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Die Gartenlaube (1889)/Heft 20

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[325]

No. 20.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


Daß Marbod an Gerda geschrieben, hatte Alfred hingenommen ohne Mißbilligung, ohne Freude. Mit einer Ergebenheit, die einer vollkommenen Lähmung der Thatkraft gleichkam, erwartete er, was auf des Freundes Brief erfolgen werde. Es gab Sekunden, in denen er sich einbildete, daß Marbod telegraphiren werde, wenn sie gütig antworte. Dann andere, wo er dachte, sie werde nach dem Empfang von Marbods Brief selbst herunterkommen.

Täglich ging er die Schloßstraße hinauf und saß lange, lange auf der Bank unter den Linden der Terrasse vor dem großherzoglichen Schloß. Von dort konnte er über die Stadt im Thale hinweg zur jenseitigen Bergwand sehen, wo das Haus – jetzt ihr Haus! – am Waldesrand so friedvoll und freundlich in seinen braunen, grünen und weißen Farben aufleuchtete.

Nun war die letzte Entscheidung da. Aber eine tödliche Angst befiel ihn. Er ging mehremale in seinem Zimmer auf und ab, ehe er den Muth fand, das Couvert zu erbrechen.

Zuerst las er Gerdas wenige Zeilen. In seinem blassen Gesicht veränderte sich kein Zug. Seine Schmerzensstarrheit erweichte sich nicht zu neuem Zorn oder neuen Thränen. Er hatte gefühlt, gewußt, daß sie gerade so schreiben werde. Fast eine Stunde ging ihm hin, ohne daß er das Vorrücken des Morgens bemerkte. Er sah immer in das Briefblatt, und es war, als wollte sein durchdringendes Denken diese stummen Zeilen von Tinte zu redenden Menschen verwandeln, um zu ergründen, was alles sie noch gedacht, als sie so schrieb, wie ihr Auge dazu geblickt und was um ihren stolzen schönen Mund gespielt.

Umsonst, die Zeilen blieben, was sie waren, und sagten nicht mehr, als die Buchstaben ergaben. Aber vor seinen Augen begannen zuletzt diese Buchstaben regenbogenfarbige Ränder zu bekommen und aus ihrer geraden Linie herauszuhüpfen.

Er legte das Briefblatt hin, barg das Haupt in den Händen. und dachte nichts, als daß er Kopfschmerzen habe zum Wahnsinnigwerden.

Eine Uhr, die auf dem Kamin unter einer riesigen Glasglocke stand, schlug elf. Er sah zum Zifferblatt hinüber. Die gezierte Rokokoschäferin von Goldbronze, die sich unerträglich anmuthig an das Zifferblatt lehnte, schien ihm zärtlich zuzulächeln. Seine Phantasie belebte dies dumme Gesicht bei allem, was er that. Sah er von der Arbeit nach der Uhr, so lächelte die Schäferin ermuthigend, kam er spät nach Hause, allein und


Maiglöckchen. Nach einem Gemälde von Alfred Seifert.

[326] stumm, so lächelte sie melancholisch. Und immer hätte er am liebsten mit der Faust die Glasglocke zerschlagen. Immer dies dumme, blöde Puppenlächeln in seiner Einsamkeit – es war nicht auszuhalten!

Er nahm Marbods Brief. Seine Lippen kräuselten sich bitter. Ja, Marbod hatte recht.

Wie sagte Heine doch:

„Man schreibt nicht so ausführlich,
Wenn man den Abschied giebt.“

Sie aber – sie schrieb kurz und schnöde.

Er las weiter in Marbods Brief, und ein Ausdruck stolzen Unmuthes flog über seine Stirn.

Was unterfing der Freund sich, ihn zu warnen! Er selbst wußte ganz allein, was seiner kranken Seele noth that.

Seine Gedanken hafteten an diesem Punkt. Wie, er sollte nicht heirathen, weil er nicht aus Liebe heirathen konnte? Das ging niemand an als ihn selbst und das Mädchen, wenn er an dieses etwa ein solches Ansinnen stellte. Bisher hatte er nur in einem kurzen erregten Augenblick der Verzweiflung den Gedanken an solche Verbindung gehabt. Durch Marbods Widerspruch kehrte er darauf zurück und erwog ihn von allen Seiten.

Ein dämonischer Gedanke, für ewig zwischen sich und Gerda ein unübersteigliches Hinderniß aufzurichten! Keine Anwandlung schwachmüthiger Sehnsucht konnte ihn dann mehr in Gefahr bringen, doch noch zu der zurückzukehren, die ihn so tief beleidigt.

Und ein erlösender Gedanke, für immer das ruhige, feste, gleichmäßig gütige Wesen Germaines neben sich zu haben! Ihre Gegenwart war wie ein Friedenshafen für das mit Sturmsegeln schiffende Fahrzeug seines Lebens.

Ja, wenn das sein könnte, ohne daß Germaine mehr als Freundesneigung verlangte, dann – dann sollte Marbod sich doch freuen, anstatt davor zu warnen!

Und was Gerda sagen würde, wenn sie dergleichen erführe? Sein Zorn wallte auf in dieser Vorstellung. Es wäre eine Lehre und eine Strafe für sie, die sich nicht in sein Wesen finden gewollt hatte.

Dabei war es ihm, als hörte er sie sagen. „Ich kann einen Mann nicht achten, der nicht arbeitet.“

Hastig setzte er sich an den Schreibtisch. Seine Feder flog über die Bogen, die Schwierigkeiten der wissenschaftlichen Uebersetzung schienen sich spielend überwinden zu lassen. Seine Stirn glühte und sein Auge blitzte.

So saß er, bis sein Diener bei ihm eintrat und fragte, ob er, Fritz, falls der Herr nicht zum Essen gehen wolle, dann nicht seinerseits gehen dürfe, die gewohnte Stunde sei schon längst überschritten. Es war sonst Fritzens Obliegenheit, seinem Herrn ein wenig beim Umkleiden zu helfen und, wenn dieser die Wohnung dann verlassen hatte, hinter ihm alles zuzuschließen. Der Zeitpunkt dazu war zwar nur um fünfzehn Minuten überschritten, aber Fritz hielt auf Pünktlichkeit, denn in dem Speisehaus, wo er sein Mittagbrot nahm, aß um dieselbe Zeit die allerliebste Zofe einer russischen Herrschaft.

Alfred fuhr auf, warf seine Bücher zu und seine Papiere in die Schublade. Nach fünf Minuten war er auf dem Wege nach dem seiner Wohnung gegenüberliegenden „Hotel Viktoria“. Sein Geist war noch so vollkommen bei der Arbeit, die er eben verlassen, daß er erschreckt zusammenzuckte, als man ihn laut anredete, gerade in dem Augenblick, als er sich auf seinem Platz niederlassen wollte.

Die ihm von Marbod angekündigten Ravenswanns und Schneiders begrüßten ihn mit einer Lebhaftigkeit, die dem sonstigen Wesen dieser Leute fremd war. Aber es giebt Menschen, die sich in der Fremde über ein Gesicht aus der Heimath freuen wie ein Hungernder über ein Stück Brot. Einerlei, ob ihnen das Gesicht sympathisch oder unsympathisch ist – der Träger desselben lebt doch sonst auch im Schatten des heimischen Kirchthurms.

„Sie sehen, daß ich mein Vers-prechen halte,“ sagte Frau Mietze, die wieder ein karrirtes Kleid, diesmal aber grauschwarz, trug.

„Mein Gott, Sie sind magerer geworden!“ sagte Frau Doktor Schneider.

„Wie kommt es, daß Du hier issest und nicht in Deinem eigenen Hause?“ fragte Ravenswann.

„Ißt man hier gut?“ fragte Schneider. Und so sagten und so fragten alle vier alles mögliche durcheinander.

„Wir haben uns schon nach der Lage Ihrer Villa erkundigt,“ sagte Frau Mietze, nachdem man sich gesetzt und Alfred neben ihr Platz gefunden hatte. „Wir wären heute nachmittag zu Ihnen gekommen, denn heute müssen wir zusammenbleiben, mein Geburtstag ist nämlich, und Männe will mir nachher ein Geschenk kaufen. Sie zeigen uns den besten Juwelierladen.“

Alfred brachte seinen Glückwunsch dar.

„Nachher fahren wir dann zu Dir, Deine Villa soll ja entzückend liegen,“ sagte Ravenswann.

„Aber, lieber Assessor,“ sprach Frau Schneider mit ihrem jugendlich unschuldsvollen Lächeln „es schickt sich doch nicht, daß wir einen jungen Mann besuchen!“

„Die Villa ist nicht mehr mein“ erklärte Alfred kurz.

Und den einstürmenden Verwunderungsfragen ein Ende machend, setzte er alsbald hinzu.

„Die Baronin Offingen hat sie mir mit der ganzen Einrichtung abgekauft.“

Mit einemmal verstummte das bisher so lebendig gewesene Gespräch. Marie sah ihren Gatten bedeutungsvoll fragend an. Wie, sollte Alfred am Ende so viel Schulden gehabt haben, und sollte die Baronin, um sie ihm in einigermaßen annehmbarer Form zu bezahlen, sich das Haus haben übertragen lassen? Ravenswann grübelte Aehnliches. Es war merkwürdig, wie phantasiereich beide in Bezug auf die Unsolidität anderer stets waren. In dem Innern solcher Menschen haben die äußersten Gegensätze friedlich und unauffällig nebeneinander Platz; neben einer gewissen Gutmüthigkeit des Fühlens steht unmittelbar die Neigung, für die Thaten und Empfindungen anderer stets die kleinsten oder gar unlautersten Motive anzunehmen.

„So darf man endlich wohl offiziell gratulieren?“ fragte Marie.

„Wozu?“ fragte Alfred sehr beherrscht entgegen und sah sie kalt und fremd an.

„Nun, ich meine – Sie s-prachen doch früher so – als wenn …“ stotterte sie eingeschüchtert.

„Da müssen Sie mich durchaus mißverstanden haben,“ sagte er.

Marie seufzte auf Sie nahm ihm in diesem Augenblick seine Schroffheit gar nicht übel. Es war vorbei mit ihm und der Offingen. Welch ein Glück!

Man aß ziemlich schweigsam. Frau Doktor Schneider fragte einmal, was man nach Tisch anfange, und freute sich wie ein Kind, als sie hörte, man gehe zur Kurmusik. „Dadurch, daß ich so jung heirathete, habe ich noch so wenig von der Welt gesehen,“ sagte sie zu Alfred, „und ich habe ein kindliches Vergnügen an allem. Es ist wohl ein sehr interessantes Publikum da?“

„Sie werden ja sehen.“

Frau Schneider hatte die Gewohnheit, wenn sie sprach, ihr blondlockiges Haupt mit einer unruhigen Beweglichkeit vorwärts gebeugt zu halten, was ihr im Verein mit ihrem Adlernäschen und den herausstehenden Raffzähnen etwas Vordringendes gab. Alfred gemahnte es stets an eine Ente, die mit ihrem Schnabel umhersucht.

Zur Feier von Mietzes Geburtstag ließ Ravenswann zwei Flaschen Sekt kommen, auch hatten sie alle vier sämmtlichen Gängen der reichen Table d’hote stark zugesprochen, so daß sie, als man um drei Uhr zur Kurmusik ging, die rothen Backen und glänzenden Augen des Verdauungsfiebers hatten. Frau Doktor Schneider kicherte immer los und tänzelte wie ein neugieriger Backfisch über die Straße.

Alfred ging daneben und kam sich vor wie ein Opferthier.

„Warum in aller Welt,“ dachte er, „macht sich ein vernünftiger Mensch so zum Sklaven der Konvenienz, daß er mit Leuten verkehrt, die weder seinem Geist, noch seinem Herzen Nahrung bieten? Bloß weil er vor Jahren und Jahren einmal mit ihnen bekannt geworden ist unter Bedingungen, die sonst wohl Freundschaft hervorzurufen pflegen? Warum breche ich nicht mit Leuten, die in einer anderen Geisteszone leben als ich? Weil es einmal so Gewohnheit ist, mit ihnen dann und wann zusammenzukommen? Und weshalb kommen wir denn zusammen? Um miteinander zu essen und zu trinken. Was für ein lächerliches Ding das doch ist, seinen Bekanntenkreis erweitern und pflegen. Man stiehlt einander die Zeit, man tödtet einander die Gedanken und man kritisirt sich gegenseitig mit Uebelwollen.“

In seine Gedanken hinein fragte Frau Marie ihn:

„Haben Sie hier Freunde? Durch uns sollen Sie sich nicht s-tören lassen. Wir können uns so vielleicht Ihrem Kreise anschließen.“

[327] „Ich habe niemand als einige Menschen, mit denen ich ein Wort über das Wetter spreche, wenn ich ihnen begegne. Und dann …“

Alfred zögerte. Er hatte von Germaine sprechen wollen.

„Was?“

„Nichts – nichts.“

„O,“ sagte sie im alten Ton des gekränkten Selbstbewußtseins, „Sie wollten wohl was sagen, was ich hätte übelnehmen können. Aber ich bin wirklich nicht so übelnehmerisch, wie Sie denken.“

Unterdeß hatte Alfred in Gedankenschnelle erwogen, daß die von ihm für Germaine erwünschte Gelegenheit, durch Ausflüge in die Umgegend einige Erholung zu finden sich durch Ravenswanns biete. Mochte Frau Mietze so verschieden von dem Mädchen sein, wie sie wollte, als Gesellschaft und Anschluß war sie für jetzt brauchbar.

„Nun denn,“ sagte Alfred, der mit Frau Ravenswann voranging, „ich möchte Ihnen von einem Mädchen sprechen, dessen Mutter hier vor kurzem gestorben ist. Die Familie, von alters her mit der meinigen eng befreundet, besonders mit meinem Vater – ist theils weit entfernt, theils ausgestorben. Aus allerlei Gründen bleibt das Fräulein – Germaine Thomas ist der Name – noch hier und ist natürlich, da eine alte Dienerin ihre einzige Begleitung ist, auf die vollständigste Zurückgezogenheit angewiesen, da ich doch nicht gut Ausflüge mit ihr unternehmen kann. Wenn sie sich Ihnen zuweilen anschließen durfte, würde ich Ihnen sehr dankbar sein.“

Während Alfred so sprach, ärgerte er sich schon, seinem Einfall gefolgt zu sein. Es war doch eine Bitte, die er an diese Frau richtete. Und zu bitten für sich oder die, welche ihm nahestanden war ihm ein Unleidliches.

Frau Marie freute sich; daß er sie um eine Protektion bat, war doch eine Anerkennung ihrer höheren Frauenwürde, der erste Beweis, daß er nicht mehr unter dem Einfluß dieser „emancipirten“ Frau stand.

„Es handelt sich natürlich um ein solides Mädchen aus ans-tändiger Familie,“ sagte sie würdevoll. „Das weiß ich, sonst würden Sie es mir nicht ansinnen. Wir wollen nachher gleich eine Tour verabreden, und Sie können uns Fräulein Thomas dann zuführen.“

„Mietze, Mietze,“ rief hier Frau Doktor Schneider, „Du gehst vorbei? Sieh doch die himmlischen Schmucksachen!“

Sie standen vor dem Eckladen in den Kolonnaden.

„Wenn Du Deiner Frau etwas dergleichen kaufen willst,“ sagte Alfred, „hier ist der beste Platz dazu.“

„Laß uns hineingehen!“ entschied Ravenswann.

Man ging zu fünft in das Magazin. Mietze hatte sich seit langer Zeit einen Brillantring gewünscht. Nun war sie aber verlegen und mochte es nicht sagen. Alles genierte sie: der elegante Verkäufer, die kostbaren Hals- und Armbänder, die man ihr vorlegte und die sie doch nicht nehmen konnte, weshalb sie dem Verkäufer „pauvre“ zu erscheinen fürchtete; der Gedanke, daß sie ihre Reisezwirnhandschuhe von den erhitzten Fingern abziehen müsse und daß die Handschuhe ohne Zweifel grau abgefärbt haben würden, und zu dem allem Alfreds Gegenwart, vor dem sie sich ungewandt zu benehmen fürchtete.

„Du wolltest ja einen Ring,“ drängte der Gatte.

Sie schwieg. Der Juwelier trug alles mögliche herbei. Frau Doktor Schneider besah alles und fragte nach allen Preisen. Mietze blieb stumm.

Alfred ging bald in die Thür, kehrte bald an den Ladentisch zurück, klopfte mit den Fingern auf die Glasscheiben eines Auslegekastens und seufzte laut.

„Dieser Ring hier,“ sagte der Juwelier endlich zur Wahl rathend, „ist in der That das Schönste und Geschmackvollste, was Sie finden können. Der Herr Baron haben vor drei Wochen ganz denselben gekauft und waren entzückt von den Steinen.“

Für manchen Kaufmann ist jeder Adelige „Baron“. Alfred von Haumond war mit der Bezeichnung gemeint, und Marie verstand es, weil der Juwelier eine Handbewegung dazu machte.

Nun entschied sie sich für diesen Ring. Während Ravenswann bezahlte, zog man weiter, an das Schaufenster des nächsten Magazins. Alfred kam sich vor wie ein Bauer, der zum Jahrmarkt geht. Er selbst stand sonst gern draußen an den Fenstern und sah die hübschen Sachen an, aber die lauten Fragen der Frau Schneider nach dem Nutzen dieser und jener Dinge, die steten Vergleichungen mit den Berliner Läden waren ihm gräßlich.

Vor dem Kurhause saßen in langen Reihen auf den eisernen Stühlen mit dem Sitz von Drahtgeflecht die Badegäste des Ortes, meist Leute von unauffälligem Aeußern, mit unauffälligen Kleidern. Dazwischen dann und wann eine Gruppe von Herren und Damen, denen man die „große Welt“ ansah. Auf dem breiten Weg zwischen dem Musikpavillon und dem Kurhause, zwischen der auf beiden Seiten sitzenden Menschenlinie, wandelte im grellen Sonnenschein auf dem gelben Kies eine Menge hin und her, die ebenso aus bescheidenen und vornehmen Elementen zusammengesetzt war. Dazwischen tauchten Männererscheinungen auf, die unschwer erkennbar den Typus des internationalen Sportsman hatten: lange, ausgemergelte Gestalten, hagere Gesichter, übermüdeter Ausdruck, englische Kleidung, im schwarzen Rock, die Tuberose im Knopfloch und darunter zwischen zwei andern geschlossenen Knopflöchern die zusammengelegten braunrothen Glacéhandschuhe.

Frau Doktor Schneider, die neben Alfred in einer vordern Stuhlreihe saß, schien etwas enttäuscht. Sie heuchelte aber doch ein erfreutes Interesse und wollte bei jeder besonderen Erscheinung wissen, wer das sei.

„Dieser Mensch da, kurz, fast dick. Er hat seine weißen Beinkleider aufgekrempt, trotz des Sonnenscheins, und trägt Segeltuchschuhe. Er sieht sehr orientalisch aus und hat ein keckes Schnurrbärtchen und eine Fliege. Wie komisch dazu der weiße Strohhut mit dem grünrothen Band! Und seinen Knüppelstock faßt er so von vorne herum an.“

„Der Herr ist Baron und Komponist,“ erklärte Alfred, „die Polka, welche man eben spielt und die unter drei Sternen auf dem Programm steht, ist von ihm.“

„Ach, und die beiden? Der eine groß und schlank, mit großen Schwärmeraugen, der andere klein, elegant, sprühende Lebhaftigkeit im blassen, aristokratischen Gesicht. Und beide gleich blond und beide wie Brüder in Weiß gekleidet,“ fragte die Frau weiter, mit entzückten Augen die auffallend schönen Männer verfolgend.

„Der eine ist ein Schwede, einer von den Herren des Massageinstitutes, der andere ein preußischer Kavalier, der mit seinem Gesang und seinem Witz den jungen Damen der Gesellschaft hier den Kopf verdreht, ohne sich aus seinen Erfolgen viel zu machen. Man sagt, daß Liebe zu demselben Weibe, welches ihnen beiden gleich unerreichbar ist, sie in edler Freundschaft verbindet. Man nennt sie die weißen Dioskuren,“ sagte Alfred. Er machte im stillen eine weitschließende Beobachtung daran, daß Frau Doktor Schneider nur die Männer zu sehen schien. Aber gerade da stieß sie ihn mit dem Ellbogen an und flüsterte:

„Kennen Sie die? Das blonde Haar steht aus wie gefärbt und wie geschminkt das Gesicht! O und diese auffallende Spitzentoilette, und der himmelanragende Hut und die hohen Hacken!“

Und dann sah sie mit dem Ausdruck einer Theaternaiven Alfred gerade in die Augen, lächelte unschuldsvoll und fragte nochmals:

„Kennen Sie die? Solche Art Erscheinung habe ich noch nie gesehen.“

Alfred lächelte auch, aber mit unverhohlener Impertinenz.

„Das macht, weil Sie so jung geheirathet haben und so wenig von der Welt kennen.“

Er stand auf; alles ekelte ihn an, die auf- und abschlendernden Menschen, Ravenswann und Schneider, die noch immer schläfrig verdauten, Frau Schneider mit ihrer erlogenen Seelenjungfräulichkeit – alles. Frau Marie, die schweigend und beobachtend dagesessen hatte, däuchte ihm noch die Beste von der Gesellschaft. Sie wenigstens hatte ein ehrliches Herz, wenn es auch ganz eng umschnürt war von den Banden zahlloser Vorurtheile.

Von ihr verabschiedete er sich daher auch mit einer Wärme, die sie ebensosehr innerlich erschreckte wie beglückte. Man verabredete noch eine Tour nach Gernsbach für den folgenden Tag, und dann ging Alfred, froh, als wenn er einer Sklaverei entronnen wäre.

Die Zurückbleibenden beschlossen, Kaffee und Eis zu nehmen, und verlegten ihre Sitzplätze von der Promenade auf die Terrasse vor dem mit dem Konversationshaus in einer Linie stehenden Kaffeehause. Erst als das allerletzte Musikstück zu Ende gespielt war und die Leute sich verliefen, begannen sie, im Grunde schon gelangweilt, zu berathen, was man ohne Haumond anfangen könne.

Von den Bergen rings lockten die Wälder, aber es war so weit zu gehen. Und ein Wagen hätte das feste Tagesbudget überschritten, [328] welches die Herren sich gemacht und dessen Nummer „Extraausgaben“ für Ravenswann schon durch den Sekt ausgefüllt war.

Nach langer, fruchtloser Berathung beschlossen sie, ins Hotel zurückzukehren und bis zum Abendessen auszuruhen. Auf dem Wege zu ihrem Gasthof kamen sie an der Marxschen Hofbuchhandlung vorbei. In dem einen Ladenfenster des Geschäfts waren Kunstgegenstände ausgelegt. Ein sehr schöner Fächer erinnerte Frau Doktor Schneider daran, daß sie seit Wochen sich Geld erspart habe, um sich „unterwegs etwas zu kaufen“. Man ging also in den Laden. Kaum hatte man die Schwelle überschritten, so stieß Frau Mietze die Freundin an.

„Sie!“

„Sie,“ das war für diese beiden Frauen die Baronin Offingen, welche ihnen ebenso interessant wie verabscheuungswürdig war, – warum? das hätten sie bis jetzt kaum zu sagen gewußt, wenn man sie gefragt hätte. Gerda war ja anders als sie, das ist schon Grund genug für eine Frau, die andere zu hassen. –

Gerda sah die Eintretenden erst nicht, die sie wohl aus mannigfachen Begegnungen kannte, ohne indeß gesellschaftlich mit ihnen zu verkehren. Der langgestreckte, den großen Laden in zwei Hälften theilende Aufbau von Luxus- und Kunstartikeln auf von zierlichen Säulen getragenen Glasplatten bildete eine vielfach durchbrochene Scheidewand zwischen ihr und den beiden Damen.

„Wie bleich sie ist! Himmel, und wie elend sieht der Junge aus und wie matt er sich an seine Mama lehnt!“ wisperte Frau Schneider ihrer Freundin ins Ohr.

In diesem Augenblick sah Gerda durch eine Lücke zwischen den aufgebauten Waren die beiden Damen. Sie grüßte, ernst und höflich. Im Augenblick geschmeichelt und erfreut, dankten beide. Denn ohne daß sie es sich je gestanden hätten, erschien Gerda ihnen wegen ihres Adels, ihres mannigfachen Verkehrs mit berühmten Leuten und ihres Reichthums doch als ein Wesen aus höheren Gesellschaftskreisen. Sie ließen sich von dem Fräulein, welches nach ihren Wünschen fragte, alle möglichen Fächer vorlegen, sahen aber in der That nichts von diesen, sondern beobachteten fortwährend Gerda.

Diese schien sich von dem Verkäufer den Mechanismus eines Gegenstandes erklären zu lassen. Der Knabe hatte sein schönes Köpfchen müde an die Hüfte seiner Mutter gelegt. Nun zog Gerda den Handschuh aus, um selbst den Griff zu versuchen, den man ihr eben gezeigt hatte.

Da stieß Frau Schneider ihre Freundin heftig an. Sie sahen es beide: Gerda trug denselben Ring, den Frau Mietze vorhin erhalten, den Ring natürlich, welchen Haumond vor drei Wochen bei dem Juwelier gekauft, wie dieser letztere selbst gesagt hatte.

„Eine Frau, die sich Diamanten schenken läßt von einem Manne, der sie nicht heirathet! Was dergleichen bedeutet, weiß man ja!“ flüsterte Frau Doktor Schneider.

Sie hatte immer eine sonderbare Art zu flüstern. Ihre Stimme trug bei gedämpftem Schall weiter als bei vollem Ton. Es war, als würde sie penetranter durch die Dämpfung.

Hatte Gerda die Worte gehört? Ihr dunkles Auge ging groß über die beiden hin.

Frau Mietze antwortete nichts. Das Staunen über die Unwürde dieser Frau war zu groß. Aber sie nahm sich vor, wenn die Offingen früher den Laden verlassen sollte, sie nicht zu grüßen.

In der That ging Gerda jetzt. Frau Ravenswann und Frau Schneider thaten, als wenn sie es nicht bemerkten.

„Warum grüßtet Ihr die schöne Frau nicht?“ fragte Doktor Schneider, der nach Tisch zuweilen aufgelegt war, Schönheit zu bewundern.

„Aber ich bitte Sie,“ sagte Frau Mietze leise, mit den Bekannten zu einer enggeschlossenen Gruppe zusammentretend, wobei es doch unausbleiblich war, daß die Verkäufer hören mußten, was sie sprachen, „alles hat doch seine Grenzen! Eine Frau, die fortwährend so der Sitte ins Gesicht schlägt, mit der kann man nicht einmal durch einen Gruß verkehren. Ich s–preche gewiß nicht leicht etwas Böses von den Leuten, aber alle Welt sagt es, daß Haumond täglich und s–tundenlang bei ihr war. Dann reisen sie zusammen in die Nacht hinein, wohnen zusammen, und sie nimmt Diamanten von ihm an. Das ist doch s–tark!“

„Darf ich noch diesen Fächer zeigen?“ fragte die Verkäuferin.

Die Gruppe fuhr auseinander und die beiden Frauen fanden nun die genügende Gemüthsruhe zur Fächerauswahl.




7.

Daß schon drei Wochen vergangen sein sollten, seit sie die Mutter verloren hatte, erschien Germaine fast wie ein Traum. Das Gleichmaß der verflossenen Tage ließ diese dem rückblickenden Geiste alle wie einen erscheinen und nahm der Erinnerung die Fähigkeit, ihre Dauer so recht zu unterscheiden.

Jeder Tag hatte denselben Inhalt gehabt: am Morgen ein Spaziergang nach dem Kirchhof, am Nachmittag ein kurzer Besuch von Alfred. Dazwischen und nachher einsame Stunden, die mit Handarbeit und Lesen ausgefüllt wurden. Und außerdem die bescheidenen Mahlzeiten, welche die alte Dienerin bereitete und mit ihrer Herrin nahm.

Das Leben hatte Germaine Geduld gelehrt, aber die eintönige Nutzlosigkeit dieser Zeit begann ihr unerträglich zu werden. Wenn Alfred nicht gewesen wäre, hätte der Unmuth, der langsam in ihr keimte, sie schon übermannt. Für ihn und die Lichtblicke, welche seine Fürsorge ihr brachte, hatte sie heiße Dankbarkeit im Herzen. Man konnte nicht zartfühlender, unbefangener, brüderlicher sein als er mit ihr. Keinen Augenblick ließ er es sie empfinden, daß vielleicht unerwünschterweise ihm die Antheilnahme an dem fremden Mädchen aufgezwungen sei. Er kam und ging in immer gleicher Güte, er besprach mit ihr alle die kleinen Verhältnisse von Geld und Sachen, die ganze bescheidene Erbschaft der Armut und half ihr alles ordnen. Die vollkommene Freiheit, die er innerlich dem Gelde gegenüber besaß, war ihr eine doppelte Wohlthat nach den Demüthigungen, welche sie und die Mutter gerade um des Geldes willen erduldet hatten. Mit der größten Unbefangenheit sprach er davon, daß dies oder jenes sich ihm als zu theuer verböte, und ebenso unbefangen rechnete er für Germaine. Reichthum oder Armut war ihm etwas Nebensächliches, mit dem man sich auch nebenher abzufinden hatte.

Germaine bemerkte wohl, daß ein Hauch von Trauer durch sein Wesen ging; sie war klug genug, um zu beobachten, daß die Ruhe, die er zeigte, nicht eine Charaktereigenschaft, sondern nur Fassung des Augenblicks war. Auch fiel ihr auf, daß er sein Versprechen nicht gehalten hatte und sie nicht der Baronin Offingen zuführte, noch überhaupt dieser Frau je mehr erwähnte. Es war demnach unschwer für sie, einen Zusammenhang seiner Melancholie mit dieser Frau zu ahnen. Aber eben weil sie dies ahnte, fragte sie nie mehr nach der Dame, der sie doch einen Dank schuldig war für die letzte Ehre, welche jene ihrer Mutter erwiesen hatte.

Alfred aber dankte ihr das Taktgefühl, welches sie schweigen hieß. Frauen, die fragen und neugierig immer bis auf den Grund von Gemüthsstimmungen und Ereignissen gehen, konnte er nicht ertragen.

Heute saß Germaine im Garten, vor einem der von Clematis umrankten Bogen, las in einem Buch, das Alfred ihr gebracht hatte, und sah zuweilen hinüber nach der Allee, wo eben die nachmittägige Korsofahrt begann und wo auf dem Fußsteige eine fast ununterbrochene Reihe von Spaziergängern vor der Front der dunklen Ulmenstämme buntfarbig hinzog.

Alfred kam durch den Garten auf sie zugegangen. Vor seinem Auge stand noch die steife Ungrazie der Frau Ravenswann und die gezwungene Jugendlichkeit der Frau Schneider. Das Bild, das er jetzt sah, war so harmonisch schön, daß er sich daran erquickte.

Das blonde Haupt in dem Blüthenrahmen, die schöne, schwarzgekleidete Gestalt vor der grünen Blätterwand, das feine Profil vor dem weit zurücktretenden dunklen Hintergrund – wahrlich, Germaine war schön, und wenn ihre Mutter auch einst so gewesen, ließ sich seines Vaters Liebe wohl begreifen. Und dabei fiel ihm gerade jetzt wieder diese Aehnlichkeit auf, die Aehnlichkeit – ja, mit wem denn? Ihn gemahnte es – ja, an was denn?

„Guten Tag!“

Er nannte sie nie „Fräulein Thomas“, das wollte ihm merkwürdigerweise nicht über die Lippen; der Name und das Mädchen schienen ihm wie zwei verschiedene Dinge. „Germaine“ mochte er auch nicht sagen, weil dies eine Vertrautheit andeutete, die ihm ihr Alleinstehen verbot.

Mit freudigem Aufblick nahm sie seine Hand.

„Schon? Es ist noch nicht Ihre Stunde, aber desto besser! Ich hatte gerade viel und Ernstes gedacht, über das ich mit Ihnen sprechen muß. Und Schwierigkeiten scheinen nur zu wachsen, wenn man lange über sie nachsinnt.“

Alfred trug sich einen Gartenstuhl herbei und setzte sich. Der

[329]

Bitte! Bitte!
Nach einem Gemälde von L. Blume-Siebert.
Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.

[330] grüngestrichene runde Tisch, auf dem Germaines Buch und Handarbeit lag, war zwischen ihnen.

„So sprechen Sie, obgleich ich gerade heute am liebsten nur schweigend Ihnen gegenüber gesessen hätte. Es beruhigt mich so, wenn ich Ihren flinken Fingern zusehe, die hurtig den Faden durchziehen. Denn gerade heute haben mich gute Freunde halb todt gemacht. Der Philister zu Hause ist nicht uninteressant; man kann, wenn man ihn aus sich selbst ein bißchen mit hübschen Farben koloriert, ihm sogar poetische und humorvolle Seiten abgewinnen; aber der Philister auf Reisen ist entsetzlich,“ sagte Alfred seufzend.

„Nun dies Beruhigungsmittel kann ich wirken lassen, auch wenn ich spreche,“ meinte sie und wickelte ihre Stickerei auseinander.

Während sie den farbigen Wollfaden in die Nadel fädelte, begann sie schon in ihrer ruhigen, gleichmäßigen und doch nicht eintönigen Sprechweise:

„Sie wissen, daß ich schon zwei Tage nach Mamas Begräbniß Anzeigen in den verschiedenen Blättern ergehen ließ. Doch scheint es, als wenn niemand eine Pflegerin oder Gesellschafterin brauche, denn niemand hat sich gemeldet. Da meine Geldmittel nur noch für wenige Wochen reichen, so wäre ich dann vis-à-vis de rien oder auf die Gnade der Familie Thomas angewiesen, die anzurufen meine Mutter mir verbot. Ich würde mich also in einer vollkommen hilflosen Lage befinden. Deshalb, denke ich, muß ich meine Ansprüche niedriger stellen und einige Stufen gesellschaftlich hinuntersteigen. In einem Laden, als Verkäuferin, denke ich, sollte es nicht so schwer sein, Stellung zu finden, und es giebt doch sehr feine Geschäfte, wo ein armes Mädchen arbeiten kann, in aller Anständigkeit und Bescheidenheit. Freilich fühle ich wohl den Schritt fernab von allem, was bisher den Gewohnheiten meiner Erziehung entsprach, aber da ich eben darauf erzogen worden bin, einmal vielleicht eine gute Hausfrau zu werden, oder eine Dame, die in der Gesellschaft ihre Stellung einnehmen kann, nicht aber darauf, Geld zu verdienen, so muß ich eben aus meinem bisherigen Kreise treten, wenn ich leben will. Meiner armen Mutter ist aus meinem Mangel an einer lohnenden Berufskenntniß kein Vorwurf zu machen. Als das Unglück kam, als wir verarmten, war Mama schon so leidend, daß mit ihrer Pflege mein ganzer Tag ausgefüllt war. Mama hätte eben eine fremde Pflegerin nehmen und mich in eine Lehre schicken müssen, und das – nein, das wäre zu hart für sie gewesen, die niemand hatte als mich.“

Alfred hörte ihrer Rede mit wachsendem Unbehagen zu.

„Niemals“, sagte er bestimmt, „gebe ich einen solchen Schritt zu. Sie werden eine Stellung finden, wo Sie keinen äußersten Demüthigungen ausgesetzt sind. Quälen Sie sich nicht über das ‚Wann‘. Ich bin da, im Namen meines Vaters für Sie zu sorgen. Ich werde Ihre Pension hier im Hause bezahlen, bis Sie eine Stelle finden.“

Germaine lächelte ein wenig, wie zu dem überspannten Einfall eines lieben Menschen.

„Ueber diesen Vorschlag hin und her zu reden,“ sprach sie, „ist vollkommen überflüssig. Seine Annahme ist aus äußeren Gründen unmöglich. Aber wenn diese äußerlichen Gründe auch nicht beständen, so giebt es noch innerliche, die mir verbieten, mich auf die Güte eines Freundes anstatt auf meine eigene Kraft zu verlassen. Ich bin gesund, ich bin jung, ich bin an angestrengte Thätigkeit gewöhnt, denn der Zustand meiner armen Mama erforderte Tag und Nacht Aufmerksamkeit, Handreichungen, Beschäftigungen jeder Art. Bald mußte man ihr Speisen bereiten, deren Zusammensetzung peinlich genau vorgeschrieben war, bald die fast Gelähmte umbetten, bald ihr vorlesen, bald ihr Gewänder und Kissen anfertigen, von denen sie sich für ihre Lage mehr Bequemlichkeit versprach. Und nun mit einemmal habe ich gar nichts zu thun! In den ersten Tagen fühlte ich wohl, wie überangestrengt ich gewesen war und wie gut mir das Ausruhen that. Aber nur in den ersten Tagen. Nun ertrage ich es täglich weniger, ein so pflichtenloser Mensch ohne geregelte Zeiteintheilung zu sein. Ich habe Arbeitskräfte, und wer solche besitzt und sie nicht ausübt, begeht beinahe eine Unsittlichkeit. Habe ich recht?“

Alfred war von ihrer Rede in eine so nachdenkliche Bestürzung versetzt, daß er kaum antworten konnte.

„Aber das Leben bringt doch auch Feier- oder Ruhewochen, die man genießen darf!“ sagte er.

„So?“ fragte sie, ihn liebevoll ansehend, „und Sie – genießen Sie denn Ihre Ruhewochen, die sich zu machen Sie doch sicherlich herkamen? Weiß ich nicht von Ihnen selbst, daß Sie täglich mehrere Stunden an der Uebersetzung eines philosophischen Werkes angestrengt arbeiten?“

„Ich? Mein Gott, sprechen wir nicht von mir!“ bat Alfred. Ihm war es, als fasse ihn ein Schwindel. Wenn dies Mädchen wüßte, daß er auch eigentlich „ein pflichtenloser Mensch ohne geregelte Zeiteintheilung“ war, und daß er nur jetzt so schaffte, weil eine, eine gesagt hatte … o, nur nicht daran denken!

(Fortsetzung folgt.)




Eine zweischneidige Tugend.

Von W. Sonntag.

Was ist Höflichkeit? Vielleicht sagt es uns der Wiener Hauswirth, von dem einmal die Zeitungen erzählten. Er war mit einem seiner Miether in Streit gerathen und hatte sich in der Aufregung einige unfeine Ausdrücke entschlüpfen lassen.

„Hören S’,“ ruft ihm der Miether zu, „Sie könnten a bissel höflicher mit mir reden!“

„Was?“ erwidert der Wirth, „höflich? Ich mit Ihnen? Mit Ihnen brauch’ ich gar nicht höflich zu sein. Wenn ich mit Ihnen höflich bin, so ist das überhaupt a bloße Artigkeit von mir!“ – Nein, der biedere Wiener kann uns nicht sagen, was Höflichkeit ist.

Das Wort verweist uns an die Sitte und den Anstand eines fürstlichen Hofes. Allein ohne Zweifel gab es eine Höflichkeit, ehe es einen fürstlichen Hof gab: die Höflichkeit ist älter als die Höflichkeit, die Sache älter als das Wort. Immerhin aber bringt uns der Anklang an Hof, höfisches Wesen, höfische Sitte auf die richtige Fährte. Weil die Fürstenhöfe vorzugsweise die Stätten gewählter Umgangsformen waren, übertrug man die Bezeichnung „Höflichkeit“ auf alles, was mit dem Anstande und der Förmlichkeit des gesellschaftlichen Verkehrs zusammenhing. Alle Völker und Zeiten haben die Höflichkeit gekannt, alle Sprachen haben Namen dafür. Dieser Allgemeinheit gemäß hat die Höflichkeit ihre Geschichte, ihre Ueberlieferungen, ihre Moden, ihre Gesetze. Sie ist ein wesentliches Stück der menschlichen Kultur und der Geschichte dieser Kultur.

An erster Stelle gehören in das Kapitel von der Höflichkeit die Grußformen. Auf diesem Gebiete herrscht eine unabsehbare Mannigfaltigkeit. Wir wünschen uns einen „guten Morgen“ und „guten Tag“, die Rheinländer zum Ueberfluß noch einen „guten Nachmittag“. Männer berühren die Kopfbedeckung oder ziehen den Hut, kleine Mädchen knixen, Damen verneigen sich. Im Vorbeigehen rufen wir einander zu. „Wie geht’s?“ Wir bleiben bei einem Bekannten einen Augenblick stehen und wechseln kurze Rede und Gegenrede. „Haben Sie Ihren Reis gegessen?“ erkundigt sich der Chinese bei seinem bezopften Bruder. Je nach den Verhältnissen, in denen wir uns befinden, sagen wir: „Ich habe die Ehre“, „ergebenster Diener“, „ich empfehle mich Ihnen“. Viele dieser Formen und Formeln haben durch die tägliche Uebung etwas Mechanisches, Gedankenloses, um nicht zu sagen Automatenhaftes angenommen. Studenten und jüngere Offiziere haben das Vorrecht, den abgekürzten Gruß „guten Morgen“ noch zu verkürzen und zu allen Tages- und Nachtzeiten einander ihr „Moi’n! Moi’n!“ zuzurufen.

Die Anreden und Zeichen des Grußes drücken Ehrfurcht, Vertraulichkeit, Theilnahme aus. Am elegantesten sind in diesen Aeußerungen die Franzosen, am possirlichsten die Chinesen, am umständlichsten die Morgenländer. Wie unsere Bildung überhaupt aus dem Osten gekommen ist, so sind ohne Zweifel auch die meisten unserer Begrüßungsformen aus dem Orient zu uns gelangt, nur daß wir ihnen das Unterwürfige, Kriechende, Knechtische, das ihnen dort eigen ist, zum Theil abgestreift haben. Siebenmal verneigt sich Jakob vor seinem Bruder Esau, wobei nicht zu vergessen ist, daß einige dieser sieben Verbeugungen auf Rechnung seines bösen Gewissens kommen, da er kurz zuvor den Esau um sein [331] Erstgeburtsrecht betrogen hatte. Augenscheinlich hängen diese orientalischen Höflichkeitsgebräuche theilweise mit religiösen Gebräuchen zusammen, insofern die Ehrfurcht vor Königen und Vornehmen das Abbild der Ehrfurcht vor Gott ist.

Das zweite Gebiet, auf welchem die Höflichkeit zu Hause ist, ist das des geselligen Verkehrs. Wem, wann, wie und wo wir Besuche zu machen haben, von wem und in welcher Weise diese Besuche erwidert werden, welche Einladungen wir ergehen lassen, welche wir annehmen, welche ausschlagen, welche Gründe der Ablehnung wir angeben, in welchen Räumen und in welcher Toilette wir unsere Gäste empfangen, womit wir sie bewirthen und unterhalten, wann wir uns empfehlen – alles das sind Dinge, welche den Regeln der Höflichkeit unterliegen. Gratulationsbesuche stehen so gut unter dem Herkommen wie Beileidsbesuche. Besondere Pflichten hat der Wirth, besondere Aufgaben die Wirthin, besondere Obliegenheiten haben die nächsten Freunde des Hauses. In dem Anbahnen der Unterhaltung, in der Auswahl der Gesprächsgegenstände, in den Wendungen der persönlichen Bemerkungen steckt eine Fülle von Anforderungen der Höflichkeit. Der eine handhabt diese Formen leicht, der andere schwerfällig, die eine zum Entzücken, die andere zum Lachen.

Dem geselligen Umgang nahe verwandt, zum Theil in denselben eingeschlossen ist der schriftliche Verkehr. Bekanntlich ist das Briefschreiben älter als Papier und Tinte, und die in Pompeji gefundenen Wachstäfelchen mit altrömischen Korrespondenzen lassen die damals üblichen Höflichkeitsfloskeln keineswegs vermissen. Die Briefe der Apostel schließen meist mit Grüßen, welche die Schreiber und ihre Freunde mit Gemeindegliedern wechseln. Seine üppigsten Blüthen hat der schriftliche Verkehr in dem sogenannten Kurial- und Kanzleistil des 17. und 18. Jahrhunderts getrieben. Man muß sich hindurchgegessen haben durch dieses Schlaraffenland appetitlicher Perioden, leckerer Wendungen, deliciöser Wortsaucen, um jenes Geschlecht zu beneiden um die Zeit, die ihm zu Gebot stand, und um das Vergnügen, welches ihm dergleichen Allotria bereiteten. Das sind geschriebene Allongeperücken, schriftstellerische Reifröcke, poetische Frisuren. Wie später Zopf und Haarbeutel diese thurmhohen Toilettenkünste ablösten, so trat an die Stelle der phantastischen Komplimentirerei der strammere Gamaschenstil der Behörden. Noch spätere Zeiten haben auch den Zopf abgeschnitten von den Köpfen und Briefen. Doch halten noch heute die Behörden, so weit es angeht, auf Ehrerbietung und Reverenz, weil sie die Würde und Hoheit des Staats vertreten. Im Privatverkehr befleißigt man sich gegenwärtig im allgemeinen einer angenehmen Einfachheit. Anrede, Unterschrift und schmückende Beiwörter sind heutzutage fast ganz in das Belieben der einzelnen gestellt.

Auch Büchertitel, Vorreden und Widmungen stehen unter dem Ceremoniell der Höflichkeit. Manche Schriftsteller haben das Bedürfniß, nicht nur in den Vorworten, sondern auch im Texte sich in persönliche Beziehungen zu ihren „geneigten“ oder „günstigen“ Lesern und „schönen“ Leserinnen zu setzen.

Dabei ist die Höflichkeit keineswegs ein Vorrecht der sogenannten gebildeten Stände. Wenn wir Handwerker, Bauern, Dienstboten und andere kleine Leute miteinander verkehren sehen, empfangen wir leicht den Eindruck, als entbehre dieser Verkehr gänzlich oder bis zu einem hohen Grade der Zieraten der Artigkeit, Rücksicht und guten Sitte. Allein diese Leute haben so gut ihre Grußformen, ihre Manieren, ihre Ueberlieferungen der Höflichkeit wie die höheren Stände, sie kennen so gut wie diese ihre Grobiane und Flegel. Ueberhaupt hat beinahe jeder Stand seine besondere Art der Höflichkeit, die Fürsten ihr Ceremoniell, die Vornehmen ihre Etikette, die Studenten ihren Comment, die Kinder ihre Spielregeln. Wer gegen diese Ordnungen verstößt, setzt sich der Gefahr aus, von seinen Standesgenossen verleugnet, aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.

Welcher sittliche Werth kommt der Höflichkeit zu? Die einen schätzen sie sehr hoch, die anderen stellen sie außerordentlich tief. Einige erklären geradezu, die Höflichkeit sei die höchste Blüthe eines gesitteten Lebens; andere behaupten, sie sei nichts als Firlesanz und Humbug. Nicht alle ziehen die Folgerungen dieser Grundanschauung, aber es fehlt auch an solchen nicht, die dies thun. Einige würden es sich schlechterdings nicht verzeihen können, durch ein Wort, eine Miene, eine Gebärde, ein Schriftstück, eine That gegen die Regeln der Höflichkeit zu verstoßen, denn diese Tugend gilt ihnen als die höchste von allen. Sie würden eher unehrlich sein als unhöflich, eher ein Verbrechen begehen als eine Unart. Andere setzen sich mit Leichtigkeit über die Grenzen und Zäune hinweg, welche das Herkommen gezogen hat, sagen sich in ihrem Aeußern, ihren Gewohnheiten, ihren Reden los von allem, was sonst als wohlanständig gilt, gefallen sich geradezu in der Rolle der Sonderlinge, der Einspänner, wenn nicht gar der Klötze und Rüpel.

Welche von beiden haben recht?

Zunächst ist klar, daß ohne die Höflichkeit unser Leben schlechterdings nicht bestehen kann. Streichen wir die Höflichkeit aus unseren Lebensordnungen aus, so versinken wir in vollendete Barbarei. Lassen wir der Unhöflichkeit freien Lauf auf den Gassen, in den Häusern, zwischen jung und alt, vornehm und gering, ja selbst zwischen gleich und gleich, so tritt ein unerträglicher Zustand der Verwirrung, der Zuchtlosigkeit, der Auflösung ein. Höflichkeit und gute Sitte sind die mittlere Entfernung, bei welcher ein Beisammensein der Menschen einzig bestehen kann.

Ein sittlicher Werth also kommt der Höflichkeit unstreitig zu, aber wo steckt er? wie viel gilt er? wie weit reicht er? Auffallenderweise bedienen sich zwei unserer schärfsten Denker, welche hierüber urtheilen, einer und derselben Vergleichung, nämlich des Bildes von verschiedenen Geldmünzen. Kant sagt: „Alle menschliche Tugend im Verkehr ist Scheidemünze; ein Kind ist der, welcher sie für echtes Gold nimmt. Es ist aber doch besser, Scheidemünze, als gar kein solches Mittel im Umlauf zu haben, und endlich kann es doch, wenngleich mit ansehnlichem Verlust, in bares Gold umgesetzt werden.“ Und Schopenhauer führt aus: „Höflichkeit ist, wie die Rechenpfennige, eine offenkundig falsche Münze; mit einer solchen sparsam zu sein, beweist Unverstand; hingegen Freigebigkeit mit ihr Verstand. Wer hingegen die Höflichkeit bis zum Opfern realer Interessen treibt, gleicht dem, der echte Goldstücke statt Rechenpfennige gäbe.“ Das Bild ist sehr glücklich gewählt. Wer die Höflichkeit richtig beurtheilen will, muß vor allen Dingen den Irrthum aufgeben, als sei hier alles bare Münze. Wer wird so thöricht sein, zu glauben, daß die Männer, welche vor einander ihre Hüte so tief ziehen, einen entsprechenden Grad der Hochachtung vor einander empfinden? Wer ist so einfältig, die Unterschrift eines Briefes „Ihr ganz gehorsamer Diener“ so buchstäblich zu nehmen, daß er von dem Schreiber verlangt, er solle ihm die Stiefel putzen? Wie wir von anderen dergleichen kleine Täuschungen um der Höflichkeit willen uns gern gefallen lassen, so machen auch wir uns kein Gewissen daraus, um mit unserem Philosophen zu reden, Rechenpfennige statt Goldmünzen auszugeben, weil wir im voraus wissen, daß kein Verständiger sie für echtes Gold annehmen oder gar uns als Falschmünzer verklagen werde.

Man könnte, unbeschadet des treffenden Bildes, dessen Kant und Schopenhauer sich bedienen, einen andern Vergleich anziehen. Unser Höflichkeitsverkehr hat eine gewisse Aehnlichkeit mit einem Maskenballe. Da trägt jeder seine Vermummung, der eine stellt einen Prinzen dar, der andere einen Chinesen, die eine eine Schäferin, die andere eine Preziosa. Der Scherz und das Vergnügen aber bestehen darin, daß jeder die anderen so lange wie möglich in Ungewißheit hält, wer er denn nun eigentlich sei. Wer wird so ungezogen sein, einem andern die Maske zu lüften, um sich zu überzeugen, wer darunter stecke? Nun hat zwar auch die Demaskirung ihre spaßhaften Ueberraschungen, allein sie verläuft auch bedeutend harmloser als das Fallenlassen der Maske auf dem Boden des wirklichen Lebens. Denn bei dem Maskenfeste kommen doch unter diesen Larven und Garderobestücken schließlich unsere guten Freunde, unsere lieben Nachbarn, unsere eigenen Frauen zum Vorschein. Ganz anders würde die Wirkung sein, wenn alle, die gesellig miteinander verkehren, mit einem Schlage die Vermummungen fallen lassen und sich in ihrer wahren Gestalt, das heißt in ihrer wahren Gesinnung zeigen wollten. Wir würden erstaunen über diese Enthüllungen, entrüstet sein über diese Verstellungen, aufs tiefste verletzt werden durch verblüffende Entdeckungen.

Das wäre nun ein rechter Fund für den strengen Sittenprediger. Seht ihr, könnte er sagen, da habt ihr den thatsächlichen Beweis, wohin unsere sogenannte Bildung, wohin „Europas übertünchte Höflichkeit“ uns gebracht hat! Alles ist Lüge, Schwindel, Falschheit, Heuchelei! Der verständige Mensch glaubt kein Wort von diesen Bezeigungen der Theilnahme, diesen Versicherungen der Freundschaft, diesen Ausrufen der Bewunderung und des Entzückens! Die Unnatur hat die Natur verdrängt, der Schein ist an die Stelle der Wahrheit getreten, hohles Wesen macht sich am Platze der [332] aufrichtigen Empfindung breit! Darum laßt uns brechen mit diesen Alfanzereien der sogenannten Höflichkeit, laßt uns ein Ende machen dem gespreizten, geschminkten, aufgeputzten Schattenspiel des gesellschaftlichen Verkehrs, laßt uns zurückkehren zu den einfachen, ehrenfesten Sitten unserer Väter!

Nur schade, daß diese einfachen, ehrenfesten Sitten der guten alten Zeit in so idealer Reinheit, wie der also Redende sie sich vielleicht denkt, niemals vorhanden gewesen sind. Auch sie weisen ihre sehr erheblichen Schattenseiten auf. Und ist denn überhaupt die Höflichkeit schlechthin unsittlich? Ist es nicht wahrscheinlich, ja thatsächlich, daß ein Mensch, der sich an Höflichkeit gewöhnt hat, sich damit zugleich Milde des Urtheils, Schonung fremder Schwächen, Beherrschung seiner Leidenschaften aneignet? Ein scharfes Auge entdeckt auch in der seltsamen Mischung, die wir Höflichkeit nennen, Bestandtheile des Moralischen.

Ein Beispiel mag das Gesagte erläutern. Beinahe in jedem größeren Gesellschaftskreise befindet sich einer oder der andere, der mit einem körperlichen Gebrechen behaftet ist. Mancher weiß kaum, daß es gegen die Forderung der Nächstenliebe verstößt, derartige Gebrechen zum Gegenstande lauter Bemerkungen oder heimlicher Gespräche zu machen, darüber zu spötteln oder zu witzeln. Aber er weiß, daß der gute Ton der Gesellschaft verbietet, unter Blinden von Blindheit, unter Krüppeln von Verkrüppelungen zu reden, er nimmt sich wohl in acht, gegen diese Regel zu sündigen und siehe, er erfüllt ein sittliches Gebot nicht aus Frömmigkeit, aus Mitleiden, sondern, wenn man so will, aus Höflichkeit.

Das gewählte Beispiel führt auf einen anderen wichtigen Gedanken. Welch ein unerfreulicher und beleidigender Anblick würde es sein, wenn alle mit Mängeln und häßlichen Zuthaten der Glieder Behafteten diese Uebel frei und offen zur Schau trügen! Deshalb lassen wir uns die Hilfsmittel der ärztlichen Kunst und der geschickten Bekleidung und Verhüllung, welche diese Schäden gefällig zudecken, nicht nur gern gefallen, sondern wir fordern sie im Interesse des guten Geschmacks. Warum sollten wir weniger entgegenkommend sein, wenn es sich darum handelt, die sittlichen Unvollkommenheiten unter angenehmen Formen zu verbergen?

Nun aber besteht die Höflichkeit nicht in einem einmaligen Thun und Lassen, sondern in der Gewöhnung, die zur anderen Natur wird, und hieraus geht zugleich die Wichtigkeit der Erziehung zur Höflichkeit von Jugend auf hervor. Nicht ohne Grund nennt man einen Ungesitteten einen Menschen ohne Erziehung. Wer dieser Mitgift des Elternhauses entbehrt, findet sich in der Welt schwer zurecht und ist Verlegenheiten ausgesetzt, die der minder Begabte, minder Tüchtige, aber besser Erzogene nicht kennt oder leicht überwindet. Denn die Zeiten sind vorbei, wo man die Genialität eines Menschen danach beurtheilte, ob er sich dreist und keck über die Schranken des Herkommens hinwegsetze. Man war einmal geneigt, zu glauben, ein Genie sei ein Mensch, der nicht sei wie andere Menschen; esse und trinke, was ihm beliebe; rede, was ihm in den Mund komme; übernachte, wo es ihm behage; thue und lasse, was ihm gut dünke. Man ist davon zurückgekommen, diese Struwwelpeter mit zweifelhafter Wäsche und akademischer Redefreiheit als die Pioniere höherer Bildung zu verehren. Heutzutage sind auch die Vertreter von Kunst und Wissenschaft nicht mehr komische Figuren, linkische Gesellen, nothwendige Uebel der Gesellschaft, enfants terribles ihrer Umgebungen, sondern die Kultur, die alle Welt beleckt, hat auch den Gelehrten und Künstlern die scharfen Ecken abgeschliffen und den Ehrgeiz benommen, nicht nach dem Gesetze der guten Sitte beurtheilt zu werden. Und demgemäß ist es eine bemerkenswerthe Erscheinung, daß wahrhaft bedeutende Menschen sich häufig durch angenehme und liebenswürdige Formen auszeichnen.

Andererseits ist freilich „Höflichkeit um jeden Preis“ ein schlechter Grundsatz für denjenigen, der den Idealen des Lebens, der Wahrheit, der Freiheit, dem Vaterlande dienen will. Es ist sogar ein schlechter Grundsatz für den gewöhnlichen Sterblichen, und Schopenhauer hat recht: „Wer die Höflichkeit bis zum Opfern realer Interessen treibt, gleicht dem, der echte Goldstücke statt Rechenpfennige ausgiebt.“ Das wird niemand in Abrede stellen, daß in unseren Grußformen, in unserem geselligen und schriftlichen Verkehr Gedankenlosigkeiten, Ungereimtheiten, Unwahrheiten genug vorkommen. Hier trifft das Volkslied das Richtige: „A bissele Lieb’ und a bissele Treu’ und a bissele Falschheit ist allweil dabei.“ Auch von der Höflichkeit gilt vielfach der Rath des Mephistopheles: „Im ganzen haltet euch an Worte!“ Es ist mit der Höflichkeit ähnlich wie mit der Mode. Viele beklagen sich über die Geschmacklosigkeit, die Unvernunft, die Tollheiten, die Tyrannei gewisser Moden. Aber es ist nun einmal nicht jedermanns Sache, gegen den Strom zu schwimmen. Der Aesthetiker Vischer hat den sittlichen Muth gehabt, in seinen Schriften ernst und launig, witzig und spöttisch gegen die Verkehrtheiten und Uebertreibungen der Mode, insbesondere soweit sie die Toilette unserer Damen betreffen, zu Felde zu ziehen. Es wäre zu wünschen, daß einer nach ihm käme, der mit umfassender Kenntniß des ganzen Gebietes der Höflichkeit ausgerüstet es unternähme, die Lächerlichkeiten und Auswüchse einer sogenannten Tugend nachzuweisen und gebührend zu brandmarken, die uns zu Sklaven der Unvernunft und Heuchelei zu machen droht. Freilich wäre dem Tollkühnen, der das auf sich nähme, zu rathen, daß er zuvor seine Brust nicht mit dreifachem, sondern mit siebenfachem Erz zu panzern nicht vergäße.

Auch eignet sich die Höflichkeit schon um deswillen nicht zum alleinigen Grundsatz des Lebens, weil sie in ihrem Gefolge einige Abarten hat, die uns vollends mißtrauisch gegen die einseitige Bevorzugung derselben machen müssen. Dazu gehört in erster Linie die sogenannte „Galanterie“. Zwar ist sie ursprünglich ein französisches Gewächs, allein ihre Stecklinge gedeihen munter auch auf deutschem Boden. Je höher wir weibliche Anmuth, Schönheit und Würde achten, desto mehr werden wir uns angewidert fühlen von dem unnatürlichen, erkünstelten, faden Wesen, welches den Grundzug dieser krankhaften Ueberspannung des Frauendienstes bildet. Noch widerwärtiger wirkt auf gesunde Nerven das Gebaren, welches mit dem Gesammtnamen der Schmeichelei bezeichnet werden kann. Dem Verdienste seine Krone, der Bedeutung ihre Anerkennung, der Schwäche ihre Nachsicht, aber alles, was recht ist! Den Narren einen Weisen nennen, den Feigling einen Helden, den Unwürdigen einen Vortrefflichen, eine miserable Leistung zur Vollkommenheit aufbauschen, der Eitelkeit und dem Ehrgeiz das Opfer der eigenen, wohlbegründeten Ueberzeugung bringen – das ist doch etwas anderes als die Höflichkeit, welche die Schwächen der Freunde entschuldigt und reuigen Sündern Gnade für Recht erweist. Zu den Abarten der Höflichkeit ist endlich der Servilismus zu zählen, dessen klassischer Vertreter noch immer der edle Polonius ist. „Seht ihr die Wolke dort, beinahe an Gestalt eines Kamels?“ fragt ihn Prinz Hamlet. „Beim Himmel, sie sieht wirklich aus wie ein Kamel.“ – „Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel.“ „Sie hat einen Rücken wie ein Wiesel.“ – „Oder wie ein Walfisch?“ „Ganz wie ein Walfisch.“ – Das komische Gegenbild zu dieser Figur mag jener Dorfpastor bieten, dem die Nachricht zugegangen war, sein Patron, ein Edelmann, sei wegen hochverräterischer Umtriebe draußen irgendwo geköpft worden, und der am nächsten Sonntage der versammelten Gemeinde von diesem betrübenden Ereigniß Mittheilung machte mit den Worten, der gnädige Herr sei „an einer Halskrankheit gestorben“.

Wer das Wesen der Höflichkeit begreifen will, muß unterscheiden lernen zwischen falscher und wahrer Höflichkeit. Die falsche Höflichkeit ist nichts anderes als der Deckmantel der Selbstsucht, die Politur und der Firniß des äußeren Benehmens, oft kaum verschieden von Falschheit und Verstellung, freundlich ins Gesicht, unfreundlich in der Gesinnung, nach der Aufsassung, daß der Mensch einen Rücken nur dazu habe, daß ihn seine Freunde hinter demselben schonungslos beurtheilen, lästern und verleumden. Die wahre Höflichkeit ist etwas anderes: sie ist die bewußte und gewohnte Verleugnung der Selbstsucht, die Rücksichtnahme auf das Wohl und Wehe anderer, die Duldung fremder Meinungen und Ueberzeugungen, die Selbstbeherrschung in Anwandlungen von Schwäche und Leidenschaft, die sittliche Triebfeder des Edelmuthes. Nicht alle Künstler der äußerlichen Höflichkeit sind würdige Vertreter der innerlichen; nicht alle Meister der innerlichen sind Vorbilder der äußerlichen. Die wahre Höflichkeit ist die Schule des Bemühens, daß Uebereinstimmung hergestellt werde zwischen den Aeußerlichkeiten und Innerlichkeiten des Lebens, und je besser sie diesen Zweck erfüllt, desto größeren Anspruch hat sie, als sittliches Gut geachtet zu werden. Sie gehört zum sinnbildlichen Schmuck des Lebens, ja sie nimmt unter allen Sinnbildern, die wir kennen, die erste Stelle ein, und auch von ihr gilt das Wort: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“




[333]

Die Frauenarbeitsschule in Reutlingen.

Welch traurig Los hat doch ein Weib, das seinen Lebensunterhalt mit der Nadel verdienen muß! Frauenhandarbeit wird schlecht bezahlt, und doch sind viele Tausende darauf angewiesen. Der englische Dichter Thomas Hood hat ein ergreifendes Lied von diesem Frauenelend gesungen:

„Mit Fingern mager und müd’,
Mit Augen schwer und roth,
In schlechten Hadern saß ein Weib,
Nähend fürs liebe Brot.
Stich! Stich! Stich!
Aufsah sie wirr und fremde;
In Hunger und Armuth flehentlich
Sang sie das Lied vom Hemde. –

Schaffen – Schaffen – Schafen, –
Bis das Hirn beginnt zu rollen!
Schaffen – Schaffen – Schaffen,
Bis die Augen springen wollen!
Saum und Zwickel und Band,
Band und Zwickel und Saum –
Dann über den Knöpfen schlaf’ ich ein
Und nähe fort im Traum.“ –[WS 1]

Wie drüben in England, so ist es auch bei uns in Deutschland. Die Frauenfrage ist in erster Linie Brotfrage. Von hundert Mädchen verheirathen sich etwa vierzig und unter diesen vierzig sind es zum großen Theile die mit Geld und Gut gesegneten; die übrigen sechzig müssen den Kampf ums Dasein, wenn ihnen nicht Eltern und Geschwister hilfreich zur Seite stehen, allein führen. Eine anerkannte Hauptaufgabe unserer Zeit ist es daher, das weibliche Geschlecht für diesen Kampf in rechter Weise zu kräftigen und zu rüsten.

In welcher Weise soll nun aber die weibliche Jugend zur Arbeit erzogen werden? Da ist unter allen deutschen Ländern Württemberg bahnbrechend vorangegangen, indem hier die Regierung sich dieser Angelegenheit thatkräftig angenommen hat. Nicht nur ist hier das einer allgemeinen weiblichen Bildung dienende höhere Mädchenschulwesen in richtige Bahnen gelenkt, sondern auch die berufliche Bildung des weiblichen Geschlechts schon frühe ins Auge gefaßt worden. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist jungen Mädchen die Gelegenheit gegeben, im Post- und Telegraphendienst angestellt zu werden; zahlreiche weibliche Fortbildungsschulen pflegen berufliche Bildungsfächer, an Seminarien werden Lehrerinnen gebildet, hauptsächlich aber sind unter dem Namen „Frauenarbeitsschulen“ beruflich bildende Anstalten ins Leben getreten, und vor wenig Jahren hat sich in die Kette dieser mannigfaltigen Bildungsanstalten die „Haushaltungsschule“ als jüngstes Glied eingereiht.

Ein ganzes Netz von Frauenarbeitsschulen hat sich über Württemberg ausgebreitet. Alle diese Anstalten sind nun der Reutlinger Frauenarbeitsschule als ihrer Muster- und Mutterschule nachgebildet worden; dieselbe verdient daher wohl, unsern Lesern vorgeführt zu werden.

Auf dem Boden einer in Reutlingen seit alten Zeiten herrschenden Arbeitsthätigkeit der Frauen und Mädchen, welche sich mit Herstellung von Bekleidungs- und Luxusgegenständen durch Stricken, Häkeln, Sticken und Knüpfen beschäftigen, ist die Frauenarbeitsschule dieser Stadt erwachsen. Der praktische Blick des künstlerisch wie technisch durchgebildeten Dessinateurs für Gebildweberei, des nunmehrigen Inspektors Lachenmayer, das organisatorische Talent des hochverdienten früheren Präsidenten der königlichen Centralstelle für Gewerbe und Handel in Stuttgart, Geheimrath Dr. von Steinbeis, die einsichtsvolle städtische Verwaltung und hochgebildete Frauen, wie Frau Dr. Zeller, haben zusammengewirkt, um diese eigenartige Anstalt zu schaffen. Gegründet im Jahre 1863, erfreute sie sich einer raschen, mit dem wachsenden Bedürfniß fortschreitenden Entwickelung. Seit 1877 ist die Anstalt im Besitze eines eigenen, besonders für ihre Zwecke erbauten Hauses mit 11 geräumigen, hellen und gut gelüfteten Unterrichtssälen, in denen 300 Schülerinnen untergebracht werden können.

Dr. Otto Hahn schildert in seinem empfehlenswerthen Schriftchen „Die Frau auf dem Gebiete der Arbeit“ (Reutlingen, J. Kocher) die Anstalt folgendermaßen: „Hier findet man nicht die Hörsäle für jene halbgelehrten Vorträge, durch welche höchstens Blaustrümpfe, meistens aber vielwissende und nichts verstehende Salondamen und unglückliche Abcbuchgouvernantinnen ausgebildet werden; es wird auch kein akademischer Unterricht gegeben für Doktorinnen in Theologie, Jurisprudenz und Medizin – dagegen findet man hier in der in einem imposanten Gebäude vereinigten Arbeitsschule eine lange Reihe von Arbeitssälen und in diesen anstatt der Subsellien die verschiedensten Vorrichtungen für die weibliche Handarbeit: Arbeitstische, Nähmaschinen, Strickmaschinen, Flechtapparate, Stickrahmen, Körperformen, Bügeleisen, Wand- und Zeichentafeln etc., daran anschließend aber auch Säle zum Zeichnen und Malen, mit den mannigfachsten Gegenständen versehene Ausstellungs- und Demonstrationslokale und dann zum Abschluß allerdings auch einen geräumigen Hörsaal für Vorträge wissenschaftlichen und künstlerischen Inhalts, ein Turnlokal und selbst ein kleines Theater. Ein das Gebäude umgebender großer Garten mit Weganlagen giebt treffliche Gelegenheit zur Erholung in den Pausen und gewährt, wie das Gebäude selbst, eine reizende Aussicht über die Stadt und die höchst malerische Landschaft, welche zu den unter Leitung von Aufsichtsdamen häufig stattfindenden Erholungstouren an Sonn- und Feiertagen einladet. Alles ordnet sich hier dem Hauptzwecke, der praktischen Ausbildung zu rationeller, präciser, sowohl den Anforderungen des Geschmacks, als denjenigen der Oekonomie entsprechender Ausführung solcher weiblichen Arbeit unter, wie Natur und Sitte sie diesem Geschlechte zugetheilt haben.“

Die Schule, unter dem Protektorate der Königin Olga von Württemberg stehend, ist Staats- und Gemeindeanstalt. Ihr Zweck ist ein doppelter. Einmal will sie durch künstlerischen und technischen Unterricht mittels theoretischer und praktischer Unterweisung Arbeitskräfte für die weibliche Handarbeit heranbilden, und zwar sowohl zur eigenen praktischen Ausübung und Ueberwachung derselben im Haushalt, als auch zur Erzielung der Befähigung für eine selbständige gewerbliche Berufsthätigkeit; sodann sollen durch sie Kandidatinnen des Lehrberufs Gelegenheit finden, den zur Ertheilung des Arbeitsunterrichts an Anstalten gleicher Art, sowie an höheren Mädchenschulen, Pensionaten und Volksschulen erforderlichen Grad von Fachbildung sich anzueignen. Der Unterricht beruht auf einer Verbindung des Zeichnens und Malens mit der Handarbeit. Die Lehrfächer zerfallen in künstlerischen Fachunterricht neben allgemeinem künstlerischen Unterricht (Zeichnen und Malen), technischen Fachunterricht (Arbeitsunterricht) und wissenschaftlichen Unterricht. Der künstlerische Unterricht beginnt mit dem geometrischen und Freihandzeichnen als den Grundlagen für das sich anschließende Musterschnittzeichnen und ornamentale Zeichnen und schließt mit der Lehre von den Farben und ihrer Zusammenstellung, vom Ornament und Dessin und deren Herstellung in Umriß und Farbe. Der Arbeitsunterricht gliedert sich in die fünf Hauptkurse des Gestricks, Handnähens, Maschinennähens, Kleidermachens und Stickens mit je einvierteljähriger Dauer, ferner in die zwei Nebenkurse des Putz- und Blumenmachens, sowie des Bügelns mit ebenfalls einvierteljähriger Dauer. Der wissenschaftliche Unterricht umfaßt Buchführung, kaufmännisches Rechnen und Korrespondenz, Vorträge über deutsche Litteratur, Geschichte und naturwissenschaftliche Gegenstände. Daß bei einer solchen Ausbildung die jungen Mädchen ein besseres Auskommen zu erwarten haben als bei einer andern, die nur mechanische Handfertigkeit gewährt, liegt auf der Hand.

Die Schülerinnen werden vom vierzehnten Lebensjahre an aufgenommen. Mit der Anstalt ist kein Pensionat verknüpft, die Schülerinnen haben aber in Reutlinger Familien gute und billige Verpflegung. Eine eingehende Beschreibung der Anstalt findet man in dem im Verlag von J. Kochers Buchhandlung in Reutlingen erschienenen vortrefflichen Schriftchen „Die Frauenarbeitsschule in Reutlingen, deren Geschichte, Programm und Lehrpläne“ von Rektor Reiniger.

Wohl an 5000 Mädchen und Frauen, allen Kreisen der Gesellschaft, verschiedenen Bekenntnissen, Sprachen und Völkern angehörend, sind dankbare Schülerinnen dieser Anstalt, welche allen eine praktische Bildung für das häusliche Leben gab, vielen zu einer selbständigen beruflichen Stellung verhalf. Als eine Erfahrung erfreulichster Art verdient auch erwähnt zu werden, daß man in solchen Kreisen, in denen man vorzugsweise die Geistesbildung des weiblichen Geschlechts hochschätzt, die Nothwendigkeit einer praktischen Bildung für das Leben und den sittlichen Werth der Erziehung zur Pünktlichkeit und Arbeitstüchtigkeit mehr und mehr erkennt. Es bürgt hierfür wohl der Umstand, daß 65 Prozent von den Schülerinnen der Reutlinger Schule aus höheren Lehranstalten kommen.

Möge jene falsche Sentimentalität, welche meint, daß die Frau nicht zur Arbeit geschaffen sei, mehr und mehr der gesunden Ansicht weichen, daß die Arbeit die rechte Zier jeder Frau, auch der reichsten, ist. Bereits ist ja eine erfreulich lebhafte Bewegung in der Litteratur und im Leben nach diesem Ziele hin erkennbar. Hier möge nur noch zum Schlusse aus dem schon angeführten Schriftchen von Hahn ein Stelle angeführt werden. Er sagt: „Welche Anforderungen werden heute an einen Mann gestellt, und die Frauen sollen nichts von der Last tragen, als wären sie bloß dazu berufen, das mit Aufopferung der Lebenskraft des Mannes Erarbeitete wieder zu zerstören? Das geht nicht. Welcher Mann sollte da nicht vor dem Heirathen überhaupt zurückschrecken, wenn er nur eine solche Frau erwarten darf! Können sich unsere Mädchen noch beklagen, wenn ein Mann vor allem nach Geld sieht, damit er eben solche Ansprüche, welche die arme, wie die reiche macht, von dem Vermögen der Frau auch wieder decken kann? Darum Arbeit und vor allem Erziehung zur Arbeit! Arbeit ist Ehre, Tugend; Betteln und Almosen Schande, Unrecht. Jeder, aber auch jede soll, muß arbeiten, welche arbeiten kann: das ist das erste sociale Gesetz, aber auch das oberste Sittengesetz der Gesellschaft und nicht jene falsch ausgelegte Liebe, ‚jenes ideale Nichtsthun‘, welches nichts ist, als Nehmen. Jeder, der arbeitet, giebt – und es werden der Hilflosen immer weniger, wenn alle bei Zeiten gelehrt werden, sich selbst zu helfen.“




[334]

Seine Mutter.

Von A. Merck.

Das ist Er! Da ist Er!“

„Wo? Welcher ist es?“

„Der erste, mit dem braunen Gesicht und dem weißen Rock – jetzt kannst Du ihn nicht mehr sehen, aber das war er ganz gewiß, ich kenne ihn ja.“ –

Ja, das war Er, der Held des Tages, der berühmte Reisende. Er sah gar nicht danach aus, das heißt, er hatte allerdings eine tiefgebräunte Gesichtsfarbe und einen kräftigen breitschulterigen Körper – im übrigen sah er aus wie ein guter Junge.

Aber die Sommerkolonie Waldeck war anderer Ansicht. Waldeck fand in seinem offenen gutmüthigen Gesicht wilde Energie und tollkühnen Muth, Weltverachtung und Melancholie, Trotz – selbst Grausamkeit – kurz Materialien, um ein halbes Dutzend Romanhelden ganz leidlich auszurüsten – nur war Paul Jung leider kein Romanheld. – Und da sagt man noch der Prophet gilt nichts im Vaterlande! Nichts ist ungerechter als dieser Ausspruch; wenn der Prophet nur gelegentlich sein Vaterland verläßt, wie Paul Jung, und „eine Reise thut“ – dann – so dann kann er was erzählen, und sein Vaterland ist ebenso neugierig wie jedes andere Land und öffnet ihm bereitwilligst Arme, Ohren und Salons, damit er diese Neugierde befriedige.

Früher hatte eigentlich niemand erwartet, daß Paul Jung ein Held werden würde. Er war als einziger Sohn reicher, zärtlicher Eltern nicht eben übermäßig angestrengt worden. Er hatte sich so langsam und friedlich durchs Gymnasium gesessen und geträumt, wie es seiner etwas beschaulichem trägen Gemüthsart entsprach, er war daher einige Jahre später damit zustande gekommen, als es gewöhnlich der Fall zu sein pflegt. Seine Freunde hatten ihn weit hinter sich gelassen in der Jagd nach dem Glück, jeder von ihnen hatte schon ein beträchtliches Stück des Weges zurückgelegt, aus dem er diese leichtfüßige Göttin zu erreichen hoffte. Paul ließ sich, wenn sie ihn besuchten, mit vieler Gutmüthigkeit und träger Bewunderung die Thaten seiner Altersgenossen berichten er lag dann in seinen Sessel zurückgelehnt und sah aus freundlichen, halbgeschlossenen Augen bald zu den Erzählenden hinüber, bald den Rauchwolken seiner kurzen Pfeife nach und war ein vortrefflicher Zuhörer. Sagte dann aber einer oder der andere: „Und Du, Paul? Was willst Du eigentlich thun und werden?“ dann lachte er halb verlegen und sagte wohl: „Werden? – Nun, ich denke, ich werde älter werden und thun? Hm! das weiß ich noch nicht recht – mir scheint, ich werde nirgends sehr nöthig sein, es sind überall schon so viele von Euch und Ihr könnt es alle so viel besser.“

„Aber Mensch, Du bist zu jung, um die Hände in den Schoß zu legen. Jeder soll doch eine Beschäftigung haben, und Du Glücklicher kannst Dir so die suchen, die Dir zusagt.“

„Das kann ich eben gerade nicht,“ meinte Paul dann nachdenklich, „ich verstehe mich gar nicht aufs Suchen. Aber ich denke so wenn es wirklich eine Beschäftigung giebt, die für mich paßt, wird sie schon einmal kommen, mich zu suchen, darauf will ich warten!“

Seine Freunde lachten dann und nannten ihn unter sich einen Müßiggänger oder, wenn sie höflich waren, einen Sonderling.

Uebrigens war Paul kein müßiger Mensch. Er ritt und jagte, schwamm und segelte während der Monate, welche seine Eltern auf dem Lande verlebten, mehrere Stunden am Tage oder auch in der Nacht und füllte die übrige Zeit mit sehr mannigfaltiger Lektüre aus. War man nach der Stadt zurückgekehrt, so nahmen die Sitzungen mehrerer wissenschaftlicher Vereine und Gesellschaften, welchen er angehörte, einen großen Theil seiner Zeit in Anspruch. Seinen Eltern war das Leben, welches er führte, gerade recht. Sie hatten nur den einen Sohn und freuten sich, daß er häuslicher war und mehr mit ihnen lebte als die meisten jungen Leute in seinen Verhältnissen. Sie waren ziemlich nüchterne, ruhige Menschen ohne viel Ehrgeiz oder Phantasien sie wünschten nicht, ihren Sohn durch irgend welche hervorragende Leistungen glänzen oder zu hoher Stellung gelangen zu sehen; sie freuten sich seiner Gegenwart und dachten kaum je über die Zukunft nach.

Um so größer war daher ihre Bestürzung, als Paul eines Tages in ganz vorhergesehener Weise über diese Zukunft entschied. – Er hatte in einer Sitzung der geographischen Gesellschaft einem Vortrag beigewohnt, den der berühmte, eben von einer Expedition zurückgekehrte Afrikareisende Herwig gehalten hatte. Er hatte sich nachher, sehr gegen seine Gewohnheit, dem liebenswürdigen lebhaften Herrn vorstellen lassen und eine Frage an ihn gerichtet, welche gründliche Beschäftigung mit dem angeregten Gegenstand und ungewöhnliches Interesse bekundete. Es hatte sich ein längeres Gespräch entwickelt; Herwig hatte Gefallen an dem jungen Mann gefunden, sie waren zusammen nach Herwigs Wohnung gegangen und hatten sich erst spät in der Nacht getrennt. Am anderen Morgen hatte Jung nichtsdestoweniger zu sehr früher Stunde das Haus verlassen und war auch zum Frühstück nicht zurückgekommen. Das that er öfter, und seine Eltern fingen erst an, sich zu wundern, als er auch zum Mittagessen nicht erschien. Als sie aber den Kaffee einnahmen, trat Paul ein. Er sah bleich und etwas aufgeregt aus, sagte seinen Eltern guten Tag, ging einigemale im Zimmer auf und ab und blieb endlich vor dem Kamin stehen. Die beiden alten Leute tauschten einen verwundertem Blick aus, seine Mutter begann eben sorgenvoll. „Bist Du vielleicht heut’ nicht wohl?“ – als Paul sich rasch zu ihnen umwendete.

„Würdet Ihr sehr erstaunt sein, wenn ich eine größere Reise unternähme?“ fragte er.

„Eine Reise, Paul?“ – sein Vater sah ihn in der That sehr erstaunt an über einen derartigen Entschluß, denn bis dahin war Paul noch kaum aus seiner Vaterstadt herausgekommen

„In eine nicht ganz ungefährliche Reise. Ihr wißt, ich habe mich bis jetzt nicht nach einem Beruf umgesehen, weil ich immer meinte, der Beruf, der mich brauchte, würde sich nach mir umsehen. Ich habe es mir so erklärt. Beruf ist das, was einen Menschen ruft; diesem Ruf war ich aber auch bereit Folge zu leisten, sobald er eben an mich erginge. – Das ist nun heute geschehen.“

Die Mutter sah fragend den Vater an – der Vater schüttelte den Kopf. Beide hatten ihren Sohn noch nie so viel hintereinander und so lebhaft reden hören, sie waren aufs höchste gespannt.

„Ich hatte gestern ein längeres Gespräch mit Doktor Herwig,“ sagte Paul. „Er suchte mir klar zu machen, daß ich der geeignete Mann sei, um mit ihm nach Afrika zurückzugehen. Ich sah das selbst sofort ein, nahm aber noch eine Nacht Bedenkzeit, um nichts Uebereiltes zu thun, heut steht mein Entschluß ganz fest, und ich habe eben alles Nothwendige mit Herwig besprochen und verabredet. Er war sehr befriedigt, daß ich zu dieser Entscheidung gekommen bin, und denkt, wir werden in acht Wochen reisen können. Die Zeit scheint etwas kurz zur Vorbereitung, doch habe ich mich zum Glück gerade in der letzten Zeit eingehender mit diesen Gegenden beschäftigt.“

Er hielt inne und sah jetzt erst, daß seine Eltern sprachlos, entsetzt da saßen. Endlich stand die Mutter auf. Sie war eine ruhige Frau, nicht zu Gefühlsäußerungen neigend, Paul hatte sie nie weinen sehen, er war daher gerührt, als er jetzt zwei große Tropfen über ihre Wangen rinnen sah. Sie sagte langsam: „Ich kann nicht glauben, daß das Dein fester Entschluß ist, Paul!“ – aber ihr schmerzlich resignirter Blick strafte diese Worte Lügen; sie kannte ihren Sohn und wußte, daß seine Willensäußerungen ebenso selten wie unabänderlich waren. Er erwiderte auch nichts, sondern strich vorsichtig mit seiner großen Hand über ihr Gesicht, um die Thränen fortzuwischen. Auch der Vater war aufgestanden und sah ihn fragend an. Paul nickte und drückte ihm kräftig die Hand. „Ihr werdet mir keine Schwierigkeiten in den Weg legen wollen.“ Der Alte wich seinem Blick aus und blinzelte zu der Frau hinüber. „Wir sind alte Leute, Paul. Deine Mutter –“ aber sie fuhr heftig dazwischen. „Meinetwegen nicht! Denke nicht an uns in dieser Sache, wir können uns nur freuen, daß wir Dich so lange gehabt haben. Wenn Du glaubst, daß Du gehen mußt, so bin ich die letzte, die Dich zurückhalten wird.“ Sie fuhr sich jetzt selbst entschlossen mit der Hand über die Augen, die aber schon wieder getrocknet waren, und wandte sich zum Gehen. An der Thür blieb sie einen Augenblick stehen. „Du sagst mir dann noch, was Du zur Reise brauchst –“ damit ging sie hinaus.

Sie hatte auch in den acht Wochen, die Paul noch im elterlichen Hause verlebte, kein Wort der Klage oder des Vorwurfs, [335] und ihr Mann folgte einer nunmehr beinah dreißigjährigen Gewohnheit und richtete sich in allem nach seiner Frau. So ging ihr altes friedliches Leben zu dreien in dieser Zeit scheinbar ungestört weiter. Nur stockte bei den Mahlzeiten jetzt oft das Gespräch, welches freilich nie sehr lebhaft gewesen war, und in unbewachten Momenten hingen die Blicke der Frau an ihrem Sohn mit einer sorgenvollen Zärtlichkeit, welche diesen ruhigen, beinah harten Zügen sonst fremd war und der sie auch niemals Worte lieh. Dem Vater wurde es schwerer, seine Gefühle so zu beherrschen. Zuweilen, wenn die drei am Kamin saßen, räusperte er sich eine Weile und fing endlich an: „Paul, mein Sohn –“

Dann warf ihm aber seine Frau einen strengen Blick zu und schüttelte fast unmerklich den Kopf, und der arme Alte stand auf, ging zu dem Sohn, klopfte ihm auf die Schulter und sagte in halbklagendem Ton:

„Paul, mein Sohn, ich gehe jetzt meine Zeitungen lesen.“

„Also auf Wiedersehen, Vater!“ sagte dann der Sohn und nickte ihm freundlich zu.

„Also auf Wiedersehen!“ sagte er, als er auf dem Bahnhof seinen Eltern zum letztenmal die Hand drückte.

„Ach wann, mein Sohn Paul?“ sagte der Vater und seufzte tief.

„Nun, ich denke und hoffe, in längstens zwei Jahren wieder hier zu sein und Ihnen Ihren Sohn sicher wiederzubringen!“ rief Doktor Herwig fröhlich.

Frau Jung warf ihm einen feindlichen Blick zu und trat zu ihrem Sohn, indem sie Herwig halb den Rücken wendete. Sie hatte sich wortlos darein gefunden, daß Paul den gefährlichen und mühevollen Weg eines Forschungsreisenden einschlagen wollte, aber den, der ihn auf diesen Weg geführt hatte, haßte sie.

„Lebe wohl, Paul!“ sagte sie und hielt seine beiden Hände mit männlich festem Druck. „Ich habe Dir keine Hindernisse in den Weg gelegt, das Zeugniß mußt Du mir geben. Aber nun, ehe Du Dich dort unten muthwillig in eine Gefahr begiebst, denke auch an Deine Eltern, die in der Welt nichts haben außer Dir!“

Sie trat zurück und sah ihn noch einmal an. Da verzog sich ihr Gesicht plötzlich wie in äußerstem körperlichen Schmerz. Paul wollte rasch auf sie zutreten, aber sie winkte ihm abwehrend mit der Hand, wandte sich um und war bald im Gewühl des Bahnhofs verschwunden. Als ihr Mann, der bis zur Abfahrt des Zuges geblieben war, um seinen Sohn wieder und wieder ein letztes Mal zu umarmen, etwas später nach Hause kam und besorgt in ihr Zimmer trat, fand er sie in ihrer gewohnten ruhigen Art ihren Beschäftigungen nachgehend.

* * *

Paul blieb ein Jahr und sieben Monate fort, und diese Zeit verging den beiden alten Leuten sehr langsam. Zwar thaten die Freunde das Ihrige, um sie ihnen zu verkürzen, und die verwaisten Eltern erkannten das dankbar an; außerdem kamen Pauls Briefe. Sie kamen natürlich selten und in unregelmäßigen Zwischenräumen; aber jeder Brief war ein Ereigniß. – Wie herrlich konnte er aber auch schreiben, dieser so ruhige, träumerische Mensch! Die Augen der alten Leute strahlten und ihre Herzen erwärmten sich an dem Feuer dieser Schilderungen. Der Träumer war erwacht, der Unthätige hatte seinen Beruf – oder vielmehr sein Beruf hatte ihn gefunden.

„Ich danke es meinen Sternen,“ schrieb er, „daß sie mich verhindert haben, mein Leben an irgend eine gleichgültige Thätigkeit fortzuwerfen, die mir keine Befriedigung gegeben hätte, während ich jetzt erst weiß, was es heißt, zu leben. Ich bedaure die anderen Menschen, die das nie erfahren werden. Hier fühlt man es bei jedem Athemzug, man lebt so kräftig mit Augen und Ohren, Händen und Füßen, Vernunft und allen Sinnen, wie man es in unseren zahmen, lauwarmen, abgeschlossenen Verhältnissen nie könnte.“

Solche Stellen unterdrückte Frau Jung, wenn sie „Pauls letzten Brief“ dem Kreis der Freunde vorlas, die sich dazu stets mit dem lebhaftesten Interesse versammelten. „Sie würden es doch nicht verstehen, es nur für den gewöhnlichen Hochmuth des Reisenden halten, der auf sein Vaterland herabsehen will,“ sagte sie zu ihrem Mann. Aber die Schilderungen von Land und Leuten, von Jagden und halsbrechenden Fahrten über Stromschnellen, von merkwürdigen, neuentdeckten Thieren und Pflanzen las sie vor und genoß die Bewunderung der Freunde schweigend, aber gründlich.

Einmal schrieb Paul in lebhafter Erregung über die Entdeckung einer Insel, die er auf einer einsamen Expedition gemacht hatte. Sie lag in einem der gewaltigen Seen, war gänzlich unbewohnt und erfreute sich einer besonders mannigfaltigen und glänzenden Flora und Fauna. Doktor Herwig hatte ebenfalls eine begeisterte Schilderung eingesendet, welche sogar Frau Jung milder gegen ihn stimmte.

„Ihr Sohn ist zum Forschungsreisenden geboren,“ schrieb er. „Er ist ein unschätzbarer Gefährte für mich. Wir haben die neu entdeckte Insel ‚Pauls-Insel‘ genannt, ich wollte, Sie könnten sie sehen. Hätten Sie nicht Lust, überzusiedeln? Es ist der Mühe werth!“

„Es ist eine kleine Perle,“ schrieb Paul, „wollen wir uns da ein Königreich gründen? Kommt herüber; Ihr müßt mir aber noch eine hübsche kleine europäische Königin mitbringen, denn eine schwarze Schwiegertochter werdet Ihr Euch doch nicht wünschen.“

Einige Photographien und Zeichnungen von seiner Insel lagen dieser Sendung bei und gingen von Hand zu Hand. Ueberall wurden Ausrufe der Bewunderung laut. – Die aufmerksamste Zuhörerin war auch die jüngste des ganzen Kreises. Ein reizendes zierliches kleines Persönchen, zwischen Kind und Dämchen, mit kurzen blonden Locken, die sie von Zeit zu Zeit mit ihren schlanken Fingerchen ungeduldig von der Stirn zurückschob, über die sie immer wieder fielen. Die großen blauen Augen hingen gebannt an den Lippen der Vorleserin, und ein immer tieferes Roth stieg in das liebliche Kindergesicht und färbte dasselbe schließlich bei der Stelle von der hübschen kleinen europäische Königin bis all die Haarwurzeln. Wie hilfesuchend wendete sich die zierliche Kleine an die neben ihr sitzende Mutter, und diese lächelte ihr zu, indem sie ihr die Ansichten von der Pauls-Insel reichte, welche sie eben aufmerksam betrachtet hatte. Ada breitete diese vor sich aus, stützte den Kopf in beide Hände und versank gänzlich in das Studium dieser Blätter.

Von jenem Tage an geschah in Adas innerstem Heiligthum eine große Veränderung. Eine Anzahl älterer Bilder ihrer Anbetung wurden mit ebenso großem Eifer gestürzt, wie sie einst errichtet worden waren, und auf einsamem Sockel erhob sich eine Gestalt, in welcher nur die begeisterte Priesterin das Urbild erkennen konnte. Es war eine Gestalt wie die Riesen der Vorzeit, mit hoch erhobenem Haupt, mit großen dunklen Augen, die von innerem Feuer strahlten und leuchteten, mit langherabwallenden Locken – ach, Ada! sehr lang war das schlichte Haar Deines Helden nie gewesen, aber wenn Du es jetzt hättest sehen können, dicht abrasirt, nur wie eine braune Farbe den runden, etwas dicken Kopf bedeckend! – Um dieses Götterbild wehten und rauschten Palmen, dufteten seltsam prächtige Blumen in leuchtenden Farben. Bunte Vögel flogen durch diesen Märchenwald, und die kleine Priesterin lauschte stundenlang ihrem Gesang und berauschte ihre phantastische Seele an den fremdartigen Gebilden. Mit einem Wort, und um es in unserem geliebten Deutsch auszudrücken: Ada Laurin liebte Paul Jung!

Ada Laurin war einzige Tochter ihrer Eltern, wie Paul Jung einziger Sohn der seinigen war. Die beiden Familien verkehrten seit langen Jahren ziemlich nahe, Ada hatte oft Gelegenheit gehabt, Paul zu sehen und mitunter, wenn er gerade dazu aufgelegt war, auch ihn reden zu hören, aber wir müssen gestehen, daß sie diese Gelegenheiten ziemlich ungenützt hatte vorübergehen lassen. Damals wäre es ihr auch nicht entfernt in den Sinn gekommen, einen Helden in ihm zu sehen, damals entsprach ihr Vetter, der Lieutenant, der tollkühne Reiter, gewandte Tänzer und gefürchtete Pistolenschütz, viel mehr ihrem männlichen Ideal. Aber dann war Paul eines Tages zu ihren Eltern gekommen, lebhaft, munter, mit leuchtenden Augen, wie sie ihn noch nie gesehen hatte – er sah wirklich hübsch aus. Er hatte die Familie aufs äußerste überrascht, indem er, so gemüthlich und selbstverständlich, als handle es sich um eine vierzehntägige Ferienreise, erzählte, daß er eine Forschungsreise nach Innerafrika machen würde. Ada hatte ihn mit großen Augen angesehen, er war unsäglich in ihrer Achtung gestiegen; während der halben Stunde, welche sein Besuch dauerte, verwandte sie keinen Blick von ihm und entdeckte in dieser Zeit, daß er einen höchst bedeutenden Kopf habe. Sie begriff gar nicht, daß sie das früher nie bemerkt haben sollte, obwohl es ihr jetzt ganz klar war, daß sie immer eine besonders gute Meinung von Paul gehabt hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto schwerer [336] erschien es ihr, ihn nun auf unbestimmte Zeit in diese fernen gefährlichen Länder ziehen zu sehen, aus denen er vielleicht niemals wiederkehren würde – nie – o Gott, wie traurig! Dieser frische, lebenslustige, gesunde Mann, der da neben ihr saß und sie so treuherzig mit seinen braunen Augen anlachte! – Unwillkürlich ergriff Ada seine Hand und sagte rasch:

„Nicht wahr, Sie nehmen sich in acht und kommen gesund wieder?“

Ein tiefes Roth überzog ihr Gesichtchen bei diesen theilnehmenden Worten, und Paul, von dem warmen Ton ihrer Stimme angenehm überrascht, schüttelte kräftig die kleine zitternde Kinderhand und sagte herzlich:

„Ich danke Ihnen, liebe Ada, ich werde ganz gewiß wiederkommen.“

Adas Eltern wechselten einen raschen Blick, und als sich nun Paul erhob, um fortzugehen, drückte ihm auch Frau Laurin mit einiger Rührung die Hand und sagte:

„Ada hat recht, lieber Paul, sorgen Sie, daß Sie gesund wiederkommen, um Ihrer Eltern und – um Ihrer Freunde willen!“ –

Das war der Abschied gewesen, und seit jener denkwürdigen Stunde hatte Adas Phantasie rastlos an dem Bilde ihres neuesten Helden gearbeitet, bis sie eine Art Halbgott aus ihm gemacht hatte. Jeder seiner Briefe gab der Flamme neue Nahrung, und sie brannte mit einer Beständigkeit, welche Adas Mutter an ihrem etwas flatterhaften Liebling unbegreiflich erschien und eigentlich Ada selbst ein wenig befremdete. Ihre Neigungen waren sonst ebenso kurz wie heftig, ein Nichts konnte sie erwecken und zerstören und kein tieferes Gefühl hatte bis dahin in ihrem leicht beweglichen Gemüth Wurzel geschlagen. Jetzt nahmen Frau Laurins Züge oft einen besorgten Ausdruck an, wenn ihr Liebling stundenlang nicht müde wurde, von Paul zu reden. – So angenehm ihr dieses im übrigen war, so schien ihr doch der Gedanke schrecklich, ihr einziges Kind an einen Afrikareisenden zu verheirathen und sie sann ernstlich darüber nach, wie sie Ada vor Pauls Rückkehr auf andere Gedanken bringen könnte.

Die günstigste Gelegenheit bot sich unverhofft und wurde von Frau Laurin mit Lebhaftigkeit ergriffen. Eine reiche, kinderlose Verwandte, Adas Firmpathe, lud diese ein, sie auf ihrem Schloß zu besuchen, welches in schönster Gegend gelegen und der Mittelpunkt einer glänzenden Geselligkeit war. Ada schwamm denn auch bald in Seligkeit und Bällen, und ihre kurzen Briefchen handelten nur von Festen und Huldigungen. Die ersten begannen noch regelmäßig mit der Frage: „Was sind von Paul für Nachrichten gekommen?“ Dann wurde dies Hauptinteresse in eines der zahlreichen Postskripte verbannt, endlich versiegte es fast gänzlich. Dies beruhigte Frau Laurin außerordentlich, und um so mehr, als sie die Frage gar nicht mehr hätte beantworten können. Die Nachrichten von Paul waren plötzlich ausgeblieben, und Tag auf Tag, Woche auf Woche war vergangen, ohne daß seine Eltern ein Lebenszeichen von ihrem einzigen Sohn erhielten. – Frau Laurin war aufrichtig betrübt für ihre alten Freunde und aufrichtig froh, daß Adas Herz doch nicht allzu fest an Paul Jung gehangen zu haben schien. Sie traf das verwaiste Ehepaar zuweilen auf der Straße, und dann sah sie schon an dem stumpfen, trostlosen Ausdruck ihrer Gesichter, daß noch keine Nachrichten gekommen waren, sparte die stereotyp gewordene Frage und drückte nur schweigend den armen Eltern die Hand. – Dann wurden die Frühlingstage länger und wärmer, ihre Bekannten verließen Wien, und auch sie rüstete sich zur Sommerreise. – Laurins und Jungs pflegten seit Jahren den Sommer und Herbst in Waldeck zuzubringen, wo jede der beiden Familien ein kleines Bauernhaus gekauft und wohnlich eingerichtet hatte. Man reiste an demselben Tage von Wien ab und hielt auch in Waldeck gute Nachbarschaft. Frau Laurin hielt es daher doch für geboten, einige Tage vor ihrer Abreise bei Jungs anzufragen, ob sie diesmal nicht mitgehen wollten. Der Besuch wurde ihr schwer, denn obwohl sie ein gutes Herz hatte, machte sie gewöhnlich lieber einen Umweg, um Unglück nicht zu sehen. Aber sie hätte nicht nöthig gehabt, sich zu ängstigen. Der Diener sagte, die Herrschaften könnten leider niemand empfangen, vom jungen Herrn wären noch keine Nachrichten da. – Am nächsten Morgen erhielt sie ein kurzes Billet von Frau Jung, worin diese meldete, sie würden vorläufig nicht nach Waldeck gehen, aber sie wünschten den Freunden eine glückliche Reise.

Dann war Frau Laurin abgereist und hatte die alten Freunde zuerst lebhaft in Waldeck vermißt. Indessen machte sie dort bald interessante Bekanntschaften. Endlich kam Ada von ihrer Pathe zurück, strahlend von Frische und Lebenslust, und über den lebhaften Erzählungen ihres Lieblings, um den sich auch hier gleich wieder ein huldigender Kreis bildete, wurde der arme Paul fast vergessen.

Da brachte plötzlich die Zeitung die Nachricht, daß die verloren geglaubte Expedition des Doktor Herwig nach unendlichen Mühen und Gefahren doch in Loanda angelangt sei. Die Karawane habe große Verluste erlitten, dieselben wurden besprochen, dann fuhr der Berichterstatter fort: „Doktor Herwig selbst und sein junger Gefährte, unser kühner Landsmann Paul Jung, gedenken, sobald sie von ihren Strapazen wieder hergestellt sind, nach Europa zurückzukehren, wo die Ihrigen sie schon für todt betrauert hatten.“

Laurins erließen sofort ein langes Glückwunschtelegramm an Jungs; doch sah Frau Laurin mit leiser Besorgniß, wie Adas Gesicht glühte, als sie wieder und wieder die Zeitungsnachricht las. An demselben Tage noch schrieb die vorsichtige Mutter an Adas Vetter und treuesten Verehrer, den Lieutenant, und forderte ihn dringend auf, einige Zeit in Waldeck zuzubringen. – Einige Zeit darauf kamen Laurins in der Abenddämmerung von einem Spaziergang um den See zurück. Die Eltern voran, Ada und ihr militärischer Vetter laut plaudernd und lachend hinter ihnen. Da kamen ihnen auf dem schmalen Weg einige Gestalten entgegen, die ihnen schon von weitem bekannt schienen. Als sie näher gekommen waren, rief Herr Lanrin in höchstem Erstaunen: „Das sind ja Jungs!“ – und eilte den Freunden entgegen. „Das nenne ich eine Ueberraschung! Aber weshalb habt Ihr es uns gar nicht wissen lassen, daß Ihr kommt, und seit wann seid Ihr hier?“

„Nicht lange,“ sagte Frau Jung, „Paul hatte großes Verlangen nach Ruhe und Bergluft“ – sie betonte merklich das Wort Ruhe –, „da kamen wir her.“

„Paul – ah, da ist er ja, unser Held! Willkommen, Paul, willkommen daheim, herrlicher Dulder Odysseus!“ und Laurin schüttelte dem nun herangetretenen jungen Mann beide Hände. Ada hatte sich zwischen ihre Eltern gedrängt und stand nun blaß und tiefathmend vor Paul. Da war er – ihr Held! Der weiße Anzug, den er trug, ließ Gesicht und Hände noch dunkler erscheinen, aber das Gesicht war schmaler geworden und zeigte auch im übrigen noch Spuren der überstandenen Leiden und Entbehrungen. Dennoch war Paul unzweifelhaft zu seinem Vortheil verändert, er sah gereifter und männlicher aus. Sein altes freundliches Lächeln hatte er aber noch und es erhellte seine treuherzigen braunen Augen und spielte um seinen Mund, als er jetzt Adas Hand in seinen beiden hielt. Sie fand vor Aufregung keine Worte und erst auf sein theilnehmendes „Wie ist es Ihnen ergangen, liebe Ada?“ sagte sie tiefathmend:

„O, mir – was liegt daran, aber Sie haben solche Gefahren bestanden, lieber Paul; wir haben schreckliche Angst um Sie gehabt!“

Frau Jung lächelte etwas geringschätzig.

„Es sieht von weitem gewöhnlich schlimmer aus, als es ist,“ meinte Paul gutmüthig, „ich erzähle Ihnen wohl gelegentlich davon.“

Frau Jung machte eine leichte Gebärde der Ungeduld. „Paul, ich fürchte, wir halten die Herrschaften auf. – Adieu, adieu!“

„Auf Wiedersehen!“ sagte Ada mit leuchtenden Augen zu Paul, der ihre kleine Hand noch festhielt, und man trennte sich.

Ach, arme Frau Laurin! Als sie spät abends an Adas Zimmer vorbeiging, sah sie zu ihrem Erstaunen noch Licht und öffnete die Thür. Ada saß am geöffneten Fenster mit zurückgelehntem Kopf und sah mit weitgeöffneten strahlenden Augen zu einem Lichtschimmer am jenseitigen Seeufer hinüber. Frau Laurin folgte der Richtung ihrer Augen und sah, daß dieser Lichtschein von dem Jungschen Hause ausging. Als sie kopfschüttelnd ihre Hand auf Adas Schulter legte, fuhr diese zusammen, dann sprang sie stürmisch auf und fiel ihrer Mutter um den Hals.

„Was hast Du Ada?“

„Mutter, Du fragst?“

„Aber Ada, Du hattest ihn ja längst vergessen!“

„Vergessen, Mutter? Etwa weil ich nicht nach ihm fragte, nicht von ihm sprach? O Mutter, ich habe Tag und Nacht an ihn gedacht!“ Und das leidenschaftliche Kind glaubte wirklich in diesem Augenblick alles, was es sagte. „Sei gut, Mutter, freue

[337]

Lenzeslust.
Nach einer Zeichnung von R. Püttner.

[338] Dich mit mir! Er ist wieder hier, da! da!“ und sie wies nach dem Licht drüben. „Jetzt wollen wir ihn hier festhalten, Mutter!“

„Und Günther?“ sagte Frau Laurin vorwurfsvoll.

Ada hielt ihr den Mund zu: „Nicht doch, nicht doch! Wie kannst Du Günther mit Paul vergleichen! Günther ist ein guter Junge, und Paul ist ein Held. Gute Nacht, liebe süße Mutter! Morgen wird er kommen, nicht wahr?“

Aber Paul kam nicht. Zwei, drei Tage vergingen, und Paul ließ sich nicht sehen. Adas Ungeduld erreichte den Höhepunkt. Ganz Waldeck sprach nur von Paul Jung. Die zahlreichen jungen Mädchen besonders, welche sich zur Zeit in Waldeck aufhielten, hatten plötzlich alle möglichen zwingenden Gründe, um an dem kleinen Haus am See vorbeigehen zu müssen. Aber es half ihnen nicht viel. Zwar konnten sie öfter den Helden vor dem Hause an einem großen, mit Karten und Büchern bedeckten Tisch sitzen sehen, aber er war so vertieft in seine Arbeit, daß er fast niemals aufsah. Seine Eltern saßen gewöhnlich dabei, und der Vater grüßte mit verbindlichem Lächeln, während Frau Jungs Züge oft einen ironischen Ausdruck zeigten, bei welchem den harmlosen Spaziergängerinnen nicht ganz wohl zu Muthe war. So ruhig bei einander sitzend, arbeitend und plaudernd verbrachten die Eltern und der Sohn jeden Tag. Abends konnte man sie dann alle drei auf einem von Waldecks reizenden Spaziergängen am See oder im Wald treffen. Dies war denn auch die Zeit, welche alle möglichen Bekannten und Nichtbekannten benutzten, um ihnen zufällig zu begegnen und ein Gespräch anzuknüpfen, aber – man wußte nicht recht, wie es kam – diese Bestrebungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Nicht besser erging es selbst alten Freunden. In den ersten Tagen nach Pauls Ankunft schon häuften sich die Einladungen auf einer Ecke des Arbeitstisches zu einem kleinen Berge, aber es erfolgte auf alle dieselbe verneinende Antwort: er sei leider nicht imstande, seine Gesundheit sei noch etwas angegriffen, und alle freie Zeit müsse er seiner Arbeit widmen – im übrigen – u. s. w. Die Freunde waren wohl etwas gekränkt, aber schließlich fanden es die meisten doch begreiflich, daß Paul sich nach so langer Abwesenheit ausschließlich seinen Eltern widmen wollte. Nur Ada konnte und wollte das nicht begreiflich oder verzeihlich finden und war geneigt, nur eine gegen sie persönlich gerichtete Rancune von Frau Jung darin zu sehen.

„Sie hat etwas gegen mich, Mama!“ rief das verzogene Kind mit strömenden Thränen. „Sie ist eifersüchtig, sie gönnt ihn uns nicht! Wie eng haben wir früher mit Jungs verkehrt, und jetzt weichen sie uns förmlich aus. Paul sagte damals, er würde bald kommen, aber sie erlaubt es ihm nicht!“

Die zärtliche Mutter, welche erst so sehr gefürchtet hatte, Ada könnte ein tieferes Interesse für Paul fassen, war jetzt schon so weit gebracht, daß sie ebenfalls im Innersten gekränkt und empört über „Frau Jungs Manöver“ war. „Was will sie denn für ihren Paul,“ meinte Adas beleidigte Mutter, „wenn ihr mein Kind nicht gut genug ist? Sie könnte Gott danken, wenn er das liebe Mädchen heirathet und seine verrückten Expeditionen aufgiebt!“

Aber der Zorn von Mutter und Tochter erreichte den Höhepunkt, als sie eines Abends, von ihrem gewohnten Spaziergang zurückkommend, die Karten von Paul und dem Jungschen Ehepaar vorfanden. Ada wurde glühendroth und stampfte mit dem kleinen Fuß. „Siehst Du jetzt, daß es Absicht ist, Mama? Sie weiß ja, wann wir ausgehen; das hat sie benutzt, Pauls Schuld ist es sicher nicht – diese häßliche Frau! Du darfst es nicht dulden, Mama!“ Und dann folgte ein so heftiger Thränenstrom, daß Frau Laurin sich schwor, sie würde es allerdings nicht dulden, sondern morgen schon ein ernstes Wort mit dieser verblendeten Mutter sprechen.

(Schluß folgt.)




In Rotten Row.

Ein Bild aus dem Londoner Leben. Von Wilh. F. Brand.

Die faule Gasse“ ist eine paradoxe Bezeichnung für den allgemein anerkannten Sammelplatz der vornehmen Welt Englands. Und doch heißt „Rotten Row“ nichts anderes, wie viel man auch versucht hat, daran zu drehen und zu deuten. Es als eine verderbte Form von „Route du roi“ hinzustellen – genannt, weil der König von St. James’ Palast kommend auf dieser Route nach seinen Jagdgefilden gezogen sei – ist zwar genial genug, „die Königs-Route“ klingt auch so viel hübscher; das ist aber leider eine von jenen Erklärungen, bei denen mehr untergelegt als ausgelegt wird, um so mehr, als Rotten Row in früheren Zeiten thatsächlich eine recht „faule“ Gegend gewesen sein muß. Allein was liegt an einem Namen? Gäbe es überhaupt eine „Route du roi“ in England, so müßte jedenfalls diese Strecke gemeint sein: die langen Alleen an der südlichen Seite des Hyde Park, vorn Hyde Park Corner bis Queen’s Gate. Denn etwas Großartigeres, als Rotten Row in seiner Art während der Saison bietet, ist in und außerhalb Englands kaum denkbar.

Genau genommen gilt der Name „Rotten Row“ nur von der breiten Reitallee, auf der zu gewissen Stunden des Tages viele Hunderte von Reitern und Reiterinnen sich einfinden. Für gewöhnlich aber schließt man in die Bezeichnung auch die parallel mit derselben laufende „Ladies’ Mile“ ein, die etwa einen Kilometer lang ist und in ihrer ganzen Ausdehnung oft vier dichtgedrängte Reihen von Equipagen neben einander aufzuweisen hat. Zu Rotten Row im weiteren Sinne gehören auch die breiten Fußwege, in denen Spaziergänger für einen Penny auf einem der die Allee entlang aufgestellten Brettstühle die müden Gliedmaßen ausruhen können.

Wohl mögen die Champs Elysées noch mehr Abwechselung bieten und insofern interessanter sein; der Prater in Wien, der Thiergarten in Berlin, sie haben alle ihre besonderen Reize, allein in Bezug auf Glanz und Reichthum, auf solide Pracht steht Rotten Row unerreicht da. Schon der Umstand, daß gar keine Droschken zugelassen werden, sondern nur Privatwagen, giebt dem Treiben dort etwas Gewählteres, Feineres. Droschken sind zwar im Korso des Berliner Thiergartens auch ausgeschlossen, gleichwohl aber herrscht dort lange nicht eine auch nur annähernde Pracht wie in Rotten Row. Welch edle Rosse traben hier vor den eleganten Equipagen! Viele Familien halten für die Parkfahrt und dergleichen besondere Gelegenheiten auch ihre besonderen Pferde. Das mag für ausnehmend hochgestellte Persönlichkeiten natürlich und einfach sein; allein ich kenne zahlreiche Familien, die sich nicht gut ein Doppelgespann von Pferden leisten können oder wollen. Um das eine Gespann daher in parkfähigem Zustande zu erhalten, brauchen sie dasselbe nur für den Park und besondere Gelegenheiten und nehmen sich sonst einen Miethswagen.

Und nun die englischen Damen! Schon 1698 heißt es in Poor Robin’s Almanack:

„Now in Hyde Park, if fair it be,
A show of ladies you may see.“

Das heißt in ein gleich prosaisches Deutsch übersetzt:

„Hyde Park bei guter Witterung
Ist eine Damenausstellung!“

Die Zahl der Damen ist heute noch viel größer, und was ihre Schönheit betrifft, so können sie sich den Schönen aller anderen Nationen getrost zur Seite stellen. Wie frisch und zart ist schon der Teint!

„Wenn sie eben frisch aufgelegt haben,“ könnte wohl ein sarkastischer Beobachter einwerfen.

Es ist wahr, englische Damen „legen sich nur zu häufig was auf“, aber die Hautfarbe der meisten ist so ausgezeichnet, daß sie dazu gar nicht in Versuchung kommen sollten. Immerhin lassen sie noch Stoff genug für die Diener übrig, die in den ganz vornehmen Häusern sich das Haar damit pudern. Auf solch einen gepuderten Dienerkopf war vordem weislich eine jährliche Steuer von 5 Pfd. Sterl. gesetzt. Aber das that der Sitte oder Unsitte wenig Abbruch; im Gegentheil, manche Herrschaften wurden sich dadurch erst bewußt, daß dieses Dienerpudern thatsächlich einen Werth ausdrückte, und hielten nur um so fester an der althergebrachten Gewohnheit. Auffallenderweise ist aber diese so wohlangebrachte Steuer vor etlichen Jahren wieder abgeschafft worden. Die Kutscher tragen, wenn die Diener gepudert sind, weiße Perücken und sitzen dann häufig allein auf dem Bock, während jene einzeln oder auch zu zweien hintenauf stehen, in buntfarbenen sammetnen Kniehosen, hellseidenen Strümpfen und Schnallenschuhen. Unbeweglich stehen sie da, als wären sie zu nichts anderem gut, als durch die strotzende Fülle unter den schwellenden Strümpfen sich hervorzuthun.

Bei Anblick dieser prunkhaften Schau fährt mir allemal ein seltsamer Kitzel in das Spazierstöckchen, als wollte es sagen: „Laß mich doch einmal draufklopfen, zu sehen, ob das wohl alles echt ist!“

Wie Diener, Pferde und Wagen, so sind auch die eigentlichen Besucher von Rotten Row in vollem Putz. Die Toilette der Damen deutet schon zur Genüge an, daß wir uns in einem reichen Lande befinden, aber auch in einem Lande, wo der Geschmack in Bezug auf Kleidung in steter Besserung begriffen ist. Unter englischen Herren stellt man sich auf dem Festlande kaum etwas anderes vor als in karriertes Grau gehüllte Individuen, deren Tracht aber manchen jungen Herrchen dort verlockend genug erscheint, um sie, mit möglichster Vergrößerung der Karrees, sich zum Vorbild zu nehmen. Diese Nachahmer scheinen aber ganz und gar der Thatsache unkundig zu sein, daß der Engländer jene Stoffe, die für die Reise auch recht geeignet sind, eigentlich nur als Tourist trägt. Es würde aber keinem Gentleman einfallen, darin einen Besuch zu machen oder sich im Park darin zu zeigen. Hier erscheint er nicht ohne langen dunklen Gehrock und den unvermeidlichen Cylinder.

Im Parke bekommt man auch ein paar richtige englische Krieger in voller Uniform zu sehen, ein seltener Anblick in dem unkriegerischen England. Unmittelbar an Rotten Row steht, als wäre sie ein Schaustück für die Besucher des Parkes, die Kaserne der Life Guards, und vor derselben sind, wie sich’s gebührt, zwei Kürassiere in voller Waffenrüstung aufgepflanzt, große stramme Kerle, das läßt sich nicht leugnen, auf denen die Blicke des vorübergehenden Briten mit Wohlgefallen ruhen. Diese zwei grimmen Krieger müssen es sein, die ihn von der Unüberwindlichkeit [339] der britischen Waffen immer aufs neue überzeugen. Allein so gern und unumwunden ich die stattliche, martialische Erscheinung der Leibgarde anerkenne, kann ich mich beim Anblick dieser beiden Posten doch des Gedankens nicht erwehren, ob, dafern sie durch ihr Strammen und Strecken und Steifen und Spreizen sich plötzlich ein Leids anthäten, wohl gleich zwei andere Waffenbrüder bei der Hand wären, ihre Stelle auszufüllen? Denn nur gering ist die Zahlenstärke dieses den patriotischen Busen des Briten schwellenden Trupps.

Wesentlich verschieden von dem Bild, das Rotten Row an den Wochentagen bietet, ist dasjenige des Sonntags. Nicht nur Sonntagsreiter, sondern auch Sonntagsfahrer stehen auf dem Londoner Boden in üblem Ruf, theils aus religiösen Anschauungen, vornehmlich aber aus dem rein menschlichen Grundsatze, daß am Sonntag auch den Pferden und besonders auch dem Kutscher Ruhe zukommt. Sind das eigentliche Rotten Row und die Ladies’ Mile an diesem Tage daher verödet, so sind die angrenzenden Promenaden um so mehr überfüllt, und die langen Reihen von Holzstühlen, die hinter einander auf dem Rasen aufgestellt sind, erinnern an ein großes Theaterparkett, vor dem das promenirende Publikum vorbei defilirt, sich selbst und die eleganteste Toilette bewundern zu lassen. Kommen doch die Schönheiten der letzteren auf diese Weise noch besser zur Geltung, als wenn die Inhaberinnen derselben im Wagen eingezwängt säßen.

Eine verhältnißmäßig große Anzahl der sonntäglichen Rotten Rowbesucher sind Ausländer, die, der englischen Sonntagsstille müde, im Park heimathlicher Gewohnheiten pflegen. Selbst das Lustwandeln an einem so viel besuchten Orte würde in den Augen mancher Engländer als ein sabbathwidriges Unterfangen erscheinen. Die Prediger der Heilsarmee und anderer religiöser Genossenschaften fehlen daher auch nicht. Sie stehen etwas abseits auf den weiten Rasenflächen – bis unmittelbar an die Promenade dürfen sie nicht kommen! – und strengen ihre Lungen gewaltig an. Es bildet sich auch stets bald um den Priester ein kleiner Kreis von Zuhörern, theils Gläubigen, theils Spöttern, die zur Abwechslung dann und wann unter freiem Himmel eine Hymne anstimmen. Daneben spielt seit einigen Jahren auch eine Militärkapelle, eine Neuerung, die nicht nur den Parkpredigern, sondern auch vielen anderen Engländern als ein Werk des Satans erscheint, während sie doch, von einzelnen wohlhabenden Privatleuten ins Leben gerufen, den niederen Klassen Londons die so seltene Gelegenheit giebt, ganz erträgliche Musik umsonst zu hören.

Wer die niederen Elemente der Bevölkerung vermeiden wollte, promenirte früher am Sonntag nachmittag im Zoologischen Garten, zu dem an diesem Tage nur Aktionäre desselben Zutritt haben. Eine Aktie kann man sich schon für zwei Guineen erwerben, und viele bezahlten dieselben gern, nicht aus Interesse an der Thierwelt, sondern wegen des Zutritts zu der Promenade.

Seit einigen Jahren aber ist der „Zoo“ ganz und gar vernachlässigt, und Rotten Row, wohin jedermann unbehindert Zutritt hat, ist an Sonntagen wie an Wochentagen fast ausschließlich der Versammlungsort der vornehmen Welt geworden.




Blätter und Blüthen.

Die Sonne als Brandstifterin. In heißen Ländern soll der Wüstensand durch die Sonnenstrahlen derart erhitzt werden, daß man in ihm Eier kochen kann. Daran glauben die Menschen; ungläubig aber pflegen die meisten den Kopf zu schütteln, wenn man ihnen sagt, daß die Sonnenstrahlen die Ursache eines Brandes bilden können. Die Sonne als Brandstifterin zu brandmarken, das scheint vielen mindestens übertrieben, und dennoch ist jene Anschuldigung wahr.

Häufig sind solche Fälle glücklicherweise nicht, aber die Geschichte des Feuerlöschwesens verzeichnet eine ganze Reihe von Bränden, in welchen die Wärme der Sonnenstrahlen als Brandursache ermittelt wurde.

In Brookfield, Massachusetts, ließ ein Bauer eine Jacke mit Streichhölzchen in der Tasche auf einem Blocke hängen, die Sonne schien darauf, die Streichhölzer entzündeten sich und die Scheuer gerieth in Brand. Das ist ein einfacher Fall, an dessen Glaubwürdigkeit niemand zweifeln wird. In unsern technischen Betrieben haben wir aber eine ganze Reihe leicht entzündlicher Stoffe, deren Aufflammen durch die Sonnenwärme herbeigeführt werden kann. Wir unterschätzen in der Regel die wärmende Kraft des Tagesgestirns, obwohl wir uns jeden Sommer auf flachen Dächern aus Metallblech, Dachpappe oder dunkelfarbigem Schiefer von der Wirkung dieser Kraft überzeugen können. Es ist sogar in Fachkreisen der Vorschlag gemacht worden, derartige Dächer während der Mittagszeit mit feuchten Plantüchern zu bedecken.

Die Wissenschaft hat seit langer Zeit Mittel gefunden, die Wärme der Sonnenstrahlen zu sammeln und sie in Hitze zu verwandeln. Dies geschieht durch die Brennspiegel und Brenngläser. Im Alterthum soll Archimedes die römische Flotte mit solchen Brennspiegeln in Brand gesteckt haben; noch heute wird mit dem Brennglas bei physikalischem Unterricht Schießpulver entzündet, und im vorigen Jahrhundert war als wissenschaftliche Spielerei ein Brennglas in Gebrauch, mit dessen Hilfe alle Arten Holz in einem Augenblick entzündet wurden und Wasser in einem kleinen Gefäß beinahe augenblicklich zum Sieden gebracht werden konnte. In neuester Zeit versuchte man sogar, die Sonnenwärme zu industriellen Zwecken zu verwerthen, indem man die sogenannten Sonnenmaschinen baute, bei welchen die auf den Dampfkessel gesammelten Sonnenstrahlen das Wasser zum Sieden brachten und so eine Dampfmaschine in Gang setzten.

In unsern Häusern giebt es aber eine ganze Menge von Glasgeräthen, die vermöge ihrer Krümmungen wie Brenngläser wirken, und in der That gaben diese Geräthe öfters die Veranlassung zu Brandschäden. In dem vortrefflichen „Handbuch des Feuerlösch- und Rettungswesens“ von Branddirektor W. Döhring ist eine Reihe solcher Beobachtungen zusammengestellt.

Schon unsere Fensterscheiben können, wenn sie Blasen enthalten, als Brenngläser wirken, und darum besteht auch in Pulverfabriken die Vorschrift, daß die Glasscheiben an Fenster und Thür mit weißer Farbe überstrichen werden. Aber man braucht gar nicht erst in Pulvermühlen zu gehen, um ähnliche Fälle der Brandursachen festzustellen.

In einem Hause war eine Brille am Fenster hängen geblieben, auf dem Fußboden waren Betten zum Trocknen ausgebreitet; die Sonne schien hell und trocknete gut, aber die Brille übernahm die Rolle der Brenngläser und entzündete die Betten.

Als Brennglas kann auch der Oelbehälter einer Petroleumlampe wirken, und ein solcher Fall wurde im Jahre 1875 aus Plymouth gemeldet, wo die Sonnenstrahlen, die durch das Oelbassin einer Lampe gebrochen wurden, die darunter liegende Wachsleinwand in Brand gesteckt hatten.

Noch merkwürdiger ist der folgende Bericht: Ein Herr saß an einem am Fenster stehenden Tische, der Tisch war mit Saffianleder bedeckt, auf welchem einer von den vielfach benutzten Briefbeschwerern aus vier zusammenhängenden gläsernen Kugeln lag. Plötzlich stieg eine dünne Rauchsäule von der Tischdecke empor, und es fand sich, daß der Briefbeschwerer als Brennglas gewirkt und die Decke in Brand gesteckt hatte. Dies passirte, obwohl die Sonne nur geringe Macht besaß; wären die Strahlen der Julisonne auf einen leicht entzündlichen Stoff konzentrirt worden, so würde aller Wahrscheinlichkeit nach ein Brand ausgebrochen sein, über den das Urtheil gelautet hätte: „Entstehungsursache unbekannt.“ „Man muß darauf achten,“ fügt der Berichterstatter hinzu. „daß dergleichen gläserne Briefbeschwerer, die als kräftige Brenngläser wirken, nicht einen derartigen Platz erhalten, daß die direkten Strahlen der Sonne auf sie fallen können.“

Aehnliches läßt sich auch unter Umständen von den Wasserflaschen behaupten; besonders kräftig aber wirken die mit Wasser gefüllten Glaskugeln der Schuhmacher. So wurde z. B. im Anfang dieses Jahrhunderts die Lehne eines Stuhles, welche der Brennpunkt einer solchen Kugel traf, in helle Flammen gesetzt.

Auch die schöne Butzenscheibe kann die Sonne zur Brandstiftung verleiten. Es brach in einer Kirche regelmäßig des Mittags Feuer aus, bis man schließlich entdeckte, daß eine Butzenscheibe im gegenüberliegenden Fenster die konzentrirten Sonnenstrahlen immer auf denselben hölzernen Kirchenstuhl warf. Selbst auf der See, wo es doch feucht und kühl zu sein pflegt, sind ähnliche „Brandstiftungen“ beobachtet worden. So las man im Jahre 1876 in Plymouther Zeitungen, daß auf einem Dampfer eine Kajüte in Brand gerieth, indem das runde Deckglas, welches zum Einlassen des Tageslichtes diente, die Sonnenstrahlen gesammelt und auf einen Punkt hatte wirken lassen.

Diese Fälle bilden, wenn man so sagen darf, Feuerkuriosa, die nur selten sich ereignen. Man muß aber bedenken, daß die Ursache derselben fast immer beim Sonnenschein vorhanden ist, und darum gehörte ihre Erwähnung nicht allein in ein Fachwerk, sondern auch vor die Oeffentlichkeit. Jedenfalls aber wird es für viele Leser von Interesse gewesen sein, diesen Steckbrief zu lesen, den wir hinter dem Sonnenschein erlassen haben. C. Falkenhorst.

Das ABC der Küche soll zwar, nach der Ansicht erfahrener Hausfrauen, nicht durch ein Kochbuch zu erlernen sein; doch rechtfertigt das umfangreiche Werk von Hedwig Heyl, welches unter diesem Titel in zweiter Auflage (im Verlage von Carl Habel, Lüderitzsche Verlagsbuchhandlung in Berlin) erscheint, denselben sehr wohl, indem es die Grundlagen aller Kochkunst in ausgezeichneter Darstellung giebt. Es bestehen Dutzende von Kochbüchern, in denen vieles gut, vieles aber auch unrichtig angegeben ist, so daß man oft genug wohl daran thut, erst einmal eine Probe zu machen. In dem vorliegenden Werke nun ist nicht nur das Ganze der feineren bürgerlichen Küche enthalten, sondern die Anweisungen zur Bereitung der Speisen, besonders zu den schwierigeren Handgriffen, sind mit einer solchen Zuverlässigkeit gegeben, daß auch die Ungeübte sich daraus vollkommen unterrichten kann. Außerdem ist jedes Kochrezept von einer Kostenaufstellung begleitet, welche die Wahl der überlegenden Hausfrau sehr erleichtert. Alle Küchenerfindungen der Neuzeit werden eingehend erläutert, so besonders das außerordentlich praktische Bratthermometer, welches, an jedem Bratofen anzubringen, die genaue Herstellung des nöthigen Hitzegrades und somit die Einhaltung der vorgeschriebenen Zeit ermöglicht. Ausführliche Anweisung zur Küchenordnung und Reinlichkeit, Behandlung der Geschirre, Erklärung des Nahrungswerthes der Speisen sind ebenfalls im Eingang enthalten. Die sämmtlichen Fleisch- und Fischgerichte, Geflügel, Ragouts, das Verfahren beim Einmachen etc. sind in mustergültiger Vollzähligkeit und ganz ausgezeichneter Bereitungsart angegeben, etwas weniger reichhaltig, wie dies in der norddeutschen Küche überhaupt herkömmlich, sind die Mehlspeisen behandelt, die in bayerischen und österreichischen Kochbüchern in so reicher und verlockender Fülle erscheinen. Dieser ausgesprochen norddeutsche Charakter des Kochbuchs ist die einzige kleine Ausstellung, die wir daran zu machen haben. Die Verfasserin wird gut thun, in einer folgenden Auflage manche Provinzialismen wie: Besinge, Beeten, Rindshesse u. a. durch die allgemein verständlichen schriftdeutschen Ausdrücke zu ersetzen. Indessen sind das verschwindende Kleinigkeiten gegenüber den Vorzügen des wirklich ausgezeichnet brauchbaren Werkes, das wir hiermit unseren Leserinnen bestens empfehlen. Br.

[340] Der nordamerikanische Turnerbund. Seitdem die deutsche Einwanderung nach Nordamerika größeren Aufschwung genommen, seit 1850 besteht der Turnerbund, dessen Vorort seit einer Reihe von Jahren St. Louis im Staate Missouri ist. Ueberall wurden seit jener Zeit dort, wo sich Deutsche in größerer Anzahl niedergelassen, Turnschulen errichtet; die Lehrer waren zwar geschickte Turner, doch meist einseitig nur auf körperliche Ausbildung bedacht, ohne auf Geist und Gesinnung zu wirken. Erst im Jahre 1866 wurde ein Seminar für Turnlehrer in New-York errichtet, und mit jener Zeit begann die Blüthe des deutschen Turnwesens in den Vereinigten Staaten. Von New-York wurde das Seminar 1874 nach Milwaukee verlegt, von wo mehr als 100 tüchtige Lehrer in alle Staaten der Union ausgegangen sind. Auch größere Erziehungsanstalten, wie die Militärschule zu Westpoint, einzelne Realschulen und Universitäten pflegen die Turnkunst und beziehen ihre Lehrkräfte von dem Seminar. Die geistigen Bestrebungen des Turnerbundes liegen in den Statuten und Beschlüssen der Tagsatzung von Chicago (Mai 1888) klar zu Tage. Die Verbreitung von Bildung und Pflege von Sittlichkeit werden als die einzigen Mittel zur gründlichen Reform auf socialem, politischem und religiösem Gebiete anerkannt; die Entwickelung des Volksstaates auf wahrhaft menschlicher Grundlage wird als erstrebenswerthes Ziel hingestellt, gegen jede Beschränkung der Gewissensfreiheit und alle Rechtsverkürzungen Verwahrung eingelegt. Der Turnerbund befürwortet allgemeine Schulpflicht, unentgeltlichen Unterricht für die Mittellosen, kräftiges Eintreten zur Einführung des deutschen Unterrichts und des Turnens in die öffentlichen Schulen, progressive Einkommen- und Erbschaftssteuer und Ueberführung aller der Allgemeinheit dienenden Verkehrsmittel (Eisenbahnen, Telegraphen etc.) an den Staat. Der ganze Turnerbund bestand beim Beginn des Jahres 1888 aus 34 Bezirken, von denen die in St. Lonis, Chicago und New-York weit über 3000 Mitglieder zählten; die Zahl der Riegen war 3310, die der Vorturner 483. Das Bürgerrecht der Vereinigten Staaten besaßen 23 564 Turner.

Wenn bei den großen Bundesturnfesten, die alle vier Jahre abgehalten werden, Diplome und Ehrenkränze als Bundespreise ausgetheilt werden, so sind damit die Auszeichnungen nicht erschöpft, die der Turnerbund ertheilt; es giebt auch Preise für litterarische Arbeiten, wie ja auch alle Vereine belehrende Vorträge, Vorlesungen und Debatten wenigstens einmal monatlich abhalten. Die gleichmäßige Ausbildung von Körper, Geist und tüchtiger Gesinnung stellt den Bestrebungen des nordamerikanischen Turnerbundes das günstigste Zeugniß aus.

Sprachbegabte Vögel der Heimath. Wir haben schon wiederholt auf das vortreffliche „Lehrbuch der Stubenvogelpflege, -Abrichtung und -Zucht“ von Dr. Karl Ruß (Magdeburg, Creutzsche Verlagsbuchhandlung) hingewiesen. In den neuesten Lieferungen desselben finden wir einen hochinteressanten Abschnitt über die sprachbegabten Vögel, in dem auch unseren heimischen gefiederten Rednern eine ausführliche Betrachtung gewidmet ist. Dieselben sind nicht so hochbegabt wie die Papageien, bieten aber dem Liebhaber immerhin reichlichen Stoff zu einer erfreulichen Unterhaltung. Die Zahl derselben ist keineswegs gering: der Rabe, die Dohle, die Elster und der Eichelheher lernen in der Regel einige Worte nachplappern. Die Rednerkünste der Staare sind allgemein bekannt; sprachbegabt ist auch der Kanarienvogel, den wir wohl ebenfalls zu den heimischen Vögeln zählen dürfen; seine Sprachfähigkeit ist bis jetzt in sieben verbürgten Fällen nachgewiesen. Endlich soll auch ein Gimpel neulich einige Worte gesprochen haben. Dr. Karl Ruß, der als Herausgeber der Zeitschrift „Die gefiederte Welt“ ein überaus reichhaltiges Beobachtungsmaterial sammeln konnte, führt bei den einzelnen Gattungen höchst interessante und charakteristische Beispiele an. Wir wollen nur eins herausgreifen: die Elster des Herrn L. Hügel. Sie ist diebisch wie alle Elstern, zeichnet sich aber durch ungemein große Anhänglichkeit an die Familie ihres Herrn aus. Sie kennt alle Personen in der Familie aufs genaueste und ruft jede beim Namen. Bleibt jemand aus der Familie einen oder mehrere Tage fort, so äußert sie sich bis zu dessen Rückkehr mißmuthig, und kommt er zurück, so zeigt sie ausdrucksvoll ihre Freude, läuft ihm mit halbgeöffneten Flügeln entgegen, begrüßt ihn mit Freudegeschrei, fliegt ihm auf die Schulter und bleibt dort so lange, bis sie fortgejagt wird. Das Merkwürdigste an ihr ist der Umstand, daß sie alljährlich eine Reise in die Rheinpfalz mitmacht, am Bestimmungsorte angelangt, frei umherfliegt, den Tag über mit wilden Elstern verkehrt und abends zu ihrem Herrn zurückkehrt. –

Außerdem giebt uns der Verfasser kurze, aber sehr zutreffende Anleitungen, wie man die Vögel sprechen lehren soll. Man muß mit dem Unterricht möglichst früh anfangen, die Staare z. B. müssen schon frühzeitig aus dem Nest genommen und von ihrem künftigen Sprachlehrer zunächst geatzt werden, bis sie flügge werden und in das „Schulalter“ gelangen.

Bei manchen heimischen Vögeln, wie z. B. bei der Steindrossel, ist die Sprachbegabung bis jetzt überzeugend noch nicht nachgewiesen worden, und weitere Versuche nach dieser Richtung hin erscheinen wünschenswerth.

So bietet uns die heimische Vogelwelt, wenn sie in der Stube gepflegt wird, den interessantesten Beobachtungsstoff, und in dem verdienstlichen Werke von Dr. Karl Ruß findet namentlich der Anfänger eine reiche Quelle von Belehrung und vielfach auch zweckmäßigste Anregung. *

Auf dem Ararat. Die hohe Kaukasusspitze, auf der bekanntlich die Arche Noah gelandet sein soll, wurde neuerdings von einem russischen Forscher, Eugen Markow, bestiegen. Die Eingeborenen glauben, daß der Berg nicht zu besteigen ist, und um dieses Vorurtheil gründlich zu zerstören, hat Eugen Markow mit seinen Begleitern auf der zum Theil mit Schnee bedeckten Spitze eine 5 Fuß hohe Steinpyramide errichtet, die durch ein Fernrohr vom Fuße des Berges aus gesehen werden kann. Außerdem wurde auf der Spitze ein Minimalthermometer niedergelegt, so daß spätere Ersteiger des Ararat die niedrigste Temperatur werden ablesen können, welche in der bedeutenden Höhe von über 5100 Metern während einer geraumen Zeit vorgekommen ist. – Die Arche Noah und ein Minimalthermometer – das sind zwei grundverschiedene Dinge, von denen nunmehr die Geschichte dieses gewaltigen Bergriesen zu erzählen weiß. *




Hieroglyphenräthsel.

Zur Erläuterung: Die Hieroglyphenbilder stellen die Mitlaute vor, z. B. für G = Glocke, für W = Wage etc., während die Punkte dazwischen die Selbstlaute bilden, die dem Worte richtig einzufügen sind.

Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 2 auf S. 308:

Die Hinterhand fängt den Ramsch mit zwei Jungfern, wenn die übrigen Karten so vertheilt sind:

Vorhand: sW, eZ, e7, gZ, gO, g8, sD, sZ, s8, s7;
Mittelhand: eD, eK, eO, e8, gD, g7, rD, rK, r9, rz,

Skat: gW, sK, denn Vorhand wird am besten sW anziehen und Mittelhand gD darauf abwerfen. Hinterhand kann dann ausspielen, was sie will, die Mitspieler werden immer durch niedrigere Karten ausweichen können. Vorhand hat 46 Augen und Mittelhand 44 Augen in der Hand.




Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Ph. in Darmstadt. Die Schilderung des Lebens der Karoline von Linsingen und also auch der Bericht über ihren Scheintod ist einem Werke entnommen, das im Jahre 1880 bei Duncker und Humblot in Leipzig herausgegeben worden ist, und zwar, wie Sie S. 796 des Jahrgangs 1888 der „Gartenlaube“ genau angegeben finden, herausgegeben „nach ihren (d. h. der Karoline von Linsingen eigenen) Briefen und Aufzeichnungen“. Eine noch nähere Bezeichnung der Quelle ist unmöglich.

J. L. in Budapest. In dem Sprichwort „Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen“ ist „sungen“ ohne allen Zweifel Vergangenheit. Die Form ist allerdings jetzt in der täglichen Sprache nicht mehr üblich, aber im Sprichwort ist sie, durch den Reim geschützt, erhalten geblieben.

O. in L. Der von Ihnen angeführte Satz ist grammatikalisch nicht anfechtbar, aber trotzdem dem Sinne nach zweideutig und darum verwerflich. Es hätte heißen müssen: „Die Herren Hauptlehrer M und (beispielsweise) Sekretär N“ oder „Herr Hauptlehrer M und Herr N.“

Fräulein Th. D. in F. Sie fühlen den Wunsch, Ihre Kräfte fürs Allgemeine anzuwenden, und wissen „nicht recht, wo und wie anfassen“. Wir wünschten, es befänden sich recht viele selbständige Damen in derselben Verlegenheit, wir könnten ihnen ein Arbeitsgebiet bezeichnen, das lohnend genug wäre: die Fürsorge für Arbeiterinnen und weibliche Dienstboten in der Weise, wie sie in einigen Städten Deutschlands bereits von aufopfernden einsichtsvollen Frauen geübt wird. Lesen Sie in der ausgezeichneten Vierteljahrsschrift „Die Frau im gemeinnützigen Leben“, herausgegeben von A. Sohr und M. Loeper-Houselle, den Artikel von R. Osius „Die Arbeiterinnenfrage“ (I. Heft 1889, Verlag von Hofmann, Gera) und überlegen Sie, wie in Ihrer Stadt die darin aufgestellten Forderungen nach Lehre und Aufmunterung für Arbeiterinnen und Dienstboten erfüllt werden könnten. Wie viele dienende Mädchen würden auf dem guten Wege beharren, wenn ihnen am Sonntag nachmittags ein geheiztes Lokal zur Verfügung stände, wo sie, statt in Wirthshäusern mit zweifelhafter Gesellschaft zu verkehren, mit guten Freundinnen sich unterhalten könnten, auch ein gutes Buch vorfänden und ein paar freundliche Frauen, die den Schlechtgewöhnten und Belehrungsbedurftigen ihre Pflichten und die Gründe derselben in zwanglosem Vortrage oder im Wechselgespräch auseinandersetzten! Freilich müßte eine Tasse Kaffee oder Thee und Weißbrot auch verabreicht werden; aber wie gering sind die Kosten für alles dieses in Anbetracht des großen Nutzens, den es schaffen könnte, wie leicht würde ein Verein von Frauen und Mädchen imstande sein, es herzustellen! Nicht Ihnen allein, sondern vielen unserer Leserinnen möchten wir diesen Gedanken ans Herz legen: Anschluß und praktische Rathschläge finden Sie bei den Herausgeberinnen der genannten Zeitschrift, die bereits seit Jahren rastlos dieselben Ziele verfolgen. Also nur frisch ans Werk – der Lohn an äußerem Erfolg und innerem befriedigenden Bewußtsein wird nicht ausbleiben!


Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 325. – Maiglöckchen. Illustration. S. 325. – Bitte! Bitte! Illustration. S. 329. – Eine zweischneidige Tugend. Von W. Sonntag. S. 330. – Die Frauenarbeitsschule in Reutlingen. Mit Abbildung. S. 333. – Seine Mutter. Von A. Merck. S. 334. – Lenzeslust. Illustration. S. 337. – In Rotten Row. Ein Bild aus dem Londoner Leben. Von Wilh. F. Brand. S. 338. – Blätter und Blüthen: Die Sonne als Brandstifterin. Von C. Falkenhorst. S. 339. – Das ABC der Küche. S. 339. – Der nordamerikanische Turnerbund. S. 340. – Sprachbegabte Vögel der Heimath. S. 340. – Auf dem Ararat. S. S40. – Hieroglyphenräthsel. S. 340. – Auflösung der Skataufgabe Nr. 2 auf S. 308. S. 340. – Kleiner Briefkasten. S. 340.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)