Die Gartenlaube (1889)/Heft 18
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No. 18. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Nicht im Geleise.
Alfred stieg hinauf in die erste Etage. Auch hier klopfte er
vergebens an. Erst an eine Thür, dann an die zweite.
Endlich rief eine unklare Stimme hinter der dritten Thür. „Herein!“
Als er öffnete, sah er, daß er unvermittelt von dem Flur in ein Wohnzimmer trat, in ein ziemlich geräumiges Gemach, das zwei Fenster nach dem Flüßchen und der Allee zu hatte, trotzdem aber sehr wenig hell war, denn vor jedem Fenster stand eine Tanne. Das Zimmer hatte ganz die übliche Einrichtung: grüne Möbel mit gehäkelten Schonern, einen Pfeilerspiegel in Goldrahmen, einen kleinen sehr bunten Teppich unter dem Sofatisch, auf diesem eine Decke von Jutestoff. An der einen Wand stand ein schmuckloser Schreibtisch, und von diesem erhob sich jetzt eine Frauengestalt.
Alfred fühlte sich in einer Lage vollkommener Rathlosigkeit. Er starrte das schwarzgekleidete Weib an und sah, daß es ein sehr schönes Mädchen von etwa zwanzig Jahren sein mochte. Und dabei wurde ihm seltsam zu Sinn, gerade als ob ihm jemand genau eine solche weibliche Erscheinung einmal beschrieben hätte. „Blond wie eine Ceres – schön – ruhevoll …“, aber er konnte sich nicht besinnen. Er sah, daß ihre großen, sanften Augen, die goldbraun waren, ebenso erstaunt auf ihm ruhten wie seine Blicke auf ihr.
„Pardon, mein gnädiges Fräulein,“ sagte er fast verlegen, „ich bin hier wahrscheinlich irrthümlich eingedrungen. Aber mir ergeht es schon seit einer Viertelstunde in diesem Hause wie Tamino vor dem Tempel des Sarastro; hinter jeder Thür scheint mir ein ‚Zurück‘ entgegenzudonnern.“
„Wen suchen Sie?“ fragte die junge Dame. Und der unklare, zurückgehaltene Ton der Stimme verrieth sogleich, daß die Sprecherin eben noch geweint haben mußte; auch lag ihr auf den Wangen und um die Augen jene Röthe, welche von vergossenen Thränen zurückbleibt.
„Ich suche Frau Josephe Thomas,“ sagte Alfred, dem plötzlich ein bängliches Vorgefühl an das Herz kroch.
Er hatte auf dem einen Fensterbrett dunkles Grün, weiße Blumen und einen angefangenen Kranz gesehen – dazu die Thränenspuren und das schwarze Kleid …
Das Mädchen wollte sprechen. Sie hielt sich mit der Hand an der Lehne des Stuhles fest, von dem sie sich eben erhoben. Sie brachte kein Wort über die Lippen, schüttelte das Haupt und preßte mit der Rechten ihr Taschentuch gegen die Augen.
Alfred wußte nicht: hieß das Kopfschütteln, daß die Gesuchte hier nicht wohne, oder was wollte es sagen? und in welcher traurigen Lage befand sich dies schöne Mädchen, daß sie nicht einmal einem Fremden gegenüber die Fassung fand, zu antworten?
„Mein Fräulein,“ sagte er nähertretend, in höchster Verlegenheit, „ich bitte Sie,
[294] mich nur wissen zu lassen, ob ich die Ehre habe, vor der Tochter der Frau Josephe Thomas zu stehen.“
Und da sie heftig nickte, fuhr er bedrückt fort:
„So bitte ich Sie, mir die Gründe Ihres Kummers mitzutheilen. Mein Name ist Haumond, Alfred von Haumond – es dürfte Ihnen bekannt sein, daß Ihre Mutter mich zu sprechen wünschte.“
„Mama ist todt,“ rief sie aus und sank in ihren Stuhl zurück, das Gesicht in ihren Händen auf der Platte des Schreibtisches bergend.
Ein heftiger Schreck ließ Alfred zunächst ganz verstummen. Wahrlich, peinvoller hätte die Situation gar nicht sein können. Eine Verknüpfung von Umständen förderte nun Antheilnahme von ihm an dem Tod einer Frau, die er nicht gekannt hatte und die ihm herzlich gleichgültig war. Nichts ist lästiger für einen ehrlichen Menschen, als aus Höflichkeit eine Trauer heucheln zu müssen, von der er in der That nichts empfindet. Alfred trat an das Fenster und sah in das dunkle Grün der Tannenzweige hinein, in denen ein munterer Spatz wie auf einer Treppe von Ast zu Ast abwärts hüpfte.
Er überdachte, was er sagen solle, was er thun könne, welche Art von Beistand die verwaiste Tochter von ihm erwarte, und in welcher Form er ihr diesen am zartesten anbieten dürfe. Als er sich umwandte, um die Fragen an sie zu richten, die er zunächst für nöthig hielt, sah er, daß sie sich gerade wieder erhob und ein Gesicht und eine Haltung zeigte, denen man unschwer die vollkommen wieder erlangte Fassung ansah.
„Verzeihen Sie, mein Herr, daß die Erinnerung an mein noch so neues Unglück mich überwältigte. Ich begreife völlig, wie sehr peinlich es für Sie sein muß, in ein fremdes Haus, zu fremden Menschen zu kommen und – eine Leiche zu finden,“ sagte sie mit ihrer sanften Stimme.
Alfred war über ihre Fassung so erstaunt, daß er sie fast nicht begriff. Aber sie berührte ihn wie eine Befreiung und sehr wohlthätig. Der Anblick von Jugend und Schönheit, die leidet, weckt überdies leicht das Mitleid. So geschah es schon mit wirklicher Wärme, als er entgegnete:
„Ich beklage es aufrichtig, daß der Mund, welcher zu mir sprechen wollte, auf immer verstummt ist. Vielleicht, mein Fräulein, sind Sie von dem unterrichtet, was Ihre Mutter mir zu sagen wünschte, und dann werden Sie es mir später erzählen. Für jetzt gestatten Sie mir, daß ich mich in Ihre Angelegenheiten dränge und Sie bitte, mir alle Pflichten zu übertragen, die ein Todesfall mit sich bringt.“
„Bitte,“ sagte sie, immer mit derselben sanften Ruhe sprechend, „setzen Sie sich zu mir! Ich will Ihnen alles gleich jetzt berichten. Es ist ohnedies sehr wenig.“
Alfred nahm neben ihr auf dem Sofa Platz, und während sie sprach, betrachtete er genau ihren schönen Wuchs, ihr edles Gesicht, ihr blondes einfach geordnetes Haar. Und dabei kam sie ihm so merkwürdig bekannt und vertraut vor; diese zarte Schläfe mit dem schönen Haaransatz, dieses Wangenprofil mußte er schon sehr ähnlich irgendwo gesehen haben. Daß sie so gesammelt und knapp alles erzählte, berührte ihn wieder seltsam friedlich. Mit einer Geduld, die er gar nicht an sich kannte, hörte er zu.
„Meine Mutter,“ sagte sie, „war mit Ihrem Vater wohl sehr befreundet. Er besuchte uns jeden Sommer, wenn ich mit Mama im Bade war, und erwies auch mir die größten Zärtlichkeiten. Ein ganzes Packet von Briefen, die vom ihm an meine Mutter gerichtet sind, ist als Bescheinigung dieser Freundschaft vorhanden. Es war der Wunsch meiner Mutter, Ihnen einiges aus diesen Briefen vorzulesen und dieselben dann zu verbrennen. Der Tod, der gestern abend, nun doch unerwartet, dem langjährigen Leiden der vielduldenden Frau ein Ende machte, sanft und unbewußt, hat ihr die Erfüllung dieses Wunsches versagt. Die Briefe sind zu Ihrer Verfügung.“
„Nicht doch,“ antwortete er, „die Briefe werden ebensoviel von dem Seelenleben Ihrer Mutter wie von dem meines Vaters enthalten, und so scheint es mir besser, daß man sie entweder ungelesen vernichtet, oder, wenn Sie dies nicht wollen, daß wir sie eines Tages zusammen lesen, wenn wir selbst uns erst ein wenig näher kennen. Viel wichtiger erscheinen mir zunächst andere Fragen …“
„Ich begreife,“ fiel sie schnell ein und sah ihm gerade in die Augen, „Sie wollen wissen, ob und wie die Angelegenheiten erledigt werden, welche ein Todesfall mit sich bringt, wer mir darin beisteht, und ob ich die Mittel dazu bei mir führe, alle Ausgaben zu bestreiten. Nun denn: auf Anordnung des Arztes, den wir beriefen, als Mama sich schlecht fühlte, und der sich mir voll thätiger Güte zeigt, ist die Verstorbene heute im Morgengrauen schon nach der Leichenhalle des Kirchhofes gebracht worden und wird morgen früh beerdigt, alles wie die Gesetze es vorschreiben. Ich bin allein mit einer alten Dienerin, die uns noch von den Zeiten unseres früheren Wohlstandes her treu geblieben ist und sich stets weigerte, Mama, bei der sie dreißig Jahre gewesen, zu verlassen. Geldmittel haben wir noch, um einige Wochen leben zu können. Bis dahin hoffe ich, irgend eine Stellung gefunden zu haben. Die alte Lisbeth kann dann in das Feierabendhaus gehen, in welches Mama sie schon früher eingekauft hat.“
Alfred bekam nach dieser kurzen und doch erschöpfenden Auseinandersetzung das Gefühl, hier vollkommen überflüssig zu sein.
„Ich sehe schon,“ sprach er, „ich kann Ihnen zunächst gar nichts nützen, und bewundere die Sicherheit und die Klarheit, mit welcher Sie Ihre Lage übersehen und sich in ihr zurecht finden.“
„Mußte ich das nicht?“ fragte sie. „Zwar durfte ich Sie erwarten, aber man kann sich doch nicht hilflos der ungewissen Theilnahme eines Fremden anheimgeben. Ist es nicht schon genug der Unbescheidenheit, daß ich für später gute Rathschläge von Ihnen verlange? Was habe ich überhaupt für Rechte an Sie? Mir scheint, es ist fast unerlaubt, daß ein Vater seinem Sohn die seltsame Erbschaft hinterläßt, für eine Frau sich interessiren zu sollen, welcher er, der Vater, einst freundschaftlich nahe stand.“
Daß Gerda gestern abend ganz Aehnliches gesprochen, fuhr Alfred erst durch die Erinnerung, als er mit der größten und aufrichtigsten Wärme sagte, daß er diese Erbschaft allerdings zunächst unbeguem gefunden habe, nun aber, da er Fräulein Thomas kennen gelernt, seinem Vater Dank wisse.
Und dabei dachte er verwundert, wie ihn doch dieselbe Aeußerung von Gerda zu heftiger Antwort gereizt, und wie angenehm ruhig er mit diesem Mädchen dasselbe Thema besprechen konnte.
Eigentlich sollte er nun gehen. Aber es war etwas in diesem verschatteten Zimmer, an dieser stillen, schwarzen Mädchengestalt, was ihn anwehte wie Frieden. Die von der Trauer ein wenig gedämpfte Stimme that ihm wohl, die einfach sachliche Redeweise hatte etwas Beruhigendes.
Er dachte an die heiße Mittagssonne, in welcher er den Weg wieder zurückmachen sollte, athmete tief die kühle Luft des Zimmers ein und fragte, nur um das Gespräch zu verlängern: „Sie nannten Ihre Mutter eine vielduldende Frau?“
Einen Augenblick sah sie vor sich hin. Dann schlug sie das Auge wieder klar zu ihm auf.
„Es darf Sie nicht verletzen,“ sagte sie, „wenn ich Ihnen mittheile, daß meine Mutter an der Seite eines Mannes lebte, der ihrer nicht würdig war. Als ich zum Verständniß des Lebens erwuchs, verstand ich das recht wohl und sah auch, daß es von jeher der Wunsch meiner Mutter gewesen war, dies Band zu lösen. Warum ihr Gatte nicht darein willigte, ist mir nicht klar geworden. Vielleicht wollte keines der Eltern auf mich, das einzige Kind, verzichten. Aber das habe ich wohl herausgefühlt, daß, wenn mein Vater vor dem Ihrigen gestorben wäre, anstatt zwei Jahre nachher, Ihr Vater und meine Mutter sich noch vermählt hätten, trotz ihres Alters. Theure Jugenderinnerungen mußten sie innig miteinander verbinden.“
„Sehr merkwürdig,“ sagte Alfred ein wenig befangen, denn ihm fiel ein, daß das Mädchen vielleicht von dem Wunsch ihrer Eltern unterrichtet sei und ihn als den ihr möglicherweise erreichbaren Gatten betrachte.
Er verstummte. Es schien ihm undenkbar, ihr geradeheraus zu sagen, daß er nicht mehr frei sei, und ihr damit etwas zu nehmen, was vielleicht noch keine Hoffnung, aber doch der blasse Vorschein einer solchen gewesen.
„Am besten wird es sein,“ dachte er, „ich überlasse ihrer eigenen Beobachtung die Erkenntniß dieser Thatsache, denn ich muß sie doch mit Gerda bekannt machen.“
„Haben Sie noch Familie, die Ihnen einen Rückhalt gewähren, eine Heimath bieten könnte?“ fragte er.
Die Familie meiner Mutter ist ganz ausgestorben,“ erwiderte sie traurig, „und es war der oft ausgesprochene Wunsch Mamas, daß ich mich niemals an die Familie Thomas wenden solle. [295] Somit war ich im Begriff, gerade als Sie kamen, den verschiedenen Mitgliedern derselben den Todesfall nur kurz anzuzeigen.“
Nun entschloß Alfred sich doch, aufzustehen.
„Wenn Sie hier am Ort einen weiblichen Anhalt wünschen, die Gelegenheit, mit einer mitfühlenden, edlen Frau sich auszusprechen,“ sagte Alfred, während ein helles Roth seine Stirn überdeckte, „so möchte ich Sie einer Frau vorstellen …“
Sie hatte verstanden „meiner Frau“ und unterbrach ihn lebhaft, fast freudig.
„Sie sind verheirathet?“
„Nein, noch nicht,“ antwortete er, auch einen heiteren Ton anschlagend, „aber vielleicht bald. Man muß sehen, was der Sommer noch bringt. Die Frau, welcher ich Sie zuführen möchte, ist ein edles, großgesinntes, welterfahrenes Weib. Vielleicht befreunden Sie sich gar mit der Baronin Gerda von Offingen, obgleich Sie sehr verschieden von ihr sind. Alles an ihr ist Temperament und Leben, sie kann über keine Sache sprechen, ohne sich heftig für oder gegen dieselbe zu ereifern. Sie aber sind von einer seltenen Ruhe des Wesens.“
„Ich bin wohl nur unbedeutend,“ meinte sie mit einem wehmüthigen Ton, „und das Bedeutende mit dem Unbedeutenden flüchtig und äußerlich verglichen, bringt oft den Schein als Resultat, als sei das eine die Unrast und das andere die Ruhe.“
Diese Aeußerung kam gewiß nicht aus einem leeren oder unreifen Kopf, und Alfred würde sich für geschmacklos gehalten haben, wenn er hierauf mit einem Kompliment geantwortet hätte.
„Sie werden sich ja kennen lernen,“ sprach er, ihr die Hand zum Abschied reichend, „für heute leben Sie wohl! Sagen Sie mir nur noch die Stunde, wann wir morgen früh Ihrer theuren Mutter die letzte Ehre erweisen können.“
„Um acht Uhr früh.“
Er hielt noch immer ihre Hand fest.
„Und wie heißen Sie, mein Fräulein? Von jemand, den ein eigenthümliches Verhängniß einem plötzlich so nah gebracht, mag man doch mehr wissen als den Familiennamen.“
„Germaine,“ sagte sie, und als er betroffen aufblickte, fügte sie hinzu. „Sie hören, nach Ihrem Vater, und in meinem Taufzeugniß steht Germain von Haumond als mein Pathe aufgeführt.“
„Germaine,“ wiederholte er, als wollte er den Klang dieser Silben auf ihren Wohllaut prüfen.
Und „Germaine“ wiederholte er sich noch draußen auf der sonnigen Straße, nachdenklich über jedes Wort und jede Geste der Namensträgerin sinnend. Wie Gerda wohl über das Mädchen urtheilen würde?
Und kaum fiel ihm Gerda ein, als ihn auch sogleich eine unsinnige Sehnsucht nach ihr ergriff. Es kam ihm vor, als habe er sie eine Ewigkeit lang nicht gesehen. Er hatte auch zugleich den Wunsch, ihr zu zeigen, daß er unterwegs ihrer in voller Leidenschaft gedacht. Da er sich gerade vor den sogenannten Kolonnaden am Konversationshause befand, ging er an der Doppelreihe der Magazine entlang. Alle Gegenstände, die er sah, erschienen ihm zu ärmlich oder zu geschmacklos, oder für die Gelegenheit zu unpassend. Vor dem großen Juwelengeschäft an der Ecke stand er lange still. Ihm fiel bei den Ringen und Armspangen ein, daß Gerda und er noch nicht einmal daran gedacht hatten, das äußere Zeichen ihres Bundes, den Ringwechsel, auszuführen. Sofort trat er in den Laden und erstand einen kostbaren Ring mit den schönsten Brillanten.
Es war inzwischen hohe Mittagszeit und unerträglich heiß geworden. Als Alfred im offnen Wagen nun langsam bergan fuhr, freute er sich auf kühl verschattete Zimmer und das Waldesdunkel hinter seinem Hause.
Zu seinem Schreck fand er Sascha barhäuptig in vollem Sonnenschein an der Gartenpforte stehen.
„Um Gottes willen,“ rief er aus, während er hastig den Kutscher ablohnte, und das Kind sich mit allen Zeichen der Müdigkeit an ihn schmiegte, „wie darfst Du so in der Sonne stehen?“
„Ich wartete auf Dich. Du bist so schrecklich lange fortgewesen,“ klagte das Kind.
Alfred nahm den Jungen auf den Arm und trug ihn dem Hause zu. Ueber die Veranda zu der einige Stufen emporführten, kam man in das Wohnzimmer. Hier war es sehr heiß, und die Sonne schien durch die ungeschützten Fenster, während die Hitze in die offene Thür hineinströmte.
Gerade kam Gerda durch die gegenüberliegende Thür aus dem Innern des Hauses herein, und anstatt der freudigen Begrüßung, nach welcher Alfred sich noch vor wenigen Minuten gesehnt hatte, fragte er jetzt gleich unwillig:
„Wie konntest Du den Knaben draußen in der Sonne auf mich warten lassen? Und wie kommt es, daß man hier die Persiennen nicht herabließ?“
„Sascha ist ungehorsam gewesen; ich habe es ihm verboten, in die Sonne zu gehen und glaubte ihn in Deinem Zimmer, wo er mit Deinem alten Spielzeug spielen wollte. Du mußt nicht schelten, wir haben das alles auf dem Boden gefunden und heruntergebracht,“ sagte Gerda, mit jedem Blick zärtlich um Vergebung flehend für eine Sache, die sie nicht verschuldet.
„Und die Persiennen?“ fragte er sanfter.
„Das begreife ich nicht. Ich habe Fritz den ausdrücklichen Befehl gegeben, an der ganzen Vorderseite des Hauses die Fenster zu verhängen. Natürlich habe ich ihn für so zuverlässig gehalten, daß man ihn nicht zu kontrolliren brauche.“
Der „logische“ Fritz hatte den Befehl angehört und ihn auch keineswegs vergessen. Doch befand er sich ja nicht im Dienst der Baronin, sondern in demjenigen des Herrn von Haumond und wurde nur für die diesem gewidmeten Leistungen bezahlt. Also dachte er nicht daran, die Persiennen herunterzulassen, wenn sein Herr es ihm nicht sage.
Alfred lächelte ein wenig, als Gerda so sprach, und dachte wohl, daß irgend etwas bei dem Befehl seinem Fritz gegen die Prinzipien gegangen wäre; er nahm sich vor, dem Menschen zu sagen, daß er der Baronin ebenso wie ihm – Alfred – zu gehorchen habe.
Wenn somit dieser unerquickende Eintritt in das Haus schnell überwunden schien, so war doch der Zauber davon gestreift, und es bedurfte vieler Stunden bis Alfred die hingegebene Stimmung wiederfand, die ihn unterwegs erfaßt hatte. Gerda erlaubte sich nicht, nach den näheren Umständen zu fragen, unter denen er das fremde Mädchen gefunden. Sie begnügte sich mit der kurzen Erzählung von dem Tode der Frau Thomas und bejahte ohne weiteres Alfreds Bitte, ihn morgen früh auf den Kirchhof zu geleiten.
Als Alfred mit dem Kinde gegen Abend von einem Streifzug an der Berglehne entlang heimkehrte, fand er Gerda auf der Veranda, die nun im Schatten der Waldeswand lag. Gerda band einen Kranz, zu dem sie die feinen Koniferenzweige einem Korbe entnahm, der neben ihr auf einem Stuhl stand.
„Du bist ein Engel,“ sagte Alfred dankbar, „Du zerstichst Deine feinen weißen Finger, um für die fremde Frau Todtenkränze zu winden.“
Dabei griff er nach der weißen Hand, die gerade suchend zwischen dem dunklen Grün war, und küßte sie voll Inbrunst.
„Wo ist Tantchen?“ fragte Sascha, „ich habe ihr eine ganze Menge Kamillen gepflückt und Arnikablumen. Papa hat sie mir gezeigt und gesagt, daß Tantchen sie für ihre Apotheke brauchen kann.“
„Geh zu ihr! Sie ist hinter dem Hause und geht die tausend Schritte, die sie täglich macht. Vergiß aber nicht, sie zu fragen, ob sie beim Mittagsschläfchen gut geruht hat.“ Und als Sascha davon lief, fügte sie hinzu:
„Nicht wahr, Du thust mir den Gefallen, Tantchen jeden Morgen nach ihrem Befinden zu fragen? Sie ist den ganzen Tag verstimmt, wenn ein Hausbewohner es vergißt. Du weißt, die Arme hat nichts zu leben, nichts zu lieben, nichts zu ernähren wie ihre Krankheit. Diese ist ihr der ganze Inhalt des Daseins, und wenn Tantchen gesund würde – ich glaube, sie stürbe daran, denn sie hätte nichts mehr zu thun und über nichts mehr zu sprechen.“
Alfred lachte. „Du kluge, gütige, boshafte Frau!“ sagte er.
Zu Gerdas Füßen stand ein Holzschemel, den sie bisher benutzt hatte, um ihre Kniee zum Halt für den Kranz recht hoch zu haben. Auf diesen setzte sich Alfred.
„Gieb mir Deine Hände!“
„Es sind harzige Flecke vom Tannengrün daran.“
„Die will ich mit meinem Tuch abreiben. Denn Deine Hände muß ich haben, wenn ich all die Sünden beichten soll, die ich begangen und die ich gutgemacht.“
Gerda sah innig zu ihm nieder, und während er mit seinem Batisttuch von ihren Fingern die Spuren des harzigen Grünes abrieb, sprach er, dazwischen zuweilen den einen oder anderen Finger küssend:
[296] „Ich habe heute viel an ein anderes Weib gedacht. An diese Germaine. Aber ganz anders, als ich sonst an Frauen denke. Du weißt, ich kann keiner begegnen, ohne daß meine Phantasie sich in irgend einen Zusammenhang mit ihr setzt. Meist denke ich, wie würde diese Frau in der Liebe sein? würde sie mich lieben können, mich zu beglücken vermögen? wäre ich unter gegebenen Umständen fähig, für sie zu empfinden? Ja, Du weißt, es ist ein geistiger Donjuanismus in mir. Kein solcher Gedanke erwachte in mir in Bezug auf Germaine. Und doch beschäftigt sie mich stark. Es ist, als hätte ich sie lange gekannt, sie erscheint mir vertraut, und ich denke mit einem ruhigen und beruhigenden Wohlgefallen an sie. Denke Dir, ich kann mir ganz gut vorstellen, daß sie immer mit uns lebte, und hätte nicht im mindesten die Furcht, daß sie uns in unserer Liebe und in der Zweiseligkeit unserer jungen Ehe störte. Wie findest Du das alles?“
„Ganz einfach. Ich denke mir, daß die gemeinsame Erinnerung an denselben theuren verstorbenen Menschen das geheime Band des Vertrautseins ist. Wenn Du es willst, können wir ja die Verwaiste unter irgend einer Etikette zu uns nehmen,“ sprach Gerda, sein Haar sanft streichend.
„Aber Du kennst sie noch gar nicht. Wenn sie Dir mißfällt?“
„Darum keine Sorge! Du und ich, wir empfinden doch immer dasselbe. Da Du sie gern hast, werde ich sie gewiß leiden mögen.“
„Aber würdest Du nie eifersüchtig sein? Du weißt, ich kann das nicht ertragen, obschon ich es selbst im höchsten Grade sein könnte.“
Gerda sah ihn erstaunt an.
„Ich – eifersüchtig? O nein! Du liebst mich – zwar könnte diese Liebe sich Dir in verhängnißvollen Augenblicken verdunkeln und Dich nicht vor einer Untreue zu schützen vermögen, aber schon im selben Moment, wo Du eine solche begingest, würde Deine Liebe wieder riesengroß lebendig in Dir sein und Du würdest dann vor Reue Dich so elend fühlen, daß die erste Untreue auch die letzte bliebe. Auf einen Mann, dessen Wesen man so genau erkennt, ist man nicht eifersüchtig. Das käme mir vor, als wollte ich wachsam mit Streichhölzchen einen Gegenstand umleuchten, der im vollen Sonnenglanz vor mir steht.“
„Wie Du mich verstehst!“ sagte er entzückt.
„Also von dieser Sünde, die keine ist, kommen wir zu der, welche Du wieder gutgemacht hast,“ mahnte Gerda heiter.
„Als Du mir versprachest, die Meine zu werden, vergaß ich, Dir das zu geben,“ flüsterte er, das Angesicht zärtlich ihr zugewandt, während er an ihren Finger den Ring steckte, den er schon ein Weilchen bereit hielt.
Gerda sah auf die blitzenden Steine. Ein leiser Schreck wollte sich in ihr regen über die Kostbarkeit der Gabe, und ein schlichter Reif wäre ihr lieber gewesen, doch überwog die Rührung über das schöne Symbol ihrer Zusammengehörigkeit. Sie neigte sich, sein Haar zu küssen, und ließ still ihre Hand in der seinen.
Aus dem Thal stieg es kühl auf, und vom Walde her begann ein feuchter Dunst zu wehen. Der starke Nachtthau des Hochsommers feuchtete schon bei der sinkenden Dämmerung Rosen und Buschwerk.
Ein tausendfältiges zirpendes Summen erfüllte die Abendluft. Das Volk der Grillen wisperte seinen Gesang.
Die fernen Wälder waren schwarz; am lichten Abendhimmel blinkten Sterne auf. Und da und dort im Thale blitzte der Lichtschein aus Menschenwohnungen. Im nahen Walde düsterte es so sehr, daß die Stämme an der Grenze wie ein graues Riesengitter vor einer nachtschwarzen Wand erschienen.
Der Pfiff einer Lokomotive gellte unten auf, und tief zu Füßen des Berges wand sich, von weißlichem Rauch überwölkt, eine Wagenschlange dem Ausgang des Thales, der lauten Welt draußen zu. Man sah die beiden glühenden Lokomotivenlampen vorangleiten. Und dann ward es ganz still, und die Abendschatten verdunkelten sich zur tiefen ruhvollen, lichtlosen Sommernacht.
„Ich wußte es,“ flüsterte das Weib in des Geliebten Ohr, „hier wohnt doch der Friede.“
"Nun, wie hat sie Dir gefallen?“ fragte Alfred am andern Tag, als er mit Gerda vom Kirchhof zurückfuhr. „Sage mir Dein Urtheil über sie!“
„Das heißt zuviel von meiner Menschenkenntniß verlangen,“ antwortete Gerda. „Wie kann ich über ein Mädchen urtheilen, von dem ich nichts gesehen habe wie einige Thränen. Allerdings muß ich gestehen, daß mir das gefaßte Wesen, welches ebenso entfernt von sinnloser Schmerzzerflossenheit wie von gesuchter Kälte war, sehr gefallen hat. Die paar theilnehmenden Worte, welche ich ihr sagte, und die höflich dankbare Erwiderung, welche sie dafür fand, haben mir auch keine Gelegenheit zu tieferem Urtheil gegeben. Ich werde sie ja morgen kennen lernen, und dann werden wir sehen, was wir mit ihr machen. Uebrigens sieht sie mir nicht so aus, als ob sie in hilfloser Ergebenheit fremde Menschen – und wir sind ihr doch fremd – über ihr Schicksal bestimmen ließe. Weiß sie, daß ich Deine Braut bin?“
„Nein!“
„Du hättest es ihr sagen sollen. Sie würde eher Vertrauen und Neigung fassen, sich uns anzuschließen.“
„Wenn wir sie morgen zusammen besuchen, können wir es ihr ja mittheilen.“
Als der Wagen den Berg hinanfuhr – die Fahrstraße ging theils durch Wald, theils an Villengärten und Rasenmatten vorbei – schaute Gerda sich entzückt um.
„Es ist nicht zu beschreiben, wie der weite Blick in Waldfernen und über die gleichsam ineinander verschobenen Berglinien meiner Seele wohlthut. Ich glaube, das Auge eines jeden Menschen hat wie die Zunge einen Sonderappetit, dessen Befriedigung hier der Seele wie da dem Magen angenehm und gesund ist. Andere mögen am Meer die kleinen Unzufriedenheiten ihres Daseins ausathmen: ich fühle mich in den Waldbergen am glücklichsten, und Du glaubst nicht, wie ich froh bin, immer hier leben zu können.“
„Immer?“ fragte Alfred verwundert. „Wie meinst Du das?“
„Ach, davon wollen wir nachher sprechen,“ sagte sie in leichter Verlegenheit.
Alfred fühlte, daß dies ein Gespräch werden sollte, von dem Gerda heftige Auseinandersetzungen fürchtete. Er glaubte auch zu wissen, um was es sich handeln würde. Die Hindeutung, welche von Gerda nicht beabsichtigt gewesen war, wirkte nun auf beide wie fernes Wetterleuchten auf gewitterbange Naturen. Sie waren still und unfrei, sie fürchteten den Ausbruch und wünschten doch, das Unvermeidliche erst hinter sich zu haben. So gingen sie den ganzen Tag nebeneinander her; wenn aber jemand sie gefragt hätte. „Was ist Euch?“ wären sie um eine Antwort verlegen gewesen.
Alfred widmete sich seinem Liebling, dem Knaben, dem hier oben eine neue Welt aufging. Sascha wünschte eine Hütte zu haben aus Tannenzweigen und sich wie Robinson dort häuslich einzurichten. Mit unermüdlicher Güte half Alfred ihm bei seinem Spiel. Sie bauten am Waldesrand eine Hütte, so groß, daß sich mit einiger Mühe beide darin niederhocken konnten, während inmitten noch der Kindertisch aus Alfreds Jugendzeit stand.
Wie er so sein altes Spielzeug wieder mit aufbauen half auf dem alten kleinen Tisch, wurde sein Herz von Wehmuth schwer. Er erinnerte sich an alles: diese kleinen Nägel, die in einer krummen Linie in die Dachplatte hineingehämmert waren, sie stammten aus seinem ersten Werkzeugkasten, und da war noch der Hammer, mit dessen Hilfe er damals auch die kostbaren Salonmöbel mit Nägelschmuck versehen. Er glaubte die Ohrfeige wieder zu fühlen, die er damals bekommen. Mit Heiterkeit und Rührung erzählte er Sascha davon. Das Kind horchte, höchlichst interessirt. Kinder sind immer entzückt, wenn von ihnen geliebte Respektspersonen begangene Kinderthorheiten erzählen.
In einer Schachtel befand sich ein Haufen von lauter Bleisoldaten, die aber nur noch aus Rümpfen bestanden. Alfred beschrieb dem sich für diese Idee begeisternden Jungen, wie er die Beine in einem Theelöffel über einem Stearinlicht geschmolzen habe, um Bleikugeln für sein kleines Gewehr davon zu gießen. Er konnte noch eine winzige Narbe an der Hand zeigen, die eine bei jener Gelegenheit davongetragene Brandwunde zurückgelassen.
Und so ward ihm seine Kindheit lebendig, und sein Geist durchmaß die Spanne Zeit, die seitdem verflossen. Sein Auge ging über die Jahre hinweg, prüfend, wie über ein Erntefeld, und er sah, daß er nichts eingeheimst hatte.
Damals waren alle seine kindischen Thorheiten eine unreife Form für eifrigen und nutzsuchenden Thätigkeitsdrang gewesen.
[297][298] Er erinnerte sich ganz genau, daß sein Vater einmal der ihn strafenden Erzieherin gesagt hatte: „Unterscheiden Sie wohl zwischen den wirklichen Unarten, die schlechten Instinkten entspringen, und den Scheinunarten, die aus dem Beschäftigungstrieb des erfinderischen Kindergeistes kommen!“
Und all sein Thun jetzt? Was war es denn mehr als ein ungleicher Thätigkeitsdrang, ein Trieb, sich geistig zu rühren, ohne reife, feste und streng geregelte Form? Aus dem kleinen, unfertigen Menschen mit den ahnungsvoll umhersuchenden Gedanken war ein großer unfertiger Mensch geworden, der ganz gerade so wie der kleine einst auch immer nach Neuem suchte, den Tag auszufüllen.
Alfred seufzte tief auf.
„Was hast Du, Papa?“ fragte Sascha.
„Ich habe Dich, mein Kind!“ rief Alfred plötzlich laut und heftig aus. Er schloß den Knaben an seine Brust. Ja, da war sie endlich, die ausfüllende Aufgabe, nach der er immer gesucht. Diese junge Seele zu überwachen und zur Reife zu bringen, das war es, was ihm ein Gefühl vollkommener Zufriedenheit geben mußte.
Die Zuckerkrankheit.
Es ist eine Errungenschaft der neueren Medizin, daß sie vermittelst der verfeinerten Untersuchungsmethoden, welche der Wissenschaft gegenwärtig zur Verfügung stehen, krankhafte Vorgänge im Organismus früh im Beginn zu entdecken und zuweilen schon ganz geringe Veränderungen im Getriebe des menschlichen Stoffwechsels nachzuweisen vermag. Der Laie pflegt sich halb im Scherze, halb im Ernste darüber verwundert auszudrücken: „Die Aerzte erfinden immer neue Krankheiten!“ Nun, mit diesem „Erfinden“ hat es seine guten Wege. Die Krankheiten haben wohl so ziemlich von jeher bestanden, nur vermögen sie sich jetzt nicht mehr so lange der ärztlichen Beobachtung zu entziehen wie früher, als die Hilfsmittel zur Krankheitserkenntniß ungenügende waren. Physikalische und chemische Instrumente, das Mikroskop und Reagensglas, das Hörrohr und der Spiegel, die Untersuchung am Gesunden wie das Experiment am Thiere müssen jetzt herhalten, um die Krankheitskeime in ihren sichersten Schlupfwinkeln zu entdecken, um jede Abweichung vom gesunden Zustande aufs rascheste festzustellen.
Zu den krankhaften Zuständen, deren Erkenntniß gegenwärtig bereits in den frühesten Stadien ermöglicht ist, und deren Vorkommen schon darum jetzt ein viel häufigeres zu sein scheint als früher, gehört auch die Zuckerkrankheit (Diabetes), eine Stoffwechselveränderung, welche viel Interesse bietet, obgleich ihr Wesen noch nicht ganz aufgeklärt erscheint.
Zucker wird bekanntlich als Nahrungsstoff dem menschlichen Organismus zugeführt und zwar in den verschiedenen Formen des Rohrzuckers, Traubenzuckers, Malzzuckers, Milchzuckers, Fruchtzuckers. Er bildet sich aber auch im Körper selbst und zwar beim Verdauungsprozesse im Darmkanale durch Zersetzung der stärkehaltigen Nahrungsmittel, ferner in der Leber durch Umwandlung eines zuckerbildenden Stoffes (des Glykogens). Der eingeführte wie der auf die bezeichnete Art erzeugte Zucker wird normalerweise im Organismus ganz verbrannt und giebt schließlich Kohlensäure und Wasser. Durch krankhafte Verhältnisse des Stoffwechsels kann es aber geschehen, daß dieser kostbare Brennstoff, der Zucker, nicht seiner Bestimmung gemäß verwerthet, sondern auf dem natürlichen Wege ausgeschieden wird, und jene Allgemeinerkrankung, bei der es zur Zuckerausscheidung kommt, wird als Zuckerkrankheit bezeichnet.
In welcher Weise die abnormen Vorgänge zustande kommen, ist noch nicht völlig klar; aber sichergestellt ist, daß dieselben durch eine große Reihe von Ursachen verschuldet werden können. In erster Linie stehen dabei krankhafte Nervenbeeinflussung durch Verletzungen und Erkrankungen des Gehirnes und Rückenmarkes, sowie durch anhaltende ungünstige psychische Eindrücke, durch Kummer, Gram, Angst, Schreck. Experimente am Thiere haben nachgewiesen, daß durch Verletzungen, welche an bestimmten Stellen des Gehirnes, am Boden des untern Theiles der sogenannten Rautengrube, beigebracht werden, sowie nach Durchschneidung gewisser Nervenbahnen sich künstlich Zuckerkrankheit erzeugen läßt; und einzelne Untersuchungen an, Personen, welche durch Unfälle Gehirnverletzungen erlitten hatten, bestätigten den Thierversuch. Häufig ist der Ausgangspunkt der Krankheit eine deutlich nachweisbare erbliche Anlage, und in manchen Familien sind mehrere Geschwister oder andere blutsverwandte Mitglieder zuckerkrank. Es vererbt sich diese Anlage zuweilen unmittelbar von den Eltern auf die Kinder, zuweilen überspringt sie eine Generation und tritt erst wieder bei den Enkeln zu Tage. Häufig habe ich die Beobachtung gemacht, daß in gewissen Familien ein durch erbliche Anlage vermittelter Zusammenhang von übermäßiger Fettleibigkeit und Zuckerkrankheit besteht, und zwar derart, daß einige Familienmitglieder, die schon in der Jugend sehr starke Fettentwicklung aufwiesen, zwischen dem 30. und 40. Lebensjahre zuckerkrank wurden, oder daß bei einigen Individuen derselben Familie sich Fettsucht, bei anderen aber die Zuckerkrankheit entwickelte. Hochgradig fette Personen werden in auffallend vielen Fällen zuckerkrank.
Nicht ohne Einfluß auf das Zustandekommen der Zuckerkrankheit scheint die Diät zu sein, besonders der übermäßige Genuß von stärkehaltigen Nahrungsmitteln, von Mehlspeisen und Süßigkeiten. Die außerordentlich viel Zucker schleckernden Südländer haben große Neigung, zuckerkrank zu werden. Vielleicht ist in diesem Umstande auch der Grund gelegen, daß die Zuckerkrankheit ganz bedeutend häufiger bei Wohlhabenden auftritt als in den ärmeren Schichten der Bevölkerung. Hingegen stimmt mit dieser Annahme nicht die durch Erfahrung festgestellte Thatsache, daß dreimal so viel Männer als Frauen zuckerkrank werden, während doch zweifelsohne das schöne Geschlecht mehr Vorliebe für Naschen von Süßigkeiten besitzt. Es spielen übrigens individuelle und Stammesverhältnisse, klimatische Eigenthümlichkeiten u. s. w. eine nicht klar gelegte, aber doch nicht zu unterschätzende Rolle. Auffällig ist beispielsweise die große Verbreitung der in Rede stehenden Krankheit unter den Israeliten.
Die Zuckerkrankheit ist zumeist ein langsam sich entwickelndes, schleichend auftretendes Leiden. Das erste und auffallendste Symptom ist in der Regel ungewöhnlich vermehrte Harnabsonderung, sowie heftiger, schwer zu stillender Durst. Es sollte dieses Zeichen immer ein Wink sein, die Absonderung behufs Nachweisung von Zucker chemisch untersuchen zu lassen. Denn erst viel später treten auffallende äußere Erscheinungen ein, welche mit der Grundkrankheit in Verbindung stehen: die Gesichtsfarbe wird gelblich, der Gesichtsausdruck erscheint gealtert, ängstlich bekümmert, die Haut wird trocken, faltig, zuweilen tritt heftiges Hautjucken ein oder die Bildung von Hautschwären. Dem Durste gesellt sich oft das Gefühl von Heißhunger zu; dabei magern die Kranken sichtlich ab, sind schwach und matt, fühlen sich elend, zur Arbeit unfähig, bei jedem Anlasse leicht gereizt und erregt. Bei längerer Dauer können sich die verschiedensten Organerkrankungen anschließen, welche zuletzt das Leben in Gefahr bringen.
So weit braucht es aber mit der Krankheit nicht zu kommen. Viele Fälle erfahren, wenn das Leiden im Beginn erkannt und rechtzeitig geeignet behandelt wird, so bedeutende Besserung, daß durch eine lange Reihe von Jahren behagliches Wohlbefinden herrscht, ja es kann auch wirkliche Heilung erzielt werden.
Das diätetische Heilverfahren, das heißt die Anordnung der für den Einzelfall geeigneten Ernährungsweise sowie der passenden Art der Lebensführung, feiert bei der Zuckerkrankheit die größten Triumphe. Der Diätetik fällt hier vor allem die Aufgabe zu, zur Ernährung solche Nahrungsstoffe zu wählen, aus denen gar kein oder nur sehr wenig Zucker im Organismus gebildet wird. Nun wissen wir, daß solche Zuckerbildner besonders alle stärkehaltigen Pflanzentheile (Getreidekörner, Hülsenfrüchte, Wurzelknollen, Kastanien) und der Zucker selbst sind. Sie müssen daher vom Tische jedes zuckerkranken möglichst verbannt werden. Die Durchführung dieses Verbotes hat aber große Schwierigkeiten, und auf die Dauer verträgt niemand eine ausschließliche Fleischkost. Am schwersten entbehren begreiflicherweise die Zuckerkranken das Brot, das uns von Jugend auf als eines der täglichen Bedürfnisse am [299] nöthigsten erscheint. Seit längerer Zeit sind darum die Aerzte bemüht gewesen, einen Ersatz für das Roggenbrot, welches 49% Stärke, und für das Weizenbrot, welches sogar 55% Stärke enthält, zu beschaffen. Man hat aus Kleber, nachdem durch wiederholtes Waschen des Mehles die Stärke aus demselben entfernt worden, Brot bereitet, ferner aus stärkemehlfreier Weizenkleie, sowie aus süßen Mandeln, aus isländischem Moos; aber alle diese sogenannten „Diabetesbrote“ haben wesentliche Nachtheile, sie sind entweder wenig schmackhaft oder schwer verdaulich und lassen bald die Sehnsucht nach dem gewohnten guten Brote immer heftiger auftauchen. Es erscheint darum zweckentsprechender, dem Zuckerkranken, sobald er Widerwillen gegen diese Brotersatzmittel bekundet, gewöhnliches gutes, nicht zu trockenes Brot, etwa 40 bis 100 Gramm täglich, zu gewähren, aber nur in kleinen Mengen und in verschiedenen auf den ganzen Tag vertheilten Zwischenräumen. Ebenso können ihm der Abwechslung wegen auch Gemüse gestattet werden, deren Genuß keine besondere Einwirkung auf die Zuckerausscheidung übt. Vorwiegend muß die Nahrung aus Fleischkost bestehen, aber auch hierin soll Mäßigkeit als erstes Gebot geübt werden. Der Kranke thut gut daran, sich des Tages auf 3, höchstens 4 in bestimmten Zwischenräumen zu nehmende Mahlzeiten zu beschränken, bei denen eine gewisse Abwechslung vorherrschen soll. Den Verlust, welchen der Körper durch die Ausscheidung des Zuckers erfährt, muß man durch Essen und Trinken zu ersetzen suchen, allein die Verdauungsorgane dürfen auch nicht überlastet werden. Neben der Fleischkost ist auch hinreichend viel Fett in der Nahrung zu bieten, weil die Fettarten raschere Sättigung gewähren und weil sie den Eiweißvorrath des Körpers vor zu rascher Zersetzung schützen.
Bei der Auswahl der Speisen und Getränke muß man sich also im ganzen vorwiegend von dem Gehalte derselben an Zucker und Stärkearten leiten lassen, dabei aber der individuellen Geschmacksrichtung möglichst Rechnung tragen. Der Arzt muß mit dem Koche Hand in Hand gehen. Im allgemeinen soll aber das folgende Verzeichniß der für Zuckerkranke gestattetem und verbotenen Nahrungsmittel als Richtschnur dienen.
Erlaubte Speisen: frische Fleischsorten aller Thiergattungen, ferner alles eßbare Geflügel, Pökelfleisch und Rauchfleisch, wenn sie nicht mit Honig oder Zucker versetzt sind; Fische im frischen und geräucherten Zustande; bei guter Verdauung: Schildkröten, Krebse, Frösche, Austern, Hummern, Muscheln, Schnecken; ferner Eier, Kaviar. Suppe, die ohne Mehl zubereitet ist. Schmalz, Oel, Butter, Käse, Quark, Sahne, dicke (saure) Milch. Gekochte grüne Gemüse: Blumenkohl, Spinat, Rosenkohl, Kohlrabi, grüne Bohnen und die grünen Enden vom Spargel. Ungekochte grüne Gemüse, mit Oel, Rahm, Butter, Fett, Speck und mäßig gewürzt zubereitet: Lattich, Wasserkresse, Endivien, Kopfsalat, Rettig.
In mäßigster Menge sind erlaubt: Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Johannisbeeren, ein Apfel, eine Birne, eine Orange, etwas Mandeln. Von Brot: Kleber-, Kleien-, Mandelbrot, wenn nöthig 40 bis 100 Gramm Roggen-, Graham- oder Weißbrot.
Erlaubte Getränke: reines Wasser, natürliche oder künstliche Säuerlinge, Mineralwässer, Thee, Kaffee; alle ungesüßten Spirituosen: Cognac, Rum, Whisky, Sherry, Bordeaux, Burgunder, Chablis, Rheinweine, österreichische und ungarische, aus besten Quellen bezogene, nicht zuckerhaltige Weine, bittere Biersorten (Pilsener Bier) in sehr mäßiger Menge, ungesüßte Mandelmilch, zuckerfreie einfache Citronenlimonade.
Verbotene Speisen: Zucker, Honig, Mehlnahrung (Mehlspeisen) jeder Art bis auf eine geringe ärztlich gestattete Brotmenge, Kartoffeln, Reis, Gries, Arrow-root, Sago, Tapioca. Die Wurzelgemüse: Mohrrüben, weiße, rothe und gelbe Rüben, Zwiebeln, Radieschen, Sellerie, Gurken, Schoten, Hülsenfrüchte (Linsen, Bohnen, Erbsen), Kastanien, alle süßen und eingemachten Früchte, Trauben, Kirschen, Pflaumen, Pfirsiche, Aprikosen und gedörrte Früchte.
Verbotene Getränke: Chokolade, Kakao, abgerahmte Milch, Molken, Most, Obstweine, moussirende Weine, Champagner, Portwein, Madeira, süße Ungarweine, süße und schwere Biere, Fruchtsäfte und Liköre.
Die Auswahl für die Speiseordnung ist nach dem Angeführten keine zu geringe, und es muß zur Erleichterung der Verdauung auf eine sehr sorgfältige gute Zubereitung der Speisen Bedacht genommen werden, ebenso wie diese selbst nur genügend zerkleinert zum Genusse gelangen sollen. Auch muß der Zuckerkranke der Pflege der Zähne und des Mundes (durch mehrmaliges wiederholtes Ausspülen mittelst eines guten Mundwassers) große Aufmerksamkeit schenken. Der Magen ist ganz besonders für diese Kranken ein so hochwichtiges Organ, daß ihm die fürsorglichste Beobachtung zu theil und alles ängstlich vermieden werden muß, was die Verdauung beeinträchtigen kann. Ein Diätfehler rächt sich oft in schwerster Weise. Gegen den vorhandenen Heißhunger muß der Arzt durch geeignete Mittel (Opium und andere Narcotica) ankämpfen, der übermäßige Durst wird durch Säuerlinge, Selters- oder Sodawasser mit etwas Cognac, auch durch Eispillen gestillt.
Die Haut bedarf bei Zuckerkranken gleichfalls besonderer Pflege, denn einmal haben diese Kranken große Neigung zu Ausschlägen und Furunkel- (Schwären-)bildung, dann aber ist jede Erkältung für solche Individuen höchst gefährlich, und darum muß die Haut abgehärtet werden. Nach beiden Richtungen sind Bäder von mäßigem Wärmegrade, sowie kalte Abreibungen des Körpers, gehörige schützende Bedeckung desselben mit Wollhemden oder wollenen Jäckchen von günstigem Einflusse. Wenn die Haut sehr spröde und trocken ist, empfiehlt sich ein Zusatz von Weizenkleie oder Mandelkleie zu den Bädern.
Der gesammte Stoffwechsel muß überdies durch ausgiebigen Genuß freier, frischer Luft, sowohl im Sommer wie im Winter, und wo es die Verhältnisse gestatten, durch Aufenthalt in waldiger Gebirgsgegend zur günstigen Jahreszeit, durch Verweilen in geschützten südlichen klimatischen Kurorten während der kalten Monate gefördert und angeregt werden, wobei leichtere, nicht ermüdende und anstrengende Bewegungsarten, kleine Gartenarbeit, mäßige Zimmergymnastik zu üben sind. Auch der Geist muß eine angemessene, nicht anstrengende Beschäftigung durch erheiternde Lektüre, zerstreuende Geselligkeit finden, um den Kranken vor allzu ängstlicher Selbstbetrachtung zu bewahren und jenen Trübsinn und Lebensüberdruß zu bannen, der sich so häufig bei chronischen Krankheiten einstellt und in wechselseitiger Beeinflussung auch das körperliche Befinden wieder ungünstig gestaltet. Alles, was die Körper- und Geisteskräfte zu sehr anzuspannen und zu ermatten vermag, jede leidenschaftliche Erregung muß vermieden werden. Durch Schonung und Selbstbeherrschung, mäßige und angemessene Lebensweise vermag der Zuckerkranke sein Leiden oft sehr erträglich zu gestalten und sich lange dauernden günstigen Befindens zu erfreuen. Unter meinen Klienten befindet sich ein den höheren Gesellschaftskreisen angehörender Herr, welcher bereits mehr als zehn Jahre an Zuckerkrankheit leidet und dabei den Verpflichtungen seiner Stellung recht gut nachkommt.
Unter den Heilmitteln, welche gegen die Zuckerkrankheit angewendet werden, nehmen die Kuren mit Mineralwässern, welche reich an Alkalien (einfach und doppeltkohlensaurem Natron) sind, den ersten Rang ein. Nach Karlsbad, Vichy, Neuenahr, Ems, Marienbad werden alljährlich Zuckerkranke in großer Zahl gesendet, welche mehr oder minder günstige Erfolge erzielen, dauernde Besserung besonders dann erfahren, wenn der Organismus nicht schon zu sehr erschöpft ist, wenn die Verdauungsfähigkeit noch normal ist und der Kranke sich noch in der Lage befindet, reichlich Fleischkost zu vertragen. Während eines solchen Kurgebrauches giebt sich die Besserung dadurch kund, daß der Durst und das Gefühl der Trockenheit im Munde abnehmen, die Harnabsonderung minder häufig wird, der Schlaf sich erquickender gestaltet, die Kranken sich kräftiger fühlen, ihr Körpergewicht zunimmt, die Zuckerausscheidung geringer wird, ja sogar gänzlich aufhört.
Der chemische Nachweis des Zuckers im Harne ist gegenwärtig sehr leicht und auch dem Laien durch mehrfache Untersuchungsmethoden möglich. Die letzteren jedoch anzugeben, unterlasse ich hier mit Absicht und Vorbedacht. Ich halte es nämlich nicht für zweckmäßig, daß der Kranke selbst diese Untersuchungen vornehme, welche ihn in stete Erregung versetzen und geradezu schädigen können. Ein bloßer Irrthum bei der Beobachtung kann schon verhängnißvollen Schreck verursachen. Wenn verdächtige Anzeichen auftreten, welche Zuckerkrankheit vermuthen lassen, ist es Sache des Arztes, festzustellen, ob die Krankheit vorhanden ist oder nicht; im ersteren Falle müssen häufiger Untersuchungen vorgenommen werden, um über die Schwankungen in der Menge des ausgeschiedenen Zuckers Gewißheit zu verschaffen und hieraus Schlüsse zu ziehen, wie die Lebensweise des Kranken zu regeln ist, was ihm frommt, was ihm schädlich ist.
Das Land des Negus Negesti.
Rings umlagert von mohammedanischen und heidnischen Völkerschaften thürmt sich im heißen Nordosten Afrikas eine Felsenburg, in der bis heute sich das Christenthum behauptet hat. Mächtige Bergriesen ragen empor, deren Häupter, wenn nicht das ganze Jahr, doch weitaus die meiste Zeit von fester Firn- und Schneehaube bedeckt sind. Das ist Abessinien, jenes Land, das als Reich des im 12. Jahrhundert lebenden Erzpriesters Johannes so lange mit sagenhaftem Schmuck umwebt wurde. – Es ist ein Gebirgsland voll der wunderbarsten Gestaltungen. Die Bewohner selbst sagen, Gott habe vergessen, das Land am sechsten Tage aus dem Chaos zu ziehen. „Um verrückte Bergformen zu sehen,“ ruft der vielgereiste Rohlfs aus, „muß man nach Abessinien gehen.“ Von der Kuppe eines hohen Gipfels verliert sich der Blick über kolossale Basaltabsätze und -säulen und geheimnißvolle unergründliche Tiefen. Eine Hochfläche über die andere geschoben und schließlich darauf gesetzte Gebilde: ein langgestrecktes Haus mit Plattdach, ein Turban, ein Hut, ein Streitthurm, ein abgestumpfter Kegel mit steilen Wänden. Diese letzten, auch auf unserer Abbildung S. 301 ersichtlichen Bergbildungen, im Volksmund „Amba“ genannt, dienen oftmals zur Anlage von Dörfern und Klöstern; oft sind sie auch der Rückhalt für Räuber und aufständische Vasallen. Ihre Abhänge sind schwer zugänglich, ihre Plattformen leicht zu vertheidigen. Eine solche Amba war die von Magdala, auf deren Gipfel der trotzige Theodoros II. am Ostermontag 1868 dem Ansturm der englischen Truppen erlag.
In ihm endete einer der merkwürdigsten Männer Afrikas, eine seltsame Mischung von kriegerischem Helden, weisem Regenten und zügelloser Bestie. Mit seinem Fall wurde Abessinien ein Zankapfel herrschsüchtiger Häuptlinge und die Beute auswärtiger Feinde. England zog sich zurück. Abessinien war, nach Lord Napiers Ausspruch, durchaus ohne Interesse für Großbritannien, die englischen Kaufleute wollten von Handelsbeziehungen nach diesem wenig produzierenden, wenig aufnahmefähigen Lande nichts wissen. So konnten die verschiedenen Prätendenten ungestört ihre Kämpfe unter sich ausfechten.
Unter ihnen gelang es bald einem, die anderen Nebenbuhler sich zu unterwerfen. Ein eingeborner Guerillaführer, mit Namen Kassai, hatte es theils aus Klugheit, theils aus persönlicher Feindschaft gegen Theodoros mit den Engländern gehalten. Von diesen aus Dankbarkeit mit Waffen und Munition ausgerüstet, jung, kühn, tapfer und klug, schwang er sich bald zum Negus Negesti, zum König der Könige, empor. Durch einen von ihm selbst aus Aegypten verschriebenen koptischen Oberpriester unter dem Namen Johannes in der heiligen Krönungsstadt Aksum zum gottverordneten König von Zion und König der Könige von Aethiopien gesalbt, unterwarf er sich nach und nach die angrenzenden Landschaften von Schoa, Enarya, Kafa und Gera. Von dieser Zeit an datirt die Herrschaft des Negus Johannes, der im März dieses Jahres den Wunden erlegen ist, welche er in einem Gefechte gegen die Mahdisten erhalten hatte.
Inzwischen aber hatte der Schweizer Werner Munzinger als ägyptischer Statthalter des Ost-Sudan die beiden abessinischen Provinzen Bogos und Halhal für seinen Herrn, den Chedive, Anfang der siebziger Jahre in Besitz genommen. Munzinger wollte aber noch mehr; er strebte nach nichts Geringerem als nach der Herrschaft über ganz Abessinien und der ehrgeizige und verschwenderische Chedive Ismail Pascha war nicht abgeneigt, auf diesen Plan einzugehen und seinen übrigen Eroberungen noch diese hinzuzufügen.
Munzinger dachte eigentlich daran, selber den Thron Abessiniens einzunehmen, aber man betraute nicht ihn mit Führung des 1875 abgesandten Heeres, sondern einen Neffen des allmächtigen Ministers Nubar Pascha und den schwedischen Oberst Arendrup; Negus Johannes zog ihnen mit 50 000 Mann bis an die Grenze entgegen, im Thalgrunde von Gudda-Guddi kam es zur Schlacht und sämmtliche Aegypter, mit Ausnahme eines Bataillons, das auf den Höhen zurückgeblieben war, wurden schmählich zusammengehauen.
Eine zweite, aufs sorgfältigste ausgerüstete Armee von 20 000 Mann unter dem Prinzen Hassan, dem Lieblingssohn des Chedive, der seine militärische Ausbildung in Berlin erhalten hatte, wurde in den Bergspalten von Gura so vollständig geschlagen, daß nur der Prinz nach Massaua entrinnen konnte. Die ganze Kriegskasse mit 20 000 Pfund Sterling in Gold und 30 000 Maria-Theresiathalern fiel in die Hände des Negus. Eine dritte ägyptische Heeresabtheilung unter Munzinger fand in der östlich von Abessinien gelegenen Aussa-Ebene ihren Untergang.
Nun begannen Friedensunterhandlungen. Aber an einen Friedensschluß war nicht zu denken, so lange Forderungen und Zugeständnisse sich so wenig näherten. Negus Johannes forderte die Zurückgabe der Landschaften Bogos, Mensa, Metammeh, Schangalla, die Häfen von Sula und Amphila am Rothen Meer, Kriegsentschädigung und einen Abuna, d. h. Oberpriester; der Chedive wollte nur erlauben, daß man sich einen Abuna vom koptischen Patriarchen in Aegypten „kaufe“.
Daß Abessinien die ihm geraubten Provinzen zurückverlangte, war natürlich. Freilich ist Aegypten heute gar nicht mehr imstande, diesen Wunsch zu befriedigen. Der Beherrscher Abessiniens wird sich da mit den Mahdisten und Derwischen abfinden müssen. Der Besitz von Häfen ist aber für Abessinien eine Lebensfrage. Nur so kann es mit der übrigen Welt, mit Europa in Verbindung treten und seine noch unerschlossenen Hilfsquellen entfalten. Zur Aneignung der beanspruchten Häfen bot sich ja eine gute Gelegenheit, als der Mahdi mit seinen sogenannten heiligen Scharen die Aegypter endgültig aus dem Sudan vertrieb. Aber Negus Johannes war ein glühender Hasser des Islams und würde nie mit dessen Anhängern paktiert haben; ließ er doch alle in seinem Lande lebenden Mohammedaner zwangsweise taufen.
Dennoch verlor er sein Endziel, die Rückeroberung der geraubten Provinzen und die Gewinnung eines Stückes Meeresküste, nie aus dem Auge. Bereits seit 1880 lagerte sein bester Feldherr Ras Alula mit einem Heere, das er schnell auf 50 000 Mann vermehren konnte, bei Tsatsega und regelmäßig trieb er von Bogos und Mensa Steuern ein; nach Art der Aegypter plünderte er nämlich einfach diese Provinzen. „Wenn uns Aegypten die geraubten Provinzen nicht zurückgiebt,“ pflegte er zu sagen, „werden wir Chartum und Massaua zerstören.“
Daß Massaua von Italien besetzt und zu einer starken militärischen Station gemacht wurde, kam den Abessiniern gar nicht gelegen. Wenn schon dieser ägyptische Posten in andere Hände übergehen sollte, so machte der Negus Negesti Anspruch darauf. Darum verhielt er sich gegen alle Annäherungen der Italiener äußerst kühl und darum der plötzliche bekannte Vormarsch Ras Alulas im Jahre 1887, durch den eine ganze vorgeschobene italienische Abtheilung bis auf wenige Verwundete, welche dem Gemetzel entkommen konnten, vollständig aufgerieben wurde. Darum auch der weitere Vormarsch der Abessinier, welche sogar Massaua selber bedrohten.
Diese Erfolge hatten die Abessinier nur dem Umstande, daß sie die Italiener überrumpeln konnten, und der eigenen Uebermacht zu danken, wie auch die Schwierigkeit des unbekannten Terrains und das unvorsichtige Vorgehen der Aegypter es war, welches diesen Niederlage auf Niederlage bereitete. Außerhalb ihrer Berge dürfte eine abessinische Armee wenig furchtbar sein. Allerdings fehlt es dem Abessinier nicht an Tapferkeit. Das hat er in unzähligen Kriegen bewiesen. Wenn Noth an Mann geht, so stürzt er sich mit Todesverachtung auf den Gegner. Es handelt sich bei dem Sohne dieses Landes meist aber nur um ganz unregelmäßige Massenangriffe. Seine Kriegskunst liegt um Jahrhunderte hinter der unsrigen zurück, und die Bewaffnung ist nicht viel besser. Als Schußwaffen dienen mächtige Luntengewehre, deren Laden und Abfeuern viel Zeit erfordert, nur die Leibgarde des Negus Johannes war mit Remington-Gewehren ausgerüstet. [301] Das im Lande bereitete Pulver ist schlecht, statt Kugeln ladet man Eisenstückchen, die man mit einem Stein etwas rund geklopft hat. Die Hauptwaffen sind aber Lanzen, krumme Säbel und Schilde aus Elefanten- oder Büffelhaut mit metallenen Buckeln, auch mit Fellstücken und Thierschwänzen phantastisch ausstaffirt.
Die Hauptmacht des Heeres lagerte gewöhnlich im Bezirk Debra Tabor, wo der Negus auf der Plattform des mit einer Batterie gekrönten Samara-Hügels seine Residenz aufgeschlagen hatte, zu der man auf steiler Basalttreppe emporstieg. Offiziere mit schwarzen Pantherfellen umhangen und mit prachtvollen gold- und silberbeschlagenen roth- und blausammetnen Schilden versehen, hielten Wache. Dort gab der Negus Audienz auf dem abessinischen Sofa, dem Angareb, sitzend und gehüllt in seinen kostbaren Margaf, der nur Augen und Stirn freiläßt. Seine Kleidung war sonst eine sehr einfache und von der seiner Unterthanen kaum zu unterscheiden. In der Schlacht hatte von vier dazu bestimmten hohen Würdenträgern immer einer die königlichen Kleider und Abzeichen anzulegen, um dadurch die Augen des Feindes auf sich und vom „Gesandten Salomos“ abzulenken. Unter Theodoros fiel der Irländer John Bell in Ausübung dieses Amtes an der Seite des Negus 1860 im Treffen von Dobarek. – Die Wohnung des Negus war sehr bescheiden, wie wir sie auf unserer obenstehenden Abbildung erblicken. Früher war das freilich anders. Davon zeugt das berühmte Kaiserschloß zu Gondar, eine imposante, aber geschmacklose Schöpfung portugiesischer Werkmeister, reich an Kuppelthürmen und Zinnen. Aber heute ist es ebenso wie die großartigen Lustschlösser in der Nachbarschaft schon halb zur Ruine verfallen, in der Raubthiere hausen. Die militärische Dienstleistung der Abessinier ist als Ausfluß ihrer Lehenspflicht eine regelmäßige. Die Statthalter der Provinzen haben eine je nach dem Flächeninhalt derselben bemessene Anzahl wehrfähiger Leute zu stellen. Dem im ganzen arbeitsscheuen Abessinier ist der Kriegsdienst eine Lieblingsbeschäftigung, weil es dabei gewöhnlich etwas zu plündern giebt. Daher findet sich auch, wenn es irgendwo losgeht, sofort eine Anzahl alter, mit den landesüblichen Chikanen vertrauter Kämpfer. Für Kleider, Waffen, Lebensunterhalt muß jeder selber sorgen. In Schoa erhalten nur die vierhundert aus des Königs Besitzungen ausgehobenen Schützen Sold, nämlich jeder jährlich acht Stück Steinsalz im Werth von je 1½ Mark. Disciplin ist in den abessinischen Heersäulen nicht zu suchen.
Wurde der Aufbruch beschlossen, so versammelte sich sogleich ein ungeheuerer Troß beutegierigen Volks. Voran ritt der Negus auf reich geschirrtem Maulthier unter einem mächtigen rothseidenen Sonnenschirm, dem höchsten Ehrenzeichen, das außer ihm nur der vornehmsten Geistlichkeit zukommt. Musikbanden kündigten sein Kommen an. Auf ihn folgte der Abuna auf einem stattlichen, mit zierlichen Glöckchen und schimmerndem Metallhalsband ausgeputzten Maulthier. Er trug ein Tuchgewand, schwarzen kleinen Turban und einen rothausgeschlagenen Burnus. Dann eine der Königinnen, umgeben von Eunuchen und Soldaten, auf schönem Thiere und gehüllt in einen enganliegenden blauen Sammetmantel mit reicher Silberstickerei und kleinen goldenen und silbernen Glöckchen, das Gesicht auf tscherkessische Weise verschleiert. Darauf das ehrwürdige Haupt der geistlichen Kongregationen, der Etschege, in weißem Gewand und Turban, begleitet von vermummten Geistlichen aller Grade. Im Lager erhob sich neben dem kaiserlichen Zelt das Kirchenzelt mit den in rothes Zeug eingewickelten hölzernen Gesetztafeln Mosis, die auf vergoldeten Lehnsesseln ruhten. Theodoros pflegte vier gezähmte Löwen mit sich zu führen. In ähnlicher Weise mögen auch ein Rhamses und ein Nebukadnezar bei ihren Kriegszügen aufgetreten sein, einen großen Troß Weiber, gemißhandelte Knechte und verstümmelte Gefangene hinter sich. Denn unsäglich grausam ist der Abessinier als Sieger. Er verstümmelt den Todten, den verwundeten wie den unverwundeten Gefangenen auf die scheußlichste Art.
Dies ist das Reich, dessen Thron jetzt verwaist ist, denn der Negus Johannes ist todt. Feinde stürmen auf das Land von allen Seiten ein, von Norden und Westen die wilden Scharen der Derwische, von Süden der Herrscher von Schoa, der das ihm aufgezwungene Lehensverhältniß abgeschüttelt hat, im Nordosten steht Italien. Die Frucht scheint zur Ernte reif; wie schwer es aber ist, sie zu pflücken, das haben nur zu oft die erfahren müssen, welche sich daran wagten.
Lore von Tollen.
Indessen hatten sich Wegstedt und der Doktor auf der Straße
getroffen. Der kleine Offizier war in aller Eile an der Thür
der Residenz seines Kommandeurs gewesen und hatte erkundet, daß
Käthe dort nicht sei; nun war er ärgerlich wieder auf dem Wege
nach Hause. Weshalb um alles in der Welt saß Käthe denn ewig
bei der Mutter dieses Doktors? Und gar heute abend? Und
plötzlich standen sich die beiden Herren gegenüber in der dunkeln,
schlecht erleuchteten Straße, auf dem schmalen, nur für eine Person
berechneten Fußsteig.
Der Offizier wollte mit einem raschen Gruß vorüber, da redete ihn der andere an. „Ist wohl ausgefallen, der Kegelklub heute abend, Herr von Wegstedt?“
„Weiß nicht!“ schnarrte der Kleine.
„Ah, Pardon, ich glaubte, Sie wollten – Apropos, Herr Lieutenant, gestatten Sie mir eine Bitte – nein, ich will Sie nicht aufhalten, ich komme die kurze Strecke wieder mit zurück.“ – Und der Doktor nahm, der Schwüle wegen den Hut ab und ging, ihn in der Hand haltend, auf dem Fahrdamm neben Wegstedt her. – „Die Bitte mag Ihnen zunächst sonderbar klingen,“ fuhr er fort, „sie lautet nämlich folgendermaßen: Animiren Sie Fräulein von Tollen nicht zum Reitsport, Herr Lieutenant!“
Wegstedt blieb stehen. „Was geht Sie das an?“ scholl es hochmüthig durch die Dunkelheit.
„Es geht mich an, Herr von Wegstedt, verlassen Sie sich darauf! Wie so? weshalb? kann ich Ihnen heute noch nicht sagen, vielleicht sehr bald, aber –“
„Ich frage, was gehen Fräulein von Tollens Passionen Sie an?“ wiederholte Wegstedt eine Nuance gereizter.
„Nun denn, Herr Lieutenant, die Frage könnte ich mit Fug und Recht an Sie stellen. Haben Sie die Güte, etwas zu warten; ich bin heute noch nicht imstande, zu beweisen, daß die Passionen Fräulein von Tollens mich allerdings angehen.“
„Herr, Sie sind ein elender Renommist!“ schrie der kleine Offizier.
„Herr von Wegstedt!“ scholl es drohend zurück.
„Mein Herr, Sie lügen, wenn Sie behaupten, daß Sie auch nur ein Atom von Zugehörigkeit zu dieser Familie besitzen.“
„Und Sie, mein Herr, sind momentan nicht in der geistigen Verfassung, ein vernünftiges Wort zu verstehen, ich werde mir erlauben Ihnen morgen eine Erwiderung zukommen zu lassen.“
„Sehr angenehm!“
Der Doktor wandte sich jäh um. Wegstedt rasselte weiter.
„Alle Donnerwetter noch ’mal!“ fluchte er vor sich hin, „so ein verdammter –“ Die Hausthür flog krachend hinter ihm ins Schloß, daß Frau von Tollen aus dem ersten Schlummer aufschrak. In seinem Zimmer brannte die Lampe. Die Läden waren angeschlagen. Er warf die Mütze auf den Tisch und die Handschuhe dazu, den Säbel stieß er in eine Ecke, daß er das Gleichgewicht verlor, rasselnd längs der Wand hinschurrte und klirrend zur Erde fiel.
Alle Wetter noch ’mal! Weiß Gott, er war nicht hochmüthig, er war kein verstockter Junker, er achtete jeden, wes Standes er sei, wenn er seine Pflichten treu erfüllte; aber daß dieser Kathederheld es wagte, auch nur einen Gedanken zu der zu erheben, die er, Levin Hans von Wegstedt, zu seiner Ehefrau machen wollte, da schlag der Teufel drein, das war zu viel!
Er war, während er dieses halb gedacht, halb gesprochen, im Zimmer auf und ab gelaufen und warf sich nun mit verstörter Miene in einen der rothen Plüschfauteuils der Frau Majorin. Er war ganz unsinnig verliebt, der kleine Hans von Wegstedt, in dies feine schlanke Geschöpf mit dem kecken Gesicht und den prachtvollen Augen. Und er war ihr so dankbar, daß sie ihn, den kleinen Hans von Wegstedt, wollte; er hätte schon viele haben können, aber was waren sie alle gegen dieses Mädchen! Seit drei Wochen hatte er nicht mehr an sein Elternhaus denken können, ohne daß er dort in den Zimmern und Sälen sie umhergehen gesehen hätte. Verfluchter Unsinn, der Kerl mußte verrückt sein!
Auch er schrieb, er schrieb an seine Mutter, an der er all sein Lebtag eine Freundin gehabt, und bat sie, Käthe von Tollen einzuladen. „In solchem jammervollen Neste wie Westenberg, liebste Mama, vermengen sich die Elemente gar zu sehr, und dadurch, daß Tollens immer in mißlichen Verhältnissen waren, ist es eben gekommen, daß die sogenannte Hautevolée der Bürger sie als völlig zu sich gehörig betrachtet und meine Käthe sich der höchst ernsthaften Huldigungen eines sonst sehr charmanten Menschen, eines jungen Doktors vom Gymnasium hier, erfreut. Ich bin wenig entzückt davon, wenn auch ganz und gar keine Gefahr vorhanden ist. Bitte, komme womöglich selbst und hole Dein künftiges Schwiegertöchterlein. Bereite Papa langsam vor.“
Von dem ernsthaften Rencontre verrieth er kein Wort; so was schreibt man nicht, das mochte sich ja nun regelrecht entwickeln. – Der Doktor würde natürlich auf Studentenrapiere losgehen. – Apropos – er war ja wohl gar Reserveoffizier? Hans Wegstedt holte die Rangliste. – Richtig – um so besser! – Er ging endlich schlafen, nahm ein Buch und die Lampe mit ans Bett und trank die ganze Wasserflasche aus, aber sein empörtes Blut wollte sich nicht beruhigen, er that kein Auge zu.
Der andere Morgen brachte ein frühes, heftiges Gewitter, nach welchem der Himmel sich nicht wieder aufklärte; leise regnete es weiter auf die durstige Erde, die ihren Dank in Gestalt von wunderbaren Düften zu den wohlthätigen Wolken hinauf sandte.
Es plätscherte und rieselte in allen Dachrinnen und in allen Rinnsteinen, und in allen Häusern standen Thüren und Fenster offen um die ersehnte Kühlung einzulassen.
Hans von Wegstedt kam völlig durchnäßt von der Heide zurück und nahm sich kaum Zeit zum Umziehen, um den jungen Referendar, der ihn bereits seit einer Viertelstunde erwartet hatte, nicht allzu lange antichambrieren zu lassen.
Er wußte natürlich, was der wollte.
Der Referendar stand vor dem prachtvoll ausgestatteten Gewehrschrank, als Hans in sein Wohnzimmer trat, und ging nun gemessen auf diesen zu.
„Ich komme im Auftrag des Doktor Schönberg, Wegstedt.“
„Nehmen Sie Platz, Röder, ich erwartete das.“
Die Herren setzten sich.
„Schönberg läßt Sie um Genugthuung bitten; er erklärt sich zufriedengestellt, wenn Sie in meiner Gegenwart und in der eines Ihrer Kameraden Ihr Bedauern äußern, gestern abend so – so beleidigende Ausdrücke gebraucht zu haben. Sie waren vermuthlich schlechter Laune, Wegstedt, oder Sie unterschätzten die Eröffnungen Schönbergs.“
„Ich bedaure kolossal, aber ich kann nicht den Ipunkt von dem zurücknehmen, was ich gesagt habe; ich denke in diesem Augenblick noch genau so wie gestern abend,“ erklärte Wegstedt kühl.
„Dann habe ich Ihnen eine Forderung zu überbringen.“
„Ich bin vollkommen damit einverstanden. Natürlich Pistolen!“ sagte Wegstedt und erhob sich. „In einer Stunde wird mein Sekundant bei Ihnen sein.“
„Adieu, Wegstedt!“
„Habe die Ehre,“ sagte dieser und klingelte dem Burschen. Er mußte erst zweimal Sturm läuten, ehe der erschien.
„Zum Donnerwetter, wo steckst Du denn?“ fuhr er den armen Menschen an, der außer Athem war, „bist ja noch immer wie eine Made naß!“
„Zu Befehl, ich war für die gnädige Frau oben beim Doktor.“
„Was?“
„Das gnädige Fräulein ist krank geworden über Nacht.“ Hans Wegstedt wurde ganz blaß. Er stürmte wie er war in der Hausjoppe die Treppe hinauf.
Helene stand auf dem Flur mit besorgtem Gesicht.
„Gnädiges Fräulein, es ist doch nicht schlimm?“ fragte er.
„Der Doktor erklärt, noch könne er nicht sagen, was es sei; aber sehr krank ist sie sicher, wir fanden sie heute früh bewußtlos in ihrem Bett, noch in den Kleidern, die sie gestern getragen.“
Er stand ein Weilchen da wie vor den Kopf geschlagen und ging langsam wieder nach unten. Nach einer halben Stunde besann er sich, daß er ein wichtiges Geschäft habe, zog sich um und ging zum Frühschoppen, wo er einen Kameraden bat, ihm bei dem Rencontre mit Doktor Schönberg zu sekundieren.
[303] In tiefster Bekümmerniß über Käthens Erkrankung trank er sein Bier aus und kehrte wieder heim, um sich abermals zu erkundigen, wie es mit Käthe stehe. Dann saß er den ganzen Tag in seinem Zimmer, schrieb, verbrannte Papiere und machte unzähligemale den Weg die Stufen empor, und jedesmal kam er kraftloser zurück, denn Käthe war in der That sehr krank geworden.
Auch Ernst Schönberg kam. Er sprach ebenfalls nur Helene. „Sagen Sie mir um Gottes willen, Fräulein Helene,“ bat er, indem er seinem Bedauern Ausdruck gab, „hat Käthe irgendwie dem Lieutenant von Wegstedt einen Beweis von besonderem Wohlwollen erzeigt?“
„Aber Doktor, Sie sind wirklich grundlos eifersüchtig,“ antwortete die Schwester mit Thränen in den Augen, „sie hat sich geneckt mit ihm wie mit einem Bruder.“
„Sicher?“
„Schämen Sie sich, Schönberg; sie kann sich jetzt nicht selbst vertheidigen das arme Ding!“
Er ging wieder. Es war ja auch absolut nichts zu wollen, wie die Sachen lagen; selbst wenn Käthe gesund wäre, wenn man Wegstedt, der unfehlbar bis über die Ohren in Käthe verliebt war, die Verlobungsanzeige heute noch hätte schwarz auf weiß zeigen können, das Duell war ja doch nicht zu vermeiden.
Am Abend wußte es ganz Westenberg, Käthe von Tollen sei schwer erkrankt. Tante Melitta saß in der Wohnstube von Tollens wie die unheimlichste der Parzen selbst und schüttelte den Kopf über das neue Unglück, das in das Haus gekommen. Die Majorin war am Bette der Tochter; es herrachte das geschäftige lautlose Treiben, wie es sich in der Nähe von Schwerkranken zu entwickeln pflegt. In ihrem kleinen Stübchen empfing Helene die Frau Pastorin und ein paar Minuten später Gusti.
„Was wird es sein?“ sprach Frau Schönberg, „sie hat sich beim Reiten allzusehr erhitzt. Warum muß sie denn auch auf das Pferd hinauf wie ein Junge!“
Gusti zog eine schnippische Miene. „Wenn etwas der Gesundheit zuträglich ist, so ist es das Reiten,“ entgegnete sie und empfahl sich sehr bald mit dem Versprechen, morgen früh wieder zu kommen, um nachzufragen.
Auch die Pastorin trat mit besorgter Miene den Rückzug an, unter ihrem riesigen Regendach, das sich einst über ein paar glückselige Menschenkinder gespannt hatte. Was war seitdem alles geschehen!
Die alte Frau hatte eine sonderbare Unruhe. „Es droht etwas, es droht etwas!“ sagte sie vor sich hin „Mir hat schlecht geträumt, ich hab so viel Wasser gesehen, lauter schlammiges gelbes Wasser –.“
Ihrem Sohn begegnete sie unterwegs. Sie blieben stehen voreinander und sprachen ein paar Worte. „Gehirnentzündung! sagt der Doktor,“ berichtete die Mutter. „Es sieht sich schlecht an, min oll leiw Jung – na, Kopf hoch!“
Er nickte ernsthaft und ging weiter.
Die alte Frau sah ihm nach, wie er so rasch und sicher dahinschritt. Liebe Zeit, sie war nicht hochmüthig, aber was recht ist, muß recht bleiben, er war der hübscheste Mensch in ganz Westenberg, war ihr ganzes Glück, ihr Stolz, ihr Alles. Gott mochte ihn vor Leid bewahren!
Und derweil ging ein Soldat an ihr vorüber, der trug in elegantem Kasten ein Paar Pistolen, die hatte sich der Sekundant Wegstedts von einem Rittmeister geborgt für den andern Morgen.
Und die alte Frau ahnte gar nicht, was dieser Soldat mit dem Kasten für sie bedeute; sie war nur ärgerlich, daß der große Kerl mit seinem breiten Rücken ihr die Aussicht auf den Sohn einen Augenblick verdeckte.
Und während sie weiter trippelte über die nasse Straße in ihrem schwarzen Hut, dessen weiße, duftige Tüllrüsche das alte liebe Gesicht umschloß, mit dem schwarzen, dreizipfligen Umschlagetuch, das sie trug, seitdem ihr Mann gestorben, und dem Regenschirm, auf dem lustig der Regen trommelte, da ging ihr ein altes Gebet durch den Sinn, das sie oftmals, am Krankenbette sitzend, den dörflichen Patienten vorgesprochen, als ihr Mann schon kränklich war und die Leute baten, „wenn de Herr Pastor nich Tid hätt, sall de Fru kamen!“ –
„In Noth und Leid und viel Unruh,
Der beste Arzt, o Herr, bist du,“
schloß sie, just als sie vor ihrer Hausthür stand.
Es war am folgenden Abend, da saß sie an des Sohnes
Bett, aber jetzt war sie nicht fähig zum Beten.
Die alte Frau begriff noch immer nicht, wie es gekommen, daß ihr „Jung“, der gestern noch so stolz und aufrecht ging, hier lag wie ein Baum, den jählings der Blitz gefällt.
So gegen acht Uhr heute früh hatte man ihn aus der Kutsche gehoben, die wie ein Gespenst vor der Gartenthür erschienen war, und ihn hier heraufgetragen. Ein „Duell“, hatte man ihr gesagt. Was wußte sie von einem Duell – und das, was sie dunkel von der Bedeutung des Zweikampfes gehört, hatte sie immer mit Verachtung und Abscheu erfüllt. „Gotteslästerlich“ war es ihr erschienen. Und nun ihr einziger Sohn! Warum? Gott mochte es wissen. Sie hatte fast verständnißlos dagestanden und zugeschaut, wie zwei Aerzte, der alte Kreisphysikus und der junge Militärarzt, den Kranken untersuchten und verbanden. Sie hatte auch Wasser gebracht und Leinwand herzugeholt mit zitternden Händen, aber sprechen konnte sie nicht. Nur als der Physikus sich an sie wandte und ihr Anweisungen gab wegen der Pflege, murmelte sie. „Muß er sterben?“
„Nein, nein, Frau Pastorin. I bewahre!“ war die Antwort gewesen; aber sie kannte den alten Herrn, er war roth geworden bei der Lüge.
„Nun weiß ich all!“ antwortete sie halb plattdeutsch und setzte sich an das Bett, darin er bewußtlos lag, bleich wie das Linnen der Kissen.
„O die Tollens – die Tollens!“ murmelte er.
„Ja ja,“ nickte sie; und sie sah ihn immerfort an, „das wird’s wohl sein, aber Du hast nicht hören wollen, Du armer Jung, Du hast Din oll Mutter immer ausgelacht.“
Und so starr und still that sie alles, was zur Pflege nöthig war. Der Kranke ward am späten Abend unruhig; sie rief das Dienstmädchen und befahl, den Arzt noch einmal zu holen.
Die frische Dirne blieb an der Thür stehen mit rothgeweinten Augen. „Ach, Fru Pastorn, weeten’s, wer unsern jungen Herrn dat than hadd?“
„Is ja gleich,“ war die Antwort.
„De Leutnant Wegstedt is’t wesen; er hat aber auch was abgekriegt, und bein Koopmann vertellten se, he sei all rut ut Westenberg. Und Fru Pastorn, unser Frölen Käthe – de Lüd seggen ja, sei möt starven.“
„Geh doch, Deern und hol den Doktor!“ sagte die alte Frau. –
Die Sekundanten hatten, als die Betheiligten auf dem Platz angekommen waren, noch einmal nach der üblichen Vorschrift versucht, die Parteien zu versöhnen, und selbstverständlich war von beiden ein kurzes Ablehnen erfolgt.
Sie waren beide hinaus gefahren, ohne daß ihnen eine Ahnung von der Wahrheit der Dinge aufgedämmert war; keiner von ihnen suchte die Schuld bei der, die ein jeder von ihnen seine Braut nannte. Der Doktor war in der langen, schlaflosen Nacht, die diesem Morgen voranging, des düstern Gefühls nicht Herr geworden, daß es doch am besten sei für Käthe, wenn eine mitleidige Kugel sie vor dem Zusammenleben mit ihm bewahre, der mit allen Fasern seines Herzens einer andern gehörte, und daß es noch das Beste für ihn sei, wenn er nicht verurtheilt werde, der, die ihn so herzlich liebte, Komödie vorspielen zu müssen ein ganzes langes Leben hindurch.
Er blieb ruhig, als er auf dem Rendezvousplatz anlangte; die Vorbereitungen nahmen nur wenig Zeit in Anspruch. Ein einziger Blick des Doktors hatte das kalkweiße Gesicht des kleinen Offiziers gestreift, dessen helle Augen heute wie schwarz erschienen; dann hatte er immer in das Laub des alten Eichbaumes hinaufsehen müssen, das sich so köstlich frisch von dem lichten Morgenhimmel abhob; und auch den Gesang unzähliger Lerchen droben im Blau hatte er gehört, aber denken konnte er nicht mehr. Man hatte ihm eine der Waffen übergeben, die Distanz war abgeschritten, und nun wurden die Gegner mit dem Rücken gegeneinander gestellt, der Unparteiische begann zu zählen – „eins“ scholl es – „zwei“ – „drei“ –.
Beide wandten sich, und im selben Moment fielen zwei Schüsse.
Der Doktor sank sofort zu Boden. Wegstedt stand, nur der linke Arm hing merkwürdig schlaff herab. Sein Sekundant trat zu ihm, während der Arzt nach der andern Seite eilte.
Noch hatte Schönberg Besinnung. Er machte ein Zeichen, daß Wegstedt näher kommen solle.
[304] „Pardon, Herr von Wegstedt,“ sagte er, obgleich ihm das Blut aus dem Munde quoll, „Pardon – ich –. Aber sehen Sie, Käthe Tollen ist meine Braut!“ Er sah nicht mehr, daß der junge Offizier wie außer sich den Boden stampfte; er war schon bewußtlos. –
Wegstedt, der nur einen leichten Streifschuß erhalten hatte, fuhr in seine Wohnung. Der Arzt sollte nachkommen, sobald Schönberg versorgt sei. Hans Wegstedt mit seinem schmerzenden blutenden Arm stieg geradeswegs in die Tollensche Wohnung hinauf; Helene stand in der kleinen Küche und zerschlug Eis für die Kranke, die im höchsten Delirium lag, – Sie hatte rothgeweinte Augen.
„Sagen Sie mir, seit wann ist Käthe mit Doktor Schönberg verlobt?“ begann er unvermittelt.
Das stille blonde Mädchen starrte ihn erschreckt an, wie er so plötzlich dastand auf der Schwelle, blaß, mit schmerzverzerrtem Gesicht, den Aermel der Ulanka angeschnitten und Blut in dem Tuch, das ihm eilig um den verletzten Arm gebunden worden war.
„Um Gottes willen!“ stammelte sie.
„Seit wann ist Käthe verlobt mit Doktor Schönberg?“ wiederholte er. „Reden Sie, gnädiges Fräulein!“
„Seit –“ stotterte sie, „ja schon seit ein paar Monaten. Hat sie Ihnen das nicht gesagt?“
Er wandte sich kurz um und ging die Treppe hinunter. Dort verschloß er die Thür seiner Stube hinter sich, warf sich in einen Sessel und begann zu weinen, zu weinen wie ein kleiner Junge! Eben noch hatte er dem Tod ins Auge geschaut und mit keiner Wimper gezuckt, aber lieber hätte er sein Leben eingebüßt, als diese Enttäuschung zu erfahren.
Als der Sekundant mit dem Arzt endlich kam, verlangte er, sofort zu Schönberg gefahren zu werden.
„Er würde Sie doch nicht kennen, er ist ganz bewußtlos,“ wehrte der Arzt.
„Ist es sehr gefährlich?“ forschte er.
„Eh – hoffen wir das Beste – Schuß durch die Lunge.“
„Wenn Du reisen kannst, Hans, sollst Du abfahren, läßt Dir der Kommandeur sagen,“ fiel der Kamerad ein, „es ist auch das Rechte für Dich, denn Verhandlungen können doch nicht stattfinden jetzt.“
„Ja!“ sagte er, „in diesem Hause kann ich auch nicht bleiben.“ Er nahm eine Karte, schrieb p. p. c. darauf unter seinen Namen und schickte sie an Frau von Tollen.
„Es steht sehr schlecht da droben,“ meldete der Bursche, als er zurückkam.
„Doktor, glauben Sie, daß eine solch schwere Krankheit schon Tage lang, bevor sie ausbricht, ein richtiges Denken beeinflussen kann?“ fragte er.
„Sicher!“ war die Antwort.
Er drückte dem Arzt die Hand, dankbar ob dieses Milderungsgrundes für das Thun und Handeln des Mädchens, das er geliebt, wie ein treues ehrliches Herz nur einmal lieben kann.
Er wandte sich hastig um. „Packe den kleinen Koffer!“ befahl er dem Burschen. Am Nachmittag reiste er ab.
Als der Doktor am kränksten war, ward Käthe von Tollen begraben.
Die Rosen standen gerade in voller Blüthe. Sie verdeckten den schmalen Sarg fast, der die junge Todte barg. Neben dem Vater ward sie eingesenkt, und die Rosenkränze häuften sich auf dem Hügel. Ganz oben lag die Myrthenkrone, die ihr Gusti gebracht als letzte Liebesgabe.
Die jungen Freundinnen hatten vorhin alle mit blassen befremdeten Gesichtern im Halbkreise um den Sarg im Trauerhause gestanden – die Jugend faßt es so schwer, daß eine Gefährtin ihr genommen sein soll, die noch vor kurzem so rosig und lachend unter ihr geweilt; und um diesen Tod schwebte noch ein Geheimniß! Wie sie schon auf dem Sterbebette lag, hatten sich zwei ihretwegen geschossen! Wer wußte, wie das alles zusammenhing? Es war von einem undurchdringlichen Dunkel verhüllt – vielleicht war Käthe an gebrochenem Herzen gestorben! –
Die Majorin saß daheim in der kleinen Wohnstube; sie hatte kaum noch einen klaren Gedanken – der Kampf, der da nebenan in dem Stübchen getobt, um das blühende Leben, das sich dem Tod nicht ergeben wollte – er war gar zu schrecklich gewesen.
Viel Schweres hatte dieses Jahr gebracht, aber dies war das Allerschwerste.
Ihr gegenüber saß Lore. Sie hatte getreulich die Schwester mitgepflegt, Tag und Nacht, ohne zu ermüden. Nun lastete die erste furchtbare Stunde der Ruhe wie ein Alp auf ihr.
Sie stand auf und schmiegte sich näher an die alte gebrochene Frau. Dann brachte die Ausgeherin einen verspäteten Kranz in die Stube. „Eine schöne Empfehlung von Frau Pastorin und sie wäre gern selbst gekommen, aber dem Herrn Doktor gehe es heut so schlecht.“
Lore nahm das Gewinde aus weißen Rosen und Myrthenblättern und ging damit hinaus. Sie legte es in Käthes kleine Kammer auf das leere Bett und stieg hinauf in ihre Giebelstube.
Da war wieder alles wie sonst. Man konnte meinen, es sei gestern gewesen, als sie hier gestanden hatte mit rosigen Wangen, um hinüber zu spähen nach dem alten Gymnasium. Aber dort ging er heute nicht, würde vielleicht nie wieder dort gehen. – Drunten fehlten zwei im Familienkreise, und in ihrem Herzen rührte sich gar nichts mehr. Nicht einmal eine Thräne hatte sie weinen können um die Hingegangene, und Helenens unvollständiger Bericht über das Duell war zu ihr herübergeklungen wie aus unbekannten Fernen.
Nur das begriff sie, daß er um Käthes willen elend lag, und daß sie die Todte beneidete – um seine Liebe, noch im Grabe.
Warum war sie nicht gestorben? Es wäre viel, viel besser gewesen!
Sie ging nach ein paar Minuten wieder hinunter. In der Stube bei der Mutter saß ein junger Offizier; er war in voller Uniform und trug den Arm in der Binde. „Von Wegstedt,“ murmelte er, sich Lore vorstellend. Dann wandte er sich und ging zur Thür, das Taschentuch hastig hervorziehend.
Lore sah ihm nach. Also der schoß ihn krank, weil auch er Käthe liebte. Arme Käthe, glückliche Käthe, die mitten im Rosenmonat sterben durfte.
Zwei Tage später stand die Majorin vor dem Kleiderspind der Verstorbenen; sie holte die einfachen Kleidchen heraus, und die Thränen tropften ihr dabei auf die alten Hände.
„Sage doch, Helene, welches Kleid war es, das sie anhatte, als wir sie krank fanden?“
„Das leichte wollene mit dem kleinen Muster, Mama, was willst Du damit?“
„O nichts, nichts; nur mit hinüber nehmen in meine Stube.“
„Hier, Mama!“
Die Majorin drückte ihr Gesicht in den Stoff, wie sie es sonst gethan mit dem dunkeln seidigen Haar der nun Todten.
„Da steckt auch noch etwas in der Tasche – ein Brief, Mama.“
„Gieb!“
Ein dickes Schreiben hielt sie darauf in der Hand. „Herrn Doktor Schönberg sogleich abzugeben!“ las sie.
„Ich will es aufbewahren für ihn, Helene.“
„Das dürfte wohl Aufklärung geben über das Duell,“ sagte diese.
„Der Brief ist nicht an uns und – was brauchen wir das auch noch zu wissen, sie ist ja todt.“
„Ja, Mama, ich meinte auch nur –“
Die Majorin ging mit dem Kleid, dem Brief und einer schwarzen Sammetschleife, die Käthe im Haar getragen, in ihr Stübchen und legte die einfachen Garderobestücke in die alte Truhe, an der das Wappen der Tollens geschnitzt war, neben die Uniform des Majors, die er an seinem letzten Tage getragen zu Lores Hochzeit. Da stand auch die Schachtel, darin sie ihren Brautkranz, die Taufmützchen der Kinder und die winzigen Erstlingsschuhchen aufbewahrte.
So – Gott mochte wissen, was sie noch hinzuthun mußte in diesem Leben voll Jammer und Elend.
Lore packte eben ihren Koffer. Sie wollte wieder zurück in Thätigkeit, das einzige Heilmittel für kranke Herzen. Von der Zukunft redeten sie alle nicht; nur das versprach Lore, daß sie kommen werde, wenn Helene die Mutter verlassen habe.
Sie wollte mit dem Zehnuhrzug am andern Morgen fahren, und dieser Morgen kam. Es war höchste Zeit, auf den Bahnhof zu gehen, aber sie stand noch immer da und bastelte an ihrem Plaidbündel
„Kind, so schwer es mir wird, Du mußt gehen,“ mahnte die Majorin, deren Taschentuch schon wieder feucht war von Thränen.
[305]
[306] Doch Lore hörte nicht. Sie verharrte da, die Augen auf die Uhr geheftet, völlig bereit; aber es war, als könne sie sich nicht vom Fleck bewegen. Dann keuchte etwas die Treppe herauf und die alte Aufwärterin des Hauses trat ein.
„Schönen Gruß von Frau Pastorin und sie läßt vielmals danken. Er sei heut zum erstenmal ‚was besser‘ und hätt ein wenig gegessen.“
„Adieu, Mama!“ sagte Lore, und dann zog sie den Kreppschleier vor die Augen und ging.
Und wieder einmal war es Herbst geworden, regnerischer
trübseliger November. In des Doktors Stübchen brannte das
Feuer im Kachelofen, und er selbst saß auf dem Sofa, ein
Schreiben in der Hand.
Zum zwanzigsten Male wohl schon las er die beiden Briefbogen, seitdem sie ihm gestern eingehändigt worden waren. Frau von Tollen hatte ihn besucht; sie hatte still und gedrückt auf dem Sofa gesessen neben ihm und ihn gefragt nach seinem Ergehen, und wie ihm denn der erste Ausgang nach seiner Krankheit bekommen sei, der ihn vorgestern in seine alte Klasse geführt habe.
„Danke!“ war seine Antwort gewesen, „ein bißchen mehr Husten gestern abend; und nun will der Arzt durchaus, daß ich fortgehe und den Winter im Süden zubringe! Es ist recht hart. – Ich war so froh, daß ich wieder einmal meine Jungen sah! Es kam etwas wie frischer Lebensmuth über mich, als ich alle die blitzenden, fröhlichen Augen erblickte und die Freude auf den Gesichtern, den alten Tyrannen wieder zu haben, den sie schon beinahe verloren gegeben hatten. Nachher ging ich auf den Kirchhof,“ setzte er leise hinzu, und seine von langem Kranksein abgemagerte Rechte griff nach der Hand der Majorin.
„Ich habe Ihnen auch noch etwas zu geben, lieber Doktor, was Käthe für Sie zurückließ. Ich habe den Muth bis jetzt nicht gefunden, ich fürchtete Aufregung für Sie; aber nun –“ und sie legte den Brief, den Käthe in der Nacht ihrer Erkrankung geschrieben, vor ihn hin, und seine Hand drückend, erhob sie sich rasch und ging aus der Thür.
Er betrachtete mit eigenem Gefühl diesen etwas zerknitterten Brief, der in flüchtigen Buchstaben seine Adresse trug. Die kleine schlanke Hand, die das geschrieben, moderte nun schon längst unter der Erde. Es muthete ihn wunderbar an, dieses letzte Zeichen ihres Gedenkens, wie Botschaft aus einer andern Welt.
Wochenlang hatte ihn die Kunde von Käthes Tod, die man ihm so schonend als möglich beizubringen gesucht hatte, wieder zurückgeworfen in der Genesung. Ueberwältigend war sie ihm gekommen, die Nachricht, daß das junge frische Leben dahingerafft sei.
Arme kleine Käthe! Er bereute jede Minute, in der er ihr ein ernstes strenges Gesicht gezeigt hatte. Sie war so ein Sonnenkind gewesen und sie hatte ihn so lieb gehabt, so lieb!
Mit fast scheuer Ehrerbietung öffnete er jetzt den Brief, ein starkes Herzklopfen machte ihn einen Augenblick unfähig zu lesen. Es ist eigen, Stimmen zu vernehmen, die gleichsam aus dem Grabe kommen. Er mußte sich ordentlich zum Lesen zwingen. Da stand:
- „Lieber Ernst!
Ich weiß kaum, wie ich beginnen soll mit dem Vielen das ich Dir sagen möchte auf diesem Papier.
Zuerst bitte ich Dich um Verzeihung für alles, was ich Dir gethan, was Du als Unrecht von mir empfunden hast und weißt, und für das, was Du noch nicht weißt, und das ist das Meiste und Schlimmste. Lieber Ernst, es ist sehr schwer, Dir das zu gestehen, aber ich denke, Du wirst Dich trösten, denn Du liebst mich nicht, Du liebst Lore. Schüttle nicht den Kopf, Ernst – ich weiß es so genau, wie Du es weißt. Du hast Lore nicht vergessen, so wenig wie sie Dich vergessen hat. Ich bildete mir allen Ernstes einmal ein, Dich zu lieben, und deshalb habe ich Lores Aufträge an Dich nicht bestellt, habe die Briefe, die sie mir für Dich übergab, zerrissen, habe Lore in Deinen Augen herabgesetzt und, als sie sich verzweifelt weigerte, Becker zu heirathen, da habe ich ihr noch zugeredet und habe ihr gesagt, daß die Pflicht gegen ihre Familie vor der eigenen Neigung stehen müsse. Und als sie sich geopfert hatte, da sollte ich ihr Deine Verzeihung erbitten und habe es nicht gethan. Ich weiß gar nicht, wie das mir in die Feder kommt, ich will es nicht schreiben, aber ich muß, es ist mir, als ob jemand hinter mir stehe und sage: Bekenne, bekenne, ehe es zu spät ist! Vergieb mir auch, daß ich Dir heute Dein Wort zurückgebe. Ich weiß nämlich seit gestern, daß das, was mich zu Dir zog, keine Liebe war, sondern Laune, Eifersucht, Eigensinn – ich wollte Dich haben und bekam Dich. Ich liebe Hans Wegstedt und gab ihm gestern in der Reitstunde mein Wort, das eigentlich gar nicht mir gehört. Ich nehme es mir hierdurch wieder, lieber Ernst, und bitte Dich um Verzeihung, wenn ich Dir wehthat. Ich liebe Dich wirklich nicht – gar nicht – nur so als guten Freund und alten Lehrer liebe ich Dich. Ich erkenne es deutlich, ich kann mich nur in solcher Lebensstellung wohl fühlen, wie sie mir Hans zu bieten vermag, und ich müßte vergehen in engen kleinlichen Verhältnissen.
Ich weiß, ich bin so sehr schlecht, und ich möchte besser
werden. Wenn ich Hans Wegstedts Frau bin, dann will ich gegen
alle Arme mild sein und Gutes thun, soviel ich kann. Vergieb
mir nur, Ernst, und verachte mich nicht. Wenn Du mich verachtest,
werde ich nie wieder froh, auch als Wegstedts Frau nicht;
aber ich kann doch nichts dafür, daß ich Hans liebe! – Wenn
doch Lore noch glücklich würde, Ernst! – Bitte für mich bei
Deiner Mutter, daß sie mir verzeihe; vergieb auch Du mir, Ernst,
und bewahre ein freundlich Gedenken Deiner
Käthe von Tollen.“
Er ließ die Blätter sinken und barg den Kopf in der Hand.
Und um dieses Kind, dieses tändelnde, leichtlebige, jeden Ernstes bare Kind – all das Furchtbare! Er warf den Brief auf den Tisch und ballte die Faust vor Zorn und Weh. So verharrte er lange, und die Dämmerung begann allmählich das stille Zimmer zu füllen. War es ihm nicht plötzlich, als säße sie neben ihm in ihrer ganzen morgenfrischen Lieblichkeit? Der süße Veilchenduft, der aus den Briefblättern quoll, machte diese Illusion fast greifbar. Ihm dünkte, es knisterte da neben ihm wie der Stoff ihres Kleides, und er meinte die großen sprühenden Augen zu sehen, die ihn lächelnd betrogen hatten und die süße schmeichelnde Stimme zu hören. „Du liebst mich nicht, Ernst, Du liebst Lore; Du konntest sie nicht vergessen, wie sie Dich nicht vergaß.“
Menschenherz, welche Räthsel birgst du! Der Groll, der beim Lesen ihrer Zeilen sich in ihm bäumte, daß er der Todten noch zürnte, schmolz vor diesen Worten. Eine große Thräne rollte unter der Hand hervor, mit der er die Augen bedeckte, in seinen Bart.
„Um dieses Wortes willen sei Dir verziehen!“ sagte er leise vor sich hin. Und er nahm den Brief, um ihn nochmals und noch einmal zu lesen.
Ja, nun war Wegstedts Zorn erklärbar. Armer Mann! Wer in diese Augen geschaut hatte, ohne gefeit zu sein – –
Wegstedt war nicht wieder nach Westenberg gekommen – nur einmal, als Käthe begraben wurde; und da war er auch hier im Hause Schönbergs gewesen und hatte ihn zu sehen verlangt. Aber die Mutter hatte ihn abweisen lassen in ihrem Schmerze; nun, der Doktor war ja auch schwer krank und hätte nicht begriffen, was der kleine Offizier gewollt. Dann hatte Wegstedt seine Versetzung auf dem väterlichen Gute abgewartet; er war jetzt, so glaubte der Doktor in der Zeitung gelesen zu haben, nach einer ostpreußischen Garnison versetzt – weit von der Stätte, wo er sich eine ganz gehörige Herzenswunde geholt. Vorher hatte er auch seine Strafe für das Duell in Magdeburg auf der Festung verbüßt; das stand ihm, dem Doktor, noch bevor, wenn er gesundete.
Ja, die Tollens, die Tollens!
Die Mutter kam herauf und fragte, ob sie störe.
„Nein, nein, Mutter.“ Es klang freier, frischer als seit langer Zeit.
„Vorhin ist Dein Koffer gekommen vom Sattler, und der Bürgermeister hat Deinen Paß geschickt, Ernst, Du kannst nun jeden Tag reisen, wenn Du willst; sag’s nur.“
„Es wird mir schwer, Mutter.“
„Ja, aber man muß alles thun, um seine Gesundheit wieder zu erlangen. Ich meine auch, es ist ein Entschluß, nach dem Mittelmeer hinunter zu gehen; was man von da so alles hört – ich will froh sein, wenn Du wieder hier bist, Ernst.“
„Ach, der Süden schreckt mich nicht,“ sagte er lächelnd, „weiß Gott, es war lebenslang ein Wunsch von mir, ihn einmal aufzusuchen; aber eigentlich ist er doch nur schön, wenn man gesund ist an Seele und Leib.“
„Ja freilich, in der Fremde ist gut wanken, aber nicht gut kranken.“
[307] „Und wie wirst Du denn hier allein fertig werden, Mutter?“
„Ich? Ei, ich bin nicht besser wie andere; die arme Majorin bleibt ja auch ganz allein. Aber ich wollte Dir ja erzählen: vorhin ist Helene getraut worden mit ihrem dauerhaften Bräutigam; ich habe in unserem Stuhl gesessen und die Trauung mit angesehen. Keine Seele war weiter in der Kirche als das Paar, die Mutter, der alte Onkel, was die Excellenz ist, und Lore.“
Er zuckte zusammen und hörte den Bericht der Mutter nur noch verworren vor seinen Ohren: wie schaurig die schwarzgekleidete Gesellschaft vor dem Altar ausgesehen habe; aber freilich, das arme lang gequälte Brautpaar habe doch füglich nicht noch ein ganzes Trauerjahr warten sollen zu all der Verlobungszeit. „Ja und was ich sagen wollte, ich habe dann nach der Trauung dem jungen Paar gratulirt und der Majorin auch; – nur ganz rasch – denn man ist doch nun mal in viel Leid miteinander zusammengekommen –. Und dabei streift’ ich auch so die Lore und,“ fuhr sie mit schwerem tiefen Seufzer fort „hör’, Ernst, schön ist sie noch immer, vielleicht noch schöner wie früher, und es sieht aus, als wäre sie gewachsen so hoch und schlank stand sie neben dem alten General – Aber –“
„Aber?“
„Je nun, es hat was Aengstliches; das ist ja jetzt als sei ihr Gesichtel aus Marmor, und als habe sie sich blau angestrichen unter den Augen; wäre ich die Majorin, ich würde mich sorgen, sie könnte krank werden.“
„Bleibt sie hier, Mutter?“
„Nein; die Majorin sagte, der alte General lasse sie nicht los und habe sie sich mit aller Gewalt aus dem Diakonissenhaus geholt; er sei selbst krank, habe er erklärt, und brauche eine Pflegerin, die Familie gehe vor. Den Winter bleibt sie noch bei ihm, erzählte die Majorin. Sie sind vorhin schon wieder fort nach Berlin. Das alte Fräulein drüben will nun so lange zu der Schwägerin ziehen. Wir haben uns versprochen, daß ich bisweilen zu ihr kommen will und sie zu mir – der Winter wird wohl vergehen.“
Blätter und Blüthen.
Ludwig Walesrode. Am 20. März ist wieder ein alter Mitarbeiter der „Gartenlaube“, ein vormärzlicher Veteran gestorben, der mit seltener Zähigkeit an seinen vormärzlichen Erinnerungen und Ueberzeugungen festhielt und deshalb einsiedlerisch in einer späteren Epoche leben mußte, deren Bestrebungen ihm großenteils „wider den Strich“ gingen; doch er kämpfte nicht gegen diese anders geartete Zeit an; er lebte für sich in schweigendem Widerspruch gegen die Meinungen und Helden des Tags, und mit wehmüthiger Selbsterkenntniß mußte er sich sagen, daß er zu den verschollenen Größen gehörte.
Als ich im Anfang der vierziger Jahre als junger Student nach Königsberg kam, da stand Ludwig Walesrode in der vollen Blüthe seines Ruhms; es war die Glanzepoche seines Lebens. Er wurde so recht von dem Beifall der Menge getragen und wandelte stolz erhobenen Hauptes durch die „Stadt der reinen Vernunft“. Er war eine in mancher Hinsicht auffallende Erscheinung; er liebte es, soviele bunte Farben wie möglich in seiner Kleidung anzubringen und seinen faltenreichen Mantel wie eine Toga umzuschlagen. Sein Gesicht war damals voll und blühend, seine Züge hatten etwas Sympathisches, die munteren Augen blitzten durch die Brille.
Er war von Hamburg und Altona herübergekommen als Sprachlehrer; doch er hatte diese Thätigkeit bald an den Nagel gehängt, als er in den Mittelpunkt der Bewegung trat, welche damals in den baltischen Provinzen eine in ganz Deutschland sichtbare Leuchte angezündet hatte. Befreundet mit Johann Jacoby, trat er neben den kaltblütigen Vierfragenmann, der die politischen Exempel mit dem ruhigen Gleichmuth eines Mathematikers zu lösen suchte und alle phantasievollen Abschweifungen von ihnen fernhielt, als ein gleichstrebender Genosse, der mit den Waffen der Satire, des Humors, des Witzes und einer bilderreichen Beredsamkeit kämpfte. Es war nur in jener Zeit möglich, mit humoristischen Vorlesungen eine tonangebende Rolle in der politischen Bewegung zu spielen. Walesrode trat als Vorleser auf; das ganze gebildete Publikum Königsbergs versammelte sich an diesen Abenden, er hatte fast so großen Erfolg wie Franz Liszt, der gleichzeitig in demselben Salon des Junkerhofs sein unübertroffenes Virtuosenthum auf dem Klavier mit seinem damaligen jugendlichen Feuer bewährte, und selbst ein so viel gefeierter Dichter wie Georg Herwegh, der damals mit seinem König in schwunghaften Versen grollte, ein Held der politischen Mode, dem ebenfalls im Junkerhof die politische Opposition ein Festmahl gab, konnte bei seinem flüchtigen Besuche in der baltischen Hauptstadt den Ruhm des bewunderten Humoristen nicht verdunkeln.
Die Vorlesungen, die Walesrode damals hielt, erschienen im Druck unter dem Titel: „Glossen und Randzeichnungen zu Texten aus unserer Zeit“, und später schlossen sich ihnen „Unterthänige Reden“ an. Es war ein eigenartiger Humor, der sich in ihnen aussprach, sehr weit entfernt von dem Saphirschen Wortwitz, aber auch von dem leichtgeflügelten Pfeilwurf der scharf zugespitzte Heineschen Epigramme. Mehr Verwandtschaft hatte Walesrode mit Boerne, was die Wärme der politischen Gesinnung betrifft; aber auch auf Jean Paul wies er zurück, denn sein Humor hatte etwas Breites, Bilderprunkendes, wir möchten sagen Faltenreiches; es war eine üppige Gewandung, in die er sich hüllte. Natürlich verwerthete er alle Stichwörter der damaligen politischen Bewegung; es waren Augenblicksbilder, die er vorführte, und gerade das beeinträchtigte den Anspruch dieser Skizzen auf längere Dauer, den die gemüthvolle Eigenart dieses helläugigen, freundlich blickenden Humors sonst wohl hätte erheben können. Die Vorlesungen Walesrodes wurden trotz ihrer mißliebigen Feuerwerkerei, trotz der keck in die Höhe geschleuderten Raketen und Leuchtkugeln ihres der Regierung feindseligen Witzes nicht verboten; aber als er sie auch vor der Studentenschaft halten wollte, erfolgte ein Verbot des Prorektors, und dies hatte wiederum eine Kundgebung der gesammten mit dem Albertus geschmückten akademischen Jüngerschaft, eine Katzenmusik vor dem Hause des akademischen Würdenträgers, zur Folge. Ich selbst hatte den Anschlag des Zettels, der die Vorlesungen anzeigte, ans schwarze Brett besorgt und wurde so, da man doch einzelne besonders Schuldige aus der großen Gesammtheit herausfinden mußte, mit dem consilium abeundi bestraft, das auch einigen anderen zutheil wurde.
Walesrodes Art zu schaffen hatte etwas Schwerflüssiges, und so nur ist es zu erklären, daß, als die äußeren Anregungen bei der Mißgunst der Zeit ausblieben, auch seine publizistische und humoristische Muse fast ganz verstummte. Seine „Politische Todtenschau“, seine „Demokratische Studie“, seine humoristischen „Losen Blätter“ waren nicht danach angethan, Aufsehen zu erregen; aber sein reizendes Idyll aus Masuren „Der Storch von Nordenthal“ (1857) zeigte sein Talent im schönsten Lichte, und es mußte um so mehr mit tiefem Bedauern erfüllen, daß an diese Perle seines Humors sich Jahrzehnte hindurch keine mehr anreihte.
Von dem Pregel siedelte Walesrode an den Neckar über; in Stuttgart
wohnte er im Verkehr mit einigen Gleichgesinnten, unter denen
Ferdinand Freiligrath, so lang er lebte, die erste Stelle einnahm. Bedürfnißlos,
in den einfachsten Verhältnissen lebend, an jede Art der Entsagung
gewöhnt, erreichte er ein hohes Alter, gegen achtzig Jahre. Er
war ein liebenswürdiger Mann, im Grunde von harmloser Kindlichkeit, und
wenn jene Bewegung der vierziger Jahre ihn nicht in ihre Strudel gezogen
und seinem Schaffen ein für allemal ihr Gepräge aufgedrückt hätte –
Deutschland würde vielleicht in ihm einen seiner gemüthvollsten Humoristen begrüßt haben. Rudolf von Gottschall.
Das Abbeißen der Fingernägel ist eine greuliche Unsitte, die man
oft genug bei schlecht erzogenen Kindern beobachten kann. Man wettert
allgemein gegen die Schulkinder, die das thun, aber in einem Falle
huldigt man derselben Unsitte noch so allgemein, daß ein Wort dagegen
angebracht zu sein scheint. Veranlassung dazu giebt uns eine Anfrage,
die von einem Manne aus den sogenannten „gebildeten Ständen“ an
uns gerichtet wird, ob man Kindern unter einem Jahre die Nägel abschneiden
darf oder lieber abbeißen soll. Jeder vernünftige Mensch
(medizinische Vorbildung ist dazu gewiß nicht nöthig) wird sich sagen
müssen, daß das Abschneiden der Nägel dem Kinde zuträglicher sein muß
als das Abbeißen, denn man hat doch die Schere besser in der Gewalt
als die Zähne. Der Grund, warum man dem Säugling die Nägel abbeißen
soll, ist auch kein gesundheitlicher, sondern findet seine Quelle
im Aberglauben. Die Gefahren, welche das Abschneiden der Nägel dem
Säugling bringen soll, sind nach der Volksüberlieferung folgende: In
Oesterreichisch-Schlesien glaubt man, das Kind werde dadurch einfältig,
im Erzgebirge, man schneide ihm dadurch das Glück ab; fast allgemein
aber behauptet man, daß durch das Nägelabschneiden später in den
Herzen der Kleinen eine Neigung zum Diebstahl hervorgerufen werde.
Die meiste Mütter, die jetzt ihren Kleinen die Nägel abbeißen, thun es,
weil sie es bei andern gesehen haben, ohne zu wissen, warum. Nützlich
und appetitlich ist diese Prozedur keineswegs, und eine Mutter, die dem
Kinde die Nägel abbeißt, bietet auch keinen schönen Anblick dar. Es mag
ja mitunter recht bissige Frauen geben, die meisten aber werden doch
besser mit der Schere schneiden können, und die abgeschnittenen Nägel
werden auch besser und schöner wachsen als die oft in wunderbar zackigen
Formen abgebissenen. *
Ein frischer Trunk (Zu dem Bilde auf S. 305.) Jagen ist allerwege und zu allen Zeiten eine durstige Beschäftigung gewesen. Das hat heutzutage in deutschen Landen freilich nicht mehr viel auf sich, da genügt die Jagdtasche und die Feldflasche, um bis zum solennen „Jagdfrühstück“ oder einer ausgiebigeren Stärkung am häuslichen Herde für jeden Durst das erforderliche Löschmaterial in Bereitschaft zu halten. Es giebt heute viele Jagden, so und soviel Morgen groß, in so und soviel Stunden abzuschießen, es giebt da viele Jäger und noch viel mehr Sonntagsjäger, aber keine Pürsch hoch zu Roß, tagelang durch Wald und Heide wie ehedem, und wenn adlige Herrschaften alljährlich ein paarmal nach Art ihrer erlauchten Ahnen der Jagdlust huldigen, so treiben sie eine Kurzweil, bei der niemand auf einen frischen Trunk in Verlegenheit kommt. Das ritterliche Paar, das auf dem Bilde des Meisters Diez in wegloser Hochlandsheide mit Rossen und Rüden vor dem Beschauer hält, gehört der Zeit einer entbehrungs- und strapazenvolleren Jagdlust an und verdankt muthmaßlich nur den lechzenden Kehlen seiner braven Kläffer die Entdeckung des strudelnden Bächleins, das der trockene Gaumen schon eine geraume Weile ersehnt hat. Ein Trinkgefäß besitzt der wackere Kavalier nicht, aber Galanterie und einen Schlapphut, dessen Krämpe ein [308] paar kräftige Schlucke zu fassen vermag; und die Dame sieht bei aller Bedenklichkeit doch danach aus, als ob sie an dem Gefäß um des erquicklichen Inhalts willen nicht allzu lang Anstoß nehmen würde. Das Bild ist ein echter Diez, in Scenerie und Stoff, wie in der markigen Lebendigkeit und Wahrheit der Gestaltung.
Aus Natur und Leben. Seit nunmehr 27 Jahren begleiten unsere Leser in der „Gartenlaube“ das Wirken und Forschen der Brüder Karl und Adolf Müller. Ihre naturgeschichtlichen Schilderungen sind durch einfache Klarheit, durch unmittelbare, gründliche Beobachtung eine Quelle werthvoller Belehrung und Anregung für viele geworden. Wie die Leser sich vielleicht aus dem biographischen Denkmal erinnern, welches die „Gartenlaube“ den treuen Genossen zum Gedächtniß ihrer fünfundzwanzigjährigen Wirksamkeit für das Blatt im Jahrgang 1887, Nr. 9 gesetzt hat, ist es nicht nur der gemeinsame Sinn für das Studium der Natur im Leben ihrer Geschöpfe, was die beiden Brüder verbindet; ihnen gemeinsam ist auch eine dichterische Neigung und Begabung. Adolf Müller, der ältere der beiden Brüder, hat vor Jahren schon ein großes Drama, einen zweiten Theil zu Goethes „Faust“, später ein patriotisches Schauspiel „Hermann“ vollendet, und neuerdings hat der jüngere, Karl, unter dem oben angegebenen Titel bei Gustav Wolf in Leipzig eine Sammlung von Gedichten herausgegeben, in denen sinniges Naturgefühl und Herzenswärme sich vereinigen. Die anspruchslose Sammlung enthält manches anmuthende Landschaftsbild, manchen in seiner Einfachheit wohlthuenden Ausdruck schlichter Empfindung. Als eines der gelungensten Gedichte heben wir das folgende hervor:
Kommt ihr wieder hergezogen
Durch der Felder goldne Wogen,
Schwänen gleich auf lichter Fluth,
Holde, milde Herbstestage!
Unter euren Flügeln ruht.
Blauverklärte Himmelsräume,
Kühler Hauch durch lichte Bäume,
Tiefe Ruhe in der Brust;
Und ein sehnsuchtsvolles Mahnen
An entschwund’ne Jugendlust.
Heimath! Heimath! Tiefes Schweigen
Will sich ewig niederneigen
Meine Lieben, wart ihr Träume,
Abgeblüht wie Lenzesbäume? –
O, ich werd’ euch wiederschau’n! †
Blumen im Eise. Auf Ausstellungen, die auch für die Hersteller
des Kunsteises Preise und Ehrenmedaillen auswerfen, kann man oft
Blumen im Eise sehen. Man läßt die Kinder der Sonne und des Lichtes
einfrieren, um zu zeigen, wie klar und durchsichtig das Kunsteis ist. Es
giebt aber Blumen, die im Eise wachsen und sogar Blüthen entfalten.
Um ein solches Wunder der Natur zu sehen, muß man in den Alpen hoch
hinaufsteigen in jene Regionen, wo neben den Gletschern der eigenartig
geformte, zu Eis gewordene Schnee liegt, den der Alpenforscher unter dem
Namen Firn kennt. Kommen wir im August an den Rand eines Firnfeldes,
so werden wir, wenn das Glück uns begünstigt, durch einen seltsamen Anblick
überrascht. Aus dem Schnee erheben frisch blühende Blumen ihr Haupt,
oft in solchen Massen, daß an einer Stelle, die einen Meter lang ist, 10 bis
20 Blüthen zu sehen sind. Namentlich eine dieser Blumen fesselt uns, die
blaue Blüthe der Soldanelle. Die immergrünen Blätter derselben wachsen
unter der Firndecke am Boden; die Stengelchen wurden schon im vorhergehenden
Jahre vorbereitet und haben bei einer Temperatur von 0° die
Höhe von einigen Millimetern erreicht. Beginnt nun die Sonne des Sommers
wieder den Firn zu schmelzen und bilden sich unter der Decke desselben
Rieselwasser, deren Temperatur die des Schmelzpunktes des Eises nicht
übersteigt, so erwacht auch die Pflanze in der Tiefe zu neuem Leben.
Die Blüthenstengel beginnen mit der Knospe zu wachsen, und durch die
Wärme, welche die Athmung der Pflanze entwickelt, wird das körnige
Eis des Firnfeldes geschmolzen; die Soldanelle bohrt sich einen Gang
im Eise, bis die violette Knospe die Oberfläche erreicht und sich zur Blüthe
entfaltet. Aber nicht alle Soldanellen erreichen die Freiheit; viele bleiben
im Firn gefangen und gehen trotzdem nicht zu Grunde. Anton Kerner
von Marilaun hat in seinem trefflichen volksthümlichen Werke „Pflanzenleben“
(Leipzig, Verlag des Bibliographischen Instituts) dieses Wachsen
der Soldanellen ausführlicher beschrieben und durch eine nach der Natur
aufgenommene farbige Abbildung illustriren lassen.[WS 1] Macht man mit Beil
und Spaten durch den Firn Durchschnitte, so findet man nach seinen
Angaben einzelne Soldanellen, deren Knospen sich bereits geöffnet haben,
bevor sie über die Firndecke emporgehoben wurden. Solche Soldanellen
blühen dann thatsächlich in einer kleinen Aushöhlung des Firnes und
nehmen sich aus wie Pflanzentheile oder Insekten, die in Bernstein eingeschlossen
sind, oder wie kleine bunte Splitter, die man in Glaskugeln
eingeschmolzen hat. Das Blühen solcher Soldanellen beschränkt sich auch
merkwürdigerweise nicht nur auf das Oeffnen der Blumenkrone, es findet
sogar ein Oeffnen der Antheren statt, und nimmt man derlei Soldanellenblüthen
aus ihrem kleinen Eishause heraus und stößt an die kegelförmig
zusammenschließenden Staubbeutel, so kann man deutlich das Herausfallen
des Blüthenstaubes beobachten. *
Deutsches Nationalvermögen. Der Wagenpark der Eisenbahnverwaltungen im Gebiete des Deutschen Reichs enthält neben den Lokomotiven und den zur Personenbeförderung dienenden Fahrzeugen gegenwärtig rund 225 000 Güterwagen, darunter gegen 72 000 bedeckte. Von der Bedeutung dieses Fuhrparks erhält man erst dann einen Begriff, wenn man sich vergegenwärtigt, daß derselbe, Wagen an Wagen gereiht, einen ungeheuer langen Zug bilden würde, dessen Spitze etwa in Emden und dessen Schluß in Klausenburg in Siebenbürgen zu suchen wäre. In den bedeckten Wagen allein würde eine Armee von 2¾ Millionen Mann oder ein Troß von 429 600 Pferden Platz finden. Rechnet man den Wagen durchschnittlich mir zu 3000 Mark, so ergiebt sich, da die meisten Bahnen dem Staate gehören, aus den Güterwagen allein ein Nationalvermögen von 675 Millionen Mark.
Die Hinterhand fängt auf folgende Karte:
den Ramsch mit zwei Jungfern, d. h. es werden ihr von beiden Mitspielern alle Stiche aufgezwungen, obwohl weder Daus (As) noch Zehn im Skat liegen. Die Vorhand hat in ihrer Hand 2 Augen mehr als die Mittelhand. Wie sitzen und fallen die Karten?
- 1. D g 1 – e 3 d 4 × e 3
- 2. T c 7 × c 2 beliebig.
- 3. T c 1 – d 1 (auf e 3 – c 2 3. T c 2 – d 2) matt.
- 1. … K d 5 – d 6
- 2. D e 3 × d 4 † K × T
- 3. T c 1 × c 2 matt.
- 1. … T h 6 × f 6
- 2. D e 3 – b 3 † K d 6
- 3. S g 7 – e 8 matt.
Lösung | 1. D g 1 – f 1 | scheitert | an | d 4 – d 3 |
„ | 1. T c 1 × c 2 | „ | „ | e 4 – e 3 |
„ | 1. D g 1 × g 3 | „ | „ | K d 5 – d 6 |
Ein neues Schachbüchlein ist allen Freunden dieses Spiels zu empfehlen; es ist das von Adolf Roegner herausgegebene, in seinem eigenen Verlage erschienene „Vademecum der Kombinationspraxis, illustrirt durch 120 brillante Partieopfer berühmter Meister“. Diese Proben einer glänzenden Spielweise, welche der Herausgeber sorgsam ausgewählt hat, werden der Phantasie der Schachspieler die fruchtbarsten Anregungen geben.
G. P. in Dresden. Es ist ganz so, wie wir in dem Artikel „Wilhelm Hey“ in Nr. 12 unseres Blattes auf Grund uns zugegangener Mittheilungen des Verlegers der Heyschen Fabeln, F. A. Perthes in Gotha, gesagt haben, daß das einzige Porträt Heys, welches überhaupt existirt hat, vor seinen Augen verbrannt worden ist. In dem Nachlaß des vor kurzem verstorbenen Malers Hofrath Schneider in Gotha fand sich aber eine ganz flüchtig hingeworfene Skizze, die Schneider in den letzten Lebenstagen des Fabeldichters, wahrscheinlich nach einem bei demselben gemachten Besuch, aus der Erinnerung aufgezeichnet hat. Die nach dieser Skizze hergestellte Illustration wird wohl das „Bildniß“ sein, von welchem Sie sprechen. Daß aber ein auf Grund so mangelhaften Materials ausgeführtes Bild keinen Anspruch auf die Bezeichnung „Porträt“ erheben und hier höchstens von oberflächlicher Aehnlichkeit die Rede sein kann, versteht sich wohl von selbst.
Ein dankbarer Handwerker in Copitz. Die uns freundlichst übersandten 3 M 10 ₰ für einen gelähmten Familienvater haben wir gern an die in der Anzeige genannte Adresse des Herrn Pfarrer Schade in Mellenbach (Thüringen) übermittelt. Besten Dank auch für Ihre freundlichen auf unser Blatt bezüglichen Zeilen!
Sächsin in Amerika. Wir bitten um Angabe Ihrer genauen Adresse, damit wir Ihnen brieflich antworten können.
Karl B. in Wien. Um das von Ihrem Töchterchen verunzierte unersetzliche Dokument von der violetten Tinte, zu deren Herstellung aller Wahrscheinlichkeit nach Anilinviolett benutzt worden ist, zu säubern, verfahren Sie folgendermaßen: Mit Hilfe eines sehr feinen Haarpinsels wird 95- bis 98prozentiger Alkohol auf die violetten Tintenkritzel sorgfältig aufgetragen und dann mit weißem sogenannten Seidenpapier die flüssig gewordene violette Tinte abgelöscht. Dieses Verfahren wiederholt man so lange, bis die violetten Verunzierungen völlig verschwunden sind. Da Anilinviolett, wie überhaupt die Anilinfarben, in Alkohol löslich ist, so werden Sie, wenn Sie sorgfältig verfahren und Geduld haben – und die ist hier sehr am Platze – zu dem gewünschten Ziele gelangen.
E. B. K. Sie finden über den in Ihren Fragen berührten Gegenstand ausführliche Belehrung in dem Artikel „Ueber die Erlernung fremder Sprachen aus Büchern“ von Daniel Sanders im Jahrgang 1883 der „Gartenlaube“, S. 346. Der erfahrene Gelehrte empfiehlt dort die im Langenscheidtschen Verlage zu Berlin erschienenen Toussaint-Langenscheidtschen Unterrichtsbriefe. Sie setzen an Kenntnissen nichts voraus als das Verständniß des in deutscher Sprache klar und deutlich Dargelegten und ermöglichen durch ein klug gewähltes System in der Bezeichnung der Aussprache, daß es der Schüler auch ohne Lehrer, wenn nur Fleiß und guter Wille nicht fehlen, zu einer tüchtigen Kenntniß der betreffenden Sprache bringen kann.
„Stenographie“. Verzeihen Sie, wenn wir Ihre erste Frage nicht rund heraus beantworten. Wollten wir an dieser Stelle irgend eines der vorhandenen stenographischen Systeme als das „praktischste und leichtest erlernbare“ bezeichnen, so würden wir einen wahren Sturm gegen uns entfesseln von allen denen, die nicht unserer Ansicht sind. So können wir Ihnen nur mittheilen, daß stenographiekundige Mitglieder unserer Redaktion bis jetzt mit dem Gabelsbergerschen System durchaus gute Erfahrungen gemacht haben und wohl damit zufrieden sind. Als verbreitetstes Lehrbuch für dieses System gilt das von Raetzsch („Lehrbuch der deutschen Stenographie“, Dresden 1886, 46. Aufl.).
A. H. in Altona. Wir glauben kaum, daß Sie wirklich so zu bedauern sein sollten, wie Sie in Ihrer Zuschrift, die von ganz gesundem Humor zeugt, „klagen“. Um indeß Ihrem Wunsche zu entsprechen, geben wir Ihnen gern ein „Rezept“, „wie man seiner Frau ihre Geheimnisse entlocken kann“, bekannt. Johannes Bapt. Birelli empfiehlt in seiner „Newe Güldene Kunst“ (Frkft. 1654)[WS 2] folgendes Verfahren: „Nimm der Zungen von den Fröschen, so in keinem fliessenden Wasser, sondern in Teichen und Sümpfen wohnen, oder der andern von Kröten, leg sie dem Weib auf die Gegend des Herzens, und sonderlich auf den Ort, da der Puls schlägt, laß eine Weil darauf liegen und frage sie hernach, was du von ihr zu wissen begehrest. Du mußt dich aber des oft Fragens nicht verdrießen lassen, denn sie antworten nicht allwegen gleich auf das erste Mal, sondern lassen sich etwan vielmal fragen und entdecken endlich all ihre Heimlichkeiten.“ Das Rezept ist allerdings über zweihundert Jahre alt; ob es heute noch wirkt, möchten wir Ihnen nicht verbürgen.
Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 293. – Wenn’s Mailüfterl weht! Illustration. S. 293. – Frühlingsblüthen. Illustration. S. 297. – Die Zuckerkrankheit. Von Prof. Dr. E. Heinrich Kisch. S. 298. – Das Land des Negus Negesti. Mit Abbildungen nach Aquarellen des im Jahre 1888 verstorbenen Afrikareisenden Dr. Anton Stecker. S. 300 u. 301. – Lore von Tollen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 302. – Blätter und Blüthen: Ludwig Walesrode. S. 307. – Das Abbeißen der Fingernägel. S. 307. – Ein frischer Trunk. S. 307. Mit Abbildung S. 305. – Aus Natur und Leben. S. 308. – Blumen im Eise. S. 308. – Deutsches Nationalvermögen. S. 308. – Skataufgabe Nr. 2. Von K. Buhle. S. 308. – Auflösung der Schachaufgabe Nr. 1. auf S. 220. S. 308. – Schachlitteratur. S. 308. – Kleiner Briefkasten. S. 308.
- ↑ Der König auf a 8 soll nicht der schwarzen, sondern der weißen Partei angehören.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ 1. Band, Farbtafel vor Seite 465 Google-USA*; 3. Auflage 1913, vor Seite 433 ULB Düsseldorf
- ↑ Alchimia nova, Das ist / Newe Güldene Kunst / Oder Aller Künsten Gebärerin, S. 623: „Zuverschaffen daß ein Weib im Schlaff redet“ MDZ München