Die Gartenlaube (1889)/Heft 14
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No. 14. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Nicht im Geleise.
Die beiden Freunde, welche mit langsamen Schritten auf dem Bürgersteig einherwanderten, sahen oftmals ihren ruhigen Gang durch all die Hindernisse unterbrochen, welche Straßen- und Häuserauffrischungen im Sommer dem Verkehre der deutschen Residenz bieten. Hier qualmte ihnen eine Wolke von Mauerschutt entgegen; da baute sich ein Gerüst bis an die Grenzen des Fahrdammes vor; dort dampfte aus einem Asphaltkessel widriger Dunst und Arbeiter lagen auf der Erde, den schwarzen heißen Brei mit flachen Hölzern glatt auf den Boden zu streichen.
Dabei erfüllte ein unendliches Getöse die Luft, Gefährte aller Art mischten dumpf das Rollen ihrer Räder und hart klappten die trottenden Pferdehufe dazwischen.
Das Auge, welches den Himmel suchte, fand nur dessen blassen Glanz über dem steigenden Dunstgewölk, zwischen dem unentwirrbaren Hin und Her von Telephondrähten, welche droben von Dach zu Dach sich spannen. Eine fast unerträgliche Hitze beklemmte den Athem und machte im Verein mit dem Straßenlärm jedes Gespräch unmöglich.
Erst als die Freunde dem Potsdamer Platz entronnen waren und sich in der Bellevuestraße nebeneinander fanden, jetzt durch nichts behindert, zusammen Schritt zu halten, sagte Marbod Steinweber, das dunkle Haupt aufathmend erhoben:
„Nach dieser mehrstündigen Streiferei durch die Straßen wundere ich mich noch mehr, Dich in Berlin zu finden. Der Lärm und die Hitze sind einfach erdrückend. Ich gehorche dem Zwange, der mich am ersten August meine Stellung antreten heißt. Aber Du, unabhängig wie Du bist …“
„Ich bitte Dich,“ unterbrach der Freund ihn etwas ungeduldig, „mir nie von meiner Unabhängigkeit zu reden. Ich bin so unfrei wie möglich. Aber davon abgesehen. Du hast einen Tag mit schwülbrütender Gewitterluft getroffen, sonst ist es in Berlin gerade im Sommer reizend zu leben. Von all den Schrecknissen kannst Du Dich jetzt gut erholen. Wir finden im Zoologischen Garten einige nette oder einige unangenehme Menschen, jedenfalls Bekannte also, die ich Dir empfehlen, oder vor denen ich Dich warnen kann. Aber laß uns fahren, diese langsam vor uns schlendernden Hausväter und Hausmütter machen ja das Vorwärtskommen unmöglich.“
Dabei trug sein feines, schönes Gesicht einen Ausdruck äußerster Ermüdung. Er war blaß und sein blondes, weiches Haar umgab eine Stirn voll Adel und Gedanken. Die wohlgebildete Gestalt trug er lässig, aber mit einem gewissen vornehmen Bewußtsein.
Marbod Steinweber sah den Freund forschend und voll Sorge an. Der innige Ausdruck verklärte sein männlich
[222] kraftvolles Gesicht. Seit der Zeit, daß er und Alfred von Haumond einige Semester zusammen studiert hatten, liebte er ihn mit einem ihm selbst unerklärlichen, zärtlichen Mitleid.
Alfred fühlte den Blick des neben ihm Sitzenden. Er streckte ihm die Hand hin und nickte ihm dankbar zu.
„Mach Dir keine Gedanken meinetwegen. Du weißt, ich habe einmal nicht das Temperament zum Glücklichsein,“ sagte er lachend.
Es war noch immer das kindliche und liebenswürdige Lachen, das Marbod schon früher so an ihm geliebt; ein Lachen, mit welchem er die Sorgen, den Zorn und die Ungeduld zu entwaffnen pflegte; ein Lachen, welches sein von vielen und vorzeitigen Spuren seelischer Erregungen gezeichnetes Angesicht zu bestrickender Jugendschöne verklärte.
Marbod schüttelte den Kopf, mißbilligend, ärgerlich. Jedoch er sprach nichts weiter, er wußte, daß alle Fragen ihm nicht beantwortet würden, aber daß, in der rechten Stunde dazu, der Freund ihm sein Herz eröffnen werde.
Ihr Wagen gerieth allmählich in eine ganze Reihe anderer hinein, und Alfred hatte jetzt dieselbe Ungeduld wie vorher bei ihrem Gange unter langsam schlendernden Menschen. Alle Welt entrann der heißen Stadt und strebte dem kühlen Garten zu, wo Natur und Leben in jenem den Großstädtern gewohnten Gemisch genossen werden konnten. Alfred sagte. „Wir wollen aussteigen“ und verließ den Wagen so schnell, daß der andere über ihn lächelte wie über ein launenhaftes Kind.
„Siehst Du, das sind unsere Freuden: ein paar grüne Bäume, ein bißchen Musik, viel geputzte Menschen, umherrennende Kellner mit überlaufenden Bierseideln, zuweilen ein fernes Löwengebrüll, der Schrei eines Affen, Thiergeruch, und über dem allem der erblassende Abendhimmel. Ein Gemisch von Salon-, Wüsten- und Waldstimmung. Wo ist da Harmonie? Wenn Du wüßtest, wie ich nach Harmonie lechze!“
Zu diesem Erguß seines Freundes sagte Marbod Steinweber verwundert. „Ja, warum suchst Du sie denn nicht in der Stille und Schönheit Deines Landsitzes? Wenn ich solche Scholle mein nennte, hielte mich nichts in der Stadt.“
„Du sprichst wie der Taube von Musik. die Noten kannst Du lesen, aber dem Klange ist Dein Ohr verschlossen. Was ist diese Scholle? Ein Landgut, das ich bebauen kann? Nein, die kleinen Acker- und Wiesenstreifen, die dazu gehören, ernähren kaum das Pferd und die Kuh meines Verwalters. Eine herrschaftliche Villa? Nein, es fehlt der Park, es fehlt die Dienerschaft, die Equipage, der große Stil. Es war eine sonderbare Idee von meinem einsiedlerischen Vater, sich an einem der theuersten Plätze Deutschlands in so unpraktischer Weise anzukaufen und damit den dritten Theil meines kleinen Vermögens in vollkommen nutzloser Weise todt hinzulegen. Jedes Jahr, wenn ich da in meinem Landhäuschen den Herbst verbringe, erkenne ich von neuem, daß ich für diese thatenlose Einsamkeit nicht passe. Ich brauche Menschen, Menschen. Ein Weib!“
„So heirathe doch! Mit einem Weibe wird Dir die kleine Villa an dem Schwarzwald ein Paradies sein, und brauchst Du dann doch noch Menschen, hast Du Baden-Baden ja nahe genug,“ rieth Marbod herzlich.
„Heirathe! Wie Du das so einfach sagst! Ich weiß ein Weib, – eines – aber sprechen wir nicht davon! Sieh dort, unser alter Verbindungsbruder Ludolf Ravenswann mit seiner Frau. Wollen wir sie begrüßen? Ich verkehre ein wenig bei ihnen, obgleich es mir sozusagen gegen den Strich geht, denn Ravenswann ist mir nicht lieb und die Frau haßt mich, während sie mir entsetzlich ist,“ sagte Alfred, indem er den Freund am Arm festhielt und mit dem Stock auf einen fernen Tisch hindeutete, den Marbod natürlich nicht sogleich aus dem Gewirr von sitzenden Menschen herausfinden konnte.
„Wie, Ravenswann hat geheirathet? Das wird eine sehr wichtige und umständliche Sache für ihn gewesen sein, zu entscheiden, welches Mädchen er mit seiner Person beglücken solle,“ lachte Marbod. Sie waren unter einem Baume zwischen dem Musiktempel und dem Restaurationshause stehen geblieben, und Marbod setzte sich den Kneifer auf, um den Besprochenen zu suchen.
„Aber er hat wie immer das Praktischste gethan. Er hat eine schwer reiche Hansestädterin genommen, ich weiß nicht, ob aus Hamburg, Lübeck oder Bremen. Sie kocht vorzüglich, sage ich Dir, ist groß, schön gewachsen, vielleicht ein bißchen platt in der Taille, hat einen rosigen Teint und auf den Wangen einige Aederchen, die auf spätere Kupferröthe hindeuten, ist immer so glatt gekämmt, als tauche sie den Kamm in Oel oder Wasser, und trägt stets ein großkarrirtes braun-gelbes Kleid, eine Spitzenrüsche am Hals und diese mit einer großen Gemme geschlossen. Philosophische Gespräche dürfen in ihrer Gegenwart nicht geführt werden, und übrigens heißt sie Mietze.“
Steinweber lachte.
„Du bist noch immer boshaft, merke ich. Aber da entdecke ich sie, – in einem hast Du unrecht, sie hat ein helles Kleid an.“
Ernsthaft versicherte Alfred:
„Komm, sieh selbst; Du irrst Dich. Es ist gewiß gelb und braun karrirt. Es kann gar nicht anders sein. So habe ich sie zuerst gesehen und sehe sie ewig vor mir.“
Sie wanden sich durch die Menschen und Stühle und näherten sich dem Tisch, wo die von Alfred beschriebene Dame neben einem großen, mageren, blondbärtigen Manne saß. Er trug eine Brille und hatte ein ernstes, fast sorgenvolles Gesicht.
„Die Grazien standen nicht an seiner Wiege,“ murmelte Alfred noch und hob dann seine Stimme zu lauter Begrüßung.
„Meine gnädigste Frau, lieber Ravenswann, hier bringe ich einen lieben Menschen, der von nun an der unserige werden will,“ sagte er, indem er Marbod auf die Schulter schlug.
Ravenswann erhob sich, über sein trockenes Gesicht flog ein Schimmer wirklicher Freude, der Sonnenschein der Erinnerung an einstigen Jugendübermuth. Er schüttelte Marbod die Hand und stellte ihn seiner Frau vor, eine Handlung, welche Alfred mit einer ganz ernsthaften Erläuterung begleitete:
„Doktor Steinweber ist als Rechtskonsulent bei der großen Lebensversicherungsgesellschaft Borussia mit einem Gehalt von zehntausend Mark angestellt. Aber er hat nebstbei, gleich mir, die üble Angewohnheit, die Erscheinungen des modernen Lebens in Feuilletons, Novellen und Aufsätzen zu glossiren, ein Beweis von Leichtsinn, meine gnädigste Frau, der ihn in Ihren Augen verdächtig machen kann, aber den Sie ihm vielleicht um seiner erst erwähnten beruhigenden Eigenschaft willen verzeihen.“
Frau Marie Ravenswann lächelte ein wenig, halb höflich, halb unbehaglich. Sie konnte der Wortgewandtheit Alfreds mit ihren erfassenden Gedanken nie schnell genug folgen, um sich gleich klar zu werden, ob er spotte oder verbindlich sei. Als sie einmal ihrem Gatten klagte, daß sein Freund sich über sie zu belustigen scheine, sagte dieser abwehrend und voll Würde. „Das wird er sich meiner Frau gegenüber nie erlauben.“
Man setzte sich und Steinweber sah seine Jugendgenossen aufmerksam an.
„Wie sehr Ihr Euch verändert habt, trotz der hundert kleinen vertrauten Züge, insbesondere in Alfreds Gesicht und Wesen! Und wie wenig muß in mir vorgegangen sein, denn soweit man über sich selbst urtheilen kann, bin ich noch ganz derselbe,“ sagte er.
„Sehr natürlich, mein Alter,“ antwortete Alfred heiter, „Du bist wie ein stolzes edles Roß Deinen ruhigen Gang vorwärts geschritten, und wenn Dir Hindernisse kamen, hast Du sie im sicheren Sprung genommen. Ravenswann dagegen wühlt wie ein Maulwurf in seiner Berufsarbeit weiter – da flieht das Licht von Stirn und Augen; und ich, nun ich bin wie ein Spatz auf dem Wege, ducke mich im Regen, lärme vergnügt im Sonnenschein und bin ein vollkommen nutzloses Individuum.“
Marbod lachte und Ravenswann mußte wenigstens seine Mundwinkel ein wenig in die Höhe ziehen.
Frau Ravenswann aber sagte gereizt: „Das geht denn doch über den S-paß, daß Sie meinen Mann mit einem Maulwurf vergleichen.“
„Aber Mietze!“ beschwichtigte sie der Gatte, dem sie oft genug die Schwäche vorgeworfen, daß er sich von Alfred von Haumond alles gefallen lasse.
„Nein, das s-teht ihm nicht an,“ beharrte sie ärgerlich.
„Womit kann ich Sie versöhnen?“ fragte Alfred und sah sie mit einem Ausdruck fast zärtlicher Neckerei an. Er hatte immer eine liebevolle Aufwallung für diejenigen, denen er eine von ihm verursachte Kränkung ansah. Und eigentlich gegen ihren Willen fühlte Frau Marie sich stets durch diesen Ton besänftigt.
Marbod begann nach alten Genossen zu fragen, die er durch einen mehrjährigen Aufenthalt im Ausland aus dem Blick [223] verloren. Alfred war der einzige gewesen, mit dem er in Verbindung geblieben; das heißt, er hatte zuweilen geschrieben und Alfred hatte ihm, als einziges Zeichen, daß seine Briefe willkommen und erwünscht wären, die wechselnden Adressen angegeben.
Marbod vertiefte sich mit dem über alle und alles genau unterrichteten Ravenswann in ein Gespräch über Peter und Paul und Fritz und Heinrich. Frau Mietze saß schweigend dabei. Alfred begann nach fünf Minuten unruhig auf seinem Stuhl zu werden, sah nach der Uhr, las das Programm, knöpfte sein leichtes Sommerjackett zu und nach weiteren zwei Minuten wieder auf und seufzte laut.
„Und Weber?“ fragte Marbod, als sie schon fast das ganze Corps durchgegangen waren.
„Der ist von der Leiter gefallen,“ sagte Alfred.
„Was?“ fragten die beiben andern Männer wie aus einem Munde.
„Nun ja, er war schon recht hübsch hoch geklettert, da wollte er mit einem Mal einige Sprossen zugleich nehmen und stürzte herab.“
„Wie meinst Du das?“ fragte Marbod.
„Für mich,“ begann Alfred, während er abermals nach der Uhr sah, „klettert die ganze Menschheit auf einer Leiter. Ich sehe sie aufklimmen und mit zitternden Fingern und gierigen Augen emporstreben. Droben hängen, wie die Siegespreise auf einer Kletterstange, die Ziele. Glück, Ruhm, Liebe, Geld und Macht. Und im Gedränge nach oben giebt einer dem andern kräftige Fußtritte. Es kommt auch vor, daß einer den andern hinunterwirft, noch öfter aber, daß einer, der zu schnell hinaufwollte, fehl tritt und purzelt. Der arme Weber wollte Geld haben und als er zweihunderttausend beisammen hatte, sollte es auf einmal eine Million werden. Seine Spekulation mit österreichischen Kreditaktien mißrieth ihm, ein Termingeschäft mit Kaffee ebenso, er hatte einige hunderttausend Differenzen zu zahlen, anstatt sie einzuheimsen, und da erschoß er sich, der arme Kerl. – Mir ist die Kletterei in der Seele zuwider. Ich halte nicht mit.“
„Na, na,“ sagte Ravenswann, indem er glaubte witzig zu sein und komisch war, „was die Liebe anlangt, so bist Du immer voran. Das ist schon kein Klettern mehr, das ist die reine Steeplechase.“
Alfred lächelte mitleidig.
„Wann darf man denn gratuliren?“ fragte Frau Mietze mit einer gewissen spitzfindigen Betonung.
„Wozu?“ fragte er seelenruhig entgegen.
„Nun, zu Ihrer Verlobung mit der Baronin Offingen. Frau Doktor Schneider war noch heute bei mir und sagte, alle Leute s-prächen davon, es ginge gar nicht mehr anders, man sähe Sie jeden Tag bei ihr, und wenn diesem Verkehr keine Verlobung folge, sei die Dame sehr kompromittirt. Ich sagte aber, so weit ich Herrn von Haumond kenne, würde er die Welt gewiß einmal mit einer Heirathsanzeige überraschen, und so eine gewöhnliche Verlobungszeit vorher sei ihm nicht apart genug,“ erzählte sie mit vielem Behagen.
„Wie nett von Frau Doktor Schneider und ‚allen Leuten‘, sich so für mich zu interessiren!“ antwortete Alfred verbindlich, fast mit einem dankbaren Ton.
Frau Ravenswann ärgerte sich, sie hatte gedacht, er werde etwas Aufklärendes sagen, denn sie hatte sich ihrer Freundin gegenüber gerühmt, ihm ins Gewissen reden zu wollen und etwas Sicheres über diesen fragwürdigen Fall zu erfahren. Ja, sie hatte auch ihrem Manne davon gesprochen, daß es seine Aufgabe als Freund sei, Alfred auf die Pflicht, sich zu verloben, hinzuweisen, und sie glaubte fest, daß dieser dem Rathe eines so bedeutenden, gediegenen und soliden Mannes folgen müsse.
„Sie weichen mir aus,“ sagte sie, „und es wäre doch Pflicht, gegen uns, die wir Ihre nächsten Freunde sind, offen zu s-prechen.“ Immer, wenn Neugier oder Bevormundungssucht sich in die Angelegenheiten anderer drängen, nehmen sie die Maske der Freundschaft vor.
„Darin muß ich Ihnen recht geben, meine gnädigste Frau. Und wenn ich erst ‚allen Leuten‘ etwas mitzutheilen haben werde, sollen Sie von diesen die erste sein, welche etwas erfährt,“ antwortete Alfred mit einem sehr ernsthaften Gesicht.
Die Frau war befriedigt, der Mann dachte darüber nach, ob nicht eine versteckte Impertinenz in Alfreds Worten gelegen habe, doch ließ ihm Marbod nicht Zeit, sich darüber klar zu werden, sondern fragte ihn nach seiner Berufsthätigkeit. Seine Vorgesetzten, sein Bureaudienst, das Aufrücken seiner Nebenangestellten – Ravenswann war im Finanzministerium – bildeten stets dieses Mannes Lieblingsgespräch, ja, fast sein ausschließliches. Mittags unterhielt er seine Frau, abends seine Freunde mit den kleinen Vorkommnissen seines Arbeitstages und hatte die Gewohnheit, von diesen ausgehend sich soweit zu erregen, daß er eine Art Vortrag hielt, der entweder vom Bimetallismus handelte, oder die Unnützlichkeit und Schädlichkeit der Parlamente und des daraus entspringenden Rechts der Abgeordneten, das Budget zu bemängeln, hervorhob. Angriffe und Beschneidungen des Staatsbudgets nahm er als persönliche Beleidigungen, und seine Frau, obschon sie von diesen Dingen weiter nichts verstand, fühlte sich dann mitbeleidigt und verachtete herzlich Menschen, die eine Sache bemängeln konnten, an der ein so bedeutender Kopf wie ihr Ludolf mitgearbeitet hatte.
Alfred sah noch zweimal nach der Uhr, während Ravenswann mit der ihm eigenen trockenen Stimme, die er in regelmäßigen Zwischenräumen kurz räusperte, in immer demselben Tonfall auf Marbod einsprach. Dabei lärmte ein von Blechinstrumenten wiedergegebenes Wagnersches Musikstück durch die Luft und dicht hinter Alfred hatte sich ein unwahrscheinlich dicker Mensch auf einen der kleinen Stühle gesetzt, so zwar, daß er den breiten Rücken dieses Menschen an seinen Schultern zu fühlen glaubte. Die eisernen Stuhllehnen quetschten sich wenigstens mit einem schneidenden Geräusch aneinander. Und als der dicke Mensch nun noch gar mißtönig ausspuckte, schrak Alfred so zusammen, daß er gleich danach aufstand und mit fast bebender Stimme sagte:
„Ich halte diesen Musiklärm und dieses Menschenaneinander nicht mehr aus. Zudem ist es die Zeit, wo ich noch einer Einladung zur Baronin Offingen zu folgen habe.“
„Wie schade, ich dachte, wir könnten den Abend zusammen beendigen,“ meinte Marbod.
„Du kommst natürlich mit!“
„Geht das?“
„O,“ sagte Frau Mietze ungewöhnlich lebhaft, „die Offingen ist nicht so schwierig.“
Alfred, der ohnehin schon sehr bleich aussah, biß sich auf die Lippen. Aber es war ihm nicht mehr der Mühe werth, ein scharf verweisendes Wort zu sagen.
„Sie kennen die Dame auch? Sie verkehren auch mit ihr?“ war die natürliche Frage Marbods.
Frau Marie Ravenswann kniff ihre Lippen erst zusammen, ehe sie sie öffnete, um zu antworten:
„Kennen – o ja! Aber wir verkehren nicht.“
Darin lag eine solche Abwehr, ein solcher Richterspruch, daß Marbod erstaunt zu dem Freund aufblickte, den Frau Marie mit eben dieser Dame vorhin verlobt gesagt. Er las in Alfreds Augen aber einen so ruhigen Spott, daß er nicht mehr besorgt um die Erklärung dieser hervortretenden Feindschaft war.
„Du mußt wissen“ sagte Alfred, „die beiden Damen passen nicht besser zusammen als Wasser und Feuer. Und außerdem hat unsere verehrte Frau Assessor noch von ihrer Heimatstadt her die Gewohnheit, nur mit Leuten zu verkehren, denen sie auf irgend eine Weise verwandt ist, oder die ihr wenigstens von irgend einem Verwandten günstig geschildert worden sind.“
„Eine Vorsicht,“ meinte Ravenswann gereizt, „die nicht genug zu loben ist, besonders in unserer modernen, von fragwürdigen Elementen durchsetzten Gesellschaft.“
„Aber wir wollten ja gehen,“ mahnte Alfred ungeduldig, als hätte er gar nicht gehört, was der Assessor gesprochen.
„Sie werden uns bald besuchen?“ fragte Frau Ravenswann sehr liebenswürdig den sich erhebenden Marbod. Dieser sagte zu, und man schied von einander, wobei Alfred sich so heiter und freundlich zeigte, als wären gar keine scharfen Worte hin und her geflogen.
„Es ist doch seltsam,“ sagte er dann, als er mit dem Freunde dem Ausgang zuschritt, „im Augenblick, wo ich den Leuten Adieu biete, fühle ich immer ein Wohlwollen für sie und ich denke, daß man doch einst manche gute Stunde mit Ravenswann hatte. Freilich, doch eigentlich nicht mit ihm, sondern bloß in seiner zufälligen Gegenwart, aber auch das verbindet.“
„Haben sie Kinder?“
„Noch nicht. Und die Natur verhüte, daß sich diese steifleinene Rasse weiter fortpflanze!“
Sie schwiegen eine lange Zeit. Alfred führte den Freund durch die eleganten Villenstraßen des Thiergartenviertels. Der
[224][226] Abend war vollends hereingebrochen. Im Doppelschimmer der Straßenlaternen und des von kleiner Mondsichel sanft leuchtenden Himmels ergingen sich Leute auf den Bürgersteigen. Hinter den Gittern, welche die Vorgärten von der Straße trennten, blühte es reich von Rosen und Caprifolium, und die durch den Abendschatten Unsichtbaren verkündeten ihr Dasein in schweren und fast betäubenden Düften. Aus Fenstern und Veranden quoll Lichtschein, man hörte auch da und dort aus dem Dunkel sprechen und lachen.
Alfred öffnete eine Gitterpforte und trat mit dem Freunde in einen Garten, daraus ihnen aufdringlich starker Blumenduft entgegendrang.
„Wie ich diese heißen Düfte und diese schwülen, dunklen Sommerabende liebe!“ sagte Alfred, indem er vor einem Rosenparterre stehen blieb und sich im Schein des Lichts, das vom Hausthore herfiel, eine halberschlossene Blüthe suchte.
„Wie ist die Frau, zu der Du mich führst, und was ist sie Dir?“ fragte Marbod, der die Empfindung hatte, als zögere sein Freund nur bei den Rosen, um vor ihrem Eintritt in das Haus noch irgend etwas zu sagen, vielleicht eine Erklärung von Dingen, die er sehen, von Personen, die er kennen lernen sollte, und durch die Frage wollte er es ihm erleichtern.
„Ich kann doch nichts sagen. Sieh selbst!“ antwortete der andere nach kurzem Besinnen.
„Sie ist Aristokratin?“ fragte Marbod, dem es denn doch unbehaglich war, so unvorbereitet in ein vollkommen fremdes Haus zu treten.
„Eine Aristokratin des Bewußtseins; die Geburt ist ihr ein Zufall, die Freiherrnkrone ein Nebensächliches. Sie ist Witwe, jung, hat einen Knaben und lebt hier mit einer alten Tante, welche die Stelle einer dame d’honneur vertritt. Aber das ist auch wieder nur ein Zufall, weil die hilflos kränkliche alte Dame eines Anhaltes bedurfte; Gerda ist nicht die Frau, sich bloß um eines Scheines willen die Gesellschaft einer Person aufzuladen, die ihr unnöthig oder gar lästig ist. Alles andere wirst Du selbst beobachten“ sagte Alfred.
„Sind wir allein da? Wie können wir im Straßenanzug hingehen?“ fragte Marbod noch, den schon im Thore Stehenden am Arme erfassend.
„Wegen des letzteren Umstandes werde ich uns freilich entschuldigen müssen, wir haben heute den Freibrief des ‚Zugereisten‘ und des ‚Bärenführers‘ für uns. Wen wir da treffen, weiß ich nicht. Es ist unberechenbar, denn sie liebt es, ihren Salon bunt zu bevölkern,“ erklärte Alfred mit einer ihm sonst vielem Fragen gegenüber fremden Geduld, die unschwer verrieth, wie gern er über diesen Gegenstand sprach, „man trifft Leute aus der besten Gesellschaft, Damen wie Herren; große, berühmte Menschen; und dann wieder werdende Namen, Männer und Frauen, die ihr Genie vorerst nur durch einige Proben in ihrer Kunst und einige Unregelmäßigkeiten ihrer Lebensführung bewiesen haben, Leute also, die ebenso leicht Abenteurer sein, wie Monumentalerscheinungen werden können. Demzufolge ist die Sprache in ihrem Salon wie die Sprache an unseren Landesgrenzen: man spricht offiziell deutsch, aber es ist je nachdem mit französisch, holländisch, dänisch, polnisch untermischt. So spricht man bei ihr die Sprache der besten Gesellschaft, aber hier und da kommen Grenzlaute vor, Töne aus anderen Reichen. Und nun zum drittenmal: sieh selbst! Komm!“
Eine Glocke schlug an.
Die Thür der Erdgeschoßwohnung wurde von einem Diener geöffnet, dessen einfache vornehme Kleidung einen ebenso wohlthuenden Eindruck machte wie die Einrichtung des Flurs. Man sah da weder gebleichte Palmenzweige, noch orientalische Teppiche oder chinesische Vasen. Die hinter dem Schutz von weißem Milchglas brennende Lampe beschien nur einen den Boden bedeckenden Teppich, einen dunkel umrahmten Spiegel und dichtfaltige tiefbraune Vorhänge, welche alle auf den Flur mündenden Thüren verhüllten.
Ganz denselben Eindruck einer fast an Strenge grenzenden Einfachheit würden die Zimmer gemacht haben, welche die Freunde nun betraten, wenn eine Fülle von Blumen in Schalen und Vasen und exotische Pflanzen in grünender Frische nicht den Zauber von Anmuth und Freudigkeit verbreitet hätten. Es waren drei Wohnräume, deren Folge man vom Eingang aus schon durch die einander gegenüberliegenden Thüröffnungen übersah. Eine fast auffallende Helle durchströmte die Räume und ein Wohlgeruch, der zu frisch und natürlich war, um betäubend zu wirken.
Marbod befand sich in einer Spannung, die an Aufgeregtheit grenzte. Er fühlte, daß dieses Haus und seine Herrin im Dasein des Freundes jetzt das Wichtigste seien, und zitterte fast davor, einer Angelegenheit näher zu kommen, die, er wußte selbst nicht warum, ihm keineswegs einfach und glückverheißend erschien.
Im zweiten Zimmer saß eine ältliche Dame, die sich bei ihrem Eintritt nicht erhob. Marbod hatte sogleich den Eindruck, daß diese kleine, zusammengefallene Gestalt mit dem halb kindlichen, halb mißmuthigen Zug im farblosen Gesichte, wie er stets Leidenden oft eignet, nicht hierher passe. Freude am Schönen und an der Kraft, das war es, was sich in der Einrichtung dieses Heims aussprach.
Alfred begrüßte die alte Dame und wurde von ihr begrüßt in einer Art, die verrieth, daß man sich täglich sah. Er nannte sie „Tantchen“, stellte den Freund vor und fragte, wie es ihr ginge.
„Ach,“ klagte die Dame, „ich habe nur von zwölf bis halb drei und dann noch von fünf bis sechs Uhr geschlafen, trotzdem ich ein und ein halbes Schlafpulver genommen hatte. Sie müssen wissen,“ wandte sie sich erklärend an Marbod, „daß, seit ich vor sieben Jahren ein schweres Nervenfieber durchmachte, ich stets leidend bin, mir und andern zur Last.“
„Aber Tantchen,“ sagte Alfred, „niemand zur Last! Gerda pflegt Sie mit liebender Hingabe, und das wird auch später so bleiben, wenn …“ Er verstummte. Das Tantchen sah Marbod an, als wenn sie fragen wollte: Du weißt natürlich alles?
Nebenan ging eine Thür. Ein schneller kleiner Schritt wurde hörbar und dann ein Freudenruf, und fast zugleich schon sah Marbod, daß ein Knabe von etwa sechs Jahren mit glückselig leuchtendem Gesicht und ausgestreckten Armen auf Alfred zulief, mit einem Satz auf seinen Knieen war und die Händchen um seinen Nacken faltete.
„Du Strick, Du bist noch nicht zu Bett?“
„Mama hat gesagt, daß ich aufbleiben soll, bis Du kommst, und ich soll Dir leise was sagen.“
„So sag’s!“
Der schöne Knabe neigte seine zarte Wange an die Alfreds und flüsterte mit seinen Lippen in des Freundes Ohr so leise wie Kinder flüstern, und vollkommen unverständlich. Für Marbod war es ein seltsam ergreifender Anblick, das Kind mit dem schweren dunklen Haargelock sich so an das blonde Haupt Alfreds schmiegen zu sehen. Der Knabe hatte blaue, fast flammende Augen und einen Blick, wie er Kindern eigen ist, deren zarter Körper dem voreilenden Flug des sich entwickelnden Geistes nicht nachkommen kann.
„Du mußt es lauter sagen!“
Nun flüsterte das Kind so laut, wie man mit voller Anstrengung, nur ohne Stimmklang, spricht:
„Du wirst bald mein Papa!“
In das leicht bewegliche Gesicht Alfreds schoß heftiges Erröthen. Er schloß die Augen. Man sah, ein fast trunkenes Glücksgefühl überwältigte ihn. Er hielt den Knaben fest an sich gepreßt, und dieser legte in seligem Frieden sein Haupt an die Schulter des von ihm Angebeteten.
Die Tante und Marbod hatten das Glückswort gehört. Die Tante führte ihr Taschentuch an die Augen, Marbod sah vor sich nieder und erwog, ob er nicht wieder gehen sollte.
Diese stummen Minuten mochten länger gedauert haben, als sich alle bewußt waren. Alfred schreckte erst auf, als an derselben Thür, durch welche der Knabe gekommen war, ein Frauenkleid rauschte. Er sprang auf, das Kind von sich gleiten lassend, und eilte in das andere Zimmer.
„Gerda!“ rief er, und dann war wieder Schweigen.
In diesen Augenblicken verwünschte Marbod den Einfall des Freundes, ihn mit hierher gebracht zu haben. Um nicht zu lauschen auf das, was nebenan vielleicht mit heißen Flüsterworten und Küssen besiegelt wurde, begann er ein Gespräch mit dem Knaben, denn die Tante hielt es für ihre Pflicht, sich jetzt heftig zu rühren, und vergoß Thränen in ihr Tüchlein.
„Wie heißt Du, mein Kind?“
„Hat er es Dir nicht gesagt? Ich bin Alexander von Offingen. Er und Mama nennen mich aber Sascha,“ antwortete der Knabe. Der freie, schöne Aufblick, den das Kind beim Sprechen hatte, war bezaubernd. Und die Art, wie er Alfred nur mit „er“ [227] bezeichnete, verrieth eine abgöttische Liebe, wie sie eben nur begeisterungsfähige Kinder für schöne, liebenswürdige Männer haben, die ihnen viel Zeit und Neigung schenken.
Kennst Du ihn schon lange?“ fragte Marbod weiter.
„Seit wir hier wohnen, schon ein Jahr. Er besucht mich und Mama jeden Tag. Er hat mich lesen gelehrt und ‚Heil Dir im Siegerkranz‘ auf dem Klavier. Ich habe immer zu Mama gesagt, ich möchte wohl, daß er mein Papa wäre. Und nun wird er es. O, dann ist er den ganzen Tag bei uns,“ sagte Sascha mit leuchtendem Gesicht.
„Du liebst ihn wohl sehr?“ fragte Marbod, ergriffen seine Hand auf die dunklen Locken legend.
„Ja!“ sagte der Knabe.
Es war ein seltsames „Ja“. Kurz, ernst, von eiserner Bestimmtheit. Ein „Ja“ wie aus dem Munde eines Mannes, der ein Gelöbniß für das Leben macht. Marbod hatte dabei das Gefühl, daß dieses Kind beängstigend eindringlich denke und empfinde. Und ihm schien, als stände in dem blassen, durchsichtigen Antlitz eine fremde, unirdische Schrift wie auf den Stirnen von Todgeweihten.
Sein Gespräch mit Sascha, bei dem er seine wohllautende Stimme keineswegs gedämpft hatte, mochte die beiden da drinnen gemahnt haben, sich ihrem Glücksrausch zu entreißen. Sie erschienen auf der Schwelle, und das Kind lief ihnen entgegen, beider Kniee zugleich umfassend.
Theater-Rothwelsch.
Unser Geschlecht gleicht ein wenig dem neugierigen Kinde, das nicht eher ruht, bis es sein Spielzeug recht innerlich untersucht und sich hierdurch die Freude daran recht gründlich verdorben hat. Wir zerstören uns gar zu gern unsere Illusionen, wir sehen gar zu gern hinter den Vorhang, wir „interviewen“ große Männer, aber noch lieber ihre Kammerdiener, wir bringen uns große Geister durch die Nachlese ihrer Waschzettel und Schneiderrechnungen „menschlich näher“, wir wollen schließlich von allem, was wir selbst nicht machen können, doch wenigstens wissen, wie es gemacht wird. „Wie wird man Schriftsteller?“ „Wie wird man Schauspieler?“ – es sind nicht unklug geleitete Blätter, welche ihren Lesern die mehr oder minder interessanten oder gar „sensationellen“ Enthüllungen und Bekenntnisse berühmter Künstler auftischen können. Sie haben ein „groß Publikum“.
Zum Glück ist eine lebendige Kunst kein todtes Spielzeug. So modern es auch ist, hinter die Coulissen zu schauen, noch übt das Theater auf Tausende denselben Einfluß, denselben geheimnißvollen Zauber wie zu jenen kindlicheren Zeiten, wo man sich willig und ohne nach dem Ursprung zu forschen, der Täuschung hingab. Wie vertraut man heutzutage mit den Geheimnissen der Bühne ist, erhellt wohl am besten daraus, wenn man beobachtet, wie sehr unsere Sprache mit Ausdrücken, die der Theatersprache entlehnt sind, durchsetzt ist, wie leicht wir in solchen Redewendungen und Bildern sprechen, fast ohne uns mehr ihrer Herkunft bewußt zu sein.
Das ist Ihnen wohl noch gar nie aufgefallen, liebenswürdige Leserin? Wenn Sie aber z. B. folgenden Satz aus dem Zusammenhange herausgerissen in einem Zeitungsblatte fänden: „Der Rede folgte nur der ‚Applaus‘ der ‚gut inscenirten‘ ‚Claque‘. Der ‚tragische Held‘ ist gründlich ‚abgefallen‘, hat ‚seine Rolle ausgespielt‘, nie wird ihn ein ‚Stichwort‘ wieder ‚auf die Scene rufen‘, er kann nur noch ‚komische Partien‘ ‚kreieren‘, wenn er nicht ganz zum ‚Komparsen‘ herabgesunken ist, dem von anderer Seite ‚soufflirt‘ wird. Nach diesem verunglückten ‚Debut‘ wird kein ‚Gastspiel‘ mehr erfolgen können, sondern bald wird der ‚Vorhang‘ über dieser traurigen ‚Komödie‘ sich senken.“
Wenn Sie das lesen, so wissen Sie gewiß nicht, ob hier von einem Handlanger der Kunst oder vielleicht vom General Boulanger die Rede ist.
Aber doch giebt es noch eine ziemliche Anzahl von terminis technicis, von Ausdrücken der Kunstsprache, wenn man es vornehm – des Theater-Rothwelsch, wenn man es einfacher ausdrücken will, welche noch nicht so allgemein und oft über die Rampen ins Publikum gekollert sind, und das sind vielleicht die merkwürdigsten, denn wie bei großen und mächtigen Völkerschaften, so kann man auch bei dem kleinen und heiteren Bühnenvölkchen vom sprachlichen Gebiete aus historische Rückblicke thun.
Macht es Ihnen Vergnügen, mit mir einen kleinen sprachforschenden Ausflug ins Theaterland zu unternehmen? Er ist weder mühsam, noch wird er gar zu lange dauern, denn unser Sondersprachschatz ist nicht gerade reich. Man könnte auch nicht gerade behaupten, daß er sich durch eigenthümliche Schönheiten des Ausdrucks auszeichnete – uns ist er doch geläufig und nicht unlieb, wir kramen immer wieder darin herum, sei es auch nur im Scherze, und wenn wir unter uns in der „Bude“ sind.
Wenn wir unser stolzes und säulengeschmücktes Schauspielhaus eine „Bude“ nennen, wenn wir vor dem Betreten unserer mit aller ausgesuchten Pracht ausgestatteten Bühne sagen, wir steigen aufs „Brettel“, so wollen wir keineswegs damit beide herabsetzen. Wir sind in diesem Falle nur keine stolzen oder eingebildeten Emporkömmlinge, sondern wir gleichen dann dem tüchtigen self-made man, dem Manne, der, wenn er auch aus niederen Verhältnissen aufstieg, sich seiner Herkunft doch nicht schämt, vielmehr gern bei der Erinnerung an die schweren und harten Jahre des Anfangs verweilt.
So mahnt uns die „Bude“ an jene weit entlegenen und darum poetisch verklärten Zeiten, wo die meisten „deutschen Komödianten“ ruhelos von Ort zu Ort zogen. Der italienischen Oper, dem französischen Ballet waren in den Residenzen prunkende Paläste errichtet, dem deutschen Komödiantenmeister oder Schauspielprinzipal – wie man damals den späteren „Directeur“ nannte – wurde auf sein submissestes Gesuch höchstens gnädigste Permission gegeben, vor dem Thore auf eigene Kosten und Gefahr eine „Bude“ aufzubauen.
Da kommt „einer vom Bau“, heißt es dann auch wohl in der Theatersprache von einem Kollegen, und diese Benennung ist gewiß älter und ehrwürdiger als die bekanntere: „Fettschminke“, denn Fettschminke ist erst eine Erfindung der neuesten Zeit. Die alten „Seelenmaler“ trugen entweder trocken gepulverte oder in Wasser geschlemmte Farben auf das Antlitz auf, und in welchen Massen dies geschehen mußte, läßt sich leicht ermessen, wenn man an die spärliche Leuchtkraft der Talgkerze oder der Oellampe denkt.
Heute lächeln wir, wenn wir in des Dichters Klingemann Reisewerk „Kunst und Natur“ blättern und an die Stellen gelangen, in welchen er über die Beleuchtungsanstalten der besuchten Theater spricht, denen er als bühnenerfahrener Mann große Aufmerksamkeit zollt. Als auffallend prächtig erhellt rühmt er das Leipziger Theater. Wir aber vermögen uns kaum vorzustellen, wie selbst der verhältnißmäßig kleine Raum des jetzigen sogenannten alten Theaters in der Pleißenstadt durch den Kronleuchter von Oellampen genügendes Licht erhalten haben soll.
Aber in Leipzig, das auch in seiner Neigung und seinem Verständniß für die dramatische Kunst seinen ihm vom Altmeister Goethe verliehenen Beinamen „Klein Paris“ bis auf diesen Tag mit hohen Ehren zu behaupten weiß, in Leipzig ging das Gestirn der Fettschminke auf, welche von dem Schauspieler Baudius erfunden oder doch vervollkommnet wurde. Baudius wurde durch seine Art, sich zu schminken, oder wie es in der Kunstsprache heißt: „Maske zu machen“, berühmt. Selbst sein von der Natur stiefmütterlich behandeltes Riechorgan wußte er durch kühnes Auftragen einer geeigneten Masse passend zu verändern und führte daher in der Kunstwelt den stolzen Namen: Nasenbaudius. Hierüber lache keiner, der nicht zu ermessen vermag, welches Hinderniß ein ungenügender „Gesichtserker“ einem Bühnenkünstler sein kann.
Lange Zeit bereiteten sich die alten Komödianten, wie die alten Maler, ihre Farben selbst. Mischungen und Rezepte wurden hoch und geheim gehalten, jeder hatte sein eigenes System, sich „das Lederzeug anzustreichen“. Das ist der wenig zartfühlende Ausdruck unseres Wörterbuchs für „schminken“, und, ich bekenne es schaudernd, er findet sogar auf die rosigzarten Teintauflagen unserer Damen Anwendung.
[228] Doch zurück zu unserer bescheidenen „Bude“! Wird sie, im räumlichen und künstlerischen Betracht, gar zu klein, so heißt sie, wie männiglich bekannt, eine „Schmiere“, und das „Brettel“ schrumpft dann zum „Nudelbrett“ zusammen. Mit dem „Meerschweinchen“ wird dann die Reihe der Bezeichnungen für kleine und Wander-Bühnen geschlossen. Was unbedeutender sei, die Schmiere, das schmale Nudelbrett oder das winzige Meerschweinchen, ist schwer zu entscheiden. So viel steht fest, daß die zwei letzteren noch verhältnißmäßig „anständige Verhältnisse“ sein können, wogegen der Schmiere stets der im Worte liegende üble Begriff anhaftet. So wird denn auch manches größere Theater, bei dem etwas faul im Staate Dänemark ist, Schmiere oder auch „höhere Kunstschmiere“ genannt, und auch der schlechte, nicht nur der kleine Schauspieler heißt „Schmieren-Komödiant“.
Der echte und rechte Schmieren-Komödiant, das heißt der schlechte Wandermime, ist sehr stolz, sieht zwar mit großem Neid zur Gage seiner Hoftheaterkollegen hinauf, doch mit noch größerer Verachtung auf ihre Kunstleistungen hinab. Dort wird „auch nur mit Wasser gekocht,“ sagt er wegwerfend und tröstet sich leicht mit diesem unbestreitbaren Grundsatz.
Der Kochkunst entlehnt ist auch die Benennung „alter Schmarr’n“ für ein Ritterstück oder sonstige urzeitliche Dichtung von zweifelhaftem litterarischen Werthe. Der erfahrene „Schmierenhäuptling“ weiß übrigens sehr gut, daß er im kleinen Städtchen mit einem solchen „alten Schinken“, wenn es nur ein gehöriger „Reißer“ ist, eine fettere Benefizeinnahme ergaukeln kann als mit einem meist mißtrauisch angesehenen neuen Stück; giebt es doch selbst große Städte, in welchen das Publikum den Erfolg einer „Novität“ erst vorsichtig abwartet, ehe es sein Geld ins Theater trägt. Die Stücke können aber leider keinen Erfolg haben, wenn sie vor leeren Bänken „agirt“ werden müssen.
„Wir sind heute in der Mehrzahl, wenn’s zum Gefechte kommt,“ heißt es bei solcher betrübenden Gelegenheit oben auf der Bühne. Fragt dann einer. „Ist’s heute voll?“ so erwidert man: „Jammervoll!“ oder mit leicht zu durchschauendem Doppelsinn: „Einige Plätze sind recht gut besetzt!“
Nun schaut er wohl durch das Loch im Vorhang und ruft schmerzlich aus: „Aber wo ist denn heut das Publikum?“
Worauf stets irgend ein Witzbold mit dem uralten Scherz zur Hand ist: „Er ist hinausgegangen“ oder „er holt Bier!“
„Holt Bier“ ist überhaupt eine beliebte Antwort, wenn nach einem nicht aufzutreibenden Garderobier oder Friseur gerufen wird. Selbst die Abwesenheit eines Darstellers, der gerade auftreten soll, wird höhnischerweise mit dieser schnöden Redensart bemerkt. Dagegen meldet sich der Anwesende oft mit dem aus Laubes „Essex“ beliebt gewordenen: „Hier hängt er!“
Aus obigem läßt sich leicht entnehmen, in wie hoher Werthschätzung guter Gerstensaft bei der Bühne steht, sowie daß Wein noch nicht zum Nationalgetränk des deutschen Bühnenvolks geworden ist, man müßte denn gerade den Ausdruck: „eine Rolle verzapfen“ auch vom Weinfaß ableiten wollen, wogegen gewichtige Gründe sprechen, die wir hier nicht näher erörtern wollen. Uebrigens wird eine Rolle niemals „gespielt“ oder „gegeben“, sondern, wie bereits bemerkt, „verzapft“, was etwas ansäuerlich klingt, oder, und das kann auch ein Lob sein, „gemacht“. Aus ganz grauen Zeiten klingt noch das Wort: eine Rolle „performiren“. Ist das Latein und stammt wohl gar von den mittelalterlichen Passionsspielen und Mysterien her, oder weist es auf das englische „perform“ und auf die Anfänge regelrechter Theaterkunst in Deutschland, auf die englischen Komödianten des 17. Jahrhunderts hin?
Gegen das französische „kreiren“, welches sich in den Zeitungsberichten einen hohen Ehrenplatz zu erringen wußte, hat sich die Bühnensprache bisher stolz ablehnend verhalten.
Die Vorstellung und das Stück, sei es ein Trauerspiel oder eine Posse, werden „Komödie“ schlechtweg genannt. Der verantwortungsvolle Mann, der darüber zu wachen hat, daß niemand seinen Auftritt versäumt, daß es zur richtigen Zeit donnert und daß zur richtigen Zeit die Sonne aus- und untergeht, der durch Glocken eine Kuhheerde oder einen Schlitten „markiren“ muß, mit einem Wort: der „Inspicient“, mag wohl auch ein Nachkomme des „inspiciens“, des Aufsehers auf der Moralitäten- und Mysterienbühne, gewesen sein. Oder sollten diese und andere lateinische Ausdrücke von den Studententruppen des wackern Magisters Velthen herstammen, der zuerst um das Ende des 17. Jahrhunderts mit geordneteren Darstellungen durch Deutschland streifte und junge Studenten unter seine Fahne zog, die dann nach einiger Zeit wohl auch wieder hübsch ordentlich zu ihrem Studium zurückkehrten? Im Französischen, dem doch sonst die meisten technischen Bezeichnungen für Bühnenämter entlehnt sind, giebt es keinen Inspicienten, sondern einen „régisseur de la scène“. Es giebt übrigens auch in Deutschland Regisseure, welche nur Inspicienten höheren Grades sind.
Merkwürdigerweise hat sich für das wichtigste und unentbehrlichste Glied im weitverzweigten Bühnenorganismus, für den Souffleur, kein Wort im Bühnenjargon gebildet, so wenig wie für Garderobier, Garderobe, Kostüme, Requisiteur und andere, wohl ein Beweis, daß dies alles neuere Errungenschaften sind. Verächtlich sagte daher jener wackere mecklenburgische Thespiskarrenführer zu seinen Leuten: „Wat bruukt ju Requisiten, speelt man gaud!“, ein klassischer Ausspruch, der zum geflügelten Wort bei uns wurde und oft gebraucht wird, wenn jemand in höchster Angst um ein nicht aufzufindendes unentbehrliches Requisit jammert.
„Prospekt“ für „Hintergrund“ klingt auch ziemlich antiquarisch, und ganz feierlich liest sich in den Soufflirbüchern das „Aktus“ hinter dem Schluß eines Aufzuges. Aktus heißt: „Hier fällt der Hauptvorhang“; auch der Inspicient antwortet auf die Frage: „Wie weit ist es draußen?“ nicht: „Es ist Zwischenakt,“ sondern einfach: „Aktus.“
Das Aufziehen des Vorhangs wird manchmal mit dem wenig schmeichelhaften: „Fetzen hoch!“ oder: „Hoch den Lappen!“ angedeutet, namentlich wenn der erste Held und Liebhaber der Meinung ist, durch recht rasches Auf und Ab der Gardine ließe sich ganz gut noch ein zweiter Hervorruf „herauskitzeln“. Seine bezüglichen Wünsche und Bestrebungen rufen natürlich die abfälligste Kritik seitens seiner Kollegen wach. Da tönt wohl halbleise das bekannte „Coulissenreißer“, auch schlechtweg „Reißer“, oder man nennt ihn einen „scharfen Spieler“. Letzteres kann jedoch auch im lobenden Sinne gebraucht werden. Unbedingt ehrenvoll ist das vielleicht von der studentischen Mensur abgeleitete: „Er geht los!“ oder die Bemerkung: „Er kniet sich hinein!“
Der Charakterspieler jedoch, der gewöhnlich weniger Organ aufzuwenden hat als jener, wird meist zu kalten Spieles beschuldigt. „Er macht’s mit der kalten Hand“ oder mit der kalten „la main“ ab! Auch führt er die Ehrentitel: „Alter Brunnenvergifter“ und „Intriguant auf Gummischuhen“. Dieser Beiname schreibt sich von dem „alten Schütz“ her, der lange Jahre hindurch auf dem berühmten Volkstheater der „Mutter Gräberten“ in Berlin alle Bösewichter „verzapfte“ und, um recht unheimlich als „schleichender Bösewicht“ aufzutreten, stets Gummigaloschen statt der Schuhe getragen haben soll. Böse Leute sollen schon damals behauptet haben, es habe ihn dabei weniger ein höheres Kunstinteresse als die gewöhnliche Rücksicht auf seine Hühneraugen getrieben.
Da der Intriguant und „Charaktermacher“ gern seine Aufgabe mit geistvollen „Details“ auszustatten liebt, so wird er auch „Nuancenjäger“ gescholten, man dichtet ihm ein „großes Nuancenbuch“ an, in welchem er die Arabesken für seine Rollen sorgfältig und gewissenhaft vermerken soll. Er schafft kein Ganzes, sondern macht lauter „Maffeeken“, was echt berlinisch ist und nach Lindenbergs dankenswerthem und lustigem Idiotikon des „echten Berliners“ so viel bedeutet wie unnütze Umstände machen. Ueber den Ursprung des seltsamen Wortes kann Lindenberg nichts angeben.
Der Komiker hingegen versichert, wenn er gut bei Humor und ihm eine Rolle „recht auf den Leib geschrieben“ ist, er wolle „seinem Affen einmal Zucker geben“. Welch ein tiefsinniger Gedanke, der jedem Mimen einen gewissermaßen selbständigen Vierfüßlersgeist in Brust und Kopf einlogirt!
Der erste Held seinerseits, der eben sein „Paradepferd geritten“ hat, das heißt die einzige Rolle gespielt hat, die ihm „liegt“ und die er daher gut „machen“ kann, kümmert sich wenig um das Gerede der „Lappigen“ – soll wohl sagen derjenigen, die statt der feinen Garderobe und der besten Kleidungsstücke, auf die ein für allemal nur der Held und Liebhaber Anspruch erhebt, nur in bunten Lappen zu geben haben. Diese sind ja gut genug für die „zweite Garnitur“ – man sieht, auch der Militarismus hat uns von seinem Sprachschatze etwas abgegeben.
Unser Held weiß, dem Publikum zu gefallen ist schwer, den Kollegen zu gefallen am allerschwersten. Nur die Anfänger bewundern
[229][230] ihn vielleicht ehrerbietigst oder pflichtschuldigst, manche aber denken auch im Stillen, sie könnten es noch viel besser, wenn sie nur die guten Rollen bekämen. Jedenfalls wagen sie das vor den älteren Schauspielern nicht zu äußern, denn dem Anfänger in der Bühnenlaufbahn geht es verhältnißmäßig gerade ebenso schlimm wie dem Handwerkslehrling, nur daß er natürlich bloß moralisch geprügelt wird. Seine oft ungeschickte Fröhlichkeit, sein dreistes und drolliges Hineintappen in ihm ganz neue und ungewohnte Verhältnisse wird nicht übel durch den Namen „junger Hund“ gekennzeichnet.
Jetzt freilich haben auch die „jungen Hunde“ schon Zähne – sie kommen ja von berühmten Akademien fix und fertig – und sie weisen dieselben gelegentlich auch dem berühmtesten „Mauerweiler“, das heißt dem Gaste, der gerade in unsern Mauern weilt. Hierbei steht stets die elegante Gestalt Fritz Haases vor meinen Augen, der so oft diesen Ausdruck in der Lokalpresse geduldig über sich ergehen lassen muß.
Ich habe „zu meiner Zeit“ noch alle Leiden des „jungen Hundes“ über mich ergehen lassen müssen.
„Du kannst“ – ältere Schauspieler sprechen gern per „Du“, wohl auch mit dem noch aus alten Ritterkomödien übergebliebenen feierlichen „Ihr“ – „Du kannst wohl auch das Talent nicht halten?“ hieß es, wenn ich schon eine halbe Stunde vor Beginn im vollen Kostüm über die noch dunkle Bühne stolzirte.
Große Ehrerbietung und Höflichkeit wurde „zu meiner Zeit“ vom „jungen Hunde“ gefordert und auch geleistet. Bei der Schmiere bezieht sich diese Forderung noch heutigestags besonders auf Schminke, Abschminke und Schminktücher, welche der ältere Kollege als schuldigen Tribut vom Anfänger huldreich entgegennimmt, auch wird es nicht übel vermerkt, wenn der Kunstnovize ihm hier und da die Zeche bezahlt, wofern er dazu imstande ist.
Der erfahrene Mime bildet sich manchmal nicht wenig auf die Kunst des „Nachsprechens“ oder „Schwimmens“ ein. Das ist die Kunst, nicht auswendig zu lernen, sondern, ohne daß das naivere Publikum es allzusehr merkt, jedes Wort „aus dem Kasten zu ziehen“. Viele nennen das „Routine“. Wehe aber dem Anfänger, wenn er schüchterne und meist erfolglose Versuche im „Schwimmen“ sich zu schulden kommen läßt! Wenn er aber sehr leicht und fest lernt, ist’s auch gerade kein Verdienst, denn in seinem Alter „frißt man ja die Rollen“.
Mit großem Vergnügen wird es bemerkt, wenn er bei irgend einer schwierigen Meldung oder „faulen Rolle“ „angeblasen“ wird, worunter man ein halb unterdrücktes Lachen im Publikum versteht, was in der That auf der Bühne wie ein leichtes Windesblasen klingt. Jeder giebt ihm wohlmeinende Rathschläge, wie er es nicht machen soll; wie er es aber machen soll, das erfährt er nur höchst selten. Hat er vor dem ihm als unausbleiblich geschilderten „Abfall“ Angst, so wird er ausgelacht; ist er dreist und unverzagt, so wird es ihm als Unverschämtheit und Ueberhebung ausgelegt. Im allgemeinen wird nämlich bei dem Anfänger die Angst als Kennzeichen des Talentes angesehen, und man trifft hierbei gewiß in vielen Fällen gefühlsmäßig das Richtige, denn das Coulissenfieber ist meist nur das Mißverhältniß von Begeisterung und mangelnder technischer Sicherheit.
Hierbei fällt mir eine lustige Geschichte vom „alten Niklas“ ein, und da sie meines Wissens nur in mündlicher Ueberlieferung beim Theater bekannt ist, so mag sie hierdurch der Nachwelt überliefert werden. Der „alte Niklas“ war zu Laubes Zeiten eine bekannte Wiener Figur, er wirkte als Statistenführer und Inspicient an der Burg. Später war er der unzweifelhaft verdienst-, aber noch mehr geräuschvolle Leiter des sogenannten fürstlich Sulkowskischen Theaters. Dieses allerliebste ehemalige Haustheater eines alten Palais dient jetzt den jungen Wienern als Uebungsplatz für ihre vielversprechenden Talente. Ich habe vor etwa 9 Jahren daselbst einer recht erheiternden Vorstellung von „Wildfeuer“ und einer recht fröhlichen „Deborah“ beigewohnt und dabei auch den alten Niklas zwar nicht gesehen, aber doch hinter den Coulissen recht laut seine Anordnungen ertheilen gehört.
Mit sorgenschwerem Antlitz irrte eines Tages unser Niklas durch die engen Hallen des alten Burgtheaters, war ihm doch vom Herrn Direktor Laube der schwere und verantwortungsvolle Auftrag geworden, aus der Schar seiner Untergebenen einen zuverlässigen Mann auszusuchen, der in einem Lustspiel einige Worte sprechen könnte. Es waren allerdings nur vier unbedeutende Worte: „Verflucht! sie sind entwischt!“, aber es war doch immerhin eine Sprechrolle, eine wirkliche und wahrhaftige ausgeschriebene Rolle! Endlich hatte er seine Wahl getroffen und zog seinen Mann in eine dunkle Coulissenecke.
Es ist nämlich beim Theater Brauch, daß, wenn einer dem andern irgend etwas zu sagen hat, dies stets äußerst geheimnißvoll zu geschehen hat, jedoch zugleich auch so, daß der Vorgang möglichst bemerkt wird, denn es ehrt dies den Empfänger einer so vertraulichen geheimen Mittheilung, wie es andererseits denjenigen, der so Wichtiges zu sagen hat, in den Augen der Genossen heben muß.
Also Niklas handelte demgemäß und flüsterte seinem Vertrauensmann zu: „Se! Hören’s mal! – i hob Ihnen eine Mittheilung zu machen! kommen’s mal her! – So! – Se kriegen nämlich a Roll! – Wissen’s! a wirkliche Roll! Se kriegen ein’n Gerichtsdiener! Se – das is nix Klein’s – a Obrigkeit! Aber – z’ red’n hab’ns: Verflucht! sie sind entwischt! – Werden’s das können? – Se, aber i sag Ihnen, Ihnere Stellung und meine steht auf’m Spiel, wenn’s Ihnen blamiren! Ihnere und meine Stellung – weiter sag’ i nix!“
Und er übernabm’s, der kühne Jüngling, dessen Name uns leider nicht überkommen ist. Die Meldung ging auf der Probe unbemerkt vorüber – was ja bekanntlich der größte Erfolg ist, der mit einer Meldung erzielt werden kann. Aber Niklas’ Gemüth war sorgenschwer und die Angst um seine Stellung ließ ihm nicht Ruhe. Er sah einen unglücklichen Ausgang vorher.
Kaum hatte er am Abend den lange vor seinem Auftreten schon fix und fertig einherwandelnden Polizeidiener erblickt, als er auf ihn zustürzte und in väterlich besorgtem Tone fragte: „Habens Angst?“
„Nein!“ lautete die harmlos gegebene Antwort.
„Schon g’fehlt!“ rief der verantwortliche Heerführer der Komparserie entsetzt, aber sein Amt ließ ihm zu weiterem Jammer keine Zeit, da er gerade auf der andern Seite der Bühne nöthig wurde. Sobald als möglich suchte er jedoch wieder in die Nähe seines Debütanten zu gelangen. – Endlich glückte es. „Haben’s Angst?“ fragte er wieder und zwar dringender. „Nein,“ versetzte der Gefragte wiederum, wenngleich etwas zögernd, und zum zweiten Male vernahm er von den Lippen seines Vorgesetzten: „Schon g’fehlt, schon g’fehlt!“ und zwar in fast drohendem Tone.
Und wieder wurde Niklas abgerufen. –
Endlich eine dritte Zusammeukunft, kurz vor dem Auftreten. „Haben’s Angst?“
„N – n – nein!“ klang es, offenbar viel weniger zuversichtlich, zurück.
Da aber brach das Wetter los. „Was?! Se! Se woll’n keine Angst hab’n? Se Mensch Se! – Was bilden’s Ihnen denn ein? – Die größten Künstler hab’n Angst, wenn’s eine neue Roll’ spiel’n. Der Herr von Sonnenthal hat Angst, der Herr von Krastel hat Angst ... und Se Lackel, Se woll’n keine Angst haben?! Se – ich beschwör’ Ihnen um Gotteswill’n, Ihnere Stellung und meine steht auf’m Spiel . . .“
Kurz er redete den armen Teufel richtig und glücklich dergestalt in die Angst hinein, daß dieser im verhängnißvollen Augenblicke nur stotternd und zähneklappernd herausstoßen konnte:
„Verwischt! Sie sind entflucht!“ – was denn nicht so ganz unbemerkt vorüberging.
Was der Direktor, „der Alte“, dazu gesagt, ob er gelacht oder gebrummt hat, ist im Dunkel geblieben. Soviel steht fest, daß der Unfall keinem der beiden die „Stellung“ gekostet hat, denn „es wird ja nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird“, ist ein Lieblingssprichwort am Theater, das leider auch oft dem Bühnenschlendrian als Schlupfwinkel dient.
„Der Alte“ – so heißt der Direktor billigerweise, wie sich wohl jeder Vorgesetzte diesen patriarchalischen Titel gefallen lassen muß. – „Der Alte sitzt mit Ritterstiefeln an der Kasse“, das heißt: das „Verhältniß“ ist so klein, daß der Direktor sein eigener Kassirer ist, da er aber auch zugleich als Darsteller unentbehrlich ist, so sitzt er bereits kostümirt am Kassentische, oben durch den Ueberzieher verhüllt, während unten die Ritterstiefel die Einlaß Begehrenden schon auf den zu erwartenden Genuß vorzubereiten scheinen.
Meistens aber heißt es bei Gesellschaften dieser Art etwas hochtönend: „Die Frau Direktorin versieht das Kassenwesen“, und bei großen und kleinen Theatern hat gewöhnlich „die Alte“ „die [231] Ritterstiefeln an“, womit jene Machtfülle und Thatkraft versinnbildlicht wird, welche man im bürgerlichen Leben dadurch kennzeichnet, daß man der betreffenden Dame den Besitz eines sonst dem Manne unentbehrlichen, jedoch weniger pathetischen Kleidungsstückes zuspricht.
Die Schauspieler sind sehr geneigt, der „Alten“ die Rolle zuzutheilen, welche die „Frau Meester’n“ im Handwerkerleben spielt, jedenfalls darf man es mit ihr nicht verderben, wenn man gute Rollen bekommen will. Ihr Zorn soll fürchterlich sein. – Darauf baute wohl jener teuflische Bassist seinen Plan, der gern aus einem ihm unangenehmen Engagement „loskommen“ wollte.
„Sie kommen nicht los,“ meinten die Kollegen, „gutwillig läßt Sie der Alte nicht, und auch nicht, wenn Sie irgend einen dummen Streich machen. Er braucht Sie zu nothwendig!“
„Wollen sehen!“ dröhnte das tiefe „Doch“, wie der Sänger des Sarastro bekanntlich genannt wird.
Am nächsten Abend war „Freischütz“, und als in der grauslichen Wolfsschlucht der Theatermeister auch die obligate Wildsau mit transparenten feuerfunkelnden Augen und feurigem Rachen in bedächtiger Schnelle vorüberschlurren ließ, zog der entlassungssüchtige Tückebold seinen Federhut und sagte verbindlich. „Ei, guten Abend, Frau Direktorin! Wo wollen Sie denn noch so spät hin?“
Gleich nach Schluß der Vorstellung bekam er den ersehnten Abschied, aber auch die letzte Monatsgage nicht ausgezahlt. – Wir wollen ihm beides gönnen!
Mir aber sei vergönnt, mein Gastspiel hier zu schließen –
- „Aktus!“
Lore von Tollen.
(Fortsetzung.)
Und Sie, Madame, müssen so bald als möglich zu Ihrem Sohne
reisen,“ wandte sich der General wieder an Frau Elfriede.
„Ich?“ Es klang wie ein Schrei.
„Um meiner armen Nichte willen wäre es mir lieb, wenn ein Skandal vermieden würde.“
„Barmherziger! Wenn es möglich wäre! Ich überlebte es nicht, wenn Adalbert – –“
„Ich hoffe es, Madame. Wenn Sie ruhiger geworden, morgen, werde ich mit Ihnen darüber sprechen.“
„Excellenz!“ schrie die Frau und schlug die Hände vor das Gesicht, „ich habe es nicht gewußt, ich habe es nicht geahnt! Verlassen Sie uns nicht, rathen Sie ihm, er liebt Lore zu sehr – deshalb, nur deshalb –! Wie schwer leidet doch das Herz einer Mutter unter der Schuld ihrer Kinder!“
Die aufgeputzte, unfeine Frau jammerte den alten Herrn in diesem Augenblick, wo alles falsche Gethue abfiel, wo sie nur noch den Sünder zu vertheidigen suchte, dessen Mutter sie war.
„Beruhigen Sie sich; und vor allen Dingen: das tiefste Stillschweigen, gnädige Frau, um meiner Nichte willen!“ Er hielt inne und ging langsam in dem Zimmer auf und ab. „Ihr Sohn muß von jetzt ab ‚seiner Geschäfte wegen‘ wieder in New-York leben,“ sprach er, vor die Frau tretend, die noch immer wie verstört auf dem Sofa verharrte.
Sie sah ihn unsicher an. „In New-York leben,“ wiederholte sie.
„Und meine Nichte weigert sich, ihrem Gatten dorthin zu folgen. Verstehen Sie?“
„Ja!“
„Er fordert sie wiederholt auf, er läßt sie durch das Gericht anfordern, zu ihm zu kommen – sie beharrt dabei, hier zu bleiben.“
„Ach Gott, Excellenz!“
„Danach wird Ihr Sohn Scheidung beantragen und meine Nichte wird mit Freuden darauf eingehen. Auf diese Weise erspare ich dem armen Mädchen wenigstens die Schande, vor der Welt als eine Düpirte dazustehen. – Wäre das nicht, Madame, bei Gott –!“ Der Zorn überwältigte ihn; er trat mit geballter Faust vor die zitternde Frau.
Nach einem Weilchen, als er sich durch erneutes Auf- und Abgehen beruhigt hatte, fuhr er fort. „Missis Becker werde ich veranlassen, morgen abzureisen, wenigstens vorläufig nach Hamburg; und Ihnen gebe ich ein paar Tage Frist, um hier noch alles zu ordnen. Und nun die Depesche, bitte, ich werde sie aufsetzen.“
Er zog ein Notizbuch aus der Tasche, riß ein Blatt heraus und schrieb:
„Bleibe in New-York, ich komme so bald als möglich. E. hier
angekommen. Mündlich alles Nähere.
Elfriede Becker.“
„So; schicken Sie das sofort nach dem Telegraphenamt!“
„Ja!“ sagte sie, gehorsam wie ein Kind.
„Haben Sie sich gemerkt, was ich Ihnen vorschlug, Gnädigste?“
„Ja! Lore will nicht mit meinem Sohn in Amerika leben, deshalb beantragt er Scheidung.“
„Schön! Leben Sie wohl!“ Er griff nach seinem Hut und schritt der Thür zu.
„Excellenz!“ schrie Frau Elfriede, „ich – ich – sagen Sie Lore, daß ich trostlos sei, daß –“
„Leben Sie wohl!“ wiederholte er, dann ging er.
Lore war von Frau von Tollen zur Ruhe gebracht worden; die Mutter hatte ihr das eigene Lager eingeräumt. Sie hätte das arme Ding am liebsten auf ihren alten schwachen Händen hinaufgetragen, wenn sie das Trostlose damit hätte ungeschehen machen können.
Sie saß dann am Bett und hielt der Tochter Hände und fragte einmal über das andere. „Wie geht’s Dir, Lorchen, fühlst Du Dich gut? Du weinst doch nicht?“
„O, so gut, Mama. Es ist so schön daheim!“ war die Antwort. „Und nicht wahr, wenn Onkel kommt, so soll er sich mit Dir hierher setzen, er soll mir erzählen?“
„Ja, mein Kind, und ich denke immer, er bringt gute Nachrichten.“
„Ich hoffe es, Mama.“
Sie hofften es beide, aber sie dachten beide das Entgegengesetzte.
Endlich kam er. Er setzte sich auf den Bettrand und nahm die Hände der jungen Frau in die seinen.
„Na, meine gute Deern?“ Das klang so weich, als schlucke der alte Haudegen an heimlichen Thränen.
„Sage doch, Onkel!“ bat sie.
„Hm, ja! Also, Lorchen, Du bleibst vorläufig bei Deiner Mama, oder sagen wir, bei mir. Sieh, ich habe in Rom in der Nähe des Forum Trajanum eine nette kleine sonnige Wohnung gemiethet für die Wintermonate. Dahin gehst Du mit, und wenn wir müde sind von allem Schauen und Bewundern, dann machst Du es dem alten Onkel gemüthlich daheim; das wird ihm gutthun, zumal wenn er des Abends den Thee zu Hause nehmen kann und nicht noch herumbummeln muß, um in irgend einer Trattorie zu essen. Und wie schön wird es für ihn sein, wenn er die Herrlichkeiten der ewigen Stadt so einem Paar junger Augen zeigen kann und –“
„Onkel!“ – Sie setzte sich aufrecht im Bett – „ich will die Wahrheit wissen – sprich, ist sie getraut mit ihm?“
„Ja, die Wahrheit, Lorchen! Sieh ’mal, das müssen die Gerichte entscheiden. Aber ich denke, es giebt einen ekelhaften Skandal; Dir kann es gleichgültig sein, ob sie ihm angetraut war oder nicht, betrogen hat er das arme Geschöpf auf alle Fälle und gesündigt hat er an dem Kind. Ein Lump ist er so oder so – Pardon – ich meine, Du trennst Dich auf jeden Fall von ihm.“
Sie sank langsam in die Kissen zurück und faltete die Hände.
„Wird er das wollen, Onkel?“ fragte sie enttäuscht.
„Ja!“ erwiderte der alte Herr bestimmt.
„Er hat gesagt, nie, nie würde er seine Ansprüche an mich aufgeben,“ flüsterte sie angstvoll.
Der General wandte sich ab; die Augen wurden ihm feucht. Sie durfte es nicht wissen, daß ihr Bündniß null und nichtig,
[232] daß sie das Opfer eines ungeheuren Bubenstreiches geworden war; daß sie vor der Welt nur eine Düpirte blieb, die keinerlei Anspruch auf die Rechte der Gattin, selbst die der geschiedenen besaß, wenn es nach Recht und Gesetz zugehen sollte.
„Ja, er wird sie aufgeben, Lore, wenn Du es willst,“ sagte er. „Wenn mich nicht alles täuscht, Lore, liebst Du ihn nicht; Du kannst ja so einen Kerl gar nicht lieben, he, alte Maus? Oder sollte ich etwa ein schlechter Herzenskenner geworden sein?“
„Ich, Onkel? Ich hätte die Gemeinschaft mit ihm nicht ertragen, lieber wäre ich –“ Sie verstummte und senkte die Augen.
Ob er sie ganz verstand? Er sah plötzlich mit förmlichem Erschrecken auf ihr Gesicht, das bei diesen Worten einen Ausdruck von Entschlossenheit angenommen hatte. „Nun, dann wird Dir die Trennung nicht schwer werden, Lore,“ sprach er langsam weiter, „und über das bißchen Geträtsche in dem kleinen Neste hier kommst Du auch weg. Später verschaffen wir Dir auch Deinen Mädchennamen wieder.“
„Geht das, Onkel?“
„O ja, durch besondere Gnade wird das genehmigt. Vorerst aber gehen wir nach Rom, gelt? Und zu allererst schlafen wir – dixi. Gute Nacht!“
Sie lag mit großen sanften Augen in den Kissen. „Onkel, wie schön, daß Du hier bist; es ist wie ein Wunder, daß Du heute kommen mußtest. Gute Nacht, Onkel! Gute Nacht! – Wo ist denn Mama?“
„Mama ist hinuntergegangen, ich will sie Dir schicken. Ich bin recht müde, will gleich ins Hotel.“
Drunten im Eßzimmerchen stand der alte Herr noch ein paar Minuten, die Hände in die Seiten gestemmt, vor seiner Schwägerin.
„Es stimmt,“ sagte er nicht allzu freundlich, „der Schuft ist getraut mit der kleinen Amerikanerin. Die alte aufgeputzte Jahrmarktstante dauerte mich schließlich, als sie den Beweis fand von dem Bubenstück. Sie war wie Kartoffelbrei so weich auf einmal und sah jammervoll aus. Aber nun stillschweigen, Marie, um Gottes willen, stillschweigen! Lore muß in dem Glauben gehalten werden, daß sie rechtmäßig verheirathet war und rechtmäßig geschieden wird. – Verstanden?“
Frau von Tollen faßte ihren Kopf mit beiden Händen. „Wilhelm!“ schrie sie auf; „ach Gott, Wilhelm!“
„Ja, ja, hättest Du lieber den Bengel nach Amerika laufen lassen, anstatt das arme Mädel zu beschwatzen zu so einer Heirath,“ wollte er sagen, aber er unterdrückte es, die Frau war zu verzweifelt in ihrem Schmerz.
„Na, Kopf hoch!“ redete er ihr gutmüthig zu, „wollen Gott danken, daß es so abläuft! Wenn nun das Mädel eines Tages aus Verzweiflung über die Gemeinschaft mit dem Kerl ins Wasser gegangen wäre, he?“ Er dachte an Lores Aussehen vorhin.
Die Majorin blickte ihn entsetzt an.
Er nickte ernst; dann sagte er rasch. „Geh jetzt hinauf zu Lore; und nun gute Nacht, Marie! Die Sache hat mich doch verteufelt müde gemacht.“
Im Hotel angekommen, beschied er noch in der zehnten Stunde Missis Becker in das Gastzimmer herunter.
„Madame,“ sagte er, „Sie reisen auf meinen Rath unverzüglich zurück; geht der Dampfer in den nächsten Tagen nicht, so halten Sie sich in Hamburg auf; hier können Sie nicht bleiben. Die Sache wird sich übrigens ordnen; Sie werden Ihren Herrn Gemahl zurückerhalten, meine Nichte macht keinerlei Ansprüche auf ihn.“
„Ah, ich wollen nicht wieder mit ihm leben,“ sagte sie traurig, „nur anerkennen soll er mich und das Kind erziehen lassen als seinen Sohn. Ich will nichts mehr von ihm, ich bin zuwider ihm – lange – lange! Ach, die arme schöne Miß, die er so betrog!“
„Ich bitte Sie ferner, Madame, zu keinem Menschen ein Wort über die Sache zu reden, hier nicht und dort nicht, sonst erleben Sie, daß der Vater Ihres Sohnes ins Gefängniß wandert.“
„O sicher nicht, Herr General!“
Der alte Herr empfahl sich rasch. Armes Weib! dachte er, wie wird dich der Schuft empfangen! – Und im Geiste lud er eine Pistole und zielte auf den dickköpfigen breitspurigen Burschen, dessen Bild er heute in dem Zimmer der Frau Elfriede gesehen. „Wie einen tollen Hund,“ sagte er halblaut, daß der kleine Kellner, der ihm die Lichter in seinem Zimmer angezündet, sich erschreckt umwandte – „wie einen tollen Hund,“ wiederholte er, „es müßte eine Wohlthat sein!“
Der März war in das Land gekommen. Verführerisch
blauer Himmel, greller Sonnenschein und eine unendlich weiche
warme Luft weckten den Glauben an baldigen Lenz, an Blühen
und Grünen.
Der Linde im Tollenschen Garten schwollen die braunen Knospen, und in die Staarkästchen waren die gefiederten Herrschaften wieder eingezogen und erzählten und schwatzten von ihren Reiseerlebnissen im fernen Süden. Möglich, daß sie die Mär mitgebracht hatten, die jetzt in ganz Westenberg umherschwirrte, die Mär, daß Lore von Tollen von ihrem Mann geschieden werde, daß er, ihrer ewigen Vornehmthuerei müde, diese Trennung wünschte. Ach Gott, was wußten die guten Westenberger nicht alles! Man konnte es dem Mann ja nicht verdenken; gleich nach der Hochzeit hatte sie sich geweigert, ihn nach Amerika zu begleiten – sie wollte nicht in das Krämerland, sollte sie erklärt haben. – Liebe Zeit, wenn er doch sein Geschäft einmal drüben hatte! Es mochte freilich sehr viel vornehmer sein, in Rom den Winter zu verbringen mit einem Onkel, der „Excellenz“ ist! Der armen Frau Becker war schließlich nichts weiter übrig geblieben, als zu ihrem Sohne zu gehen, damit er doch wenigstens eine Häuslichkeit habe. – Na, die Tollens überhaupt!!
Heute war nun wirklich an der Beckerschen Villa, dicht am verschlossenen Gitterthor, eine Tafel angebracht, darauf stand: „Diese Besitzung ist sofort zu verkaufen.“
Das war die Folge davon; dem Besitzer dieses schönen Grundstückes mochte wohl die Lust gänzlich vergangen sein, wieder hier zu wohnen.
Frau von Tollen wußte es, was die Leute sich zuraunten, was laut in allen Kaffeekränzchen erörtert wurde. Sie litt furchtbar darunter um ihres Kindes willen, aber einmal mußte es ja verstummen, das alberne Geklatsch und Geträtsch. Und Lore war Gott sei Dank weit von hier und brauchte es nicht zu hören.
Und heute nun mit dem goldenen Sonnenschein fiel auch ein Strahl von Hoffnung auf bessere Zeiten in das kleine Häuschen und in ihr Herz.
Der Briefbote hatte ein Schreiben abgegeben von Rudolf, und die besorgte Miene der Majorin, als sie es öffnete, wich einem freudigen Erschrecken, als sie den Inhalt las:
- „Liebe Mutter!
Gestern habe ich mich verlobt mit Lieschen Maikat; die Thränen meiner Braut besiegten endlich den energischen Widerstand ihres Vaters.
Ich komme durch diese Heirath nicht nur in eine sorglose, sondern in eine glänzende Lage; außerdem ist meine künftige Frau liebenswürdig und gut von Herzen. Du siehst, Dein leichtsinniges Sorgenkind hat mehr Glück, als es verdient.
Ich werde nun auch sehr bald imstande sein, meinen Verpflichtungen gegen Becker, sowie gegen Viktor nachzukommen; Heinemann und Levy geben mir auf meine Verlobung hin Kredit. – Es ist doch ein famoses Gefühl, wenn man eines Morgens aufwacht mit dem angenehmen Bewußtsein, kein Bettler mehr zu sein und weder den Herrn Bruder noch Se. Excellenz in Rom um eine milde Gabe ansprechen zu müssen.
Sobald ich verheirathet bin – und ich hoffe, mein Schwiegervater willigt in die Hochzeit nach dem Manöver – werde ich auch suchen, Deine Lage etwas zu bessern, liebe Mutter.
Entschuldige, daß ich schließe. Man hat so seine volle Beschäftigung, wenn man neben dem Dienst der aufmerksame Bräutigam sein will.
Grüße Käthe und sei gegrüßt von
Deinem treuen Sohn Rudolf.“
Die Brust der alten Dame hob sich wie befreit von einem furchtbaren Druck. Die Prosa in dem Schreiben berührte sie nicht; sie betrachtete schon längst den Reichthum als die Basis jeglichen Glückes. Sie ging zur Thür und rief nach Käthe. Das junge Mädchen, das bald darauf in das Zimmer trat, welches die
[233][234] helle Morgensonne erfüllte, sah bleich aus. Sie sollte in wenigen Tagen das Lehrerinnenexamen machen und hatte wohl daraufhin allzuviel gearbeitet in letzter Zeit, und das war ihr schwer geworden, denn all ihre Gedanken, ihr ganzes Interesse weilte wo anders. Sie hatte Angst vor dem Examen; sie würde glückselig sein, wenn vorher noch etwas einträte, was diese Qual unnöthig machte, was ihrem Leben ein anderes Ziel steckte, als Lehrerin zu werden.
„Gott sei Dank!“ sagte sie kühl ironisch auf die freudige Mittheilung, „der wäre besorgt und aufgehoben, Mama, und wenn ich nächstens Lehrerin werde, dann kannst Du ja mit Lore ganz behaglich hier leben.“ Sie warf dabei einen Brief auf den Nähtisch der Mutter.
„Von Lore?“ fragte die Majorin und griff hastig nach dem Bogen. „Liebe Schwester!“ las sie, „Neulich schrieb ich an Mama, heute sollst Du einen Brief bekommen. Onkel schläft, ermüdet von einer Wanderung durch die Sammlungen des Vatikan, ich sitze in meinem sonnendurchglühten Zimmerchen und höre auf das Geplätscher des Springbrunnens in dem kleinen Hof und sehe die Purpurblüthen des Kamelienbaumes leuchten zwischen dem dunkeln Grün seiner Blätter. In den stillen Stunden, wo ich allein bin, faßt mich, wie auch heute, eine unbezwingliche Sehnsucht nach Euch, nach meinem kleinen trauten Mansardenstübchen daheim.
Käthe, ich habe eine Bitte an Dich, gieb mir das Stübchen wieder, wenn ich zurückkomme, es war jahrelang mein glücklichster Erdenwinkel. Aber ich bin wohl unbescheiden?
Ueber den Stand meiner Angelegenheiten schreibe ich an Mama nächstens. Bald, ach bald werde ich frei sein, werde ich heimkommen zu Euch!“
Frau von Tollen ließ das Blatt sinken. „Ja, Käthe,“ sagte sie mild, „das Stübchen bekommt sie wieder.“
Käthe schwieg, sie hatte funkelnde Thränen in den Augen; die Mutter sah es nicht.
„Du sollst mein Schlafzimmer bekommen,“ fuhr sie fort, „denn wir ziehen ja nach oben, wenn ich hier unten vermiethe. Ich nehme Papas Schlafstube und in seinem Zimmer wohnen wir dann. Nicht wahr, Käthe, Du willigst ein? und wer weiß, wie alles kommt, Käthe, Du gehst am Ende bald einmal von uns fort.“
„Unter fremde Menschen,“ erwiderte das junge Mädchen bitter.
„Der Onkel nimmt Dich vielleicht auch einmal mit auf eine seiner Reisen.“
„Mich?“ klang es verächtlich.
Eine Pause entstand.
„Gehst Du auch heute wieder zu Schönbergs?“ fragte die Mutter.
„Freilich! Was soll ich machen?“ war die Antwort; aber um die Mundwinkel zuckte ein Lächeln.
„Ich bitte Dich, Käthe, bleib nicht so lange,“ bat die Mutter, „Du glaubst nicht, wie bange mir ist, wenn ich so ganz allein sitze. Du bist jetzt fast jeden Abend dort, und nachher suchst Du die verlorene Zeit durch nächtliches Studieren wieder zu gewinnen, Du mußt krank werden!“
Aber die Tochter sagte weiter nichts als: „Ich schicke Dir Tante Melitta zur Gesellschaft, Mama.“ Sie ging wieder zu ihren Büchern in das Stübchen hinauf, aber sie saß, ohne einen Blick hineinzuthun. In ihrem Innern tobte es und glühte es. Lore sollte hier wieder wohnen? – Nimmermehr! – Auf dem Schulplatz drüben schrieen und lärmten eben Quarta und Tertia, während Secunda und Prima würdevoll umherspazierten. Die Gruppe der Lehrer stand im grellsten Sonnenschein vor dem spitzbogigen Mittelportal und unterhielt sich. Er überragte sie alle mit seiner schönen schlanken Gestalt. Käthes glühende Augen meinten, er schaue hier hinauf, unverwandt. Es mochte wohl sein; er war allezeit so freundlich zu ihr, von einer so liebenswürdigen Zuvorkommenheit.
Sie trat gewöhnlich kaum in die Stube seiner Mutter, so erschien auch er, und er las ihnen vor und erzählte und mitunter spielte er vierhändig mit Käthe; sie meistens mit zitternden Fingern und unzähligen Fehlern, die er geduldig übersah, wie er auch geduldig ihre Aufmerksamkeiten über sich ergehen ließ.
Liebte er sie? War er nicht ganz anders gegen Lore gewesen?
Sie warf die Feder weg, an deren Stiel sie herumgebissen.
Wenn doch sein Blick aufglühen möchte in ihrer Nähe, wenn er einmal sagen möchte: „Käthe, meine Käthe!“ Sie wußte genau, wie er das aussprechen konnte. Und nun sollte Lore wiederkommen, frei, ganz frei und mit der alten heißen Liebe im Herzen – Sie würde das nicht ertragen, sie würde einfach verrückt!
„Heute abend!“ sagte sie auf einmal und strich sich die Haare glatt hinter den zierlichen Ohren. Und während sie mit großen offenen Augen auf den jetzt wieder todtenstillen Schulhof starrte, vertiefte sie sich in die herrlichsten Zukunftsträume.
Es war gegen sechs Uhr abends, als sie zu der Mutter trat, um Adieu zu sagen. Frau von Tollen befand sich im Garten; sie ging in der milden Luft auf und ab. Die Verlobung von Rudolf war ein Balsam gewesen auf ihr vergrämtes Herz; sie hatte ein Gefühl der Ruhe, zum ersten Mal wieder seit dem Tode ihres Mannes. Nun blickte sie freudig staunend auf die Tochter; Käthe erschien ihr eigenthümlich schön in diesem rosigen Dämmerschein des Frühlingsabends, sie hatte einen Strauß Schneeglöckchen vor die Brust gesteckt, der kleine einfache Hut mit dem langen Kreppschleier gab ihr etwas Phantastisches – oder lag es in dem glühenden Ausdruck der schwarzen Augen?
„Adieu, Mama!“ sagte sie.
„Adieu, Kind, grüß auch die Frau Pastorin!“ –
Käthe traf bei Schönbergs Mutter und Sohn ebenfalls im Freien. Sie wanderten miteinander durch die buchseingefaßten Gänge des ziemlich langen Gartens und athmeten die warme Luft des sommerlichen Märzabends.
„Da kommt Käthe doch noch,“ bemerkte die Frau Pastorin und bückte sich nach einem Leberblümchen, das unter der Last eines welken Blattes litt. „Guten Abend, Kind,“ rief sie ihr entgegen, „was sagen Sie zu dem Wetter? ’s ist just, als wär’s Mai.“
„Ja!“ erwiderte Käthe und blickte den Doktor an.
„Es ist, als ob einen die Luft trunken machte,“ bemerkte dieser, nachdem er das junge Mädchen begrüßt hatte. „Mutter, ganz gewiß, die Veilchen blühen schon irgendwo, riech doch nur!“
„Gott bewahre,“ sagte die alte Frau, „das sind die schwellenden Knospen an den Bäumen, das ist die Erde, das junge Gras, das Wasser ist’s und die milde Luft. Es will Frühling werden! Weißt Du noch, Ernst,“ fuhr sie fort, „wenn der Vater uns vorsang: ‚Die linden Lüfte sind erwacht, sie säuseln und wehen Tag und Nacht‘ – und weißt Du noch, wenn der Frühlingssturm über die Wiese fegte hinter unserem Hause und Du mir die ersten Anemonen mit aus dem Wald brachtest?“
„Ja freilich,“ antwortete er und wollte noch etwas hinzusetzen, aber die Mutter eilte plötzlich dem Hause zu. Dort in der Nähe grub das Dienstmädchen in den Gemüsebeeten.
„Aber, Deern!“ schrie sie, „willst Du wohl einhalten, da hab ich ja schon Spinat gesäet!“
Die alte Frau verschwand nach einer kräftigen Strafpredigt im Hause. Käthe und der Doktor schritten langsam dem unteren Theil des Gartens zu. Sie sprachen beide nicht. Am Flüßchen, das Wall und Stadtmauer von dem Garten trennte, stand unter hohen Rüstern eine einfache Holzbank, Käthe setzte sich darauf. Es war ein einsames Plätzchen, weder vom Hause noch vom Wall aus sichtbar. Ein Weilchen blieb er stehen vor ihr, die zu ihm emporsah mit ihren wunderbaren Augen. Dann setzte er sich neben sie – die Blicke des Mädchens hatten etwas Verwirrendes, Sehnsüchtiges und Trauriges.
„Käthe,“ fragte er unsicher, „bekümmert Sie etwas?“
Sie hielt die Hände im Schoß gefaltet und wandte den Kopf zu ihm. „Ja!“ sagte sie.
„Was denn? Wir sind ja gute Kameraden, Käthe, haben Sie Vertrauen zu mir!“
„Ich fürchte mich,“ flüsterte sie.
„Wovor denn? Vor dem Examen?“
„Nein – vor dem Leben.“
Ein Lächeln flog über sein Gesicht, aber es erstarb vor ihren wie in Angst erstarrten Blicken.
„Kind,“ fragte er weich, „weshalb denn?“
Sie begann plötzlich zu schluchzen, leidenschaftlich, bitterlich.
Er nahm ihre Hände, rathlos, was er beginnen sollte, ihr ganzer schlanker Körper bebte wie im Krampf. Er wußte selbst nicht wie es kam, daß er den Arm um ihre Taille legte und sie an sich zog. „Käthe, aber Käthe, fassen Sie sich doch!“ bat er. Ihr Kopf lag an seiner Brust, der Hut war zurückgefallen, und in der Frühlingsdämmerung sah er die tausend Fäden des duftigen braunen Haares und die rosige, von Thränen überströmte Wange des jungen Mädchens, das sich vor dem Leben fürchtete.
[235] Eine ganze Fluth von Gedanken, den Erinnerungen, den Hoffnungen, dem Schmerz und der Gegenwart angehörend, stürmte auf ihn ein mit sinnverwirrender Macht.
„Käthe!“ flüsterte er.
Sie schmiegte sich fester an ihn und weinte noch mehr.
„Käthe, würden Sie auch ein Leben fürchten – mit – –“ Er hielt inne. Die Stimme der Mutter scholl durch den Garten wie ein Warnungsruf. „Ernst, Ernst!“
Das Mädchen hatte den Kopf erhoben. Eine heiße, flehende Bitte lag in diesen Augen, die sich in die seinen senkten.
„Sprich,“ sagten diese Augen, „sprich weiter!“
„Ein Leben fürchten mit mir?“ vollendete er kaum verständlich.
„Ernst!“ schrie sie auf und lag an seiner Brust zitternd und weinend.
„Ernst, Ernst, Käthe!“ scholl es abermals. Da riß sie sich los und flog wie ein Reh den Mittelweg entlang. – Er stand allein. Jählings war der rosige Schein am Himmel erloschen, farblose graue Dämmerung hatte sich ausgebreitet. Er lehnte an dem Stamm der alten Rüster und starrte auf den leuchtend weißen Schneeglöckchenstrauß am Boden, den Käthe verloren. Er bückte sich nicht danach; es war, als seien ihm alle Glieder gelähmt.
Er kam erst nach einer ganzen Weile in das Haus und in die Wohnstube, kalkweiß, das Haar thaunaß, die Züge abgespannt wie nach einer furchtbaren Gemüthsbewegung. – –
Käthe saß am gedeckten Tisch mit der Mutter; auch sie war bleich bis in die Lippen. Sie hatte ein zierliches Butterbrötchen in der Hand und fütterte die Katze der Frau Pastorin. Ein tiefer, verheißungsvoller Blick traf ihn.
„Wo bleibst Du denn?“ fragte die ahnungslose Hausfrau ärgerlich. „Aber das hat man davon, wenn man sich quält, dem Kinde das Lieblingsessen vorzusetzen.“ Und sie wies auf die Schüssel mit Speckeierkuchen und grünem Salat. „Und die Käthe nippt auch nur wie ein Vögelchen.“
„Ich danke,“ lehnte er ab, „ich bin nicht imstande –“
Als die Frau Pastorin nach Tisch das Zimmer verließ, um draußen nachzuschauen in der Küche, senkte Käthe den Kopf dunkelerglühend.
Er kam zu ihr herüber und bot ihr die Hand.
„Käthe,“ sprach er, „Sie wissen, wie’s um mein Herz steht; meine erste heiße Liebe wurde getäuscht. Sie wissen auch, durch wen! Sie sind die Samariterin gewesen, die meine Wunde zu heilen kam. Sie wollen noch mehr, Käthe, Sie wollen mir die ersetzen, die ich verlor – oder irre ich mich, Käthe?“
„Nein!“ stieß sie hervor.
„Und ist das nicht zu schwer für Sie?“
„Nein, nein!“
„Lieben Sie mich denn, Käthe?“ fragte er weich.
„Ja!“ sagte sie laut und leidenschaftlich, und als sie seine staunenden, zweifelnden Blicke sah, da schlang sie ungestüm die Arme um ihn. „Ja, ja,“ flüsterte sie, „o, daß Du das nicht längst begriffen hast!“
Er strich wie verwirrt über ihr Haar. „Du bist so jung,“ sagte er leise – wirst Du zufrieden sein mit dem engen Heim, das ich Dir bieten kann, und mit –“ Er stockte.
„Frage nicht so,“ stieß sie ungeduldig hervor, „sonst laufe ich fort.“
„Nein, nein, bleib; es ist so wunderbar, Käthe.“ Und nach einer Weile fügte er hinzu. „Du irrst Dich ja, Käthe, Dich treibt das Mitleid zu mir.“
Sie lachte hell auf. „O Du Thor!“ sagte sie.
Da schloß er sie fester in die Arme. „Ich danke Dir, Käthe!“ – – – –
Am Abend ging er den nämlichen Weg mit ihr, den er gegangen, als Lore seine Braut geworden. Wie anders war es doch! – Wie damals stand er noch ein Weilchen, nachdem die Thür in der Mauer hinter der, welche er seine Braut nannte, zugefallen war, unter der Birke, und wie damals eilte eine schöne Gestalt wieder zurück. – Und doch wie anders!
„Ich muß Dich noch einmal sehen, Ernst, noch einmal!“ flüsterte Käthe und lag an seiner Brust. „Sag’s, daß Du mich liebst, Ernst; sag’, daß Du alles andere vergessen hast über mich; sag’s, ich bitte Dich!“
„Vergessen?“ fragte er wie betäubt. „Kann denn ein Mensch das vergessen?“
„Ernst!“ Es lag eine förmliche Drohung in dem einen Wort.
„Ja, Käthe, ich hab’ Dich lieb, ja! Denn Du willst mein guter Engel, mein treuer Kamerad sein.“
„Komm bald zu Mama und sag’s ihr,“ forderte sie.
„Ja Käthe, morgen!“
„Morgen!“ wiederholte sie flüsternd und bot ihm den Mund zum Kuß und schlang die Arme um seinen Hals, „morgen und alle Tage, immer, immer. – Aber Ernst –“
„Mein Herz?“
„Das Examen mache ich nun nicht!“
„Ach, Käthe, das wäre schade, weswegen hättest Du gearbeitet alle die Zeit?“
„Aber ich heirathe Dich ja?“ sagte sie verwundert. „Und es ist so schrecklich, dies Examen.“
„Käthe, Du bist ein Kind –“
Sie lachte fröhlich auf und sie küßte seine Hand so heftig, daß er Schmerz empfand. „Gute Nacht,“ flüsterte sie, „gute Nacht! Spürst Du es? Es fängt an zu regnen!“
Sie sah nur eben in die Stube hinein, wo Tante und Mutter saßen, Fräulein Melitta mit einem Spiel Karten vor sich auf dem Tisch. Dann lief sie treppauf in ihr Zimmerchen, warf die Schulbücher vom Tisch, daß es krachte, und holte ihre Briefmappe hervor.
„Lore, liebe Lore,“ schrieb sie, „Du sollst Dein Stübchen wieder haben; ich werde nicht mehr lange bei Euch sein; denn, Lore – sei aber nicht böse – Ernst Schönberg liebt mich und will mich zur Frau. Ich bin so wirr darüber, viel kann ich nicht schreiben heute. Es ist so rasch gekommen. Behüt’ Dich Gott, Lore, kehr’ glücklich heim!
Immer Deine treue Schwester Käthe.“
Sie adressirte, siegelte und trug das Schreiben hinunter.
„Tante Melitta wirf den Brief an Lore in den Kasten auf dem Heimweg – bitte!“
Das alte Fräulein schob das zierliche Billet in ihren Strickbeutel, der neben ihr auf dem Sofa lag. „Käthe,“ sprach sie, „das bist Du,“ und sie zeigte auf Piquedame. „Höre, Du bekommst einen Mann, einen steinreichen; da liegt das Goldblatt.“
Käthe warf sich jubelnd in den alten Lehnstuhl am Ofen. „Dann brauche ich das Examen nicht zu machen,“ rief sie übermüthig.
„Na, na, doch lieber, für alle Fälle,“ lachte die Tante. „Laß Dir mal den Reichen untreu werden –!“
„Nein,“ lachte sie, „ich will aber nicht, ich will heirathen, ich heirathe den Doktor Schönberg.“
Die alten Damen blickten starr vor Ueberraschung auf das Mädchen.
„Eben haben wir uns verlobt, Mama! Morgen kommt er zu Dir und – ich bin fabelhaft glücklich, Mama!“
Frau von Tollen fand kein Wort. Sie überließ Tante Melitta das Staunen, Wundern und Fragen. Sie ging still aus dem Zimmer und in den dunkeln Garten. „Arme Lore,“ sagte sie, die Hände faltend, als könnte sie durch ein Gebet den Schlag vom Haupt der fernen Tochter zurückhalten. Sie wußte es ja, Lore hat ihn geliebt mit aller Macht ihrer Seele, wußte es, obgleich sie nie ein Wort mit ihr darüber gesprochen. Als sie endlich wieder herantrat, hörte sie gerade, wie Tante Melitta sagte. „Daß Du Dich mit einer so bescheidenen Partie zufrieden geben würdest, hätte ich nie gedacht, Käthe.“
„Warum?“
„Ich weiß nicht, meinte immer, Du wartetest auf einen Baron – so einen mit einem Majorat etwa.“
Frau von Tollen unterbrach das Lachen der Tochter. „Ich werde Dich dem Doktor Schönberg nicht versagen,“ sprach sie, am Tisch stehen bleibend, „aber –“
„Mama!“ rief Käthe drohend und sprang auf.
„Aber in eine öffentliche Verlobung willige ich morgen noch nicht; mögt Ihr, Du und er, Euch erst prüfen.“
Käthe schaute sie lächelnd an und verließ das Zimmer. „Warten? pah! – Eine Kleinigkeit, die gute Mama anderer Meinung zu machen!“
[236]
War Maria Stuart schön?
Die Frage klingt seltsam, besonders uns schillerfesten Deutschen, die wir gewohnt sind, „der hohen Schönheit göttliche Gewalt“ als selbstverständliche Eigenschaft der Vielberufenen zu betrachten, welche nicht nur bei Lebzeiten heiße Leidenschaften weckte, sondern noch über den Tod hinaus einer Theilnahme genießt, wie sie wenigen Figuren der Geschichte entgegengebracht wird, obgleich viele derselben unverdienter litten als Maria. Nicht ihr Unglück allein ist es, was die Herzen bewegt, sondern die Vorstellung jenes seltenen Liebreizes, der seit der trojanischen Helena Zeiten die Poeten auf seiner Seite hat und selbst strengen Sittenrichtern ein Wort der Entschuldigung ablockt. In ihm birgt sich ein Zauber, der noch nach Jahrhunderten wirkt.
Aber seltsam – je bekannter seit neuerer Zeit die wenigen als echt beglaubigten Bildnisse Marias werden (denn die vielen nach ihrem Tode gemachten und als Reliquien verbreiteten zählen nicht), um so stärker erwacht der Zweifel, ob sie das gewesen sein könne, was wir heutzutage schön nennen. Ihren Zeitgenossen galt sie unzweifelhaft dafür; zur Erklärung dieser Thatsache ist neuerdings die Vermuthung ausgesprochen worden, es habe das Renaissancezeitalter über Schönheit andere Begriffe gehabt als das unsere. Aber das ist ein unglückliches Beweismittel gegenüber der Fülle von entzückend schönen Frauenköpfen, welche eben jene kunstfreudige und feinfühlige Zeit auf der Leinwand hinterlassen hat. Was Schönheit ist, wußten die Menschen der Renaissancezeit jedenfalls so gut und vielleicht besser als wir, davon legt ihre Kunst unsterbliches Zeugniß ab. Aber allerdings trug diese Kunst in den nördlichen Ländern härtere und herbere Früchte als in Italien, und hierin ist wohl ein Hauptgrund unserer Enttäuschung beim Anblick von Marias Bildnissen zu suchen. Wäre einem Tizian oder Bordone der Auftrag geworden, das Porträt der Königin zu malen, sicher würden wir ein Spiegelbild der holdseligen Anmuth sehen, welche ihre Zeitgenossen bezauberte, statt der trockenen Abschrift ihrer energisch geschnittenen Züge, wie sie die Mehrzahl der vorhandenen Bildnisse zeigt. – Das früheste derselben, welches wir unseren Lesern auf Seite 238 vorführen, ist eine Zeichnung von Clouet, einem tüchtigen Künstler, der am französischen Hofe unter Franz I. und Heinrich II. viel beschäftigt war. Es stellt Maria Stuart im sechzehnten Jahre vor, als Gemahlin des vierzehnjährigen Dauphin Franz. Wir sehen ein nüchtern blickendes, längliches Gesicht mit gutgeformter, etwas großer Nase, welche alle Bildnisse der Königin übereinstimmend zeigen, so daß man sie wohl für richtig annehmen muß. Die schöne Stirn, schmalgeschnittene dunkle Augen, der feingezeichnete Mund vollenden das Bild einer regelmäßigen Physiognomie. Aber wo bleibt der Ausdruck von lebensfroher Heiterkeit, der damals „die kleine Königin von Schottland“ zur Freude aller Augen am französischen Hofe machte? Er ließ sich offenbar nicht so pünktlich nachmalen wie die Krause und das feine Hemdchen, die dicken Perlenschnüre um Kopf, Hals und Mieder. Und doch muß derselbe ein hervorragend reizender gewesen sein, denn schon das kleine Mädchen eroberte bei seiner Ankunft am Hofe von Frankreich im Sturm die Herzen des Königs Heinrich sowohl als des gesammten Hofstaates. Aber auch die Lehrer, Kammerfrauen und Diener vergötterten das muthwillige Prinzeßchen, dessen natürlicher Liebenswürdigkeit offenbar schon damals niemand widerstehen konnte.
Was Talbot in Schillers unsterblichem Drama sagt,
— „Die Arme rettete kein Gott. Ein zartes Kind,
Ward sie verpflanzt nach Frankreich an den Hof
Des Leichtsinns, der gedankenlosen Freude – –“
bezeichnet das Verhängniß für Marias leicht erregbare, ohnehin dem Schönen, Glänzendem, Künstlerischen maßlos zugethane Natur. Musik, Poesie, Tanz und Gesang waren ihre Lieblingsbeschäftigungen; als kleines Kind schon führte sie mit vollendeter Grazie vor versammeltem Hofe einen künstlichen Tanz zusammen mit ihrem Bräutigam auf und erntete laute Bewunderung. Sie ritt, ehe sie erwachsen war, schon mit zur Jagd, saß zu Pferde wie eine echte Hochländerin und warf ihren Falken nach allen Regeln der Kunst in die Luft, um ihn sicher und geschickt wieder aufzufangen. Zum Entsetzen der französischen Damen trug sie bei solchen Gelegenheiten ihre „wilde schottische Nationaltracht“, aber, so barbarisch man dieselbe fand: daß sie ihr entzückend stehe, wurde doch allgemein zugegeben.
Wie sollte nun in einem solchen Freudenleben die junge Erbin von Schottland auch nur einen Begriff der schweren Pflichten bekommen, die ihrer harrten, als ein Jahr nach der Vermählung 1559 ihr fünfzehnjähriger Gatte Franz II. den Thron von Frankreich bestieg? Sie wurde gleich ihm ein gefügiges Werkzeug in der Hand ihres Oheims, des Cardinals v. Guise, und blieb es, als abermals ein Jahr später der kränkliche Knabe starb, und sie nach Schottland heimkehrte. Sie sollte dort ihre Ansprüche auf den englischen Thron geltend machen, die Freiheit des schottischen Adels brechen und die Reformation vernichten. In dem Eifer, mit welchem Maria diese sämmtlichen unmöglichen Ziele zu den ihrigen machte, lag ihr Schicksal beschlossen.
Das nebenstehende Bild, heute in der Bodleyschen Galerie in Oxford befindlich, zeigt Maria in vollem Pomp königlicher Würde, so wie sie dem schottischen Adel bei ihrer Ankunft zur Audienz entgegengetreten sein mag. Ein schwarzes Sammtkleid umgiebt in reicher Fülle die zugleich anmuthige und majestätische Gestalt, kostbare Spitzen bilden die Krausen um Hals und Arme, unter der ersteren wird ein reicher Juwelenschmuck sichtbar, während vom Gürtel einer jener großen, durchweg aus Gold und Edelsteinen bestehenden Rosenkränze mit kostbarem Kreuz herabhängt, welche einen Hauptluxus fürstlicher Frauen ausmachten. Ein langer weißer Schleier deckt die eigenthümlich geformte „Stuarthaube“, bauscht sich an den Schultern flügelartig auf und wallt dann in schlichten Falten bis zum Kleidersaum hernieder. Kulturgeschichtlich ist das Bild von hohem Werth, aber nimmermehr kann der [237] unbedeutende, fast schläfrige Ausdruck des Kopfes dem lebensvollen Urbilde entsprochen haben. – Was eine künstlerische Kraft aus diesem Kopfe hätte machen können, das ahnen wir vor einem kürzlich im Britischen Museum neu aufgefundenen, hierneben wiedergegebenen Miniaturbild, das man dem Italiener Zucchero zuschreibt. Hier „sprechen“ die dunkeln Augen, über ihnen wölben sich die Brauen, nicht als hochgezogene langweilige Striche, sondern weich und anmuthig, Mund und Kinn verrathen ein lebhaftes Temperament; aus der Haltung des Kopfes und der feinen Anordnung von Schleier und Spitzen spricht die Grazie, welche Maria in hohem Grade besessen haben muß; hier sehen wir einen Strahl ihres Wesens, statt der bloßen Abschrift ihrer Züge.
Und mit welchem Zauber wirkte dieses Wesen auf Volk und Vasallen, als die holdselige Königin 1561 ihren Einzug in Edinburgh hielt! Eine neue Zeit ging in dem armseligen, rauh gewöhnten Schottland auf, von Frankreich herüber kamen kostbare Teppiche und Möbel, um die räucherigen Hallen des alten Königsschlosses Holyrood zu schmücken; abends entfachte sich Kerzenglanz in den Empfangsräumen, ein Fest folgte dem andern, Hofbälle, Maskeraden, fröhliche Unterhaltungen im großen und kleinen Kreis. Hoch zu Roß flog die Königin ihren Lords voran und rief laut, sie wünschte ein Mann zu sein, um ihr ganzes Leben lang reiten und jagen zu können. Aber das unveränderliche Stuartnaturell: bei großer persönlicher Liebenswürdigkeit eine absolute königliche Willkür und völlige Rücksichtslosigkeit gegen die Wünsche des Volkes, es machte sich bald genug in den schweren Regierungsfehlern der reizenden Königin geltend, und die Liebe, welche als verhängnißvolle Schicksalsmacht ihr Leben beherrschte, sollte sie nur in Unheil und Verbrechen verstricken. In demselben Schloß von Holyrood, das die glänzenden Feste der vielumworbenen jungen Witwe gesehen, ließ 1566 Darnley, der Mann ihrer endlichen Wahl, den sie sich gegen den Willen ihrer Lords, gegen die Einsprache Elisabeths erzwungen hatte, den Günstling ermorden, den er sich vorgezogen glaubte. Es war eine greuliche That. Im kleinen Thurmgemach saß Maria, die zwei Monate später Mutter werden sollte, mit einigen Damen und Herren, darunter ihr Geheimsekretär Rizzio. Darnley erschien auch, setzte sich zu Maria und legte wie liebkosend den Arm um sie. Im gleichen Augenblick sprang die Thür auf, eisengerüstete Männer, der harte Lord Ruthven an der Spitze, drangen ein, ergriffen den Italiener, der sich zitternd an das Gewand seiner Gebieterin schmiegte, und versetzten ihm über ihre Schulter weg die ersten Stiche, während Darnley die Königin festhielt. Grauenvoll, wie der Anfang, war das Ende dieser Mordscene, bis der zerfetzte Leichnam unten an der Treppe lag. Von Bestrafung der Mörder war keine Rede. Lord Ruthven gestand am andern Morgen der Königin unumwunden ein, ihr Gemahl habe die That befohlen.
„Nun,“ rief sie aus, „so fahrt denn hin, Thränen, nun wollen wir auf Rache denken!“ –
Ein Jahr darauf weckte ein furchtbares Getöse die Bewohner von Edinburgh aus dem Schlaf. Das Haus, worin Darnley übernachtete, war durch Pulver gesprengt, in dem Garten aber lag sein Leichnam, mit sichtlichen Spuren der Erdrosselung. Haß und Liebe in schrecklichem Bunde hatten auch diese That vollbracht. War die Königin mitschuldig? Die Volksstimme rief Ja; denn ihr sträfliches Verhältniß zu dem Thäter, dem verwegenen, gewissenlosen Grafen Bothwell, wurde ebenso allgemein geglaubt, wie ihr Haß gegen Darnley bekannt war. Die Wahrscheinlichkeit ihres Einverständnisses ist groß, wenn auch kein Beweis vorliegt, denn Briefe von ihrer Hand, die diesen Beweis zu liefern schienen, sind neuerdings als gefälscht erkannt worden.
Die Geschichte hat also keine bestimmte Antwort auf die Schuldfrage, und statt ihrer tritt die Dichtung ein, ihr uraltes Recht auszuüben, indem sie das Innerste der Menschenseele, die Beweggründe ungeheurer Thaten aufdeckt. Schiller, der es verstanden hat, die sündige Maria mit dem hinreißendsten Zauber der Weiblichkeit zu umkleiden, er läßt sie nur reuevoll jener alten Schuld gedenken und ihr nahes Ende als Sühne dafür auffassen. Emanuel Geibel aber zeigt in einer sehr schönen Ballade: „Bothwell“ das düstere Gemälde jener [238] Nacht und die dämonische Gewalt des Verführers über das leidenschaftbethörte Weib:
„Wie bebte Königin Marie,
Als durchs geheime Pförtlein spat
Mit ungebog’nem Haupt und Knie
In ihr Gemach Graf Bothwell trat!
Ihr schön Gesicht ward leichenweiß;
Sie zuckt’ und sah ihn fragend an;
Er wischte von der Stirn den Schweiß
Und sagte dumpf: ‚Es ist gethan.
Es ist gethan, Dein süßer Mund
War nicht für Buben solcher Art,
Heut’ abend um die achte Stund’
Hielt Heinrich Darnley Himmelfahrt.‘
Sie schrie empor: ‚Verzeih Dir Gott!
Nimm all mein Gold, nimm hin und flieh!‘
Da lacht er laut in grimmem Spott:
‚Was soll mir Gold für Blut, Marie?
– – – – – – – – – – –
Die Hand, die einen König schlug,
Greift auch nach einer Königin.‘
Er rief’s, und Grau’n in jedem Zug,
Starr wie ein Wachsbild sank sie hin.
Er hub sie auf – sie fühlt’ es nicht,
Daß ihr ins Fleisch sein Stahlhemd schnitt
– – – – – – – – – – –
Er schwang sie vor sich fest aufs Roß
Und jagt’ ins wetterschwüle Land
Hinaus mit ihr gen Dunbar-Schloß.
Schwarz war die Nacht, als wäre rings
Erloschen jeder Stern des Heils;
Nur manchmal in den Wolken ging’s
Gleichwie das Blitzen eines Beils.“ –[WS 1]
Wohl waren die guten Sterne der Unglücklichen versunken, und die furchtbare That trug schwere Frucht! In ihrer Leidenschaft zu dem Ruchlosen ließ sich Maria zu Thaten hinreißen, die keine noch so gefahrvolle Lage entschuldigt. Höchstens wird man mit ihrem milden Anwalt Talbot sagen können:
„– es geschah
In einer finster unglücksvollen Zeit,
Im Angstgedränge bürgerlichen Kriegs,
Wo sie, die Schwache, sich umrungen sah
Von heftigdringenden Vasallen, sich
Dem Muthvollstärksten in die Arme warf –“
aber gerechte Vergeltung war es, daß ihre Großen sie von dem Throne stießen, den sie drei Monate nach dem Mord schon mit dem Mörder theilte. Und doch – so unwiderstehlich wirkte der Zauber dieser neuen Helena auch auf ihre Feinde, daß in der strengen Gefangenschaft auf Schloß Lochleven, wo man sie für immer unschädlich zu machen dachte, der jüngste ihrer Wächter, von Liebe und Mitleid hingerissen, ihr den Weg zur Freiheit öffnete.
Es war nur ein letztes Aufleuchten vor dem Erlöschen ihrer Glückssonne. Geschlagen und flüchtig eilte Maria vierzehn Tage später der englischen Grenze zu, um bei derselben Elisabeth Schutz und Hilfe zu suchen, deren Thronrecht sie früher bestritten und sich selbst angemaßt hatte. Und somit standen sich die beiden merkwürdigen Frauen gegenüber, deren tiefer Gegensatz im Innern und Aeußern für alle Zeiten ein Gegenstand des größten Interesses bleiben wird.
Eine entschiedene Familienähnlichkeit fällt jedem auf, der die Bilder der beiden betrachtet; um so merkwürdiger ist es, wie verschieden der äußere Eindruck sein konnte. Bei Maria war offenbar Reiz und Leben in jedem Zuge, bei Elisabeth verstandesmäßige Kühle und Trockenheit, wenn auch mit hoher Intelligenz gepaart. Jene verkörperte alle Fehler des leichtsinnigen, liebenswürdigen Weibes, diese die der scharf gewordenen ältlichen Jungfrau, und deshalb wenden sich auch heute noch, wie damals, die Herzenssympathien Maria zu. Ihr gegenüber handelte Elisabeth im Einverständniß mit ihren Räthen durchaus nach dem Gebot der Klugheit und der Politik: sie durfte die Gefährliche nicht freilassen, die ihr den Bürgerkrieg im eigenen Land würde entzündet haben und mit allen Elisabeth bedrohenden römischen und spanischen Umtrieben Fühlung hatte. Aber das menschliche Mitgefühl neigt sich eben doch der Gefangenen, wenn auch nicht Schuldlosen zu, deren Anmuth und Herzensgüte in den verschiedenen Schlössern ihres Aufenthalts immer wieder die Sympathie ihrer Hüter gewann und Gelegenheit schaffte zu heimlichem Briefwechsel mit denen, die sie zu retten hofften. Achtzehn lange Jahre dauerte die Kerkerhaft, anfangs mild, dann, als die Verschwörungen gegen Elisabeth sich häuften, streng und hart. In ihr hat Maria die Schuld ihrer wilden Jugend gebüßt. Als ein blühendes sechsundzwanzigjähriges Weib war sie ins Gefängniß eingetreten, im fünfundvierzigsten Jahre, mit ergrautem Haar, verließ sie es, um aufs Schaffot zu steigen, als die große Babingtonsche Verschwörung entdeckt wurde, in der sie mitwissend und wahrscheinlich auch mitschuldig war. Für Elisabeth stand es in der That so, wie Burleigh sagt:
„Du mußt den Streich erleiden oder führen.
Ihr Leben ist Dein Tod! Ihr Tod Dein Leben!“
und nach langem Zögern entschloß sie sich zur Unterzeichnung des Urtheils.
Das geschichtlich merkwürdigste unter unsern Bildern stellt Maria Stuart auf ihrem letzten schweren Gange vor (siehe S. 237). Am Morgen ihrer Hinrichtung (8. Febr. 1587) wurde die Skizze von Amyas Carwood für ihren Sohn, König Jakob VI., aufgenommen und das Bild befindet sich heute im Besitz der Königin von England. Das lebensgroße Gemälde zeigt die zum Schaffot Schreitende im schwarzen Sammetgewande mit der großen, feingefältelten Krause und dem lang niederwallenden Schleier. Den einzigen Schmuck der Königin bildet das elfenbeinerne Kreuz auf ihrer Brust. Die ausgestreckte, hier nicht sichtbare, rechte Hand umfaßt mit majestätischer Gebärde ein Kruzifix, welches Maria bis zum letzten Augenblick nicht aus den Händen ließ. Die Gesichtszüge stimmen wieder mit denen der früheren Bilder überein, aber sie tragen einen düsteren und starren Ausdruck, den die Königin nach der Erzählung der Augenzeugen nicht hatte, als sie ernst und hoheitsvoll, aber mit gewohnter Anmuth ihren letzten Weg antrat und zu ihrem strengen Wächter Paulet sagte, als er ihr die Hand zum Emporsteigen reichte: „Sir, dies ist die letzte Mühe, die Ihr um meinetwillen habt!“
So tritt uns bis zum Ende aus Marias Wesen die holde, bestrickende Anmuth entgegen, welche den größten Reiz des Weibes ausmacht, und deshalb ist die Frage, welche die Ueberschrift dieser Zeilen bildet, im weiteren Sinn sicher zu bejahen. Marias königlich hohe Erscheinung mit den von heiterer Liebenswürdigkeit strahlenden, wenn auch etwas scharf geschnittenen Gesichtszügen hat Unzählige entzückt und zu blinder Ergebenheit hingerissen, sie muß also in hohem Grade anziehend gewesen sein. Sehr wahrscheinlich lag bei ihr die Schönheit mehr in dem Ausdruck des Ganzen als in den einzelnen Zügen. Ihre Augen waren offenbar nicht groß, Wangen und Kinn nicht weich gerundet, aber jedenfalls vergaß man, wie bei so vielen schönen Frauen, das Einzelne über dem entzückenden Gesammteindruck. Maria besaß jene Vereinigung von Anmuth, Holdseligkeit und Schönheit, welche Homer meint, wenn er von dem Gürtel der Aphrodite spricht. Und als eine seiner berühmtesten Trägerinnen wird die herzenbezwingende Schottenkönigin im Gedächtniß der Nachwelt fortleben, ohne daß die Betrachtung ihrer unvollkommenen Bildnisse etwas daran zu ändern vermag. R. Artaria.
Wie Zeugnisse für Geheimmittel fabriziert werden.
Im Laufe der Jahre war die „Gartenlaube“ oft imstande, nachzuweisen, wie die Geheimmittelkrämer Zeugnisse für ihre werthlosen Heilmittel zu fabrizieren wissen. Wir haben selbst über Fälle berichtet, in denen der Kurschwindler eine empfehlende Erklärung eines geachteten Mannes drucken ließ, während dieser von der Existenz des Schwindlers und seines Präparates keine Ahnung hatte.
Man kann nicht oft genug auf dieses gewissenlose Treiben hinweisen und vor ihm das leichtgläubige Publikum warnen, und so kommen wir heute auf die Frage: „Wie werden Zeugnisse für Geheimmittel fabriziert?“ noch einmal zurück.
Veranlassung hierzu giebt uns die Einsendung des Pfarrers Emil Weiser in Oberprechthal (Baden), welche sich auf seine Erfahrungen mit dem von J. Kirchhöfer in Triest vertriebenen Homeriana-Thee bezieht. Dieser Thee, der sich bei genauerer Untersuchung als Vogelknöterich erwies, wird bekanntlich als Heilmittel gegen Lungenschwindsucht angepriesen in einer Weise, die in den Kranken nur Täuschungen hervorrufen kann.
Schon beim Auftauchen dieses „Heilmittels“ haben wir dasselbe auf Grund eines Gutachtens des Ortsgesundheitsrathes in Karlsruhe niedriger gehängt.[WS 2] Trotz dieser vielfach ist der Presse abgedruckten Warnung fanden sich viele, die im Gebrauch des Homeriana-Thees ihr Heil suchten und sich für 30 Mark einer sechzigtägigen Kur unterzogen.
Welche Erfahrungen dabei gemacht worden sind, darüber geben uns die nachstehenden Mittheilungen des Pfarrers Emil Weiser die beste Auskunft. Er schreibt uns:
„Auf dringende Bitte einer zweiunddreißigjährigen Frau hin, welche infolge einer Rippenfellentzündung lungenleidend geworden war und zwei Jahre lang vergeblich bei verschiedenen Aerzten Hilfe gesucht und erfolglos die angerathenen Schwarzwaldberge aufgesucht hatte, ließ ich mir, nachdem ich zufälligerweise auf die Homeriana aufmerksam gemacht worden war und in einer größeren Zeitung zu gleicher Zeit eine empfehlende Anzeige derselben gelesen hatte, einen Prospekt kommen. In dem ‚Auszug aus den Heilerfolgen‘ notirte ich mir verschiedene Adressen, an welche ich mich wandte. So schrieb ich an den königl. Sanitätsrath Dr. med. C. in Stettin, erhielt aber die Nachricht, daß derselbe gestorben sei. Ich schrieb ferner an einen Pastor L., unter dessen Namen sich S. 20 des Prospekts folgende Empfehlung findet: ‚Ich sende Ihnen abermals 20 Mark für eine zweite Kranke, für die Sie mir wieder Herba Homeriana, die ihre Lebensretterin zu werden scheint, senden wollen. Ich empfehle Ihre Homeriana, wo ich nur kann etc.‘
Die Empfehlung, welche ich auf meine Anfrage erhielt, lautet: ‚Alle scheinbaren Erfolge der Homeriana erwiesen sich zuletzt als völlig nichtig. Beide Kranke der Gemeinde, bei denen sie zur Anwendung kam, ruhen längst im Grabe. Ich kann, nachdem in öffentlichen Blättern von kompetentester Seite auch sehr nachdrücklich vor dem Homeriana-Schwindel gewarnt ist, überhaupt keinem mehr ihren Gebrauch anrathen.‘
Ein weiteres Schreiben richtete ich an einen Dr. med. A. Sch. ist E. (S. 7 des Prospekts). Die Antwort, welche ich erhielt, lautet: ‚Den fraglichen Thee glaubte meine Frau während ihres Aufenthalts in Südtirol mit Erfolg gegen ihren Bronchialkatarrh gebraucht zu haben. Deshalb bestellte ich nochmals für sie trotz meines Mißtrauens eine Sendung. Diese meine Bestellung hat der Homerianahändler zur Reklame benützt, indem er mein ‚Dr.‘ durch den Zusatz ‚med.‘ ergänzte; ich bin nämlich Gymnasiallehrer. Aber ganz abgesehen von dieser Manipulation hat auch das Kraut bei nochmaliger Anwendung in unserem rauhen Klima nichts genützt. Dies meine Laienerfahrung!‘ Endlich wandte ich mich noch an einen S. W. in Fr., unter dessen Namen S. 15 des Prospektes folgende Empfehlung zu lesen ist: ‚Nachdem ich nun 23 Tage mich der Theekur unterzogen habe, kann ich Ihnen mit frohem Herzen berichten, daß in meinem Zustande allmählich eine wesentliche Besserung eingetreten ist. Ich erfreue mich jetzt wieder eines starken Appetits und bin seit wenigen Tagen bedeutend kräftiger geworden, auch ist wieder Lebensfarbe in mein Gesicht zurückgekehrt. Der Schlaf ist ziemlich ruhig, Blutungen haben sich keine mehr eingestellt.‘ Die Nachricht, welche ich erhielt, lautet: ‚er rathe nicht zu dem Thee, das sei ein bloßer Schwindel, er habe kein Zeugniß ausschreiben lassen. Er habe bloß demjenigen, von welchem er den Thee habe, geschrieben, daß er Besserung verspüre, es sei aber hernach gleich wieder schlimmer geworden. Er wäre schon lange auf dem Gottesacker, wenn er nicht aufgehört hätte.‘ Zwei Briefe endlich blieben unbeantwortet. Nun hatte ich genug „Empfehlungen“. Auch die junge Frau, welche mich bat, den Thee für sie zu bestellen, und sich einer 60tägigen Kur unterzog, ruht im Grabe. Der Thee war ihre letzte Hoffnung, aber es war eine nichtige Hoffnung.
Solche Erfahrungen zeigen, daß man sich auch nicht auf solche in den Prospekten angeführte Empfehlungen, bei denen die volle Adresse angegeben ist, unter denen sich Namen von Beamten, Professoren, Aerzten, Lehrern etc. finden, verlassen darf. Mögen diese Zeilen dazu beitragen, daß die Leser derselben ernstlich prüfen, ehe sie zu einem Mittel greifen, vor dem allseitig gewarnt wird und das, zu einem theuren Preise verkauft (das Packet für 2 Tage reichend 1 Mark), werthlos, wenn nicht schädlich ist.“
Blätter und Blüthen.
Gute und böse Geister. (Zu den Bildern S. 224, 225 und 229.) Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist“: in tausendfältiger Abwandlung wird das Wort tagtäglich gebraucht. Ich lobe mir die folgende Variante: „Sage mir, was du trinkst, und ich will dir deinen inneren und äußeren Menschen künden.“ Oder hält es jemand für möglich, daß hinter der überraschenden Antwort „Wasser“ ein bärtiger Kriegsheld mit klirrenden Sporen, jeder Zoll ein Eisenfresser, zum Vorschein käme? Oder erwartet man nach der Stimme, die da flüstert „Milch“, einen klugen Diplomaten und nicht vielmehr ein bleichsüchtiges Backfischchen, welches die Meierei auf ärztlichen Befehl besuchen muß? Denken wir bei „Kaffee“ an eine Wahlschlacht im Wirthshaus? oder bei „Chartreuse“ an eine Waschfrau? Trinkt ein Seemann Selterswasser? oder ein Volksschullehrer „Heidsiek Monopol“? Also es wird wohl stimmen, es muß stimmen!
Warum muß es stimmen? Ei nun, weil die geistige und, sagen wir es frei heraus, auch die körperliche Physiognomie des Menschen weit mehr in ihren Eigenthümlichkeiten herausgebildet wird durch das, was er trinkt, als durch das, was er ißt. Essen muß jeder Mensch, um sich zu erhalten, er folgt einem Naturtriebe. Trinken aber, ja das ist etwas anderes, das Trinken wird – sobald wir von dem kindlichen Alter, wo ein Königreich für ein Stück Kuchen preisgegeben wird, absehen – bewußt oder unbewußt als Wissenschaft betrieben, es gehört zu den feineren Genüssen, welche den Plackereien des täglichen Lebens die Thür vor der Nase zuschlagen und dem Menschen erlauben, sich frei und leicht, als Herr der Welt, zu fühlen. In diesem Hochgefühl ergeht sich der Mensch, wenn er den ihm passenden „guten Tropfen“ vor sich hat. Der Geist regt sich, er ringt sich los von den Gewichten, die seinen Flug beschweren, und baut sich ein Paradies nach seinen Ideen aus. Da nun der vernünftige Mensch, seinem Geldbeutel und seiner Zunge zugleich Rechnung tragend, zum Gewohnheitsthier auch in diesem Falle wird, so kommen schließlich durch dauernde Verbindung der beiden Geister, jenes im Glase und jenes hinter der Stirne, ganz charakteristische Physiognomien zu stande, und damit wäre die Behauptung des Satzes: „Sage mir, was du trinkst“ etc. begründet. Diesen inneren Zusammenhang zwischen Physiognomie und Lieblingsgetränke im Bilde zu erweisen, das hat nicht leicht je ein Künstler so gut verstanden wie Eduard Grützner, dessen humorvolle Schilderungen trinkfroher Mönche und Jäger in Tausenden von Nachbildungen verbreitet sind. Ihm verdanken wir auch die drei Bilder unserer heutigen Nummer, die wir im folgenden zu Führern genommen haben.
Zufriedenheit und sichtliches Wohlbehagen herrschen in dem ersten Kreise, wo aus kostbaren alten Gläsern die Blume der edlen Rebe emporsteigt. Sind es nicht prächtige Herren, diese Herren Ordensbrüder? Als Bruder Kellermeister das jüngst angekommene Fäßlein Malvasier auf grünbauchige Flaschen zog und dabei mit vorsichtig gespitztem Munde kostete, machte er nicht umsonst ein lächelndes Gesicht: „Der Tropfen wird den Herren schmecken, er ist köstlich, mild und kräftig zugleich,“ schmunzelte er. In der That, nun die Herren zur Weinprobe in der Bibliothek des Klosters beisammen sitzen, mundet ihnen nicht nur das köstliche Getränk, sondern es rührt und regt sich auch hinter den hohen Stirnen, die Gedanken werden flüssig, die Geister nehmen höheren Flug. Im Wein ist Wahrheit! Während der jüngste Ordensbruder ein lustiges Stücklein aus Juvenal oder Ovid oder sonst einem alten Knaben aus längst versunkenen Jahrhunderten vorliest, färbt der Malvasier die Stirn mit jener feinen flüchtigen Röthe, welche den edlen Trinker eines edlen Trankes ziert. –
Ignaz Pößl ist seines Zeichens Metzgermeister – das heißt, er war es bis vor zwei Jahren, jetzt aber hat er sein Geschäft seinem Aeltesten übergeben und hat sich ausschließlich aufs Privatisiren und – Politisiren verlegt. Ja, die Politik, die ist sein Steckenpferd, seine Stärke und seine Schwäche, und wenn er seine Maß „Bürgerliches“ vor sich hat, kommen ihm die besten Gedanken. Die muß er mittheilen, es wäre schade, wenn sie verloren gingen. Josef, der Förster, und sein Schwiegervater, der alte Schreiber, haben auch gute Ideen, aber – – – und dann baut sich die Welt so rosig auf, die Steuern würden geringer werden, die Kriege würden abgeschafft und jede Militärvorlage überflüssig werden, wenn nur die Welt plötzlich so dastünde, wie Ignaz Pößl sie in seinem frischen Krug erblickt. Dabei ist er aber meilenweit von Umsturzideen entfernt, „nur immer stat“ ist sein Grundsatz. Kühlfeuchter Dunst wallt durch den Keller, die Cigarre ist auch nicht übel und Ignaz Pößls Gesicht und Bäuchlein werden immer rundlicher und behäbiger.
Der Denker und der Dichter Trank ist der Wein; Bier ist der Stoff, in welchem ehrenfeste, gut bürgerliche Gemüthlichkeit gedeiht. Beide stehen in unmittelbarem Gegensatz zum Getränk des Proletariers, zum Branntwein, zum Schnaps.
„Nur heute komm gleich nach Haus, nur dies eine Mal gehe am Wirthshaus vorbei und bringe mir den Lohn heim für die hungernden Kinder!“ So bittet die Frau am Sonnabend Morgen. Am Abend wartet sie natürlich vergeblich. Um wenigstens etwas vom Wochenverdienst zu retten, muß sie die weibliche Scham verleugnen und sich in die abscheuliche Alkoholatmosphäre der Kneipe begeben, den Mann herausholen und noch höhnende Reden mit anhören. Zuerst war der Feuertrank dem Mann als Sorgenbrecher willkommen, aber als die Sorgen vergessen waren, da ließ der Schnaps den Mann nicht mehr los, und nun ist es der vermeintliche Sorgenbrecher, welcher Sorgen über Sorgen auf die Familie häuft. Wie er wirkt auf Geist und Körper des Trinkers? Man braucht den Mann nur anzusehen, und man hat das Gegentheil von den Wirkungen des Bieres: statt Zufriedenheit und Verträglichkeit Auflehnung gegen alles Bestehende und Rauflust; statt des hohen Gedankenfluges, den die Geister des Weins anfachen, seelische Rohheit. –
Sage mir, was du trinkst, und ich will dir sagen, wer du bist! H. P.
[240] Ein alter Schwerenöther. (Mit Abbildung S. 221.) Reineke, dem alten Sünder – wann, wo und unter welchen Umständen ein Jäger, der den höchsten Jagdgenuß nicht im Erlegen, sondern im Beobachten des Wildes sucht, ihm auch begegnet, immer muß er den eleganten, geriebenen, interessanten Gauner bewundern, den er gründlich haßt bis in den Tod, und dessen Thun und Treiben er doch stets von neuem gern belauscht. Du stehst 100 Schritt ab von einem Fuchsbau. Da kommt die Fehe (Füchsin) angeschnürt, ein dickes Bündel vor dem Rachen, und verschwindet in einer Röhre, doch nicht so schnell, daß du mit deinem scharfen Glase nicht gesehen hättest, daß es 10 oder 12 todte Mäuse sind, welche die Alte an den Schwänzen haltend dem noch ganz jugendlichen Geheck (Jungen) zuträgt. Zehn Tage später sitzst du auf derselben Stelle und erfreust dich an dem muntern Spiele der Spitzbubenbrut, die sich im hellen warmen Sonnenscheine übermüthig vor dem Bau herumtummelt. Wieder schnürt Mama herum, diesmal mit dick geschwollenen Backen. Was die wohl bringt? Die jugendliche Schar eilt ihr entgegen. Da fällt ein dunkles Etwas aus dem Rachen der Fehe. Alles greift zu, purzelt über einander, läuft vorwärts – einer ist der Glückliche gewesen und flüchtet mit dem Fraße in den Bau. Noch ein schwarzes Klümpchen springt der Fehe aus dem Rachen, verfolgt und erhascht von einem aus der graubraunen Räuberbrut. Jetzt hast du gesehen, was es war. Die Alte hat lebende Mäuse im Rachen herbeigeschleppt, 5 oder 6 Stück, und giebt der jungen Gesellschaft den ersten Unterricht.
Ein anderes Mal weidewerkst du Ende Mai auf einem jungen Schlage nach einem Bocke. Auch Reineke hat sich eingefunden, jedoch nicht, um dir Konkurrenz zu machen, denn er schleicht um die Buchenbüsche, und wo ein Maikäfer aufschnurren will oder wo er einen an den Blättern sitzen sieht, erhascht er ihn mit elegantem Sprunge. Sein Magen scheint sehr schief zu hängen, daß er sich mit Käfern begnügt, oder sind es für ihn nur Mandeln, die er zum Dessert knackt? Ich habe ihn aber auch in der Dämmerung in freiem Felde beobachtet, wie er, wenn in lauem Frühjahrswehen die frisch entpuppten Maikäfer aus dem Felde zum Walde zogen, mit hohen Luftsprüngen dem Sport des Käferfangens oblag.
Du willst anfangs August einen liebestollen Rehbock beim Blatten schießen, stellst dich im Hochwalde an eine Buche 70 Schritt von einer Fichtendickung und entlockst einem Buchenblatte die sehnsüchtigsten Arien einer Rehjungfrau: piu! piu! piupiu! – 40 Takte Pause. –
Da schiebt sich aus den Fichten ein rothes spitzes Gesicht, und statt des erhofften Kapitalbockes schnürt Meister Reineke aus dem Gebüsch und leckt sich appetitvoll die Lippen. Rothrock, alter Schwerenöther! magst du auch Rehbraten? Nein! so haben wir nicht gewettet, der Sache wollen wir ein Ende machen! – Dann wieder pirschst du an einem Schlage entlang, auf welchem Heidelbeeren wachsen. Wie genügsam scheint doch der rothe Schuft! Von einem Büschel zum anderen schnürt er und pflückt sich die schwarzen Beeren. Jetzt bleibt er sichernd stehen. Langsam duckt er sich, als versänke er in die Erde, und ist verschwunden. Das Glas ist vor den Augen – was der wohl hat? Platt auf die Erde gedrückt – fast ganz durch die Heidelbeerbüsche gedeckt, du siehst nur den röthlichen Schein – liegt Reineke, aber du siehst auch noch etwas anderes Lebendes 15 Schritt vom rothen Freibeuter entfernt – ein blaues Köpfchen und einen Hals mit schneeweißer Binde, eine Ringeltaube, die auch dem Beerenpflücken obliegend hin und her und dem Fuchse immer näher trippelt. Plötzlich ein rother Streifen – die Taube klatscht in die Höhe – ein Sprung – Reineke will nach dem Dessert erst Braten speisen. In solchen Fällen kennt der Jäger nur die Todesstrafe, die aber nur zu oft durch ungeschickte Exekution zur unfreiwilligen Begnadigung wird. – Freund Weinberger führt uns heute in den Frühlingswald – im März. Der Schnee ist gewichen, laue Südwinde tragen die Wandervögel aus ihren fernen Winterquartieren in die nordische Heimath, welche die kleinen lieben Sänger mit ihren schönsten Liedern jubelnd begrüßen. Abends aber, wenn der Dämmerung Schatten über das Thal hinzieht, streicht, sich ein Liebchen suchend, der vom Jäger langersehnte Frühlingsbote, die Schnepfe, balzend über Bruch und Heide, und hat sie’s gefunden, dann treibt das Pärchen, in allerlei Flugwindungen über die Büsche gaukelnd, in steilem Fall bis dicht zur Erde stechend oder in Schlangen- und Wellenlinien weiter strebend, sein Liebesspiel. An einen Birkenstamm gedrückt, schaut Reineke mit lüsternen Blicken dem Brauttanze zu – aber die Trauben hängen ihm zu hoch! – Wie sieht der Bursche heute ruppig aus! Er ist im Begriff, seinen behäbigen, eleganten Winterpelz mit dem knapp anschließenden Sommerjackett zu vertauschen, und schon zeigen sich rundliche, weißverfärbte Flecken in dem noch dichten Pelzwerk. Hast du Glück und schießest den Fuchs und willst den Balg verhandeln, dann heißt es: „Was thu ich damit? ich mache Schaden, Herr Förster! er hat schon Märzflecken – schlechte Ware, – ’ne Schwarte – ich ziehe ab 2 Mark!“
Deutsche Humanität im Kriege. In zahlreichen Geschichtswerken über den letzten deutsch-französischen Krieg hat eine Reihe von kleineren Leistungen, von stillen Heldenthaten einzelner Krieger sorgfältige Aufzeichnung gefunden. Ungern vermisse ich darunter eine kleine Episode aus den ersten Tagen der Belagerung von Metz, welche es wohl verdient, als edler Zug deutscher Humanität im Kriege auch in weiteren Kreisen bekannt gemacht und der Vergessenheit entrissen zu werden.
Es war in der Morgenfrühe des 26. August 1870, als im Dorfe Fleury vor Metz der Oberstabsarzt des Rheinischen Kürassierregiments Nr. 8, der leider allzufrüh verstorbene Medizinalrath Dr. Wittichen in Aurich, früher Kreisphysikus in Gummersbach, von einem dortigen Einwohner ersucht wurde, doch um Gottes willen seiner armen Frau zu helfen, die bereits seit zwei Tagen in schweren Kindesnöthen sehr gefährdet daniederliege. Sofort ging derselbe mit und erkannte alsbald, daß nur durch schleunigen operativen Eingriff die Wöchnerin zu retten sei. Aber woher jetzt das nöthige Instrument schnell herbeischaffen? Im kriegschirurgischen Instrumentarium war es nicht, auch französische Aerzte, die solches besitzen konnten, waren in weiter Umgebung nicht vorhanden. Da wurde, kurz entschlossen, der damalige Unterarzt desselben Regimentes, Dr. Breyesser, kommandiert, dasselbe aus dem belagerten Metz zu holen. Ausgerüstet mit einem Begleitschreiben des Generals von Mirus und des Ortspfarrers und begleitet vom Lazarethgehilfen Wolf, machte er sich alsbald auf den Weg und ritt in scharfem Trabe gerade auf das Fort Queuleu zu. Ein solcher Ritt war sehr gefährlich, weil die Franzosen auf jede verdächtige Gestalt, die sich ihnen näherte, zu schießen pflegten.
Aber die beiden Reiter gelangten unbehelligt über verschiedene Schanzgräben hinweg bis fast dicht unter die Wälle des Forts, ohne daß eine Rothhose sich blicken ließ. Endlich wurde eine Schildwache auf das wiederholte Schwenken der Genfer Flagge aufmerksam und fragte, sich nähernd, die beiden Parlamentäre nach ihrem Begehr.
Mit einem Laissez passer des Fortkommandanten versehen, wurden die vorgezeigten Briefe rasch wieder zurückgestellt; nun aber wurden den beiden Deutschen die Augen fest verbunden und sechs Franzosen mit scharf geladenen Gewehren geleiteten sie durch die Weinberge abwärts über Magny hinaus zu einer größeren Feldwache, welche an der Stelle lag, wo die Chaussee, Eisenbahn und die Seille sich kreuzen.
Hier mußte gewartet werden, bis das gewünschte Instrument durch eine französische Ordonnanz aus der Maternité zu Metz herbeigeschafft worden war. Inzwischen wurde von den zahlreich herbeigekommenen feindlichen Offizieren den muthigen preußischen Reitern mit Apfeltörtchen, Champagner und Cigaretten aufgewartet. Nach einer langen Stunde war endlich das Gewünschte zur Stelle, und nun erst wurde den Deutschen die Binde von den Augen genommen, damit der Rückweg um so schneller zurückgelegt werden konnte, denn die Chaussee war vielfach durch gefällte Pappeln und Verhaue gesperrt.
Bald waren die feindlichen Vorpostenlinien passirt. Nur einmal wurden die beiden Reiter durch das Pfeifen von Gewehrkugeln über ihren Köpfen erschreckt, als eine französische Patrouille von der Eisenbahn her auf dieselben mehrere Schüsse abgab. Nachdem Pouilly langsam durchritten war, gings dann in flotteres Tempo über. Bald zeigten sich die auf Vorposten stehenden Kürassiere und wunderten sich nicht wenig, den wohlbekannten Doktorschimmel – den einzigen des Regiments – von Metz her kommen zu sehen. Kurz vor Mittag wurde Fleury wieder erreicht.
Es war die höchste Zeit. Dank dem glücklich beschafften Instrumente gelang es nunmehr, die Französin vom sicheren Tode zu erretten.
Gelbe Fahrpläne. Eine schon seit Jahren bestehende, vielen Reisenden noch unbekannte einheitliche Anordnung der deutschen Eisenbahnverwaltungen besteht darin, daß eine jede auf ihren Bahnhöfen den Plakatfahrplan der eigenen Bahnen auf gelbem Papier gedruckt zum Aushange bringt, während alle anderen aushängenden deutschen Fahrpläne weißen Untergrund haben. Der Vortheil dieser Einrichtung liegt klar; man mag auf irgend welchen deutschen Bahnhof kommen, so genügt ein Blick in die Vorhalle, um unter den oft in großer Anzahl aushängenden Fahrplänen den gelben zu finden, welcher unfehlbar über den Zugverkehr der betreffenden Station Auskunft giebt.
Kein Frühling weiß so traut und wohl zu klingen,
Als wenn zum Herzen Freundesworte dringen,
So tönt kein Lied in kummervollen Stunden,
Wie wenn der Freund das rechte Wort gefunden.
Lehrer K. in H. Angeregt durch unsere Artikel „Der Lehrer als Wächter der Gesundheit“, möchten Sie sich ein kurzes, gemeinverständlich geschriebenes Handbuch der Schulhygiene anschaffen und bitten uns um Titelangabe. Wir können Ihnen das Buch „Schulgesundheitspflege. Zum Gebrauche für Schulvorstände, Lehrer und Eltern“ von Dr. Ernst Engelhorn (Verlag von Karl Krabbe. Stuttgart) empfehlen. Dasselbe zerfällt in zwei Theile; der erste enthält Belehrungen über den gesunden und kranken Organismus des Schulkindes, der zweite erörtert die Einrichtungen der Schule und des Unterrichts nach den Regeln der Gesundheitslehre. Die Darstellung ist allgemein verständlich und knapp, gerade so wie sie für den praktischen Gebrauch des Lehrers sich am geeignetsten erweist.
Margarethe E. in T. Ihr und Ihrer Freundinnen Schwanken über die Bedeutung des „Mädchens aus der Fremde“ in Schillers schönem Gedichte ist verzeihlich. Haben doch Frühling und Poesie so viele gemeinsame Züge, daß man sie oft unter einem Bilde zusammenfassen kann. Indessen ist es doch zweifellos, daß Schiller unter seinem „Mädchen, schön und wunderbar“ die Poesie verstanden hat. – Was Ihre weitere Frage betrifft, so haben Sie das Richtige getroffen. „Zoe“ ist ein weiblicher Name, von den Griechen stammend, in deren Sprache das Wort „Leben“ bedeutet.
E. B. in Antwerpen. Wenden Sie sich gefl. direkt an den Erfinder des von uns besprochenen Motors, Herrn Ingenieur Daimler in Cannstatt b. Stuttgart.
N. B. in Berlin. Wir stimmen Ihnen völlig bei in Beurtheilung des „sozialen Trinkgeldes“ an der Hausthür als einer drückenden Steuer für ärmere Junggesellen, als einer Verhöhnung der Gastfreundschaft überhaupt. Denn kann es eine beschämendere Empfindung für die Wirthe geben als das Bewußtsein: jetzt bezahlen unten meine Gäste das Genossene? Jeder fühlt das Widerwärtige dieser kleinstädtische Sitte, aus falscher Scham aber wagt niemand, sich dagegen aufzulehnen. Und doch wäre es hohe Zeit, daß die Hausfrauen sich untereinander verabredeten und ihre Gäste einfach um Unterlassung bäten. Gut bezahlte und gut gewöhnte Dienstboten haben die Verpflichtung, die Gesellschaft ihrer Dienstherren zu bedienen, die vielen Trinkgelder verbessern weder ihre Pflichttreue noch ihre Sparsamkeit, sondern werden meistens zu unnützen Luxusausgaben angewandt. Durch ein energisches Zusammengehen der besseren Familien wäre dem häßlichen Uebelstand leicht abzuhelfen, ihre Sache ist es dann selbstverständlich, die Dienstboten so zu bezahlen und zu halten, daß sie auch ohne Gesellschaftstrinkgeld zufrieden sein können.
Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed. S. 22l. – Theater-Rothwelsch. Von Max Grube. S. 227. – Lore von Tollen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 231. – Schwere Wahl. Illustration. S. 233. – War Maria Stuart schön? Von R. Artaria. S. 236. Mit Illustrationen S. 236, 237 und 238. – Wie Zeugnisse für Geheimmittel fabriziert werden. S. 239. – Blätter und Blüthen: Gute und böse Geister. S. 239. Mit Illustrationen S. 224. 225 und 229. – Ein alter Schwerenöther. Von Karl Brandt. S. 240. Mit Abbildung S. 221. – Deutsche Humanität im Kriege. S. 240. – Gelbe Fahrpläne. S. 240. – Auflösung des Bilderräthsels auf S. 200. S. 240. – Kleiner Briefkasten. S. 240.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ vgl. Bothwell aus Gedichte und Gedenkblätter, 1864
- ↑ siehe Allen Brustleidenden zur Warnung! in Jg. 1883, S. 236
- ↑ Vorlage: Bilderräthels