum, ein Leben“, den er 1831 vollendete, ist die Weiterführung einer gleich nach der „Ahnfrau“ begonnenen Skizze und ist auch in deren Manier gehalten; der Versuch, den Traum des Helden gegenständlich darzustellen und auf der Bühne in Handlung umgesetzt vorgehen zu lassen, gehört zu den kühnsten Wagnissen unseres Dichters; eine reiche lyrische Stimmung verbindet sich mit dem traumhaft Gaukelnden der Darstellung zu einem Märchenstile eigenster Art.

In den dreißiger Jahren ist dem Dichter außerdem nur noch ein weiteres Werk gelungen, das ihn uns von einer ganz neuen Seite, als Lustspieldichter, kennen lehrt. Zwar entbehrt auch „Weh dem, der lügt!“ nicht ganz des märchenhaften Charakters, und wollte man Analogien zu diesem Stücke suchen, so könnte man bloß auf die Shakespeareschen Märchenspiele verweisen. Zwar fehlt es auch in diesem Stücke nicht an ernsten, ans Tragische streifenden Tönen; gerade dadurch aber tritt der humoristische Grundzug des Werkes um so deutlicher hervor. Schauspieler und Publikum des damaligen Burgtheaters waren aber so sehr in den Glauben an Grillparzers tragische Mission verrannt, daß sie ihm die Begabung für ein Lustspiel gar nicht zutrauten; eine falsche, allzuschwere Auffassung war beiderseits vorhanden. Die freie siegreiche Heiterkeit des graziösen Küchenjungen Leon kam ebensowenig zur Geltung wie die Ironie und Sophistik des Bischofs, wie die ungeschlachte Rohheit Galomirs. Seitdem das Stück in den siebziger Jahren am Wiener Burgtheater eine glänzende Auferstehung erlebt hat, wissen wir, wie schweres Unrecht dem Dichter durch jene erste Ablehnung zugefügt wurde, und begreifen, wie bitter er diesen Mißerfolg empfinden mußte. Diesem Umstand ist es hauptsächlich zuzuschreiben, daß Grillparzer die drei großen Dramen, welche er seit den beginnenden vierziger Jahren langsam fördernd ausarbeitete, der Oeffentlichkeit hartnäckig vorenthielt. „Libussa“, „Ein Bruderzwist in Habsburg“ und „Die Jüdin von Toledo“ wurden erst nach seinem Tode allgemeiner bekannt. Sie tragen die Spuren des Alters mannigfach an sich, obgleich die Entwürfe, zu den beiden ersten wenigstens, aus der reifsten Zeit des Dichters stammen. Sie sind charakterisirt durch eine gewisse Breite der Komposition, durch eine Ueberfülle tiefen Gedankengehaltes, durch eine eigensinnig gefügte, bilderreiche, schwerverständliche Sprache. Aber auch sie haben die Feuerprobe der Aufführung ehrenvoll überstanden und werden späteren Zeiten noch werthvolle schauspielerische Aufgaben darbieten. Auch sie gewähren uns tiefen Einblick in des Dichters wechselvolles Seelenleben; zumal in Kaiser Rudolf II., dem einen Helden des Bruderzwistes, spiegelt sich Grillparzers Wesen in den Jahren seines Greisenalters ebenso ab, wie uns die Hero als ein Abbild seiner jüngeren Jahre erschienen war.

Grillparzer hat oft den Gedanken entwickelt, die deutsche Nation sei als die letzte unter den europäischen Kulturnationen in die Zeit ihrer dichterischen Reife eingetreten, habe als die letzte eine Nationallitteratur sich gegründet; deswegen sei ihr die Erreichung dieses Zieles schwerer geworden als den andern; deswegen habe sie aber auch eine höhere Stufe erstiegen als alle andern. Man kann daran anknüpfend sagen: Grillparzer ist bis jetzt der letzte große Dramatiker der Weltlitteratur. Eine Fülle der schwierigsten und dankbarsten dramatischen Probleme sah er sich bereits vorweggenommen, fand er schon gelöst vor. Er mußte nach verborgenen Schätzen seine Wünschelruthe ausstrecken, und sie hat ihn nicht getäuscht. Er vertiefte, er verinnerlichte die Stoffe, die er von andern überkam, er schuf sich neue, indem er den Erfahrungen seines eigenen Inneren Leben und Gestalt verlieh. Er lernte von seinen Vorläufern, was zu lernen war, er steht auf deren Schultern. Aber unangetastet bewahrte er sich den Kern seines Wesens und scharf beobachtete er den Pulsschlag seiner Zeit. So wurde er ein moderner Dichter im wahren Sinne des Wortes, der dichterische Vertreter der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.

Hat Grillparzers Begabung sich zweifellos am herrlichsten in seinen Dramen entfaltet, so ist doch mit ihnen seine Thätigkeit keineswegs erschöpft. Mit staunenswerther Vielseitigkeit übte er vielmehr auf zahlreichen anderen litterarischen Gebieten seine Kräfte. In sechzehn Bänden liegen seine gesammelten Werke gegenwärtig vor (Vierte Auflage. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung 1887). Seinen lyrischen Dichtungen mangelt oft der Fluß und die Melodie des Verses, die Abgeschlossenheit der Form, die Reinheit des Reimes. Es rächte sich da die Verachtung, mit der er auf das Volkslied herabblickte; leichte, sangbare Lieder sind ihm nur wenige gelungen; oft werden seine Gedichte durch die Schwere ihres Gedankengehaltes zu Boden gezogen. Am vollendetsten sind daher seine didaktischen Gedichte, daneben goß er seinen Schmerz in einer Reihe von Elegien aus, die sich den besten lyrischen Schöpfungen aller Zeiten anreihen. Vereinzelte Balladen zeugen davon, daß er auch für die erzählende Dichtform eine ausreichende Begabung besaß. Seine Lieblingsform aber ist das Epigramm, das er bis zur Virtuosität handhabte, und in dem er die Gedanken und Gefühle seines Alters niederlegte. Die satirische Anlage, die er darin bewährte, hat er auch in zahlreichen Satiren bethätigt, die theilweise wieder die Form des Dramas annahmen. Seine zwei Novellen „Das Kloster bei Sendomir“ und „Der arme Spielmann“ haben sich aus der vormärzlichen Wasserfluth der Almanache fast allein bis auf die Gegenwart gerettet. In der jahrzehntelangen Einsamkeit seines Alters hat er zahlreiche kritische und ästhetische Studien betrieben; er wollte seinem Liebling Lope de Vega ein Buch widmen, dessen wichtigste Partien fertig vorliegen; er war in allen Litteraturen zu Hause; mit leichter Feder warf er die treffendsten Charakteristiken aufs Papier. Er suchte zahlreiche wichtige Fragen der Philosophie und besonders der Aesthetik in eigenartiger Weise zu beantworten; er schrieb Theaterkritiken und politische Artikel, Reden und Episteln.

Eine reiche geistige Welt wurde der deutschen Nation mit dem Pulte des dahingeschiedenen Dichters aufgeschlossen, eine Welt, in der es aber auch noch manche weite Gebiete zu entdecken gilt. Den Reisetagebüchern und memoirenartigen Aufzeichnungen, unter denen eine künstlerisch nicht völlig abgerundete Selbstbiographie dennoch als werthvolles Dokument für seine menschliche und dichterische Entwicklung hervorzuheben ist, werden sich bald zahlreiche Briefe und sonstige Selbstbekenntnisse anschließen, die das Bild, das man sich bisher von dem Dichter machen konnte und das auch in der „Gartenlaube“ wiederholte Darstellung gefunden hat (vergl. Jahrgang 1860, Seite 293; 1872, Seite 162; 1879, Seite 354), ergänzen und abrunden werden.

In allen Werken Grillparzers tritt uns eine seltene Tiefe der Lebensauffassung, tritt uns Adel und Strenge der Gesinnung entgegen. Jeder seichten Oberflächlichkeit abhold, steht er besonders den streberischen Tagesschriftstellern, der modernen Hast und Betriebsamkeit, dem marktschreierischen Virtuosenthum feindlich gegenüber; mit heiligem Ernst und priesterlicher Weihe mahnt er die Menschheit zur Ruhe und Sammlung, zur Pflege des Innenlebens, predigt er den „Sinn für Ganzheit“ unserer zersplitterten Zeit. Wie von seinen Werken wird auch von seinem Standbild dieser hehre Mahnruf ausgehen; wollte er doch selbst die Berechtigung solcher Denkmale nur darin finden, daß sie, wenn sie wirkliche Kunstwerke sind, sich immer als ein mächtiges Mittel zur Hebung des Volksgeistes erweisen. „Darum sind ja von jeher Dichter gewesen und Helden, Sänger und Gotterleuchtete, daß an ihnen die armen zerrütteten Menschen sich aufrichten, ihres Ursprungs gedenken und ihres Ziels.“ August Sauer.




[317]

Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[1]

Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller. Mit Abbildungen von Fr. Specht.
2. Die Gravitätischen.
a. Der weiße Storch.

Die erste Frühlingsregung zieht durch das Gemüth, wenn die Kunde durch das Dorf, durch die Stadt geht: unser Storch ist da. Aller Augen richten sich auf den Horst, das allen bekannte Storchnest, und siehe, dort steht der hochbeinige Stelzvogel auf dem Rande der Wiege seiner Jungen, die er im vorigen Jahre groß gefüttert hat; vielleicht hat auch er selbst vor Jahren in derselben Wiege das Licht der Welt erblickt. Seine Ehehälfte weilt noch zögernd unterwegs, in wirthlicherer Gegend sich aufhaltend, wo die Nahrung nicht kärglich geboten ist. Das Männchen ist vorausgezogen und prüft unverkennbar die Wohnstätte, besucht die bekannten Plätze der Umgebung in Wiese und Flur und treibt sich längere Zeit als Einsiedler im gewohnten Heim umher, bis eines Tags sein plötzliches Wiederverschwinden dem Beobachter auffällt. Doch nur wenige Tage vergehen, da kommt das Paar aus fernen Höhen in Bogenflügen immer tiefer und näher dem Wohnplatz, immer enger ziehen sich seine Kreise, bis es sich schließlich niederläßt und auf dem Reste fußt. Das Freudengeklapper verkündet die Einkehr des treuen Paares. Wenn sie so stille stehen auf dem hohen Thurm, dem Haus oder dem abgestutzten Ulmenbaum, nichts Gravitätisches, nichts Stolzes und Würdevolles zeigt da ihre Haltung; vielmehr erscheinen sie plump bei aller Hochbeinigkeit. Wie anders, wenn sie im Riede sich niedergelassen haben und da umherstolzieren gemessenen Schrittes und wachsam nach allen Richtungen hin auf Beute bedacht und doch auch ihre Sicherheit nicht außer Acht lastend trotz der Schonung, die ihnen allenthalben das Volk angedeihen läßt! Ja, dieser Gang ist wirklich gravitätisch.

Während des Auf- und Abschreitens beherrscht der Storch mit scharfblickendem Auge den Plan vor sich und zur Seite. Was an Verschlingbarem sich regt, entdeckt der geweckte Sinn, die lüsterne Aufmerksamkeit, welche stets angespornt wird durch die angeborene Gefräßigkeit. Die Waffe hält er stets zum Einhauen bereit, der lange, spitze Schnabel fährt wie ein Pfeil hernieder und trifft mit großer Sicherheit die huschende Maus, den stoßenden Maulwurf, den flüchtenden Käfer, den hüpfenden Frosch, die sich schlängelnde Eidechse. Oft faßt er mit dem Nager oder dem Maulwurf einen ganzen Bündel Moos, Gras oder Genist, und er verzehrt entweder auf der Stelle die Beute oder trägt sie dem brütenden Gefährten, den Jungen im Neste zu. Wenn er sich zum Aufflug anschickt hüpft er erst in weiten Sprüngen flügelschwingend, um dann den Boden zu verlassen und scheinbar unbehilflich der Höhe zuzustreben. Ebenso ungeschickt ist sein Fußen am Ziele des Flugs. Nicht von unten herauf oder auch in wagrechter Linie kommt er an, sondern von oben her, die Stelzfüße vorstreckend, läßt er sich vorsichtig nieder.

Hat er eine vorzügliche Nahrungsquelle entdeckt, dann kehrt er immer wieder zurück, um sie gründlich auszubeuten. Sein Ortsgedächtniß kommt ihm dabei sehr zu Hilfe, denn wenn er z. B. einen Satz kleiner Häschen entdeckt hat, so weiß er genau die Stellen wiederzufinden, wo sich die Kleinen zu verbergen suchten, und eins nach dem andern wird von ihm davongetragen. Aber er begnügt sich nicht mit dem Rauben zur Befriedigung des Ernährungsbedürfnisses oder zur Fütterung der Familienglieder, denn er ist nicht bloß gefräßig, sondern auch wahrhaft mordsüchtig und mordlustig. An einem Bach, der einen Teich speist, fanden wir in der Frühe Dutzende von Kröten frisch getödtet, denen der Storch den Leib aufgeschlitzt hatte, ohne daß er auch nur ein Stückchen der Eingeweide oder eines Körpertheils verschlungen hätte.

Eine andere Charaktereigenschaft des Storches ist Bosheit und Eifersucht. Wenn die jungen Störche ihren Horst im Frühjahre aufsuchen, oder wenn ein fremder Eindringling von demselben Besitz nehmen will, entwickeln sich heftige Kämpfe, und wir haben es mehrmals erlebt, daß das gemeinschaftlich seinen Horst verteidigende Paar den Fremdling oder den eignen vorjährigen Nachkommen jämmerlich zerfetzte und mordete. Eine verwandte Eigenschaft bekundet der Storch auch als gezähmter Hofbewohner unter dem Geflügel. Wir sahen ihn in einem großen Schloßhof herrisch umherstolzieren, in immer enger gezogenen Bogengängen das Hühner- und Entenvolk umkreisen, das sich sklavisch zu Paaren treiben ließ und schließlich mitten im Hofe zu einem Häufchen zusammenkauerte. Nichts anderes als Herrschsucht verleitete hierzu den Storch, denn jedesmal beendete er dieses Unternehmen mit plötzlichem derben Zufahren, so daß gackernd und quakend die geängsteten Thiere auseinanderstoben. Solchen gezähmten Störchen darf man kleinen Hühnerchen und Entchen gegenüber niemals trauen. Sie wissen trotz der ängstlichen Wachsamkeit der alten Glucke oder Mutterente das eine und andere Küchlein zu spießen, zu zerfetzen und hinabzuwürgen. Uebrigens zeigt sich der zahme Storch auch zu allerlei amüsanten Neckereien mit Hunden und Katzen aufgelegt. Possirlich nehmen sich seine Versuche aus, die Sperlinge, welche ihn umgeben, zu erhaschen. Natürlich sind die Sperlinge flinker als der zufahrende Storch, der wohl seine Unzulänglichkeit aus den fortwährenden Mißerfolgen erkennt, aber dennoch neue Versuche nicht unterläßt.

Ein hervorragender Charakterzug unseres Storchs ist schließlich neben seiner Treue zum alten Wohnorte auch seine Treue in der Ehe. Bei der Trennung der Geschlechter durch den Tod wird [318] wenigstens seitens des Weibchens entweder aus Abneigung oder aus Mangel an entsprechend dargebotener Gelegenheit eine neue Ehe nicht so leicht geschlossen. Wer weiß, ob nicht tiefgehende Trauer Ursache eines streng eingehaltenen ehrbaren Witwenstandes ist!


b. Der schwarze Storch.

Dieser Vogel ist und bleibt vielen gänzlich unbekannt, da er wohl in Deutschland an geeigneten Plätzen, aber doch selten vorkommt; am häufigsten nistet er in den wasserreichen nordöstlichen Strichen, in Pommern und Ostpreußen. Es bedarf seiner Seltenheit wegen einer kurzen Beschreibung der äußeren Erscheinung. Kleiner und schlanker als der weiße Vetter, überragt er ihn in der Flugweite bedeutend. Weiß sind nur der untere Theil der Brust, der Bauch und die Schenkelfedern; der übrige Theil des Gefieders erscheint mattschwarz mit metallischem grünpurpurnen Schiller. Das Korallenroth des Schnabels, der nackten Stellen an den Augen und den Beinen tritt bei den alten Exemplaren lebhaft hervor. Einsame, entlegene, alte Waldungen, die das Vorhandensein feuchter oder sumpfiger Wiesen, Bäche oder Flüsse nicht ausschließen, wählt er zum Aufenthalt und legt da seinen Horst auf einer Eiche, einer Buche oder Kiefer an. Dabei ist er darauf bedacht, daß er vom Horst oder dem wipfeldürren Nistbaume aus freie Umschau halten kann, denn ein Grundzug seines Wesens ist Scheu und Mißtrauen. Deswegen trifft man seine Familienwohnung auch gewöhnlich am Rande eines alten räumlichen Schlags oder in einer Gruppe alter Stämme auf einem Lichtschlage oder in der Nähe eines solchen an. Selten nur kommt es vor, daß der Horst in kleinen Feldgehölzen und Auen gefunden wird. Um den scharfsichtigen, sehr scheuen Vogel zu beobachten, muß man einen gut verborgenen Standort einnehmen und einen guten Tubus zur Hand haben. Interessant und lohnend ist aber die Verfolgung seines heimlichen Wandels. Geschieht dies nicht mit Vorsicht und sieht sich das Paar irgendwie belästigt oder von Nachstellungen umgeben, so verläßt es wenigstens für einige Zeit, wenn nicht ganz, Standort und Ernährungsgebiet, um sie mit anderen zu vertauschen. Indessen finden auch nicht selten derartige Veränderungen statt, ohne daß die Ursachen zu ergründen wären. Eigenwilligkeit, Eigensinn, irgend welche Unzufriedenheit veranlaßt die schwarzen Störche, eine Ansiedelung zu verlassen, einen anderen Ort, ebenso räthselhaft für uns, zu erwählen, wo vorher kein solcher Vogel zu sehen war.

Schwarze Störche.

Entzückend schön ist der Kreisflug des männlichen schwarzen Storchs in der Höhe zur Zeit, da das Weibchen brütet. In stetigen, kaum von einem Flügelschlag unterbrochenen Schraubenwindungen erhebt sich der im Sonnenschein purpurstrahlende Vogel und durchzieht den Aether in majestätischem Kreisen, oft stundenlang dieses schöne Luftspiel fortsetzend. Sein Flug ist gewandter, leichter als derjenige des weißen Storchs, seine Haltung diejenige des wilderen Vogels. Sein ganzes Erscheinen und Gebahren ist flinker, behender und mit einer gewissen Anmuth begleitet. Vom Horst aus durchstreift er die Gegend, um die Nahrungsquellen in sumpfigen Waldwiesen, Erlenbrüchen, an Teichen, Gräben, Bächen und Flüssen auszubeuten. Das geschieht mit großer Vorsicht, wenn er sich nicht völlig sicher fühlt, was sich namentlich in dem mehrmaligen Kreisen um den Ort zeigt, wo er sich niederlassen will. Beim Einfallen führt er hohen Flügelschlag aus und hebt den Hals, um möglichst weite Umschau zu halten. Dann erst schreitet er langsam, noch langsamer als der weiße Vetter, mehr schleichend wie jener, aber ebenso gravitätisch, umher. Seine Nahrung ist noch vielseitiger, allem Kleingethier ist er gefährlich; was ihm von Nagern, kleinen Raubthieren, Lurchen, überwindbaren Schlangenarten, Insekten und erreichbaren Vögeln in den Weg kommt, danach greift hastig sein zuschnellender Schnabel, der die Beute tödtet, in die Höhe wirft und alsdann schlinggerecht wieder auffängt zur Beförderung in den würgenden Schlund.

Stellt schon der weiße Storch Fischen nach, so betreibt der schwarze diese Jagd mit wirklicher Leidenschaft. Er watet tief und schnellt mit dem Schnabel nicht leicht fehl, so daß manche Forelle aus dem Gebirgswasser von ihm an die Oberfläche befördert und in den unersättlichen Kehlsack versenkt wird. Nach dieser Richtung hin würde bedeutende Schädigung unausbleiblich sein, wenn der schwarze Storch ein häufig vorkommender Vogel wäre. Hat sich der Unersättliche mit allerlei Kleingethier im wahren Sinne des Wortes voll und steif gepfropft, dann begiebt er sich an seine Lieblingsstandorte, um in Ruhe der Verdauung sich hinzugeben. Während der Jungenpflege raubt er natürlich das Doppelte und wechselt öfter zwischen dem Horst und den ergiebigen Nahrungsplätzen. Früher als die jungen weißen Störche verlassen die schwarzen den Horst, geführt und angeleitet von den Eltern. Mit der Familie schlagen sich im Nachsommer wohl auch andere zusammen, doch ist der Geselligkeitstrieb beim schwarzen Storch bei weitem nicht so stark wie bei dem weißen, der sich bekanntlich vor dem Wegzug in die Fremde in großen Wiesengründen, wasserreichen Ebenen zu Hunderten, ja Tausenden zusammenthut. Nach zuverlässigen Beobachtungen sieht man den schwarzen Storch höchstens in kleinen Flügen reisen.




Lore von Tollen.

Roman von W. Heimburg.
(Schluß.)


Die nämliche kleine Wohnung am Forum Trajanum hatte der General wieder gemiethet. Der alte Herr war trotz seines Rheumatismus länger in Berlin geblieben, als er beabsichtigt hatte. Er wollte erstlich der tiefgebeugten Schwägerin helfen, die älteste Tochter unter die Haube zu bringen, und dann – er wollte nicht ohne Lore fort, durchaus nicht! Jeden Nachmittag setzte er sich auf die Pferdebahn und fuhr in das Augustahospital, wo ihm „seine alte Deern“ täglich mit blasseren Wangen entgegentrat. Und jeden Tag sprach sie ihr „laß mich hier, Onkel, ich bin wirklich ganz gesund!“ mit klangloserer Stimme.

Erst als er mit einem recht flotten rheumatischen Fieber zu Bett lag, das ihm der Herbstübergang gebracht hatte, erst da ward sie schwankend; und als er in der That „höllisch knickebeinig“ zu Helenens Hochzeit fuhr und Lore, die ihn begleitete, sich mit eigenen Augen überzeugen mußte, daß er wirklich nicht gut allein reisen könne, gab sie nach und willigte ein, ihm nach seinem geliebten Rom zu folgen.

Ob der alte Schalk sich nicht ein wenig kränker angestellt hatte, als es wirklich der Fall war, das konnte sie nicht ergründen. Er war nämlich, sobald der Zug jenseit des Gotthardtunnels in [319] rasender Eile dem Lago Maggiore entgegensauste, ein ganz anderer Mensch geworden, ganz der alte stramme Soldat, der aufmerksame Kavalier. „Das macht die Luftveränderung, Kindchen,“ sagte er ernsthaft, als sie ihn mit erstaunten Augen ansah.

Nun waren sie bis Weihnachten in Neapel gewesen und hatten das Fest selber auf Capri gefeiert, in Paganos gemüthlichem palmenumrauschten Gasthause; sie waren an Neujahr nach Pompeji gegangen und hatten mit seltsamen Gefühlen zurückgedacht an das, was der letzte Jahresabschnitt für sie bedeute. Dreihundertfünfundsechzig Tage – was bedeuteten die gegenüber diesen Jahrtausende alten Trümmern, und doch, was hatten sie gebracht an Leid und Weh!

Sie hatten auf den Stufen des Forums gesessen und ein Telegramm verfaßt an Mutter und Tante und es auf der Station Pompeji befördern lassen. „Ein Wunsch für die Gegenwart, kommend aus uralter Vergangenheit!“ – Ein seltsamer Gedanke und doch so beruhigend. „Es fliegt die Zeit, wir mit ihr, und mit uns all unser winzig Freud und Leid, das uns in unserem verblendeten Größenwahn so wichtig dünkt!“ So sagte Lore zu sich, während der alte Herr schmunzelnd meinte. „Was wohl so ein alter Römer, der hier auf Sommerfrische saß, für Augen gemacht haben würde zu Eisenbahn und Telegraph!“

Sie waren dann nach Rom zurückgekehrt gegen Ende des Januars, von Formen- und Farbenschönheit gesättigt, von einer wunderbaren Natur überwältigt und gehoben, um nun ihr stilles, fleißiges Leben wieder aufzunehmen, in dem alten und doch ewig jungen Rom, dessen Reiz niemand auszukosten vermag.

Dort unten im Höfchen rauschte wieder der silberne Wasserstrahl aus dem antiken Löwenmaul; die Gemma sah just noch ebenso wenig appetitlich aus, und der Teppich und die Gardinen hatten vielleicht ein paar Löcherchen mehr. Sonst war alles beim alten. Und nach dem Frühstück ging die Eccellenza mit der schönen Signora nach wie vor spazieren, bewaffnet mit Plänen und Reisehandbüchern, und gegen Dunkelwerden kamen sie zurück, nahmen ihr Pranzo und saßen am Kaminfeuer, an dem sich die Signora die Füßchen wärmte, nachdem sie dem alten Herrn sorglich die Decke über die Kniee gebreitet hatte; denn eine römische Stube, gar ein Salotto, ist im Februar kalt, selbst wenn ein Teppich die Steinfliesen bedeckt.

Heute rüsteten sie sich für den Besuch einiger Kirchen; Lore wollte die Raphaelschen Sibyllen in Santa Maria della Pace sehen.

Es war heller Sonnenglanz in den Straßen und blauer Himmel drüber, und so milde frühlingsgleiche Luft.

Auf der Piazza Navona plätscherten die Brunnen. Der General und Lore gingen zwischen spielenden Kindern und müßigen Spaziergängern hindurch und bogen in die enge dunkle Gasse ein, die zu der Kirche führt. Das Portal war geschlossen, und ein diensteifriger, aber erbärmlich krüppeliger Knabe führte sie um die „Chiesa“ herum in einen niedrigen Kreuzgang und begann dort wie wahnsinnig an einer Seitenpforte zu hämmern. Endlich ward aufgethan; der kleine Krüppel erhielt sein Trinkgeld und Lore trat mit dem Onkel über die Schwelle der Kirche, in der durch die Glasmalereien der Fenster eine magische Dämmerung herrschte. Ein leiser Duft von Weihrauch erfüllte den feierlichen Raum und zerfloß oben unter der achteckigen Kuppel in kleinen Wölkchen.

Völlig leer war dies mit alten Bildern und kunftvollen Holzschnitzereien ausgestattete Gotteshaus, nur ein Herr stand vor der Seitenkapelle und sah empor zu den Gemälden.

Schweigend winkte der Sagrestano der jungen Frau herüber, wo der Fremde stand. „Ecco,“ sagte er dann und wies hinauf zu den Sibyllen

Sie stand da mit der stillen Andacht, die ihr schönes Gesicht immer zeigte, wenn sie sich in einem Gotteshause befand; und jetzt war dieser Ausdruck noch erhöht durch die Bewunderung des Werkes eines gottbegnadeten Künstlers.

Dicht neben den Herrn war sie getreten, so dicht, daß ihre Schulter fast seinen grauen Touristenanzug berührte, aber sie merkte es nicht, so fest hingen ihre Augen an den schönen Frauengestalten da oben. Sie wandte nicht einmal den Blick nach ihm, als er jetzt hastig einen Schritt von ihr zurücktrat.

„Lore!“ klang es in ihr Ohr, zweifelnd, fragend; da schaute sie sich hastig um nach ihm, und ihre Hand griff nach dem Betschemel, der ihr zunächst stand, als suche sie einen Halt. Aber sie war keines Wortes mächtig.

Wohl wußte sie durch ihre Mutter, daß Ernst seiner Gesundheit wegen im Süden sei, aber man hatte ihr von Nizza und Mentone geschrieben. Nun war er in Rom, nun standen sie hier, von denselben Mauern umschlossen, in der feierlichen Stille der kleinen Kirche, allein, ganz allein.

Der General war mit dem Küster in einer Seitenkapelle nahe dem Altar verschwunden.

Verwundert lugten die Engelsköpfe Raphaels herunter; sie mochten schon manches junge Paar hier nebeneinander gesehen haben, denn in Santa Maria dell Pace hörten alle jungen Eheleute Roms die erste Messe nach der Vermählung. So ein Paar wunderlicher blasser Menschenkinder war ihnen aber sicher noch nicht vorgekommen!

Lore hatte sich zuerst gefaßt und hielt ihm die Hand hin. „Ich sah Sie noch nicht nach dem Tode meiner Schwester,“ sagte sie, ohne ihn anzuschauen, „nehmen Sie die Versicherung, daß ich herzlich mit Ihnen trauere um den Verlust Ihrer Braut.“

Sie athmete auf. Sie hatte ihn mit wenigen Worten auf den einzigen Weg gelenkt, den sie miteinander gehen durften.

Sie fühlte flüchtig ihre Hand gedrückt und hörte, wie er sprach: „Ich danke Ihnen, Lo –, gnädige Frau.“

So blaß sie vorhin war, so purpurn erglühte sie jetzt. „Onkel,“ rief sie, sich umwendend, und als der alte Herr seine Schritte zu ihr herüber lenkte, fügte sie, auf Ernst deutend, hinzu. „Der Bräutigam unserer armen Käthe.“

Die Herren schüttelten sich die Hände. Der General murmelte irgend etwas zwischen den Zähnen, das wie eine Beileidsphrase klang. Und dabei betrachtete er verwundert den auffallend hübschen Mann, dessen feines, noch die Spuren der Krankheit tragendes Gesicht mit den intelligenten Augen ihn fast betroffen machte.

Lore ging indessen von Bild zu Bild, aber sie sah nichts. In ihr tobte ein förmlicher Sturm.

Sie stand auf den Stufen des Hochaltars und hörte eine lange Rede des Küsters, der das alte Madonnabild pries; aber sie begriff nichts. Sie lauschte nur immer auf jene Stimme, die in ihr Ohr scholl, von dort unten her, die sie nie mehr zu hören gehofft hatte.

Eifrig sprechend schritten die Herren dem Ausgang zu. Erst in der geöffneten Thür schaute sich der alte Herr nach Lore um. Sie kam nun auch eilig daher und ging ihnen voran durch die engen Straßen; langsam folgten die beiden. Der Doktor ohne ein Auge zu verwenden von dieser vornehmen schlanken Frauengestalt, als könne er nicht genug schauen, als müsse er nachholen, was er versäumt hatte.

Es war ihr, als fühle sie diesen Blick, und sie spannte den Schirm auf und legte ihn über die Schulter, obgleich ihr die Sonne ins Gesicht schien.

Sie stand endlich still vor dem Palazzo Madama. „Ich bin sehr müde, Onkel,“ sagte sie.

„Ei, da fahre nach Hause; ich bummle noch,“ erwiderte der alte Herr, besorgt ihr blasses Gesicht betrachtend. „Hab’ ja Gesellschaft; leg Dich, ruh’ Dich aus!“ Und er rief nach einem Wagen.

„Ja! Adieu!“ Sie grüßte freundlich ernst durch ein Neigen des Kopfes, dann rollte das Gefährt mit ihr von dannen.

Sie legte sich daheim gehorsam auf ihr Bett und schloß die Augen, die ihr merkwürdig brannten. Sie sehnte sich so nach Ruhe, aber ihr Herz klopfte und hämmerte entsetzlich. Hätte sie ihn doch nie wiedergesehen!

„Wenn ihn nur der Onkel nicht zum Essen mitbringt,“ dachte sie, „ich kann es nicht ertragen!“ Und dann wünschte sie es wieder.

Nein, der alte Herr kam allein. Indeß für den folgenden Tag hatten sie sich verabredet, das Museo Lateranense zu sehen.

Aber Lore wollte am andern Morgen nicht mit. Was war ihr nur? – sie hatte doch sonst nie Launen gehabt! Der General ging brummend allein. Er hatte verabredet, sich mit Schönberg in einem Restaurant auf dem Korso zu treffen; dahin lenkte er seine Schritte.

Lore setzte sich an die geöffnete Thür des Balkons, denn draußen schien die Sonne und erfüllte den kleinen Hof mit köstlicher Wärme. Sie hatte irgend eine Handarbeit ergriffen, und während sie Masche an Masche schlang, dachte sie nach über ihr Schicksal und über das ihres Hauses, um wieder dahin zu kommen, wo sie immer anlangte, daß ja doch alles Glück für sie dahin sei; [320] denn außer ihm gab es keines für sie, und er stand jenseits an Käthes Grab, und dieser stille grüne Hügel baute sich zwischen ihnen auf – gewaltig und unübersteigbar. Sie war so tief in Gedanken, daß sie Gemmas Sprechen auf dem Flur überhörte. „Die Signora ist zu Hause geblieben.“

Und einen Moment später stand er vor ihr in dem schlichten grauen Reiseanzug, groß und stattlich; und das Sonnenlicht, das den ganzen Raum durchstrahlte, funkelte über seinem braunen Haar und machte seine Augen noch leuchtender, mit denen er sie ansah.

„Ich habe Ihren Onkel verfehlt,“ sagte er und zog einen Stuhl herzu. „Gestatten Sie mir, daß ich mich ausruhe, der Gang hat mich müde gemacht; dieses Rom, es wirkt fast betäubend. Wie kommt es denn, daß Sie nicht mit hinaus sind in Luft und Sonne?“

Sie saß ihm rathlos und überrascht gegenüber. „Ich fühlte mich auch müde,“ antwortete sie.

„Ich störe Sie doch nicht, Lore?“ fragte er leise, sie beim Namen nennend, was er in der Anrede vermieden. „Gestehen Sie, Sie wünschen mich tausend Meilen von hier – ist’s nicht so? Soll ich gehen?“

„Ja!“ sagte sie ehrlich und laut, „gehen Sie!“ Und sie athmete auf.

„Nur ein paar Worte noch, Lore; wer weiß, wann wir uns einmal wieder allein sehen. – Ich wollte Sie bitten, lassen Sie uns das Vergangene vergessen!“

Sie sah ihn zornig an. Leichtfertig dünkte sie sein Reden, als ob man imstande sei – eins – zwei – drei! die Truhe der Erinnerung zuzuklappen. Abgemacht!

„O,“ sagte sie langsam, und es klang bitter, anstatt ironisch, „wozu diese Wiederholung? Sie haben mir längst gesagt, daß Sie vergaßen, wenn auch just nicht mit Worten.“ Und sie dachte, wie sie hier, an der nämlichen Stelle, die Anzeige seiner Verlobung empfangen hatte.

„Nun, so habe ich mich falsch ausgedrückt, ich meinte vergeben statt vergessen! Und bei Gott, Lore,“ setzte er hinzu. „ich trage Ihnen nicht nach, daß Sie –“

Sie wandte stolz den Kopf. „Es ist sehr gütig von Ihnen! Sie meinen also, daß ich aus purem Uebermuth, aus Laune, aus Lust, eine reiche Frau zu werden, oder aus – Gott weiß – etwas Unbegreiflichem Sie verließ; – daß –“

„Ich meine nichts, denn ich weiß, daß Sie – – ich habe vergeben, darf gar nicht mehr zürnen; aber auch Sie sollen mir verzeihen, Lore.“

„Nehmen Sie die Versicherung meiner völligen Verzeihung, wenn ich auch nicht weiß für was!“

„Für was?“ Er sah sie traurig an. „Ist es nicht eine schwere Schuld, daß ich Ihrer Schwester meine Hand geboten habe – ohne eine Spur von Liebe? Ich hatte nicht einmal die Entschuldigung, damit etwas Gutes zu bezwecken, wie –“

„Kein Wort mehr!“ rief sie zitternd. „Es ist wahrlich leicht, einer Todten abzustreiten, daß Sie ihr einst Ihr Herz schenkten. – Käthes Mund ist stumm –“

Er wurde roth, aber er ließ die Augen nicht von ihr. „Ich wiederhole es,“ sagte er laut, „ich liebte Ihre Schwester nicht.“

„Brechen wir das Gespräch ab!“ sagte sie kurz.

Er schwieg gehorsam. Sie war aufgesprungen und ging hastig bis zu dem Kamin hinüber, in dem die letzten Kohlen verglimmten. Sie stieß zwecklos mit der Zange darin umher und nahm den kleinen Blasebalg zur Hand, ohne ihn zu gebrauchen. Endlich kam sie zurück, und vor ihm stehen bleibend in dem grellen Sonnenlicht, das ihm so deutlich die feinen Linien zeigte, die der Gram in ihrem Gesichte gezogen, sagte sie leise:

„Wir wollen uns nicht zanken über diese alten Geschichten, es hätte keinen Zweck und – es ist mir recht, was Sie vorgeschlagen: wir wollen gute Freunde werden. Wir haben uns gegenseitig wehgethan, nur mit dem Unterschied, daß ich nicht Herr meines Willens war, daß ich beinahe gestorben wäre, um – aber lassen wir das! Nur wollen Sie mich nicht mehr trösten mit Märchen, die ich doch nicht glaube! Lassen Sie doch der Todten ihr Recht!“

„Lore, Sie thun mir unrecht! Ich wußte damals nicht, daß Sie gezwungen ‚Ja‘ gesprochen hatten; und tödlich beleidigt durch Ihre Untreue, stürzte ich mich Hals über Kopf – Ach, fragen Sie mich nicht!“

„Also gute Freundschaft!“ sagte sie, seine Worte überhörend.

„Gute Freundschaft,“ wiederholte er, und ein trauriges Lächeln flog, ungesehen von ihr, um seinen Mund.

Und nun saßen sie beisammen und sprachen von Sachen, die weit ab lagen von dem, was sie dachten, und dabei fanden sich immer ihre Augen mit fragendem, forschendem Blick, als suchten sie nach einem einzigen Strahl jenes Glückes, das ihnen einst daraus geleuchtet. Es war so mäuschenstill hier oben, nichts störte sie in den Fragen und Antworten, die zuerst rasch und dann immer langsamer gethan und gegeben wurden.

Der General schien heute die Stunde des Essens versäumen zu wollen. Gemma hatte, auf den Zehen trippelnd, leise den Tisch gedeckt und brachte die Zuppa im übervollen Metallnapf herein.

Lore bat Ernst mit ein paar hastigen Worten, zu Tisch zu bleiben, und füllte die braune Brühe auf die Teller. Sie war dabei verlegen und etwas ungeschickt. Sie saßen sich gegenüber wie ein junges Ehepaar beim ersten Mittagessen; möglich, daß sie beide Aehnliches dachten. Einen Moment, just als er die Hände nach dem Teller ausstreckte, den sie ihm gefüllt, tauchten ihre Augen in die seinen mit dem vollen Ausdruck der alten treuen Liebe; dann senkte sie rasch das Gesicht, und während sie zitternd zu dem Löffel griff, liefen ihr ein paar große Thränen aus den Augen.

Sie sprachen nicht viel mehr bei ihrem kleinen Mahl. Gemma trug die goldgelb gebackenen Fischchen kopfschüttelnd wieder ab, ohne daß davon gekostet war, und ebenso den gebratenen Hahn; nur eine Orange schälte Lore, und er aß davon ein Stückchen nach dem andern und trank dazu von dem dunkelrothen Wein.

„Auf gute Freundschaft!“ sagte er einmal und rührte mit dem Glas an das ihre. Dann fragte er, ob sie nicht spazieren gehen wolle; und als sie bejahte, führte er sie am Arm durch die Straßen Roms, und sie dachte, wie sie es einst geträumt, so mit ihm zu wandern, und daß es nun Wirklichkeit geworden sei, und doch wie anders – –

Die Dämmerung sank herunter, als er sich an ihrer Hausthüre von ihr verabschiedete. „Gute Nacht, Lore!“ sagte er, „und habe Dank!“

Sie erschrak über das „Du“. „Gute Nacht!“ sprach auch sie. „Auf Wiedersehen?“ fragte er.

„Ja!“

„Morgen?“

„Ja!“

Droben murrte der Onkel verdrießlich in seiner Einsamkeit. „Alle Wetter, Deern, so läßt Du warten!“

Sie stand vor ihm und sah ihn an, und vor diesem Blick verstummte er, so thränenschimmernd waren ihre Augen.

„Ei, was ist Dir denn begegnet?“ fragte er. „Du siehst aus, als –“ Er wußte nicht gleich weiter.

„Nichts Besonderes, Onkel. Ich war ganz solid spazieren mit meinem guten Freunde aus der Heimath.“

„Mit dem Doktor da?“

„Ja, Onkel!“

„Eh, das mag wohl kurzweiliger sein als mit dem alten Onkel, das glaube ich,“ neckte der General, „so einer hat alle die Klassiker am Schnürchen und kann Dir sagen, wo Nero seine Schuhe besohlen ließ und die schöne Agrippina ihren Kopfputz kaufte!“

„Ach, Onkel, wir haben nicht an die kaiserliche Roma gedacht,“ antwortete sie.

„Um so schlimmer! Was habt Ihr dann gedacht? Heißt das mit Nutzen reisen?“ – – – –

Ein paar Tage verstrichen und der Doktor verlebte sie mit ihnen. Sie gingen zusammen aus und aßen zusammen, aber sie sprachen kein Wort mehr von alten Zeiten. – Nun kam er eines Abends, um Abschied zu nehmen.

Der General hatte sich bei einem Ausflug nach Tivoli, den sie Tags zuvor unternommen hatten, erkältet und lag zu Bett mit geschwollenen Füßen. Lore saß im dämmerigen Salotto, in das der Mond einen breiten Streifen bläulichen Silberlichtes durch das Fenster sandte; ihr gegenüber der Doktor.

„Grüßen Sie viel tausendmal die Heimath!“ sagte sie und legte ihre Hand in die seine. „Grüßen Sie meine gute Mutter und auch die Ihre – wenn sie noch etwas von mir wissen will.“

„Ach, Lore,“ sprach er weich, „sie vergab Dir Deine –“

„Untreue“ – ergänzte sie, und leise und hastig fügte sie hinzu: „Und ich war Dir doch treu, Ernst, mit jeder Faser meines Herzens.“

[321]

„Morgenstunde hat Gold im Munde!“
Nach einem Gemälde von Toby E. Rosenthal.
Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.

[322] Sie hatte ihn noch nie wieder beim Vornamen genannt und noch nie wieder „Du“!

„Lore!“ sagte er athemlos. –

Da stand sie auf und trat an das Fenster, und er folgte ihr. „Ich war Dir treu,“ wiederholte sie noch leiser, „tausendmal habe ich Gott gebeten, er möge mir Gelegenheit geben, es Dir zu sagen.“

Er ergriff ihre beiden Hände und zog sie an sich, und bei dem hellen Mondenlicht sah er ihr in die Augen mit banger Frage, und sie fühlte, wie seine Hände zitterten, aber ihre Augen blickten groß zu ihm empor, so rein und klar wie die eines Kindes.

„Auch ich war Dir treu, Lore!“ flüsterte er.

Da wand sie sich los. „Nein“ sagte sie, „sprich davon nicht, denn Käthe ist todt und – ich habe ja auch kein Recht, Dir um ihretwillen einen Vorwurf zu machen, denn Du wußtest mich verloren für Dich –“

„Vielleicht glaubst Du Käthe mehr wie mir, Lore,“ und er nahm einen Brief aus seiner Brieftasche, den er ihr hinreichte. „Lies, lies, ich bitte, und dann richte milde und laß es unser Geheimniß bleiben.“ – –

Der Mondenschein war so hell, daß sie ohne Mühe die bekannten Schriftzüge entziffern konnte; sie trat näher an das Fenster und las. Endlich sank die Hand herunter, die die Briefblätter hielt, und leise weinend legte sie ihren Kopf an die Scheibe.

Er stand hinter ihr, wartend, bis sie sich umwenden würde, damit er sie an seine Brust ziehen könne, um sie nie wieder zu lassen. Aber als sie in ihrer Stellung verharrte, mahnte er leise: „Lore!“

Und nun wandte sich ihr verweintes Gesicht zu ihm. „Nein, nein, nicht jetzt, Ernst!“ Und sie hielt den Brief in fest verschlungenen Händen, die sich leuchtend weiß von dem tiefen Schwarz ihres Kleides abhoben.

Ja, sie trug noch schwarze Kleider!

Er trat zurück. „Leb wohl, Lore, auf Wiedersehen! Komm bald!“

„Auf Wiedersehen!“ flüsterte sie.

„Bald! Und bleibe bei mir!“

Sie neigte stumm bejahend den Kopf und winkte zugleich, er möge gehen.

Und er ging gehorsam. Er wußte, es war eine letzte Trennung, ein letztes Entbehren.




Es war einmal wieder Herbst; es war neblig und regnete, ein echter deutscher Novembertag. Die Frau Pastorin hatte Kaffeebesuch in ihrer gemüthlichen alten Wohnstube; die Majorin und Tante Melitta von Tollen saßen da in der Dämmerung und schwatzten. Zuerst Familienneuigkeiten natürlich. Die Excellenz wurde erwartet; der alte Herr wollte seine Lore als junge Frau Doktorin in ihrer Häuslichkeit sehen.

Helene hatte auch geschrieben, glückselig sei sie in ihrer kleinen Wirthschaft, und Rudolf hatte sich auf Wunsch seiner jungen Frau zur Kavallerie versetzen lassen.

Die Frau Pastorin sah recht ungeduldig nach der Uhr. „Das läuft nun da herum in dem Nebel und vergißt hören und sehen,“ sagte sie ungeduldig, und sie ging ans Fenster, um in den sinkenden Abend zu spähen. Da kamen sie eben den Gartensteig entlang, Arm in Arm, unter einem riesigen altmodischen Regenschirm.

Die alte Frau trippelte an die Thür.

„Nun kommt aber erst einmal herein, ehe Ihr nach oben geht,“ rief sie, „und das muß ich mir sehr verbitten, daß Ihr immer meinen Regenschirm nehmt; ich habe dem Jungen doch einen ganz neuen seidenen geschenkt zur Aussteuer.“ Und dabei leuchteten ihre Augen.

Lore küßte die Stirn der Schwiegermutter.

„Laß uns nur,“ sagte sie einfach, „unter dem alten Dach haben wir uns ja verlobt.“

„Wo wart Ihr denn?“ fragte Frau von Tollen.

„Auf dem Kirchhof, Mama, wir waren zusammen noch nicht an den Gräbern.“

Die Majorin nickte still.

Sie waren lange spazieren gewesen – der erste gemeinsame Spaziergang als junge Eheleute. Vor acht Tagen waren sie in Berlin in der Matthäikirche von einem Freunde des Onkels getraut worden.

„Er hat sich nun ’mal auf eine Tollen kapriziert,“ sagte Tante Melitta zu sich, als sie von Lores Verlobung erfuhr. Die alte Dame war ganz hinfällig und nervös geworden; sie litt unter den unaufgeklärten Verhältnissen. Wie es kam, daß Lores erste Ehe getrennt wurde, wie es zuging, daß ein Mensch, der sich für Käthe duellirt hatte, nun nach so kurzer Frist die Lore heirathete, das war ihr und vielen andernu verschleiert geblieben.

Lore hatte am Abend zuvor, als sie von Berlin zurückkamen, ihrem Mann die Geschichte ihres kurzen Verheirathetseins erzählt. Sie saßen dicht nebeneinander in einem Coupé zweiter Klasse, und er hielt ihre Hand, und wenn sie stockte vor Zorn und Weh, küßte er sie und bat: „Laß, laß, das ist vorbei!“

Und heute gleich waren sie an Käthes Grabe gewesen und hatten ihr einen Kranz hingetragen, ein stilles Zeichen herzlichen Vergebens. –

Sie mußten erst Kaffee mit trinken bei den alten Damen, und Lore saß neben der Mutter und strich ihr über den weißen Scheitel und die eingefallenen Wangen. „Du mußt sehr oft zu uns kommen, Mamachen.“

„Ja, Kind, denn es ist mein einziger Trost, daß Du noch glücklich geworden bist –.“

Später sind sie droben allein in der gemüthlichen Wohnung.

Dicht neben Ernsts Arbeitszimmer liegt Lores Stübchen. An der Decke schaukelt eine Hängelampe und wirft ihre Strahlen über den darunter stehenden Sofatisch. Neben der Handarbeit liegt ein Buch. Ein dunkelfarbiger Teppich breitet sich über die Dielen, behaglich knistert das Feuer im olivgrünen Kachelofen, und fest zugezogen sind die Vorhänge von einfachem rothen Wollenstoff.

Sie sitzen am Tisch, und der junge Mann ergreift das Buch – es ist ein Werk über Rom – und schickt sich zum Vorlesen an.

„Weißt Du noch,“ fragt sie rasch, „wie wir in Gemmas Salotto miteinander zu Mittag aßen?“

„Ach,“ sagt er und sieht so ernsthaft und gerührt dabei aus, „was sind Rom und alle seine großen und kleinen Salons gegen unser Westenberg und unser kleines Heim!“

Sie lachte fröhlich auf. Es ist das erste Mal, daß sie wieder lacht, und er sieht sie ganz entzückt an; sie ist in dem Lächeln wieder seine alte reizende Lore!

Und der Regen klopft an die Scheiben, und der Wind fährt heulend um das Haus und durch die Aeste der Bäume und nimmt ihnen die letzten Blätter.

Was thut es? Hier innen ist’s traut und behaglich, denn die Liebe wohnt hier, und mit ihr das Glück.




Milchanstalten für Kinder.

Es gab eine Zeit, und diese liegt noch nicht weit hinter uns, da dachte man, daß Kuhställe aufs Land hinausgehörem und daß es ein müßiges Unternehmen sei, Kühe in der Stadt zu halten. Gerade in den letzten Jahrzehnten wurden die Verkehrsmittel so hoch entwickelt, es ist so leicht geworden, Nahrungsmittel auf weiteste Entfernungen in frischem Zustande zu liefern, daß man in den Großstädten ruhig die Ankunft der Bahnzüge abwarten konnte, welche die nöthigen Erzeugnisse der Landwirthschaft tagtäglich hereinbrachten.

Inzwischen hatte die medizinische Wissenschaft ihre Fortschritte gemacht. Sie wandte ihr Augenmerk auch auf die Kuhmilch, die für die Ernährung der jüngsten Weltbürger so unendlich wichtig ist. Sie fand, daß die Kuhmilch oft für die Gesundheit derselben unzuträglich sei, und suchte anfangs, auf die Chemie gestützt, die Kuhmilch als Ersatz der Muttermilch entbehrlich zu machen. Aus den chemischen Retorten sollten Mischungen hervorgehen, welche jede Milch ersetzen könnten, die rein von allen schädlichen Beimengungen wären und uns ein Mittel an die Hand gäben, unseren Nachwuchs künstlich zu ernähren.

Das Stadium jener Versuche ist überwunden. Wir wissen jetzt, daß der beste Ersatz für die Muttermilch doch die reine gute Kuhmilch ist; wir wissen, daß die Gefahren, welche die Darreichung derselben mit sich zu bringen pflegt, durch ein gewissenhaftes sorgfältiges Verfahren umgangen werden können, und heute ist die Milch wieder zu Ehren gekommen.

Was heißt aber gute reine Kuhmilch? Ihre Gewinnung ist nicht so leicht, wie man denken möchte. Es müssen viele Bedingungen erfüllt werden, bevor man sie erzielt.

Zuvörderst ist es nöthig, daß die Kühe selbst gesund sind, dann kommt es darauf an, daß sie angemessen gehalten und ernährt werden, endlich muß auch die Gewinnung und Behandlung der Milch durchaus [323] zweckmäßig sein. Erst nach Erfüllung aller dieser Vorbedingungen kann man mit gutem Gewissen sagen: diese Milch ist der beste Ersatz für die Muttermilch.

Wußten wir denn früher, als wir die Milch ohne Besinnen von dem Milchmann bezogen, ob alle diese Bedingungen erfüllt waren? Durchaus nicht! Die Milchwirthschaft auf dem Lande ist keineswegs für Säuglinge bestimmt. Sie hat andere, wichtige Zwecke zu erfüllen; sie liefert uns nicht allein Milch, sondern auch Butter und Käse, sie ist ungemein wichtig für die allgemeine Volksernährung; mit den zahllosen Säuglingen der Großstädte kann sie sich nicht befassen.

So kam es, daß die Städte zur Selbsthilfe greifen mußten.

Dem Oekonomierath Grub gebührt das Verdienst, die erste Anstalt, welche lediglich gute reine Milch für Säuglinge und Kranke erzeugt, in Stuttgart gegründet zu haben. Dies geschah im Jahre 1875, und gegenwärtig verfügt schon eine ganze Reihe von Städten Deutschlands über ähnliche Anstalten; etwa seit Jahresfrist ist auch Berlin im Besitze einer Milchkuranstalt, die unter den vielen gemeinnützigen und im Dienste des öffentlichen Wohls stehenden Einrichtungen der Reichshauptstadt eine hervorragende Stelle einnimmt.

Vor einigen Jahren hat die „Gartenlaube“ (vgl. Jahrg. 1883, Seite 603) die in Dresden errichtete Anstalt besprochen und sie treffend einen „Säuglingskuhstall“ genannt. Wenn sie heute wiederholt dieses Thema berührt, so geschieht es darum, weil der Einzug dieser gesunden Säuglingsmilch in Berlin einen Markstein in der Entwicklung unserer hygienischen Einrichtungen bildet.

Es muß ohne Zweifel jedermann befremden, daß jene Stadt, welche in Bezug auf gesundheitliche Fürsorge mit Recht so hohen Ruhm genießt, erst verhältnißmäßig so spät eine Milchkuranstalt, wie sie die Neuzeit erheischt, erlangt hat, und man kann daraus mit Sicherheit schließen, daß noch viele andere Städte im Deutschen Reich keinen Säuglingskuhstall besitzen. Unter solchen Umständen ist es aber angezeigt, von neuem für die Sache einzutreten. Wir wollen darum in kurzen Zügen die erwähnte Berliner Anstalt unsern Lesern schildern, und diese Schilderung wird vielleicht auch dazu beitragen, daß viele Mütter und Väter auf dem Lande, die so und so viel Kühe ihr eigen nennen, angeregt werden, auch dort in kleinerem Maßstabe die Gewinnung guter Milch für Säuglinge zu erstreben.

Die Berliner Milchkuranstalt ist wohl die größte unter den neueren, zugleich aber sozusagen die unmittelbare Tochter der ersten, der Stuttgarter Anstalt. Sie ist von dem Gründer der letzteren, dem Oekonomierath Grub, ins Leben gerufen. Grub kam nach Berlin als Reichstagsabgeordneter und lernte hier die Berliner Milchversorgung kennen. Er fand bald heraus, daß man in der Reichshauptstadt die „kleinen Schreihälse“ nicht genügend berücksichtigt hatte, und nahm die Versorgung derselben in die Hand. Von süddeutschen Freunden unterstützt, gründete er die Milchkuranstalt am Viktoriapark.

Den Mittelpunkt derselben bildet der vom Stadtbauinspektor Streichert gebaute Stall, welcher Raum für Unterbringung von 250 Kühen bietet und allen Anforderungen an Licht und reine Luft genügt. Die Kühe selbst entstammen durchweg dem bewährten Schweizer Vieh, welches bekanntlich die gehaltreichste Milch liefert. Sie werden schon beim Ankaufe auf ihren Gesundheitszustand thierärztlich untersucht, vor ihrer Verwendung eine entsprechende Zeit lang in einem besonderen Beobachtungsstalle gehalten und hier, wie später in dem eigentlichen Hauptstalle, außer von dem Leiter der Anstalt fortgesetzt auch von einem Thierarzte auf ihre Gesundheit beobachtet. Das Publikum darf jederzeit den Stall betreten, auf den längs der Stände angebrachten Gängen umherwandern und sich von der größten Sauberkeit, die darin herrscht, durch eigenen Augenschein überzeugen.

Die Fütterung der Kühe ist aufs beste geregelt. Alles, was irgendwie die Milch zweckwidrig beeinflussen könnte, wird vermieden. In diesen Stall kommen weder Grünfutter, noch Haushalts- und Fabrikationsabfälle, wie Branntweinschlämpe, Treber, Oelkuchen u. dergl.; man füttert die Kühe nur mit bestem, das heißt gut gewonnenem Hochlandsheu, das aus feinen würzigen Gräsern und Kräutern zusammengesetzt ist, und mit Kraftfuttermehlen.

Auf diese Weise wird eine gesunde, in ihrer Beschaffenheit von Tag zu Tag sich gleichbleibende Milch gewonnen und täglich zweimal unmittelbar nach dem Melken zu den Kunden hinausgefahren.

Die Grubsche Milchkuranstalt verkauft nur reine Milch; jede Gewinnung anderweitiger Molkereierzeugnisse, wie Butter, Käse etc., ist ausgeschlossen, so daß auch hierin eine besondere Gewähr für die Reinheit der Waare erblickt werden muß. Nur nach einer Richtung wird zum Wohle der Kranken hievon eine Ausnahme gemacht. In neuester Zeit hat man vielfach mit dem Kefyr, das heißt in weinige Gährung versetzter Milch, gute Erfolge bei Bekämpfung verschiedener Schwächezustände erzielt, und um dem immer mehr steigenden Bedürfniß nach gut bereitetem Kefyr zu genügen, wird in der Anstalt auch Kefyr bereitet.

Ein weiterer Fortschritt ist in dem Verkauf von sterilisirter Milch zu verzeichnen. Die Milch, selbst die beste, verdirbt außerordentlich leicht, indem zahllose unsichtbare Pilze, die in dieselbe gelangen, eine Gährung hervorrufen. Dadurch, daß man die Milch eine längere Zeit hindurch erhitzt, kann sie haltbarer gemacht werden, indem die Keime durch die Hitze getödtet werden. Dieses Erhitzen beeinträchtigt indessen die Nährkraft nicht, macht im Gegentheil die Milch leichter verdaulich. Professor Soxhlet in München hat für diese Zwecke einen besonderen Apparat hergestellt, der im Hause verwendet werden kann und den wir vor einiger Zeit in Bild und Wort unsern Lesern vorgeführt haben (vgl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1888 S. 219). Nach demselben Grundsatze wird die Milch in der Grubschen Anstalt auf besonderes Verlangen sterilisirt und keimfrei ins Haus geliefert.

Die nicht sterilisirte Milch wird dadurch vor Veränderungen geschützt, daß sie während der Dauer der Ueberbringung tiefgradig abgekühlt wird. –

Für den gewöhnlichen Verbrauch dürfte die so gewonnene Milch zu theuer sein, aber unbezahlbar ist sie für Kinder und Kranke. Für Säuglinge ist sie das beste Ersatzmittel für Muttermilch und entschieden billiger als die Suppen und Mehle, die sonst zu diesem Zwecke angepriesen werden und über deren Werth für die Ernährung unter gewissen Umständen nur der Arzt entscheiden darf.

Anstalten wie die oben geschilderte sind dazu berufen, die Geißel der Großstädte, die hohe Kindersterblichkeit, zu mildern, Krankheiten zu verhüten, die durch schlechte Ernährung in frühesten Jahren entstehen, Kranken und Genesenden in vielen Fällen ein treffliches Mittel zur Heilung und Kräftigung zu geben. In ärztlichen Kreisen finden sie darum die wärmste Fürsprache. Sie wirken aber auch hebend auf die Milchversorgung der Städte im allgemeinen. Durch ihr Beispiel werden einsichtige Milchproducenten zur Nachahmung angespornt, und das Publikum, das einmal den Werth reiner guter Milch erkannt hat, weist minderwerthige Waare von selbst zurück.

Vielfach sind durch die Milch Krankheiten wie Typhus, Scharlach, Diphtheritis etc. verbreitet worden; die ständige ärztliche Aufsicht, unter der regelrecht eingerichtete Milchkuranstalten stehen, schließt jene Gefahren aus.

Aus allen diesen Gründen ist das Gedeihen der bis jetzt bestehenden Anstalten dieser Art mit Freuden zu begrüßen und im allgemeinen Interesse zu wünschen, daß ihre Zahl wachse.

Die Väter der Städte, in denen sie bis jetzt fehlen, werden sich ein großes Verdienst um ihre jüngsten Bürger erwerben, wenn sie dafür Sorge tragen, daß solche „Säuglingskuhställe“ errichtet werden, und sie werden auch den innigsten Dank vieler Mütter erwerben, denen das blühende Gedeihen ihrer Kleinen das höchste Lebensglück ist. *




Blätter und Blüthen.

In der Pußta. (Zu dem Bilde S. 312 und 313.) In der Pußta! Ein oft geschautes, stets magisch anziehendes Bild, ein oft gehörtes, doch selten ganz verstandenes Wort. Nein, der Städter, die Städterin, welchen Luxus, Wohlleben und die rastlose Begehrlichkeit des Leibes wie des Geistes nach Zerstreuung, Vergnügen oder Arbeit selbst in die sommerfrischliche Dorfidylle folgen, können sich die Pußta, nimmer jedoch das Leben darin vorstellen.

Eine Fläche, unabsehbar, graugrün wie der Spiegel des Oceans, mit dessen grenzenlosem Horizont, mit der unendlichen, gleich einer Glasglocke auf dem weiten Plane ruhenden Himmelswölbung, und dieser ungeheure Raum durchfluthet von Licht und Sonnenschein, von jener goldig schimmernden, wohligen Atmosphäre, deren Zauber die Sinne mit der beseligenden Wirkung eines Haschischtraumes umfängt – ja, das ist schön, poetisch, das begreift sich. Aber eine Existenz ohne Spiegel, Kamm und Seife, ohne Thee, Kaffee, Herd und Kochgeschirr, ohne Tische, Kommoden, Divans, Teppiche, kurz eine Vogelexistenz ohne Dach und Fach, ein Leben ohne Zeitungen, ohne Klub, Theater, Konzert, Gesellschaft, Piano, Lektüre, ja ohne Arzt und Apotheke – o, das ist unverständlich; die armen, unglücklichen Menschen!

Wie würde der Pußtamensch auf unserem Bilde lachen, hörte er diesen Ausruf des kulturverwöhnten Menschenkindes! Die Armut fühlt der echte Sohn der Heide, der Hirte, kaum mehr als etwa der Baum, welcher seine Nahrung aus der Erde zieht, in der er wurzelt. Gleich diesem freut er sich seines Daseins in Sonnenschein und reiner Gottesluft, wie dieser trägt er des Daseins Ungemach als etwas Unabwendbares mit stoischem Gleichmuth.

Beim ersten Tagesgrauen zieht er sei es im Dienste einer Dorfgemeinde oder eines Gutsherrn und mögen seine Schutzbefohlenen Pferde, Schafe, Rinder oder Schweine heißen – hinaus in die thaufeuchte, aromatisch duftende Ebene. Sein Ranzen birgt den Mundvorrath für einen oder mehrere Tage oder für die ganze Woche, je nach der Entfernung des Weideplatzes. Speck, Brot oder ein Säckchen mit Kukuruzmehl vor allem aber Tabak. Was wäre auch der Hirte ohne dampfende Pfeife im Munde? Eine Lyra ohne Saiten, ein König ohne Krone, eine Blume ohne Duft!

Doch bemitleide man den Sohn der Wildniß nicht vorzeitig ob seiner spartanischen Mahlzeiten; er weiß sich zu helfen. Findet sich doch in der weitesten menschenleersten Pußta eine oder die andere Tannya[2], in deren Umkreis ein wenig Feldbau, Obst- oder Rebenkultur getrieben wird, da giebt es denn Kartoffeln, Rüben, Maiskolben oder Wassermelonen, welche sich der Hirt ebenso trefflich schmecken läßt wie Trauben, Kirschen, Pflaumen und was der Himmel sonst beschert. Die Art und Weise, wie sich der Pußtahirte diese Leckerbissen erwirbt, verräth zwar etwas lockere Anschauungen über Mein und Dein, aber er hat es eben nie anders gesehen und gewußt.

Hat der Ausziehende den geeigneten Weideplatz erreicht, so ist auch die Hauptarbeit des Tages verrichtet, man müßte denn den dreimaligen Spaziergang zum nächsten Heidebrunnen als Arbeit betrachten, seltsamerweise kennt unser Mann gleichwohl die gefürchtetste Krankheit verfeinerter Lebewesen die Langeweile, nicht. Gleich dem Lazzaroni Süditaliens oder dem Fakir Indiens stillt er die Stunden, welche er nicht verschlummert, damit aus, daß er abwechselnd die rechte und linke, vordere und rückwärtige Seite seines Ichs der lieben Sonne zur Durchwärmung preisgiebt oder sein Auge an dem Zuge der Wolken, den Flugübungen der Störche und Reiher, am liebsten aber an dem sich ringelnden Opferrauche der geliebten Pfeife ergötzt. Selbst Sturm und Regen vermögen diese [324] Diogenesruhe nicht zu stören; während die Herde sich, die Köpfe nach innen kehrend, zusammendrängt, um unbeweglich, eine lebende Mauer, Wind und Wetter über sich hinbrausen zu lassen, hüllt sich der Hirt gleichmüthig in seine Bunda (Schafpelz), stülpt die Pelzmütze über das Haupt, und nun mag die Welt zu Grunde gehen!

Nur einmal greift etwas störend in dieses gleichförmige Dahinleben ein. Das ist, wenn zur Zeit der Ernte die Schnitterinnen aus den Dörfern herauskommen auf die Heide. Da geschieht es wohl, daß die bunten Gestalten im Aehrenfelde den Einsamen mit magischer Gewalt hinüberlocken, und daß der rauhe „Zuhasz“ (Schafhirt) plötzlich aus seinem Zustande des Gleichmuths heraus in den einer merkwürdigen Erregung hineingeräth, in welchem die Pfeife aufhört, für ihn das Wichtigste auf der Welt zu sein, und der sonst so einsilbige Mund sich zu einer vielleicht nicht eben feinen, jedenfalls aber wirkungsvollen Beredsamkeit aufschwingt. Dann schaut man wohl auf der Pußtalandschaft solch eine idyllische Staffage, wie sie Paul Böhms Bild uns vorführt. F. Schifkorn.

Generalstabsarzt Dr. von Lauer †. Am 8. April, in der zwölften Stunde, verschied nach ziemlich andauernder, bis gegen das Ende noch Aussicht auf Genesung bietender Krankheit der in den weitesten Kreisen hochangesehene und wegen seiner engeren Beziehungen zu dem verstorbenen Kaiser Wilhelm I. wohl in der ganzen gesitteten Welt bekannte Dr. v. Lauer. In den letzten Tagen hatte den Patienten bereits das Bewußtsein verlassen, und von da an gaben die Aerzte bei einem Manne, der das einundachtzigste Lebensjahr erreicht hatte, die Hoffnung auf Wiedergenesung auf.

Im Jahrgang 1877 hat die „Gartenlaube“ das Bildniß des nunmehr Verstorbenen nach einem Studienkopfe Anton v. Werners und zugleich einen Abriß seines Lebens ihren Lesern vorgeführt. Wir wiederholen aus demselben hier die hauptsächlichsten Angaben. Als der Sohn eines evangelischen Geistlichen wurde Lauer zu Wetzlar im Jahre 1808 am 10. Oktober geboren. Im Jahre 1825 trat er als Zögling in das medizinisch-chirurgische Friedrich Wilhelms-Institut zu Berlin ein. Er promovirte 1830, war aber schon zwei Jahre vorher zum Unterarzt in der königlichen Charité ernannt worden. Nachdem Lauer 1839 zum Stabsarzt und 1843 zum Regimentsarzt befördert worden war, wählte ihn der Prinz Wilhelm von Preußen, der nachmalige König und Kaiser, zu seinem Leibarzt. Im Jahre 1861 erfolgte seine Ernennung zum Generalarzt, 1864 wurde er zum Corpsarzt des Gardecorps befördert, und nach dem Kriege von 1866 verlieh ihm der ihm besonders wohlgesinnte Monarch den Adel. Am 22. März 1881 erhielt Lauer den Rang eines Generallieutenants und damit das Prädikat Excellenz. Bei Gelegenheit seines fünfzigjährigen Dienstjubiläums ernannte ihn die Berliner Universität zum Professor.

Im Jahre 1879 war Lauer bereits Generalstabsarzt der Armee geworden, und die großen Verdienste, die er sich als Chef des Militärmedizinalwesens erworben hat, werden in der deutschen Armee unvergessen bleiben. Aber vorzugsweise werden es doch diejenigen Verdienste bleiben, die er sich als Leibarzt des Kaisers Wilhelm I. um dessen Person erworben hat. Lauer besaß das unbeschränkte Vertrauen seines Fürsten, begleitete ihn auf allen längeren Reisen und war während der Feldzüge in seiner unmittelbaren Nähe. Nach dem Nobilingschen Attentat wich der treue Pfleger überhaupt kaum von dem Lager des kaiserlichen Greises.

Wie naturgemäß mit allen solchen Stellungen eine außerordentlich große Verantwortung verknüpft ist, so war es hier ganz besonders der Fall, denn der verstorbene Kaiser Wilhelm stellte sich bei seinem ungewöhnlich hoch entwickelten Pflichtgefühl, das ihn immer erst nach seinen Herrscheraufgaben und dann erst nach seiner Gesundheit fragen ließ, sehr häufig mit seinem ärztlichen Berather in Widerspruch, und es war dann für den letzteren unendlich schwer, entweder seine ärztliche Ueberzeugung dem Willen des Kaisers unterzuordnen, oder seine Meinung durchzusetzen, ohne die Vorschriften der Ehrerbietung außer acht zu lassen. Diesen schweren, oft an ihn herantretenden Zwiespalt hat der Verstorbene stets in bewunderungswürdiger Weise gelöst. Bisweilen war Lauer genöthigt, mit einer gewissen schroffen Entschiedenheit seine Autorität durchzusetzen, und er wagte dies, indem er sich dann durch das übereinstimmende Gutachten der zu Rathe gezogenen Aerzte deckte.

Mit den großen Kriegsereignissen von 1870/71 bleibt Dr. v. Lauers Andenken für alle Zeiten verknüpft. Bei einer Darstellung des Lebens Kaiser Wilhelms gebührt ihm ein hervorragender Platz, und in der Sterbestunde am 9. März 1888 hielt die Hand des großen Heldenkaisers derselbe Mann, der nun – auch ein Gerechter, ein Pflichtgetreuer und Edler – für immer entschlafen ist. –

Das Grillparzer-Denkmal in Wien. (Mit Abbildung S. 309.) Das schöne Denkmal des Dichters der „Ahnfrau“ befindet sich im Volksgarten, diesem traut anheimelnden Stück der verjüngten Kaiserstadt. Es zeigt eine halbkreisförmige Wand, deren Spannweite annähernd 16 Meter beträgt. Inmitten dieser Marmorwand, zu welcher drei Stufen emporführen, ist eine Rundbogennische angebracht, welche gepaarte Halbsäulen in korinthischem Stile flankiren. Die Figur des sitzend und in sinnender Haltung dargestellten Dichters in dieser Nische hat eine Höhe von über 7 Fuß und über ihr, im Giebelfelde, halten zwei Putten einen Lorbeerkranz, der den Namen des Dichters trägt. Rechts und links stoßen an das Nischengesims Wände, welche auf jeder Seite drei Hochreliefe zeigen, die wieder durch flache Pfeiler von einander getrennt sind. Bekrönte Pylonen, rechteckige Thürmchen, schließen dann auf jeder Seite die Vollwand ab. Innerhalb des Wandbogens ist eine Rundbank angebracht.

Das zarte, länglich schmale Antlitz Grillparzers ist porträtgetreu wiedergegeben und in dem sinnenden, träumenden Ausdruck die Eigenart des Klassikers der nachklassischen Zeit meisterhaft verkörpert. Die in einem Lehnstuhl sitzende Figur ist etwas vorgebeugt, wie es des Dichters Brauch war, wenn er seinen Gedanken folgte; das Haupt neigt sich leicht zur Seite, und die Kniee deckt ihm ein Mantel, wie er in seinen Tagen üblich war. Die ganze Figur übt in ihrer schlichten, einfachen Form auf den Beschauer einen stillen Zauber aus, und Meister Kundmann, dem dieselbe ihr Dasein verdankt, hat damit sein zartes Empfinden, sein verständnißvolles Eingehen auf die edle Dichternatur und auf den Geist des unglücklichen Poeten, der sein ganzes Leben lang Bräutigam – der „ewige Bräutigam“ – geblieben war, bewiesen.

Eine prächtige und sinnreiche Ergänzung der stummen und doch auch wieder so beredten Dichterfigur bilden die sechs Reliefe Weyrs, welche Hauptscenen aus den bedentendsten Dramen Grillparzers darstellen. Zur Rechten des Dichterbildes sehen wir die Schlußscene aus dem ersten und bekanntesten Stück Grillparzers, aus der „Ahnfrau“. In der Gruft des unglückseligen Geschlechts ruht schon die Leiche Berthas, zu der Jaromir mit Todesahnen hinabgestiegen ist. Die geisterhafte Frau erscheint ihm, und die Gestalten des Kastellans, Boleslavs und der andern dringen eben in den düstern Raum. Das zweite Relief auf dieser Wandseite zeigt die Schlußscene des dritten Aktes aus der Tragödie „Ottokars Glück und Ende“. Der Kaiser ertheilt dem vor ihm knieenden Böhmerkönig in seinem Zelte die Lehen Böhmens, und draußen steht das Kriegsvolk, welches dem wider die Vereinbarung öffentlich vorgenommenen Akte zusieht. Die zweite Scene des zweiten Aufzuges aus „Der Traum, ein Leben“ veranschaulicht das nächste Reliefbild. Held Rustan träumt auf seinem Lager, während der weiße Genius mit der flammenden Fackel und der schwarze Genius mit der gesenkten erloschenen bei dem Träumenden Wache halten. Auf der anderen Seite der Vollwand sehen wir aus der „Sappho“ die sechste Scene des fünften Aktes wiedergegeben. Die Dichterin, welche die Züge der Frau Wolter trägt, verabschiedet sich von Phaon und Melitta. Medea, die kolchische Zauberin, führt uns das fünfte Relief vor. Ihre Kinder, die sie an sich ziehen will, suchen Schutz bei Kreusa. Das letzte Reliefbild endlich bringt die Eingangsscene des letzten Aktes aus der Liebestragödie „Des Meeres und der Liebe Wellen“. Hero erkennt in dem von Janthe aufgefundenen Leichnam ihren Geliebten . . . Ein Hauch von echtem Klassicismus hat namentlich diese drei letzten Hochreliefe berührt. Ernst Keiter.

Straußbinden. „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus!“ so singt der Dichter. Das Zimmer däucht uns ein Gefängniß jetzt, wenn die Sonne scheint und die laue wonnige Lenzesluft zum geöffneten Fenster hereinströmt. Wir weilen jetzt gar gern im Freien, denn wohin wir blicken, da knospt und blüht es, zarte holde Frühlingsboten schmücken Garten und Flur. Wir pflücken die lang entbehrten Blumen, fügen sie zusammen, damit sie uns auch im Zimmer noch manchen Tag mit ihrem Duft erfreuen mögen. Solch ein Strauß wird am leichtesten gebildet, wenn ein regelmäßig, sagen wir pyramidenförmig geartetes Gestell, wie es der belaubte Stengel der Spargelpflanze mit seinem feinen eleganten Grün giebt, nachdem die Spitze abgenommen, mit der linken Hand gefaßt und durch die Rechte mit Blumen gefüllt wird, mit kleineren im Innern, hervorstehenden größeren mit längeren Stielen nach außen, ohne daß erstere verdeckt würden. Am unteren Rande können hängende Blumen angebracht werden, und das Ganze kann mit einer mehr oder weniger kostbaren Seiden- oder Papierhülle (Manschette) abgeschlossen und zum Handgebrauch mit einem ebensolchen dütenförmigen Bouquethalter versehen sein. Die schönste Form ist die der Kugel, auch die der Halbkugel. Wenn die Spitzen des Spargelgrüns allzusehr hervorstehen, kneipt man sie ab.

Es gehört zur Herstellung eines schönen Straußes ebenso wie zu allen anderen Blumengebilden Geschmack, Geschicklichkeit und Farbensinn. Die Farben müssen harmonisch zusammengestellt und über den ganzen Strauß gleichmäßig vertheilt werden; niemals darf ein ganzer Klumpen einer Blumenart oder einer Farbe sich auf einer Stelle geltend machen. Um einen harmonischen Farbenkontrast hervorzubringen, folgen wir der Farbenlehre von Goethe, nach welcher es nur drei Farben giebt: Roth, Blau, Gelb. Aus Roth und Blau entsteht Violett, aus Blau und Gelb wird Grün, aus Gelb und Roth wird Orange. Man stelle deshalb neben eine Hauptfarbe diejenige Mischfarbe, in welcher jene nicht enthalten ist, also Roth neben Grün, Gelb neben Violett, Blau neben Orange, und wo solche Zusammenstellung nicht oder nur annähernd möglich ist, da verwende man viel Weiß, das jeden Fehler gutmacht. Diese Regel für den harmonischen Kontrast gilt oder sollte gelten für alle Gebilde der Binderei, für die Bepflanzung der Blumenbeete wie für die Zusammenstellung von Blumen überhaupt. O. H.




Kleiner Briefkasten.

Verehrer der „Münchener“ in Berlin. Die für das wirkungsvolle Mittelbild unseres Holzschnitts „Scenen aus den Volksstücken der ‚Münchener‘“ benutzte Photographie ist von W. Kuntzemüller in Baden-Baden.

Abonnent F. in Falkenstein. Wir können Sie nur darauf verweisen, was am Kopfe jeder Beilage zur „Gartenlaube“ ausdrücklich angegeben ist: „Für den Inseratentheil sind die Redaktion und Verlagshandlung der ‚Gartenlaube‘ nicht verantwortlich.“

A. S. in Bonn. Abgelaufene Quartale der „Gartenlaube“ können, soweit der Vorrath reicht, stets zum gewöhnlichen Preise durch jede Buchhandlung bezogen werden.

„Speisekarte.“ Sie möchten für deutsche Benennung der Speisen etc. in Ihrem Haushalte Sorge tragen. Dafür können wir Ihnen ein vortreffliches Hilfsmittel empfehlen. Es ist das erste von einer Reihe kleiner, handlicher „Verdeutschungsbücher“, welche der „Allgemeine deutsche Sprachverein“ herausgiebt, betitelt „Die Speisekarte“ (Leipzig, Ferdinand Hirt u. Sohn). Es giebt noch weit mehr, als sein Titel besagt, indem es seine Verdeutschungen auch auf alle in der Küche und im Gasthofswesen vorkommenden Fremdwörter erstreckt.


Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 309. – Zur Enthüllung des Wiener Grillparzer-Denkmals. Von August Sauer. S. 314. – Originalgestalten der heimischen Vogelwelt. Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller. 2. Die Gravitätischen. S. 317. Mit Abbildungen auf S. 317 und 318. – Lore von Tollen. Roman von W. Heimburg (Schluß). S. 318. – „Morgenstunde hat Gold im Munde!“ Illustration. S. 321. – Milchanstalten für Kinder. S. 322. – Blätter und Blüthen: In der Pußta. Von F. Schifkorn. S. 323. Mit Illustration S. 312 und 313. – Generalstabsarzt Dr. von Lauer †. S. 324. – Das Grillparzer-Denkmal in Wien. Von Ernst Keiter. S. 324. Mit Illustration S. 309. – Straußbinden. S. 324. – Kleiner Briefkasten. S. 324.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Vergl. „Gartenlaube“ 1888, Nr. 48.
  2. Landhaus der wohlhabenden Pußtenbesitzer oder Pächter.