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Die Gartenlaube (1889)/Heft 13

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[201]

No. 13.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


 

Lore von Tollen.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
(Fortsetzung.) Roman von W. Heimburg.


Im Boudoir brannte die rosa verschleierte Lampe. Die beiden Frauen standen sich dort gegenüber. Lore groß, stolz, mit vornehmer Ruhe, erwartend, was sie erfahren sollte. Die andere, das Kind an der Hand, den Kopf gesenkt wie betäubt von einem rohen Schlage.

„Mit wem habe ich das Vergnügen?“ fragte Lore und wies auf einen Stuhl.

Die Fremde, unfähig, länger zu stehen, sank darauf nieder und zog das Kind an sich. „Ich bin – Verzeihung, wenn ich Sie tödlich verletze – ich bin Adalberts – ich bin seine Frau und dies ist sein Sohn.“ Anfänglich leise sprechend, schrie sie das Letzte fast und schlug verzweifelt die Hände vor das Gesicht.

„Ich bitte Sie,“ sprach Lore kalt und laut, „legitimiren Sie sich, ich kann mir nicht denken, daß man es gewagt hätte, mir – mir –“

Die Fremde nestelte an ihrem Täschchen und übergab Lore einige Papiere. „Hier der Trauschein und der Taufschein des Kindes, in der St. George Church in New-York wurden wir getraut eines Sonntags, Madame. Ich kam hierher, um ihn an die Pflicht des Vaters zu erinnern. – Er giebt mir, seitdem er mich das letzte Mal verließ – es war vor anderthalb Jahren, er hatte zuletzt noch einen Streit vom Zaune gebrochen – keinen Pfennig mehr zum Lebensunterhalt; alle Briefe, die ich ihm schrieb, blieben unbeantwortet. Wäre ich allein – nie, nie hätte ich diesen Schritt unternommen, aber des Kindes Ansprüche – ich darf nicht dulden, daß es lebt mit einem Makel. – Ach, Madame, ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen –“

Lores Augen waren indessen auf dem Papier umhergeirrt – Ellen Smith aus Washington mit Mister Adalbert Becker, New-York – flirrte es vor ihren Blicken. „Ich vermag es nicht zu beurtheilen,“ stotterte sie, indem eine brennende Röthe ihr Antlitz färbte, „entschuldigen Sie einen Augenblick –.“

Sie ging in den anstoßenden Salon, klingelte und befahl dem Mädchen, den Herrn General heraufzubitten. Es drehte sich alles mit ihr. Was sie empfand, sie hätte es nicht zu sagen vermocht; es war ein Chaos widersprechendster Empfindungen. Klar rang sich nur eines los und flammte strahlend auf in ihrem armen verdüsterten Gemüth, die Hoffnung auf Freiheit, wenn jene die Wahrheit sprach.

Sie schritt wie im Fieber auf und ab. Besorgt trat der General ein.

„Onkel,“ rief sie ihm entgegen, „da drinnen sitzt eine Frau, die behauptet, sie sei die rechtmäßige Gattin Beckers! Geh hinein, und wenn sie die Wahrheit spricht, dann, Onkel, dann –“

Der alte Herr wußte nicht, wie ihm geschah, er glaubte eine Kranke vor sich zu sehen. „Aber Lore,“ sagte er milde und zog die Bebende an sich, „aber Lore, was fällt Dir ein, Kind?“

„Onkel, wenn sie die Wahrheit spricht,“ begann


Ein stolzes Fahrzeug. Nach einem Gemälde von K. Raupp.

[202] Lore wieder, „Onkel, ich will es ihr danken, auf den Knieen danken, denn dann, dann –“

Sie zog ihn herüber zu der Thür und schob ihn in das Boudoir; und sie selbst flüchtete in die äußerste Ecke einer der tiefen Fensternischen, legte den brennenden Kopf an die Scheiben und starrte hinaus in den dämmernden Park. Einen Augenblick vermochte sie des Generals Sprechen zu verstehen. „Ei, ei, das sind Sie, Madame?“ – Dann schloß sich die Thür und es war nur noch ein undeutliches Gemurmel, was hier herüber drang. Zuweilen lange Pausen, dann die flehende weiche Frauenstimme.

Barmherziger Gott, wenn sie eine Lügnerin wäre, wenn jene nur seine Geliebte, und ihre eigenen Fesseln doch nicht zerreißbar! – Es gab so wunderliche, verzwickte Gesetze. – Wenn ihr dieser Lichtstrahl nur gezeigt ward, um die Nacht desto finsterer zu machen! „Barmherziger Gott, laß sie die Wahrheit sprechen,“ betete das junge Weib, „laß mich leben, laß mich frei werden!“

An die Schmach, die man ihr angethan, wenn es Wahrheit war, dachte sie nicht.

Die Salonthür nach dem Korridor that sich auf mit kurzen, hastigen Schritten rauschte es durch den Raum – Lores Herz begann stürmisch zu klopfen – Frau Elfriede kam, nachzusehen, was eigentlich los sei hier oben. Die alte Dame klopfte an die Thür des Boudoirs und trat dann rasch ein.

Die Thür blieb offen stehen. Lore hörte den halberstickten Schrei und die zornigen Worte. „Sie wagen es, hierher zu kommen? Herr General, sie ist eine Abenteurerin vom reinsten Wasser! Sie war bei mir als Gesellschafterin, und das kokette Geschöpf hat sich in ein Verhältniß eingelassen mit meinem Sohn – Excellenz, wie junge Leute so sind – und gar einer solch schlauen Dirne gegenüber. – Ich mußte sie entlassen, sie aber thut weiter nichts seit Jahren, als den armen Jungen verfolgen.“

„Gnädige Frau, ich bitte Sie in Ihrem eigensten Interesse“ – des Generals Stimme klang sehr kühl –, „werden Sie ruhiger; in solchen Sachen nur keine Gehässigkeiten und keine Leidenschaften! Ich bin nicht Jurist, ich weiß nicht, wie weit die Ansprüche der Dame hier gehen, wir werden es bald erfahren, wenn sich das Gericht der Sache annimmt. Selbstverständlich habe ich keinen Grund, an Ihren Worten zu zweifeln, mich beirrt nur das eine, daß Madame hier willens ist, die Behörden zu ihrem Schutz anzurufen. Hm – ich meine, die Dame muß festen Boden unter den Füßen fühlen; und – haben Sie eine Ahnung, meine Gnädigste, wie der Strafrichter solche Irrthümer aufzufassen pflegt?“

„Barmherziger Gott, nicht so laut! Sprechen Sie doch nicht so laut!“ kreischte Frau Becker fassungslos, „sie ist eine Betrügerin, bei Gott, eine Betrügerin!“

„Ich bin keine Betrügerin,“ hörte Lore jetzt die Fremde mit zitternder Stimme sprechen, „ich bin auch nicht weggejagt, wie Sie sagen, ich ging freiwillig aus Ihrem Hause, um mich vor den Nachstellungen Ihres Sohnes zu sichern; aber er fand mich auch bei meiner Tante auf, bei der ich eine Zuflucht gesucht. Dort bot er mir, als ich fest blieb, seine Hand – ich –“ sie stockte minutenlang und sprach dann leise weiter: „ich nahm sie an, denn ich war ihm gut, trotzdem er versucht hatte, mich herabzuziehen. – Wir wurden getraut, und ich hatte kein Arg daran, daß unsere Ehe geheim gehalten wurde, daß er mich nicht in sein Haus einführte zu seiner Mutter. – Ich wußte, diese haßte mich; er sagte mir so oft, nur sie sei schuld, daß er nicht längst mir einen Heirathsantrag gemacht. Er vertröstete mich nur immer, er wolle mit mir nach Deutschland gehen. Dann reiste er dorthin – das Kind war just zwei Monate alt – und versprach mir, mich nachzuholen sobald als möglich. Er hat mich jedes Jahr besucht – auch im vorigen Winter noch einmal, dann –“

„Lügnerin!“ rief die alte Dame.

„Madame,“ sagte der General zu Ellen, „gehen Sie in ihr Hotel, ich habe mit Frau Becker zu sprechen. Sie werden morgen früh das Nähere von mir hören. Verzeihen Sie, wenn ich Sie nicht begleite, meine nächste Pflicht ist aber jetzt, mich um meine arme Nichte zu bekümmern.“

Lore, die sich nicht regte, hörte jetzt Schritte hinter sich, Frauentritte und die trippelnden Schritte eines Kindes und die des Onkels.

Dann rauschte wieder die Seidenschleppe und die Stimme der Schwiegermutter schrillte. „Erlauben Sie, Herr General, ich habe auch noch ein Wörtchen mit der – Dame zu reden.“

„Es thut mir leid, gnädige Frau, aber ich muß dringend in unserem Interesse bitten, daß Sie dies unterlassen! Falls diese Dame eine Betrügerin ist, wäre es unter Ihrer Würde, ist sie es nicht, so wäre es sicher nutzlos. Sehen Sie das ein?“

Lore war jetzt hervorgekommen aus ihrem Versteck.

„Onkel,“ rief sie, ihm entgegeneilend, „bring mich zu Mama, ich bitte Dich!“

„Gewiß, mein Herz, ich kann es begreifen, daß Du Dich nach der Mutter sehnst; komm!“

Die junge Frau lief in ihr Schlafzimmer und kam bald zurück, ein Spitzentuch über das blonde Haar gebunden und in ihr altes Mäntelchen gehüllt, das sie neulich schon heimlich mit hergebracht. Sie hielt in der Hand ihr Gesangbuch und des Vaters Photographie in einfachem Morarahmen.

Frau Becker brach bei diesem Anblick plötzlich in ein hysterisches Schluchzen aus. „Lore,“ rief sie, „Du kannst nicht gehen!“

Doch,“ sagte diese mit einem Aufathmen, „ich gehe – und komme niemals wieder!“

„Du kannst das nicht so bestimmt behaupten, mein altes Herz,“ bedeutete der General.

„Ja,“ rief das junge Weib und schien fast zu wachsen, so stolz richtete sie sich empor, „ja, das kann ich! Denn wenn sie auch nicht nach dem Gesetz seine Gattin wurde, sie ist es doch in meinen Augen, und wenn noch etwas die Verachtung, die ich für ihn hege, steigern konnte, so ist es der Anblick dieses Kindes, das er vergessen hat. – Nie, nie setze ich meinen Fuß wieder über diese Schwelle – nie!“

„Es wird sich finden,“ schluchzte Frau Becker.

„Nie!“ wiederholte Lore, und sie nahm die Schleppe des Trauerkleides hoch, als sollte auch das Gewand, das sie trug, nicht mehr den Boden des Hauses streifen, das sie verließ.

„Verzeihen Sie, Gnädigste! Sie ist natürlich furchtbar aufgeregt,“ entschuldigte der General, „ich bin sofort wieder zur Stelle.“

Er eilte Lore nach, die vor der Hausthür auf ihn wartete. „Komm, Kind!“ bat er weich und bot ihr den Arm.

Sie schmiegte sich zutraulich an ihn, aber sie sprach kein Wort mehr. Es war dunkel geworden hier draußen, der Wind hatte sich gelegt, voll und feierlich erklangen die Glocken von den Thürmen der Stadt. Es war Weihnachtsabend!

Ein weiches süßes Gefühl kam über das zitternde Herz Lores, etwas von dem frommen Kinderglauben, das Bewußtsein, es giebt einen Gott des Erbarmens, der Liebe. Sie machte sich los von dem Arm des alten Herrn. „Ich gehe zur Kirche,“ flüsterte sie, und er nickte:

„Ich werde Deine Mutter vorbereiten und kehre dann zu Frau Becker zurück.“

Sie schritt langsam dahin durch die belebten Straßen; aus den Häusern traten Andächtige und gingen unter dem Geläute den nämlichen Weg mit ihr. Sie betrat durch eine Seitenpforte die erhellte Kirche. Am Hochaltar strahlten zwei Christbäume im hellsten Kerzenglanz. Die Thränen schossen ihr plötzlich in die Augen, feierlich ward ihr zu Muth. Dicht vor ihr, halb versteckt hinter einem großen Pfeiler, saß die Fremde, das zarte vergrämte Gesicht sah andächtig zu den brennenden Bäumen hinüber; sie hielt des Kindes kleine Rechte in ihren gefalteten Händen und lauschte dem uralten deutschen Weihnachtsgesang:

„Vom Himmel hoch da komm ich her,
Ich bring’ Euch gute neue Mär –“

Lore trat in den nämlichen Stand, setzte sich neben das Kind und senkte den Kopf im Gebet. Die Augen der Nachbarin richteten sich groß auf ihr Antlitz, über das langsam ein klarer Tropfen nach dem andern rann.

„Um des Kindes willen vergeben Sie mir, daß ich Ihren Frieden störte,“ flüsterte die Amerikanerin nach der Predigt, zu Lore hinüber geneigt.

„Ich Ihnen? Sagen wir: Sie mir! Aber glauben Sie nur, ich bin schuldlos,“ entgegnete Lore. Ihre Hand ruhte einen Augenblick in der der Fremden und ihre Augen forschten in deren Zügen. Nein, sie sah nicht aus wie eine Lügnerin!

Als der Gottesdienst beendet war, ging sie hochgehobenen Kopfes durch die Menge, sie blickte nicht rechts noch links, sie schaute nur in die Zukunft, in die Freiheit.

An der Kirchthür stand der Doktor Schönberg. Seine Blicke hingen an der alten Frau, die neben Käthe von Tollen inmitten [203] der Andächtigen langsam daher kam. Jetzt sah er zur Seite und trat bestürzt einen Schritt zurück.

Lore? Lore, wie er sie einst so oft gesehen in dem dünnen Wintermantel, den er so gut kannte, mit den blonden Löckchen, die so wie hingehaucht über der weißen Stirn schwebten, mit dem alten süßen verschleierten Ausdruck der Augen unter den halbgesenkten Wimpern, so mädchenhaft wie damals, als sie seine Lore ward. Er fühlte, wie der Zorn in ihm aufstieg. Was kam sie ihm so in den Weg?

Sie ging wie im Traume die Straßen dahin und wußte selbst nicht, wie rasch sie anlangte vor der niedrigen Hausthür daheim. Sie trat in die Eßstube. Die verstörten Augen der Mutter irrten ihr entgegen.

„Lore, um Gott, Lore!“

Lore weinte nicht. Sie knieete vor der alten Dame nieder und flüsterte, sie umfassend:

„Daheim, wieder daheim! Ach, Mama Du weißt nicht, was das heißt für mich!“

Frau von Tollen war still. Sie bückte sich herunter und küßte weinend die schöne klare Stirn der Tochter, es war eine stumme rührende Bitte um Verzeihung. Ihre Lore, ihre schöne stolze Lore, wie furchtbar war an ihr gesündigt worden, und sie, die eigene Mutter, sie hatte die Hand dazu geboten gegen ihr besseres Wissen!

„Mama,“ bat Lore, „weine doch nicht! Mir ist so leicht, so leicht heute – –.“




Der General mußte, als er wieder das Beckersche Haus betrat, zunächst eine Stunde antichambrieren und Tante Melitta leistete ihm Gesellschaft dabei. Die alte Dame war in einem furchtbar aufgeregten Zustande, es konnte ihr ja nichts Schlimmeres begegnen, als irgend etwas nicht zu erfahren, und hier erfuhr sie nun wirklich nichts. Sie wußte nur, daß etwas passirt sei, etwas Ungeheuerliches, Niedagewesenes, aber alle Versuche, Näheres zu erkunden, scheiterten an des Bruders Schweigen. Er ging, die Hände auf dem Rücken gefaltet, langsamen Schrittes in dem veilchenblauen Salon auf und ab und beachtete die Fragen der Schwester absolut nicht.

„Jesus, der Rudolf! Es wird doch nicht wieder der Rudolf sein?“ schluchzte sie endlich, „ach Gott, sag’s mir, Wilhelm – nicht wahr, er will abermals von Beckers Geld haben? Mein Gott, wenn sie auch reich sind – allzu oft darf man –“

„So? Sie haben ihm die Schulden bezahlt?“ fragte der General scheinbar gleichgültig.

„Ja, Wilhelm, er wäre eben sonst – – aber das weißt Du wohl gar nicht?“ Und das alte Fräulein, heilfroh, daß sie sich wichtig machen konnte, kam dicht zu ihm herüber, „er wäre doch im andern Falle mit Schimpf und Schande, weißt Du –“ flüsterte sie, und als der General stehen blieb, haspelte sie die ganze traurige Litanei herunter und drehte ihr Taschentuch dabei in den Händen vor Eifer. „Gottlob,“ schloß sie, „Leo hat’s nicht mehr erfahren, durch Lores Verlobung kam’s noch in die Reihe,“ und sie nickte, daß die Löckchen flogen, „ja, durch die Verlobung!“

„Und die Verlobung kam wohl durch diese erbauliche Geschichte in die Reihe?“ fragte er grollend und folgte ihr bis zu dem Lehnstuhl, in dem sie Platz genommen hatte, und dort blieb er stehen und schaute sie an mit finstern Augen.

Die Schwester antwortete nicht.

„He, Melitta, hat das Mädchen denn aus freien Stücken ja gesagt?“ fragte er.

Die gutmüthige kleine Dame sah in diesem Augenblick so hilflos aus wie ein Kind.

„Aber, Wilhelm, wie Du einen angucken kannst! – Sie hat doch schließlich ja gesagt – es ist doch keine Kleinigkeit, ob ein Tollen als – – ich weiß nicht, Wilhelm, wie ich Rudolfs Vergehen bezeichnen soll – den bunten Rock auszieht – und Du siehst, Lore hat eine gute Partie gemacht und –“

„Schon gut, ich weiß; sie hat also schließlich ja gesagt!“

Er sprach weiter keine Silbe; es war ihm plötzlich alles klar.

Endlich erschien Frau Elfriede. Tante Melitta wurde ersucht, in einem andern Zimmer zu warten.

Sie ging voller Zorn und mußte es erleben, daß die polnischen Karpfen in der Küche verbrodelten, daß der Weihnachtsbaum im Tanzsaal unangezündet blieb, daß die kostbaren Geschenke vergeblich ihrer Empfänger harrten. Wozu hatte sie nun Schlummerrollen und Kissen zu halben Dutzenden gefertigt? Das Aergste aber kam noch. Nach zwei Stunden peinvollen Wartens ging ihr Bruder aus dem Hause, ohne nach ihr zu fragen, und Frau Becker ließ ihr durch den Diener bestellen, sie sei so angegriffen, daß sie Fräulein von Tollen nicht mehr sprechen könne. Tante Melitta hing seufzend ihren Mantel um, warf noch einen Blick in den schwach erhellten Weihnachtssaal mit all den bunten Herrlichkeiten und ging die Treppe hinunter, an Lores schnippischer Jungfer vorüber, die dort flüsternd mit dem Diener stand. Die Leute hatten neugierig freche Gesichter, und sie sahen ihr nach und lachten. – Das war ein Weihnachtsabend!

Als sie durch den Park schritt, schlug es acht Uhr. Aus dem Fenster der Gärtnerswohnung leuchtete ein strahlend heller Weihnachtsbaum. Ja, da gab’s doch noch ein Freuen!

Vor ihrer Hausthür fand sie eine Minute später eine schlanke Gestalt, die unverwandt das Schönbergsche Haus ansah. – Drunten im Wohnzimmer der Frau Pastorin war Licht, und im Hausflur, den man übersehen konnte, da die Thür weit geöffnet stand, hatten die Korrendejungen eben die Lichterpyramide angezündet und sangen ein Weihnachtslied.

„Käthe, Du?“ fragte Tante Melitta erstaunt.

„Ja,“ sagte das Mädchen, ohne den Blick von drüben abzuwenden, „ich warte hier schon eine ganze Weile auf Dich. Man ist ja wie verrathen und verkauft – was ist denn eigentlich passirt? Die projektirte Weihnachtsfamilienfeier ins Wasser gefallen – Lore plötzlich zu Hause – Mama in Thränen und der Onkel wie eine Gewitterwolke – – –! Kann ich mit hinaufkommen, Tante?“

„Meinetwegen, Käthe; aber es ist kalt bei mir und ich hab’ nicht einmal ein Stückchen Pfefferkuchen im Hause, nach Weihnacht schmeckt’s nicht bei mir heute.“

„Als ob’s bei uns danach schmeckte,“ erwiderte Käthe bitter, und als eben der Gesang drüben verstummte, folgte sie der kleinen Tante in das Haus, setzte sich droben im ungeheizten Zimmer ans Fenster und sah mit brennenden Augen auf die dunkeln Giebelfenster da drüben. Er war unten bei seiner Mutter, da roch es nach Tannengrün und Wachskerzen, da war das Glück. – Käthe ballte die Fäuste zusammen und sagte halblaut vor sich hin: „Uebers Jahr will ich da drüben sein, ich will – ich will!“




Der General war indessen Frau Becker gegenüber ganz der alte Soldat. Er entwickelte seine strategischen Talente und begann zunächst zu rekognoscieren.

Die alte Dame saß in unendlich kampfbereiter Haltung auf dem gelben geblümten Damastsofa ihres Boudoirs, sie hatte die Arme untereinander geschlagen und den Kopf in den Nacken zurückgebogen. Ueber ihren vom Weinen verschwommenen plumpen Zügen aber lag im Gegensatz hierzu ein Schein unverschuldeten Gekränktseins und sanfter Wehmuth.

„Gnädige Frau,“ begann der General, „das sind so Sachen – – ja, ja, Sie brauchen mir gar nichts darüber zu sagen, ich bin ein alter Mann, ich kenne die Welt. Freilich: Jugend hat keine Tugend! Sie hatten also die Dame in Ihrem Hause, gnädige Frau?“

„Ja wohl,“ antwortete Frau Becker seufzend, „und Gott weiß, wenn ich bei ihrem Eintritt geahnt, was mit ihr über unsere Schwelle kam, ich hätte sie sofort wieder –.“ Sie machte eine entsprechende Handbewegung.

„Natürlich, gnädige Frau, das läßt sich ja denken. Sie hatten gewiß viel Unbequemlichkeiten und Aerger?“

„Ach, Gott soll es wissen,“ klagte sie. „Erst der Trödel, als Adalbert sich in sie verliebte – ich sagte ihm immerzu: ‚Laß die Dummheiten! Derartige Mädchen machen Ansprüche; Du wirst’s bereuen!‘ Aber die Kinder wissen alles besser! – Nachher, wie er dann seinen Willen durchgesetzt, da fing das Unglück an. Sie schrieb alle Naselang um Geld; diese Damen brauchen ja immer nochmal so viel wie honette Frauen. Sie machte eine förmliche Daumenschraube aus ihren Beziehungen zu Adalbert und des Kindes wegen gab man ja immer!“

„Ach, Sie wußten, daß Sie ein Enkelchen besitzen?“

„Ein Enkelchen? Excellenz, ich muß bitten!“ Die kleine dicke Nase der Dame zog sich empört in die Höhe. „Wir hatten uns

[204]

Die Pilatusbahn.
Originalzeichnung von J. Weber.
I. Mittagsrast der Arbeiter auf der Mattalp. – II. Die Pilatusbahn auf der Mattalp und an der Eselswand gegen Pilatuskulm. – III. Umladen eines Materialzuges. – IV. Abladen und Weiterbeförderung der tessinischen Granitplatten. – V. Befestigung der Zahnstange. – VI. Küchenhütte [der] Ingenieure. – VII. Angriff des Bahnbaus an der Wand des „Esels“.

[205] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [206] übrigens fest vorgenommen, den Jungen erziehen zu lassen,“ fuhr sie fort, „Adalbert ist jetzt eben hinüber, um diese Angelegenheit zu ord – – “ Sie brach plötzlich ab und wurde roth.

„O, ich meinte, Ihr Herr Sohn habe unaufschiebbare Geschäfte drüben. Und deshalb verließ er so kurz nach der Hochzeit meine Nichte – also deshalb –?“

Frau Becker wurde noch purpurner. „Mein Gott, ja, sie hatte mit Herüberkommen gedroht – und – und –. Aber ums Himmels willen, Excellenz werden doch nicht glauben, daß die Person recht hat mit ihrer wahnsinnigen Behauptung? Ich schwöre Euer Excellenz.“ Sie sprang auf in Zorn und Verwirrung. „Ich hole die Briefe der Unverschämten,“ rief sie. „Adalbert gab sie mir zur Verwahrung, als er sich verheirathete; aus irgend einem Grund wollte er sie aufheben. Ich habe sie nicht gelesen, Herr General, auf mein Wort nicht. Ich zog nur einige Photographien hervor, die ich vernichtete, so ärgerte mich das Gesicht dieser Person. Ich weiß, es sind Bettelbriefe, nur Bettelbriefe. Sie sollen dieselben durchsehen, damit Sie sich überzeugen.“ Sie verschwand auf ein Weilchen und kam dann zurück mit einem Packet Briefe. „Hier,“ rief sie und löste die Schleife, welche die einzelnen Blätter zusammenhielt, „nehmen Sie!“ Und sie selbst nahm eines der Schreiben und schaute hinein. „Sehen Sie, eine einfache Bettelei,“ rief sie triumphirend.

Der General sah flüchtig auf das Papier, nahm einige der Briefe und las sie. In der That, immer nur die flehende Bitte kehrte zurück. „Um des Kindes willen!“ – Es war eine rührende Sprache, Töne, die dem alten Soldaten das Herz weich machten. So schreibt keine Verlorene! – – Jetzt zog er einen ziemlich dicken Brief hervor, er hatte dort aus all dem weißen Papier ein blaues hervorgucken sehen.

„Unerhört!“ schrie jetzt Frau Becker. „‚Mein herzlieber Mann,‘ redet sie ihn an! – Na, es mag wohl Mode sein in solchen Fällen.“

Der General entfaltete den blauen Brief und las die Ueberschrift: „Dear Sir“, und die Unterschrift: „M. Haardt, pastor.“ Er legte den Brief auf seine Kniee, zog den Kneifer hervor und begann mit einer gewissen Feierlichkeit zu lesen. „Hm –“ sagte er einmal. Er wandte, am Schluß angekommen, das Blatt noch einmal um und begann von vorn zu lesen, dann griff er nach dem weißen Papier und überflog die wenigen Worte der Frauenhand, die dastanden. „Dear Berti! Ich kann mir vor Angst nicht mehr helfen, ich bitte Dich, schreib! Gestern ging ich zu Pastor Haardt, ich mußte mich zu jemand aussprechen; vergieb mir! Er sagte, er wolle Dir schreiben. Sei nicht böse; ich bin so verzweifelt. Ach, ich bitte, Adalbert, nicht meinetwillen, um des Kindes willen schreibe und komm   zu Deiner Ellen.“

New-York, den 16. Oktober 188 .

Es war ein Datum kurz vor der Verlobung mit Lore.

„Gnädige Frau,“ scholl auf einmal des Generals Stimme, und es war ein merkwürdig harter energischer Klang darin, „daß Sie keine Ahnnug von einer bestehenden Ehe Ihres Sohnes mit Ellen hatten, ist ja klar, aber nichts destoweniger besteht sie. Hier ist der Brief eines Pastors Haardt, der das Paar getraut hat. Er ermahnt auf Ansuchen der jungen Frau Ihren Herrn Sohn, seinen Pflichten gegen Mutter und Kind nachzukommen.“

Die Frau vor ihm that ihm plötzlich leid. Sie legte sich in die Kissen zurück und sah aschfahl aus. „Unmöglich!“ stieß sie hervor, „es ist – es muß ein Irrthum sein –!“

Aber sie wußte jetzt nur zu gut, daß es keiner war. Sie kannte Reverend Haardt, er war ihr specieller Seelsorger drüben gewesen und sie kannte seine Handschrift.

„Nein, gnädige Frau, hier sehen Sie es schwarz auf weiß, und danken wir Gott, daß wir den Brief fanden.“

Aber Frau Elfriede, die in diesem Augenblick einen furchtbaren Schicksalsschlag empfing, vermochte nicht gleich zu begreifen, weshalb sie Gott hierfür danken sollte. Die starke, rasch athmende Gestalt legte sich zur Seite und barg den Kopf ins Sofakissen, und so verharrte sie eine ganze Weile, fast besinnungslos vor Schreck.

Der alte Herr, der um alles in der Welt keinen Zeugen wünschte, wartete geduldig, bis sie sich stöhnend aufrichtete.

„Das ist hart, das ist hart,“ flüsterte sie; dann begann sie zu schluchzen.

„Sie müssen noch heute Ihrem Sohne telegraphieren,“ sagte der General ruhig, als sie eine Pause machte, um laut zu weinen. „Ihr Sohn darf nicht zurückkommen, hören Sie; es steht ihm eine entehrende Freiheitsstrafe bevor, wenn er –“

„Nicht zurückkehren?“ stammelte sie.

(Fortsetzung folgt.)




Die Pilatusbahn.

Mit Illustration S. 204 und 205.

Schon wieder eine neue Bergbahn! Hat die Schweiz deren nicht schon übergenug? Soll die Bequemlichkeit, welche zur Blasirtheit führt, immer mehr gehätschelt, das freie, frohe Wandern auf die Höhen immer mehr zurückgedrängt werden? Die Bedenken, welchen diese Frage entspringt, haben in gewisser Beziehung ihre Berechtigung, sie haben aber auch ihre Grenzen.

Ja wohl, es ist ein hoher Genuß, als fröhlicher Fußwanderer die Höhen der Berge zu ersteigen. Früh, noch ehe es im Osten dämmert, verlassen wir unser Nachtquartier. Still ist es noch im Dorfe. „Kei Huusthür gahret und kei Othem schnuuft und nit emol e Möhnli (Unke) rüeft im Bach. ’s lit alles hinderem Umhang noh und schloft,“ um mit Hebel zu reden. Doch, es plätschern die Brunnen vor den stillen Häusern, es rauscht der Bach im dunkeln Tobel, und da und dort meckert eine Ziege im verschlossenen Stalle, die ungeduldig auf des Geißbuben frühen Hornruf wartet. In der erquickenden Morgenfrische geht es hinauf über die Matten und durch den Wald unter den Flühen. Bald erklingt vom Thale herauf eine Morgenglocke und wieder eine. Es röthen sich die Firnen des Hochgebirgs, das Licht wallt über die Felsen und Halden hernieder und verscheucht die Nacht aus Wäldern und Schluchten. Gelangen wir hinauf auf die Alp, so ist’s daselbst schon lange lebendig, die Herdenglocken tönen und klingeln, gastlicher Rauch dringt aus dem Dach und den Fugen der Alphütte, und trefflich schmeckt das einfache Frühstück, das uns gereicht wird. Doch vorwärts! Hinan die grünen Halden und hinauf zwischen den Felsköpfen, an denen die Alpenrose glüht und Blumen aller Art uns grüßen! Die Höhe ist erreicht, und es liegt das Land zu unseren Füßen, das weite, weite Land mit seinen Seen, seinen Flüssen, den unzähligen Wohnstätten, und unabsehbar zieht sich der in der Morgensonne schimmernde und leuchtende Alpenkranz am Horizonte hin, ein wundervoller, erhabener Anblick! Wir haben mit einiger Mühe errungen, was wir hier oben genießen, aber um so köstlicher ist der Genuß.

So sollte jedermann die Berghöhen ersteigen können, und so können es die frische Jugend und der kräftige Mann, wenn es ihm nicht an Zeit gebricht. Sie sollen es thun! Das ist die richtige, die in vollem Sinne genußreiche Alpenwanderung. Allein Hunderten und Tausenden, welche ins Bergland kommen, ist dieser Genuß versagt: ihre Kräfte reichen nicht aus, oder die Zeit sommerlicher Muße ist ihnen zu karg zugemessen. Und doch, wie gern ständen sie droben auf der freien Höhe, zu der sie sehnsüchtig aufblicken, von deren Aussicht sie mit wahrer Begeisterung sprechen hören! Ihrem Sehnen nun kommt die Bergbahn entgegen; sie gewährt ihnen die Möglichkeit, hinaufzugelangen und sich zu erfreuen an der hehren Alpenwelt und ihrer des Menschen ganzes Wesen ergreifenden Schönheit.

Die neueste dieser Bergbahnen, die kühnste vielleicht von allen, ist die Pilatusbahn. Alle diejenigen, denen es vergönnt war, eine Fahrt auf dieser Bahn zu machen, die im Sommer dieses Jahres dem allgemeinen Verkehr übergeben werden wird, sind ihres Lobes voll und stimmen in der Voraussage überein, daß ihre Eröffnung für die Touristenwelt eine großartige Ueberraschung sein wird.

Wer Luzern, den Mittelpunkt des schweizerische Fremdenverkehrs, besucht hat, der kennt auch den Pilatus, den trotzigen, kühn aufgebauten Zackenberg, der mit seinem scharfen, bestimmten Umrisse als entschiedene Marke in dem prächtigen Landschaftsbilde dasteht, das sich vom luzernischen Uferwege aus vor den Blicken entrollt.

[207] Seit den ältesten Zeiten gab dieser eigenthümliche Berg der Phantasie seiner Umwohner und den Leuten im Hügellande draußen gar viel zu schaffen. Längs seiner Flanken brechen oft verheerende Gewitter ins Land hervor; wenn abends die andern Berge sanft sich röthen, so schaut er düster zu Thale und wirft seinen Schatten auf den blauen See der Vierwaldstätten. Oft verhüllt er sein Haupt mit Gewölk, oft wieder überragt er stolz die Nebel, die seinen Fuß umwallen. Er kam der Welt von jeher gar absonderlich vor, und es spann sich mit der Zeit ein Gewebe von Sagen und Legenden um ihn so dicht wie um keinen andern Berg des Alpengebietes. Drachen, kriechende und fliegende, gespenstische Vögel, Erdmännchen und versteinerte Heilige sollen auf ihm gewohnt haben; der jüdische Landpfleger, dessen Namen er trägt, sollte in einem kleinen See des Berges hausen und, von Steinwürfen aufgeregt, sich aus demselben erheben, um durch schlimme Wetter Tod und Verderben auf das Land herniederzusenden. So fest glaubte das Mittelalter an die unheimliche Macht des Pilatusgespenstes, daß der Rath von Luzern die Besteigung des Berges bei schwerer Strafe verbot und die Hirten und Sennen in Eid und Pflicht nahm, niemand hinauf zu lassen. Erst die neuere Zeit hat den düstern Schleier von dem verfehmten Berge hinweggezogen. Seit der Genfer Naturforscher Saussure die Welt auf die wunderbare Schönheit der Bergwelt aufmerksam gemacht und Albrecht von Haller den Alpen sein erhabenes Loblied gesungen hat, ist der Pilatus von Tausenden bestiegen worden, die nicht genug erzählen können von der Großartigkeit seines Aufbaues, von seinen Schluchten und Felswänden, von der einzig schönen Aussicht, die sich dem Auge auf seinem Gipfel erschließt.

Der Zudrang zu dem Berge wurde seit Anfang unseres Jahrhunderts nach und nach so bedeutend, daß für Unterkunft auf seiner Höhe gesorgt werden mußte; vor ungefähr dreißig Jahren entstanden die Gasthäuser am „Klimsenhorn“ und in der Lücke zwischen dem „Oberhaupt“ und dem „Esel“, den zwei mächtigen Felsköpfen, die den Berg krönen. Allein für viele war die Besteigung unmöglich, weil sie eine erhebliche Anstrengung erforderte. Da reifte allmählich der Gedanke, den Freunden des Gebirges den Pilatus ebenso zugänglich zu machen, wie es sein glücklicher Nebenbuhler drüben überm See, der liebliche Rigi, geworden war. Zwei entschlossene Männer aus Zürich, die Herren Oberst Locher und Guyer-Freuler, traten im Dezember 1885 mit einem kühn gedachten und sorgfältig ausgearbeiteten Entwurfe einer Pilatusbahn vor die Oeffentlichkeit. Die Mittel fanden sich, und bald war die Gesellschaft zum Bau der Bahn gebildet. Die beiden Namen Locher und Guyer hatten in weiten Kreisen einen guten Klang, denn ihre Träger hatten sich, der eine als Ingenieur und Mechaniker, der andere als Organisator und Finanzmann, beim Bau einer der schwierigsten Strecken der Gotthardbahn, Flüelen-Göschenen, durch einsichtige und unermüdliche Thätigkeit ausgezeichnet. Es ist billig, neben diesen beiden Männern auch einen dritten zu nennen, einen der besten Kenner des Pilatus, Major Britschgi in Alpnach-Staad, der sich als Vermittler zwischen der Baugesellschaft und der Gemeinde Alpnach, deren bis zur Wasserscheide auf dem Pilatus reichendes Gebiet die Bahn durchzieht, ein entschiedenes Verdienst um das Werk erworben hat.

Im Sommer 1886 wurde mit dem Bau begonnen und schon zu Ende des Sommers 1888, nach einer Bauzeit von zwei Jahren, die der Unbill der Gebirgswitterung wegen nicht einmal zur Hälfte ausgenutzt werden konnte, war er im wesentlichen vollendet.

Vom Endpunkte des südwestlichen Kreuzarmes des Vierwaldstättersees, von Alpnach-Staad aus, erhebt sich die Bahn in kühnem Aufstieg von 441 Metern auf 2070 Meter Meereshöhe zum schmalen Joche zwischen den Felskuppen des „Oberhauptes“ und des „Esels“. Einem Höhenunterschied von 1629 Metern steht eine Bahnlänge von nur 4618 Metern gegenüber. Die mittlere Steigung beträgt 42% = 22° 47′, die Maximalsteigung 48% = 25° 39′. Größere Steigungen wurden bis jetzt nur durch Drahtseilbahnen überwunden; als Zahnradbahn steht diejenige des Pilatus mit einer Steigung von 48% einzig da.

Vom Thalgrunde zieht sich die Bahn über die obstbaumbesetzten Matten von „Obsee“ empor, tritt in jäh ansteigende Laubwaldung ein, welche bei einer grausigen Schlucht, „Wolfort“ genannt, in Tannenwald übergeht. Auf einer merkwürdigen, an einer Kurve liegenden steinernen Brücke überschreitet die Bahn die genannte Schlucht, um durch zwei steil sich hebende Tunnels zur „Risleten“ zu gelangen, wo das seit Jahrtausenden nieder-„rieselnde“ Gestein und Geschiebe eine mächtige Schutthalde an die Bergflanke gelegt hat. Bald ist die Region der Alpweiden in der „Aemsigenalp“ erreicht. Hier befindet sich unweit einiger ehrwürdigen, riesigen Wettertannen die Ausweichstelle für die sich begegnenden Züge. Großartig ist schon hier die Aussicht. Unter einer anhaltenden Steigung von 48% gewinnt die Bahn einen obern Staffel, wie die übereinander liegenden Bergstufen in den Alpen genannt werden, die trümmerreiche, von einem großartigen Kranz von Felskuppen umstandene „Mattalp“. Hier stellen sich jäh ansteigende, unwegsame Felsen der Bahn entgegen. Wie soll sie weiter kommen? Sie findet den Weg; sie wendet sich etwas ostwärts gegen die „Rosegg“ und klettert von dort aus in schwindelnder Höhe an der senkrecht abfallenden Eselswand empor, welche sie in vier Tunnels durchbricht.

Staunend über die Großartigkeit der Anlage in dieser wilden Bergwelt, blicken wir hinab auf die tief unter uns liegende Mattalp. Wie eine an den Berg gelehnte Leiter kommt uns die zurückgelegte Strecke der Bahn vor, und wir können kaum glauben, daß wir da heraufgekommen sind. Die Bahn umfährt die westliche Ecke der gewaltigen Kuppe des „Esels“, nimmt einen letzten, kühnen Anlauf und zieht endlich durch ein hohes Portal in das Stationsgebäude von „Pilatuskulm“ ein, das sich neben dem Berghotel an die Felswand schmiegt.

Der Bahnkörper bildet vom Seegestade bis auf die Berghöhe eine ununterbrochene, fest auf dem Felsgrund des Berges aufliegende und mit mächtigen Granitplatten bedeckte Mauer. Die Platten kommen aus den Steinbrüchen von Osogna im Thale des Tessin am jenseitigen Fuße des Gotthard.

Der Oberbau der Bahn ist von Meter zu Meter durch sehr starke schmiedeeiserne Klammern mit dem Mauerwerk verankert. Er besteht aus zwei Laufschienen und einer Zahnstange mit doppelter, zweiseitiger Zahnreihe. Die Zähne sind durch eigens erfundene Maschinen aus dem Stahl herausgefräst. Das Fahrzeug besteht aus der kleinen, gedrungenen Maschine mit einem Arbeitsdampfdruck von 12 Atmosphären und einem Wagen mit vier stufenweise ansteigenden Abtheilungen; der ganze Zug faßt außer dem Bahnpersonal 32 Personen. Jedes Fahrzeug hat zwei Paar Zahnräder mit senkrecht stehenden Achsen. Diese Räder bewegen sich demnach wagrecht und greifen von beiden Seiten in die Zahnstange ein. Die Konstruktion des Oberbaues sowohl als die der Maschinen bürgt in Verbindung mit automatischen und regulirbaren Bremsen für vollständige Betriebssicherheit. Die Fahrgeschwindigkeit beträgt bei der Bergfahrt sowohl als bei der Thalfahrt 1 Meter in der Sekunde, so daß die Bahn nach jeder Richtung in etwa 80 Minuten durchfahren wird.

Unter eigenartigeren Verhältnissen als hier ist wohl noch selten eine Bahn gebaut worden. Die Unwegsamkeit und Steilheit der Abhänge, die in den oberen Partien bisher vollständig unzugänglich waren, machten schon die Vorarbeiten außerordentlich schwierig. Wildheuer und Gemsjäger sind keinen größeren Gefahren ausgesetzt und haben nicht mehr Muth und Kaltblütigkeit aufzuwenden, als dies für die Ingenieure der Pilatusbahn und ihre Gehilfen nöthig war. Sie haben aber unter der Führung von Oberst Locher und Oberingenieur Häußler ihre schwierige Aufgabe mit wahrem Heldenmuth gelöst.

Unser Bild, das uns in die oberste Region des Berges, auf die Mattalp und an die Eselswand hinaufführt, vergegenwärtigt in Nr. 7 die Schwierigkeit des Bauangriffes hoch an den Felsen droben. Dort hinauf zu gelangen oder sich an Seilen und Ketten von oben herunter zu lassen, das waren Wagstücke ohnegleichen, und unendlich schwierig waren die Arbeiten da, wo man oft kaum den halben Fuß fest aufsetzen konnte und nirgends sich ein Halt darbot. Die Erfahrungen, die beim Eisenbahnbau an Thale gemacht worden sind, ließen hier oben die Ingenieure und Arbeiter sehr oft im Stiche, so daß der leitende Unternehmer für jedes einzelne Werk auf neue, den außerordentlichen Schwierigkeiten angepaßte Mittel und Wege sinnen mußte.

Hohe Anforderungen stellte die Natur des Berges auch an die Organisation der Arbeit und der Verpflegung. War am Morgen eine Anordnung getroffen, so mußte sie eingetretenen Unwetters wegen oft schon vor der Mittagszeit abgeändert werden. Es war fortwährend ein die höchste Intelligenz und Geduld erfordernder Kampf mit tausend unvorhergesehenen Vorkommnissen nöthig, wie er selten bei andern Eisenbahnbauten zu führen ist.

[208] Die Pilatusbahn konnte nicht wie andere Bahnen an verschiedenen Stellen zugleich in Angriff genommen werden, nur von einem Punkte aus war ein Vorrücken möglich; denn Wege zur Beförderung des Materials waren nicht vorhanden. Erst wurde eine kurze Strecke fertiggestellt; war sie betriebsfähig, so hatte sie ohne Verzug in Dienst zu treten und die Beförderung des Baumaterials zu übernehmen. Man war aber dessenungeachtet, gerade dieser anzusetzenden Theilstücke wegen, stets auch noch auf andere Hilfe, auf die vereinte Kraft der Arbeiter und auf den Dienst von Maulthieren angewiesen. Steine und Platten, Sand, Cement, Wasser, Eisentheile mußten von den Materialwagen umgeladen und an die Baustelle verbracht werden. Dabei bewährten sich die Maulthiere auf den wilden Höhen, den schwierigen Wegen, in Wind und Wetter vorzüglich; sie wären durch Pferde nicht zu ersetzen gewesen. Die gewaltigen Tessiner Steinplatten wurden auf einem vorläufig angelegten transportabeln Gerüst an starken Tauen, an die sich dreißig, vierzig Arbeiter spannten, vom Wagen aus bergwärts gezogen und an ihre Stelle versetzt.

Unter dem Personal der Arbeiter, meistens italienischen Ursprungs, herrschte während der Bauzeit beinahe durchweg eine heitere, arbeitsfreudige Stimmung, denn die Unternehmer thaten, was Obdach, Verpflegung, Krankenfürsorge anlangt, alles, was in ihren Kräften stand. Bei gutem Lohn wurden den Arbeitern zu billigen Preisen Fleisch, Teigwaaren, Brot, Milch, Kaffee, Bier, alles in guter Beschaffenheit, verabfolgt. Als ich einen der Arbeiter über die Art der Behandlung und Verpflegung befragte, antwortete er sehr befriedigt: „Purchè la montagna fosse alta il doppio“, wenn der Berg nur noch einmal so hoch wäre! Höchst malerisch nahmen sich auf den Höhen droben die Siesta haltenden Arbeitergruppen aus. Die Leute scherzten, sangen, rauchten, und flach auf dem Rücken liegend, ließen sie sich nach italienischer Art an schönen Tagen von der Sonne bescheinen. Die Ingenieure hatten je auf der Arbeitsstation ihre Küchenhütte, die immer reichlich versorgt war und, wie die Arbeiterbaracken, beim Vorrücken des Baues bergwärts weiterbefördert wurde.

Schon früh im Herbste mußte auf die Arbeit im Freien verzichtet werden; nur in den Tunnels wurde sie fortgesetzt. Es bedurfte ausnahmsweise zäher Naturen, um es den Winter über droben in einer Höhe von 1800 bis 2000 Metern auszuhalten. War auch für Unterkunft und Nahrung und für die Verbindung mit der übrigen Welt vorzüglich gesorgt, der Fall einer längeren Unterbrechung des Verkehrs mit dem Thale konnte doch eintreten, und für diese Möglichkeit war die „eiserne Ration“ vorhanden: Zwieback, Käse, Büchsenfleisch, Chokolade, Thee und Medikamente, alles in wohlverwahrtem Verschlusse, der nur in der äußersten Noth geöffnet werden durfte.

Hohe Freude, wahrer Stolz sprach aus den Mienen der wackeren Arbeiter, wenn man über das große Werk staunte und sich in Lobsprüchen darüber erging. Als am 17. August vorigen Jahres der erste Personenzug zu Berge fuhr und den Verwaltungsrath zu einer Sitzung auf den Pilatus brachte, da war lauter Jubel unter ihnen. Bis spät in die Nacht hinein ertönte ihre Musik, ein Horn, eine Klarinette und eine Handharmonika, und als ein heftiges Gewitter tief unter der Pilatushöhe losgebrochen war und in rascher Folge die Blitze herauffuhren und flammend die Felskuppen erleuchteten, brannten die Leute ein Feuerwerk los, dessen Raketen sich in dem nächtlichen Gewitter und angesichts der gewaltigen Alpennatur fadenscheinig genug ausnahmen; allein die Befriedigung über das Erreichte wollte ihren Ausdruck haben.

Trotz der Vollendung der Bahn wimmelt es auf den Pilatushöhen immer noch von emsigen Arbeitern, und zu bestimmten Stunden des Tages donnert es laut durch die Berge von Dynamitschüssen, welche die Felsen sprengen, um Platz zu schaffen für das neue Hotel, das, ein gewaltiger Bau, hart am „Oberhaupt“ an den Berg sich lehnen wird und, nach Morgen und Mittag ausschauend, geschützt ist vor den Stürmen aus Nord und Nordwest. Weiterhin wird längs des „Tomlishorngrates“ ein Weg in den senkrecht aufstrebenden Fels gesprengt, der über einem Absturze von zweihundert und mehr Metern nach dem „Tomlishorn“, dem höchsten Pilatusgipfel, führen wird, wohl der wunderbarste Spazierweg Europas, der Ausblicke von einer Erhabenheit sondergleichen bieten wird.

Es ist nicht zu zweifeln, die Pilatusbahn wird nach ihrer Eröffnung einen der mächtigsten Anziehungspunkte für die Touristenwelt bilden. J. Hardmeyer.




„Mein Vater lebt noch!“

Mein Vater lebt noch!“ – O welch köstlich Wort,
Und Heil! Heil dir, darfst du es freudig sagen!
Du hast auf Erden keinen treuern Hort
In froher Zeit wie in des Unglücks Tagen!
Der oft in Krankheitsnoth mit Angst und Bangen
Um dich, um seines Kindes Wohl gebebt:
Mit ganzem Herzen sollst du an ihm hangen,
O Glücklicher, dem noch ein Vater lebt!

Und wenn du ihn beleidigt und gekränkt,
Ja, wenn du nur ein einzig Mal im Leben
Den Zorn des Vaters auf dein Haupt gelenkt,
So ruhe nicht, bis er dir ganz vergeben!
Leicht ist’s, von ihm Vergebung zu erlangen,
Wenn reuevoll die Liebe danach strebt:
Mit ganzem Herzen sollst du an ihm hangen,
O Glücklicher, dem noch ein Vater lebt!

Für dich hat er gemüh’t sich Tag und Nacht,
Dir stand sein Herz zu jeder Stunde offen,
Und jedes Opfer hätt’ er dir gebracht,
Dein Glück war seines Lebens schönstes Hoffen!
Oft küsse heiß des Vaters liebe Wangen,
Es naht die Zeit, da man ihn still begräbt:
Mit ganzem Herzen sollst du an ihm hangen,
O Glücklicher, dem noch ein Vater lebt!

Hermann Köhler.




Auf der Hallig.

Von Helene Pichler.

Mutter, Mutter, die See brüllt doch! Ich höre, wie sie näher kommt, immer näher.“

„Sei ruhig, Tochter! Dein Kopf ist ’n bißchen heiß; darinnen schmerzt’s. Du mußt still liegen und ’n Trunk Wasser nehmen, dann wird’s besser. So – das thut gut! Hübsch kühl, nicht wahr? Ja, wir haben auf unserer Hallig das beste Wasser, viel besser, als sie’s drüben auf Pellworm haben. Nun guck’ ich noch mal nach unseren Jungens, ach die schlafen ganz prächtig; ’s sind doch ’n paar stramme Kerle und hübsch wie die dicken Engel in der Kirche von Tönning. Hast Du die mal gesehen, Beta? Nicht? Schadet nichts, unsere Kinder sind noch hübscher. Wie wird Arnt sich über die volle Wiege freuen! Nun schlaf’, Beta, und ich will ’s Schwatzen lassen.“

Beide schwiegen. Die Alte ging hinaus und kehrte bald zurück mit einer Schürze voll brauner Torfstücke, die sie zum größten Theil in das enge Thürchen des mächtigen, ein Drittel des ganzen Gemaches einnehmenden Lehmofens zwängte; den Rest legte sie daneben zum späteren Nachheizen. Dann guckte das alte, gute Gesicht

[209]

Traumverloren.
Nach dem Gemälde von Héva Coomans.
Photographie im Verlage von Ad. Braun u. Comp. in Dornach und Paris, Vertreter Hugo Grosser in Leipzig.

[210] unter dem schwarzen Tüchlein noch mal auf die junge Tochter, welche, unter schweren Kissen fast begraben, mit hochrothem Antlitz in der festgefügten Bettstatt ruhte, auf die rohgezimmerte Wiege neben dem Bette, wo zwei süße Kindergesichter schlummerten, die kaum länger als zwei Mal vierundzwanzig Stunden im Lichte athmen mochten – dann schlich die Alte wieder hinaus, so vorsichtig und lautlos, wie es die beginnende Zittrigkeit und die plumpen Holzschuhe zuließen.

Da draußen vor der Hütte setzte sich die alte Frau auf einen rundgewaschenen Steinblock nieder, stützte den Kopf in die hohle Hand und schaute über die endlose graue Wasserfläche, welche sich ringsum ausdehnte. Wie ein winziges festes Pünktlein lag das kahle Sandinselchen in der schwankenden Unendlichkeit; hier und da am farblosen Horizont streckte sich ein etwas dunkleres Grau, von dem die Halligbewohnerin wußte, es sei der Sandrücken einer Nachbarhallig. Im übrigen bildete das niedrige Haus auf dem Erdhügel das einzige Zeichen menschlichen Lebens weit und breit.

Nicht geschützt durch Deiche und künstliche Wehr wie die größeren Inseln sind die Halligen, sondern sie ragen frei aus dem Meere auf, dessen Fluthen an ihrem Dasein nagen, und es giebt keine andere Schutzwehr als die unbezwingliche Heimathsliebe und das felsenfeste Vertrauen der armen Halligmenschen zu der Scholle ihrer Väter und der ewig wogenden See.

Die beiden Frauen, Mutter und Tochter, waren die einzigen Menschen in dieser Meereseinöde. Nicht doch, in der Wiege lagen noch zwei neugeborne Menschlein, auf denen das ernste Auge der friesischen Mutter mit dem Ausdrucke unsäglichen Entzückens ruhte.

„Die Augen von Arnt, wenn er den Segen sieht, freuen mich im voraus,“ murmelte die Alte vor sich hin. „Daß er auch grad’ in dieser Zeit fort sein muß! Na, ’s macht nichts; die Beta kam auch auf die Welt, als ich hier allein saß und keinen weiter um mich hatte als den halbwüchsigen Andresen – was so ein Bengel wohl helfen kann? – ’s ging aber doch und die Beta ist groß und stark geworden. Freilich, mein Hansen, der kam nicht zurück; das Kind mußte ohne den Vater aufwachsen und Bruder Andresen mußt’ auch dran glauben, Anno acht, wo unsere Leut’ wider Recht und Neigung dem Franzosenkaiser zugeschickt wurden. Und Bruder Peter blieb bei der Hochfluth vor drei Jahren; weil das Lamm nicht verloren gehen sollte, mußt’ er selbst ’s Leben lassen. Ja, unsere Mannsleut’, ’s ist ’ne tüchtige Sorte!“

„Wahrhaftig, Beta hat recht, die See brummt, aber ’s ist doch still ringsum, wird wohl nichts zu sagen haben. Drüben nach der Küste zu steht ’s Eis ganz ruhig.“

Nicht in lauten Worten äußerte sich der Gedankengang der alten Friesin. Wer sie hätte vor der Thür ihres meerumtosten Hauses sitzen sehen, vor sich hinstarrend, die strengen Züge unbeweglich, der konnte wohl meinen, es sei eine der sagenhaften Frauengestalten aus längst verschollener, nordischer Götterzeit übrig geblieben und auf diese Sandscholle verbannt.

„Hm, ob Arnt dran denkt, daß unsere Wintergrütze beinah alle ist? Er wird schon, ist er doch ein verständig Mannsbild. Ja so, die Tüffeln wollte ich heut umschaufeln, ’s ist Petritag nahe, dann keimen sie.“

Die Alte stand auf und ging nach alter Gewohnheit erst rund um die Hütte, als wolle sie sich des Friedens von allen Seiten überzeugen.

An der Rückwand der Hütte befand sich ein ganz niedriger Schuppen, gleichsam ein Nestchen, angebaut, dessen Thür offen stand. Hier ließ die alte Frau einen langgedehnten hellen Ton über die Dünen erschallen, und alsbald kamen von den Sandbergen herbei zwei Schafe getrottet, die sich um die Alte drängten und von dieser in den Stall geschoben wurden, wo ein Kübel frischen Wassers für die Thiere bereit stand.

Noch immer zögerte die alte Frau, unter Dach zu gehen, obgleich die Mittagsstunde nahte, wo nicht nur die Mehlsuppe für Beta, sondern auch die Kartoffeln für sie selbst gekocht werden mußten.

„Arnt hätte doch nicht gehen sollen,“ murmelte sie, indem sie unter der zweitheiligen Thür stehen blieb und, die Hand über die Augen erhebend, das langsam steigende Hochwasser beobachtete. Von unsichtbarer Kraft getrieben, wuchsen die Fluthen rings um das Inselchen. „Nicht gerade sehr hoch, November letzten Jahres wuchs das Wasser schneller, aber ’s ist Vollmond heut, und der Südwest, o der Südwest!“

In der That wehte der am frühen Morgen mäßige Wind jetzt mit einiger Stärke, indeß nicht stark genug, daß ein unbefangener Mensch hätte etwas Besonderes darin finden können. Aber die Friesen sind ein Menschenschlag, welcher durch die tausendjährige Liebe zu und den tausendjährigen Kampf mit dem ewigen Meere gleichsam dessen Urgeist nahe rückt und seine leisesten Aeußerungen versteht, freilich ohne sich dessen bewußt zu werden.

Dieses unter der Herrschaft des nivellirenden Zeitgeistes immer mehr schwindende, rein instinktive, wahrheitstreue Naturverständniß fand sich von jeher bei ihnen stark ausgebildet, doch die höchste Stufe erreichte es bei den Inselfriesen, und unter diesen wieder bei den jedes menschlichen Schutzes entbehrenden Halligbewohnern. Insbesondere bei den Frauen war das Ahnungsvermögen in Bezug auf gewaltige Naturereignisse stark ausgeprägt, und die alte Nanninga, welche von Geburt an auf ihrer meerumtosten, dürftigen Scholle gesessen, galt weit und breit für eine Art Wetterprophetin, welche im geheimen von manchem aussegelnden Küsten- und Seefahrer um eine Voraussagung gebeten wurde.

Die Krankensuppe war fertig, aber das Mittagsmahl der alten Nanninga blieb ungekocht. Sie saß vor dem Bette der Tochter, nöthigte ihr einen Löffel voll nach dem andern ein und schaukelte die Wiege, dabei eintönig summend.

„Mutter, es weht! Wo ist Arnt? Ist nicht Vollmond heute, wo das Wasser steigt?“ sprach die Kranke, indem sie den Löffel zurückschob und, sich aufrichtend, einen Blick durch das kleine, vom Sandflug getrübte Fenster zu gewinnen suchte. Nanningas harte, runzlige Hand drückte sanft die Aufgeregte in die Kissen zurück.

„Alles ist gut, Arnt kommt heute abend heim mit ’ner Hand voll Geld und ’nem freudigen Sinn.“

„Wasser, Wasser!“ schrie Beta.

„Sollst haben, meine Tochter, ganz frisches hole ich.“ Sie nickte Beta zu und schlürfte hinaus. Der schmale enge Raum zunächst dem Eingange bildete Flur und Küche zugleich; ein mächtig ausgebauchter Schornstein, unter welchem ein aus Steinen zusammengethürmter Herd stand, nahm die größere Hälfte ein. Auf dem Herde glimmte ein stilles Torffeuer, dessen Gluth in heller Röthe aufflammte, so oft ein Windstoß durch den Schornstein einen Weg in die Hütte sich bahnte.

„Es weht aus West,“ murmelte die Alte, „nur bei West laufen die Funken; Herrgott, wollest in Gnaden uns behüten!“ Und sie nahm mit sicherer Hand die glimmenden Torfstücke, legte sie neben einander auf den Steinboden und goß Wasser darüber. Aber ja kein „frisches“, das ist viel zu kostbar für solche Verschwendung, sondern Salzwasser, das die See liefert. Einen Eimer, oder wie die Inselfriesen sagen, eine Back nehmend, die wie alle Holzgeräthe der dürftigen Wirthschaft und wie das Balkenwerk der Hütte selbst tiefbraun gebeizt ist von Salzwasser und langem Gebrauch, zum größten Theil auch aus solchem Holz besteht, welches der Sturm in Gestalt von Balken und Planken dem Strande zuwarf – ging Nanninga zu ihrem Fehding. Das ist das kostbarste Gut der Halligbewohner, die tiefe und ängstlich behütete Sandgrube, welche in einer Senkung möglichst geschützt liegt und in welcher das Regenwasser zusammenläuft, der einzige Brunnen, welcher die Bewohner dieser Eilande vor Durst schützt.

Hier bei der Wassergrube stellte die alte Friesin ihren Eimer aus der Hand, ging ein wenig strandab der See zu und starrte mit unbeweglichen Augen den feuchten Saum entlang, welchen das zurücktretende Meer an dem sandigen Eilande gebildet hatte.

Nur ganz schmal, kaum einen Fuß breit, dehnte sich die dunkle Linie.

Aus Westen drängten die Wogen aufs neue heran und aus gleicher Richtung stürmte der Wind daher, gegen welchen die alte Frau sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte.

Tief am Horizonte schwankten einige Segel, bald in grelles Licht, bald in tiefes Dunkel getaucht, je nachdem aus dem jagenden Gewölk ein Sonnenstrahl sie traf oder die nächste schwarze Wolke sich herabzusenken schien.

Obwohl über Nanningas graues Haupt unzählige Stürme hinweg gebraust waren, flog doch ein Ausdruck tiefsten Schreckens über ihr gefurchtes Antlitz.

[211] „Es wird viele treffen; keiner denkt jetzt dran, und Wind und Wetter sind schneller als sie alle. O der Mond, der Mond!“

Fast mit beschwörender Gebärde hob die alte Frau den rechten Arm gegen den Himmel auf. Als sie ihn wieder sinken ließ, bemerkte sie, wie die feuchte Strandlinie wieder schmäler geworden war. Das Meer war nicht zu dem angemessenen Tiefpunkte der Ebbe zurückgetreten, sondern stieg nach geringem Weichen und nach kurzer Frist aufs neue.

Diese Wahrnehmung jagte Nanninga zurück. Ihr altes muthiges Herz hämmerte gegen die Brust. Die kranke Tochter, die Zwillingsenkelchen, das ganze dürftige kleine Heim auf der Sandscholle, Arnt, alles sah sie dem Untergange preisgegeben. Der Wind riß ihr dunkles Kopftuch ab, daß ihr graues Haar in langen Strähnen flatterte – sie ließ es flattern! Ihre Tochter, ihr Kind! Das war ihr einziges Fühlen. Sie sah weit draußen ein Schiff mit den anstürmenden Naturkräften kämpfen. – „Das ist verloren, aber Beta nicht, nein, nein, keines hier, so lange in diesen alten, zähen Armen noch ein Lebensfunken sich regt!“ das war ihr einziger Gedanke. Und das Pochen und Hämmern in Kopf und Brust überwindend, tappte sie zum Fehding zurück, füllte den Eimer und trug ihn keuchend ins Haus. Wieder ging sie hinaus zur Wassergrube, aufs neue Wasser holend, als müsse die Haushaltung auf Wochen versorgt werden. Als die alte Frau zum drittenmale zurückkehrte, fand sie vor der Thür der Hütte einen Menschen zusammengekauert sitzen.

„Arnt“ wollte sie im ersten Augenblick freudig rufen, doch der Ton stockte, denn Arnt trug nicht so feine städtische Kleider mit so hohem, steifem Kragen; er trug eine grobe Jacke und den Hals frei, auch waren seine Hosen nicht so eng, und die Hände – o die Hände – der fremde Mensch hatte ja weiße, kleine Mädchenhände und dazu lange braune, zurückgestrichene Haare; Arnts gelbe Haare waren über der Stirn kurz geschnitten und hingen über die Ohren herab.

„Häh?“ rief die Friesin den Menschen an, welcher, die Hände vors Gesicht geschlagen, auf den Stufen niedergesunken schien. Erschreckt fuhr er in die Höhe und starrte die Alte an. Vielleicht glaubte er ein Wesen aus altersgrauer Zeit zu erblicken oder eine sturmerzeugende Wetterhexe; aber da er in ein Paar lebendiger Augen sah, so stand er auf und wollte, gegen das Windgeheul anschreiend, seine Anwesenheit erklären.

Die Alte machte eine abwehrende Handbewegung und deutete auf die Hütte, deren Thür sie aufstieß und, nachdem auch der Fremde eingetreten, sorgfältig mit einem schweren hölzernen Riegel schloß. Von dem Getöse draußen betäubt, mußte der Mann eine Weile die Augen schließen, ehe er in dem dunklen Vorraum der Hütte etwas zu erkennen vermochte. Was er sah, mußte ihm ebenfalls wie eine Hexenküche vorkommen, die braunen, plumpen Geräthe, der cyklopische Herd mit dem weit ausladenden Schornstein darüber, vor allem aber das alte Weib, welches sich um den Gast durchaus nicht bekümmerte, sondern eben aus dem Hintergrunde ein Thier hervorzerrte, ein Schaf, welches sie ohne weiteres bei den Füßen ergriff und auf ihre Schultern zu laden suchte. Doch die zitternden Kräfte reichten nicht hin, die Last zu heben; ächzend ließ sie das Thier sinken und ihre Augen richteten sich funkelnd auf den Fremdling, indem sie sagte:

„Zu schwer! Seht Ihr’s nicht?“

Sofort faßte er an, obwohl ihm vor dem Weibe graute. Mit vereinten Kräften gehoben, lag das Schaf auf Nanningas Nacken, welche nun damit die Sprossen der steilen Leiter hinaufstieg, die neben dem Schornsteine nach oben führte und hier in einer dunklen Oeffnung endigte. Der Mann hörte die Friesin oben umhertappen und -räumen. Nein, in diesem unheimlichen Hause bliebt er nicht; lieber wollte er draußen die Gewalt von Sturm und Wetter ertragen. – Endlich kam die Alte zurück.

„Wollt Ihr mir sagen, Frau, auf welcher Insel ich bin?“

„Keine Insel! Hallig Olderog,“ lautete die kurze Antwort.

„Ich bin bei gutem Wetter mit einem Boot abgefahren, um zur Winterszeit das Meer in seiner Pracht zu sehen; ich bin nämlich einer, der Bilder malt, da kam der Sturm und –“

Nanninga unterbrach ihn scharf: „Es ist jetzt nicht Zeit zum Schwatzen! Handeln, Herr! schaffen!“ Und schon kam sie mit dem zweiten Schafe angekeucht, dicke helle Tropfen standen auf der Stirn der alten Frau. Das konnte der Fremde nun nicht mit ansehen, er sprang hinzu und bot seine Schultern dar. Aber das zappelige Thier wollte nicht darauf liegen bleiben, weil er es wohl zu ungeschickt anfaßte. So blieb nichts anderes übrig, die Alte trug auch das zweite Thier auf den Boden. Sie bedeutete aber dem Fremdling, mit einem gefüllten Eimer Wasser ihr zu folgen. „Ist das Weib verrückt?“ dachte der Mann, that jedoch nach ihrem Geheiß. Oben stieß Nanninga eine Dachluke auf, daß der letzte Strahl des trüben Februartages in den Raum fiel und sie Ausblick gewannen über die kochende See. Nur die Friesin überschaute die wachsende Gefahr, der Fremde hatte keine Ahnung von derselben. Weit über den Stand des gewöhnlichen Hochwassers brandeten die Fluthen an dem Eiland empor; im fahlen Dämmerlicht stürzten aus Westen immer neue Wellenberge heran; ihre schneeigen Häupter reckten sich höher und höher auf, eines das andere überstürzend, als müßten sie das Inselchen rasch aus dem Wege räumen, um desto schneller das Festland zu erreichen. Schon war der blinkende Eisgürtel des Festlandes in Millionen Schollen zersprengt, welche stoßend und treibend sich in und über einander thürmten, gewaltige Spielbälle einer gewaltigen Macht. Ueber dem allem die sinkende Nacht und kein Hauch einer menschlichen Seele, nur das Donnern und Brausen der Sturmfluth.

„So muß Salvator Rosa das Meer geschaut haben, wunderbarer, großer Anblick!“ sagte der Fremde.

Doch die Alte rief plötzlich: „Ruhig, Herr!“ Durch das furchtbare Getöse in Luft und Wasser hatte ihr Ohr einen Ton vernommen, welcher auch im Brausen der Hölle nicht untergehen kann für ein Mutterohr – das Wimmern einer Kinderstimme. So rasch, daß der Fremdling ihr kaum folgen konnte, kletterte Nanninga die steile Stiege hinab und eilte zu Beta.

Im Stübchen herrschte fast völlige Dunkelheit; die Kindlein in der Wiege schrieen, da es sie hungerte, die Kranke aber hatte im Fieberwahn ihr Bett verlassen; sie riß das Fenster auf, welches der Wind sogleich in tausend Scherben zerschmetterte, und in die Nacht hinaus rief sie nach Arnt, nach der Mutter, nach ihren Kindern. „Ich will sie behalten, ich geb’ sie nicht her. Kommt die See? Laß sie kommen, ich halte meine Kinder fest. Brülle nicht so, o das thut weh! o mein Kopf! Sie kommt, sie kommt! Arnt ist noch nicht da.“

Bei diesen furchtbaren Klagetönen einer gequälten Seele überkam den Fremden mit einen Male die Gewißheit der grausigen Gefahr, in welcher die Hallig und mit ihr das Haus und die Menschen schwebten. Entsetzen durchrann seine Glieder und nur mit Mühe zwang er die Zähne, daß sie nicht bebend an einander schlugen. In dieser Weltauflösung zwei Frauen, von denen eine alt, die andere todkrank, mit zwei Kindern allein – furchtbares Schicksal!

„Fürchtet Ihr Schlimmes?“ fragte er Nanninga.

„Fürchten? Laßt das Wort nicht hören, sondern packt an und helft!“

„Wie und wo soll ich helfen? Befehlt nur, Frau!“ sagte er mit bebender Stimme.

Inzwischen hatte Nanninga an dem letzten Funken im Ofen einen Kienspan entzündet; sein rothes, qualmendes Licht beleuchtete die unheimliche Scene nur mangelhaft. Dann herrschte sie den Fremden wieder kurz an: „Das Fenster muß zugeschlagen werden!“ und wandte sich dann zu Beta, welche noch immer wilde Zwiesprach hielt.

„Wo finde ich Material und Handwerkszeug?“ fragte der Mann.

„Ist nicht Holz genug in der Stube? Da in der Ecke liegen Hammer und Nägel; braucht Eure Augen und Hände! Beta, mein Kind, nun komm, ’s ist Zeit zum Schlafengehen; Du mußt Dich legen, weil Du noch schwach bist. Der Arnt kommt schon, hör’ nur, ich glaube, das ist seine Stimme. Du brauchst nicht zu sorgen! Ich bin ja bei Dir, und heute nacht wollen wir auf dem Boden schlafen, da ist’s besser, viel besser.“

Welcher herzlichen, weichen Laute war diese strenge Frau fähig! Um zu lauschen, hielt der Mann inne mit seinen Hammerschlägen, durch welche er eine alte Bank vor die klaffende Fensteröffnung nageln wollte. Der Einfluß der weichen, ruhigen Worte auf die Kranke machte sich sogleich geltend; wie ein glückliches Kind ließ sie sich von der Mutter ankleiden. Doch mitten in der dabei unerläßlichen Bewegung brach die Kranke plötzlich ohnmächtig zusammen, so daß die alte Nanninga fast mit umgerissen wurde.

[212] Mit geschlossenen Augen lag das junge Weib da. Die alte Mutter, von der grauenhaften Lage doch einen Augenblick überwältigt, rang in verzweiflungsvollem Schmerz die welken Hände, und der fremde Gast, im Drange zu helfen, schaukelte heftig die Wiege, um die weinenden Kinder zur Ruhe zu bringen. Draußen sang in fürchterlicher Harmonie die wachsende Fluth.

Nanninga fand zuerst sich wieder. „Faßt an, faßt an!“ befahl sie dem Fremden, „sie ist nicht bei Sinnen, so geht’s am besten.“ Indem sie die Füße der regungslos liegenden Kranken ergriff, bedeutete sie ihn, den Oberkörper zu stützen, und so trugen sie Beta in den dunklem Vorraum, brachten sie mit unsäglicher Anstrengung die steile Leiter empor auf den kalten Hausboden, wo der Wind pfiff und schneidende Kälte herrschte. Hier ward Beta an trockenes Dünengras gelegt und vorläufig in der Finsterniß sich selbst überlassen. Es galt noch zwei kleine Menschen zu retten. Schon wollte der hilfreiche Gast die Wiege heben, als Nanninga sagte: „Halt doch! halt! Die Jungens schreien sich ja todt, ich habe noch ’n Rest Schafmilch stehen.“ Nach zwei Minuten kam sie aus der Küche mit zwei steinernen Flaschen, die durch kleine Schwämme geschlossen waren, legte dieselben den Kindern an die Mündchen, und sofort wurden diese stille. Nun ward auch die Wiege nach oben geschafft, doch nicht, bevor der glimmende Kien und der letzte Funken im Ofen gelöscht.

Die Nacht in ihrer finstersten Gestalt war hereingebrochen. Das Wasser stieg und stieg; schon war die Hallig Olderog bedeckt und leckten tausend Zungen an der Schwelle von Nanningas Hütte; losgerissene Eisschollen trieben in der schäumenden Fluth und knirschten gegen einander; noch immer heulte der Sturm und trieb zu neuer Höhe das wogende Meer; aus schweren Wolkenballen stürzten unermeßliche Regenmassen herab; wenn aber an einer schwächer bedeckten Stelle am Himmel der Wolkenschleier zerriß, dann schaute kein tröstlicher Stern herab, sondern der fahle Schein des Mondes huschte über die erregten Gewässer.

So gut es in der Dunkelheit ging, hatte Nanninga in der nach Osten liegenden Ecke des Hausbodens, wo der Anprall der Wellen etwas geringer als im Westen sein mußte, ein Lager für ihre Lieben eingerichtet. Sie selbst suchte durch die Luke noch einen Blick über die fortschreitende Verheerung zu gewinnen, doch nichts wie Finsterniß und Grauen bot sich dar und der niederpeitschende Regen zwang sie, die Oeffnung rasch zu schließen. Das Häuflein Menschen hockte zusammen und fühlte unter sich die Pfeiler des Hauses wanken. Die Kranke schrie nach Mann und Kindern, stieß wilde Verwünschungen aus gegen die grausame See oder flüsterte irre Gebete, in denen der Name Arnt fortwährend wiederkehrte. Ueber der alten Friesin Lippen kam kein Laut; weder Flüche noch Gebete hatte diese starke Seele in der Gefahr. Sie bettete den Kopf der kranken Tochter in ihren Schoß und streichelte ihr die heißen Wangen; sie netzte die trockenen Lippen mit Wasser, besänftigte durch ihre Ruhe die Aufregung, welche auch des fremden Mannes sich bemächtigt hatte, und liebkoste die Katze, die, dem Erhaltungstrieb folgend, Schutz suchend vor Nanningas Knieen miaute. Nur die beiden Schafe verhielten sich still im Heu; sie waren satt und lagen trocken; weiter reicht das Bedürfniß dieser Thiere nicht.

So vergingen einige Stunden, die zu qualvoller Ewigkeit sich dehnten; da schrie der fremde Mann, dessen Spannkraft zu Ende war, laut auf: „Hilfe, Hilfe, Brot, Brot!“

Wahrhaftig, Brot! Das hatte Nanninga doch vergessen, und der Gast, welcher schon am Tage eine weite Fahrt gemacht, konnte vor Hunger und Entsetzen vielleicht rasend werden. Noch würde es ja gehen, aus den unteren Räumen Brot zu holen, es mußte gehen. Ohne Säumen stieg die alte zitternde Frau in den bereits brausenden Schlund; sie stand fest auf den Füßen, als das eisige Wasser ihr fast bis unter die Arme stieg, sie wußte, der letzte Brotlaib mußte noch trocken liegen; er war in einem hochhängenden Spind verwahrt.

Keinen Augenblick verlor die alte Frau die Besinnung. In der gähnenden Finsterniß tappte sie, bis sie das Gesuchte fand. Dann hastete sie zurück, weil Balken und Pfosten knirschten und Eisschollen gegen die Wände donnerten. Kaum war sie oben angelangt, von Nässe und Kälte, nicht von Furcht geschüttelt, da – ein schrilles Reißen und Brechen und – die nach Westen gerichtete Seite des Hauses stürzte zusammen, in den offenen, wankenden Giebel fanden Sturm und Regen ungehinderten Eingang.

„Hilfe! Hilfe!“ kreischte der Mann, und die Kranke lallte unverständliche Worte; das Wimmern der Kinder ward im wahnsinnigen Getöse der Elemente nicht mehr vernommen.

Hilfe? Selbst die alte Friesin lachte kurz und bitter auf. Hilfe? Auf Meilen an der Festlandsküste und auf allen friesischen Inseln kämpften jetzt Tausende mit der gleichen Noth; das wußte Nanninga nur zu gut.

„Ruhe, Herr, wir müssen aufs Dach, denn der Boden weicht.“

Die Entschlossenheit der weißhäuptigen Alten gab dem Fremdling die Besonnenheit zurück. Die alte Frau reichte ihm ein Stück von dem Brot, hieß ihn einen tiefen Trank aus dem Eimer thun und trank selbst; dann machten sie sich daran, Beta auf das Dach zu bringen. Nach manchem Versuche glückte es dem Manne, festen Fuß auf der abschüssigen Fläche zu fassen und mit der Kraft der Verzweiflung den Körper der Kranken empor zu ziehen.

„Haltet sie fest, recht fest!“ befahl Nanninga, „der Giebel hält noch, er wird von dem Schafstall gestützt; mit den Zwillingen komme ich schon nach.“

Wirklich nach kurzer Zeit kletterte die alte Frau mit keuchendem Athem, zwei festgedrehte Bündel tragend, in denen je ein Kindlein steckte, zu dem Manne empor. Hinter ihr krachte der Boden zusammen.

* * *

Am andern Tage herrschte Kirchhofsruhe an den gesammten deutschen Nordseeküsten. Ueberall hatte die Sturmfluth gleich verheerend gewirkt in Ost- wie in Nordfriesland. Es gab keine Insel, kein Küstendorf, wo nicht, Dämme durchbrechend und überfluthend, das Meer sich Wege gebahnt hätte, alles niederreißend in seinem grausamen Gange. Häuser und Aecker, Menschen- und Thierleben zu Hunderten vernichtet! Ein See, wo gestern noch die Frühlingssaat ihr schüchternes Grün zeigte; auf der leise athmenden Fluth trieben Balken und Geräthe aus menschlichen Wohnungen, Thierleichen und auch Menschen, deren Augen auf ewig geschlossen. Auf den Trümmern aber saßen im trostlosem Jammer die Ueberlebenden, nach ihren Lieben suchend.

Auch ein Schiffchen suchte seinen Weg durch die Wasserwüste; ein Mann stand darin aufrecht und hielt scharfen Ausguck nach allen Seiten.

„Wir sind falsch gekommen,“ sagte er zu dem Kameraden, welcher das Segel etwas mehr schießen ließ.

Dieser antwortete:

„Ne, dat Water steiht noch to hoch, dat mott Olderog sin.“

Was? Dieser aus fluthendem Meere ragende Trümmerhaufen soll sein Olderog, seine Hallig, sein Haus sein, wo er Mutter, Weib und – Kind zurückließ? Sein Haar beginnt sich zu sträuben, er stöhnt.

„Lat man sin, Arnt, Do büst’t nich alleen,“ tröstet der Genosse. Da aber weht ja von dem Trümmerhaufen ein Stück Tuch, es muß noch ein Lebender dort sein. Hin! Hin! Um Gottes willen rasch hin, zwischen Trümmern und Leichen hindurch. Nach zehn Minuten schreit Arnt:

„Mutter, Mutter!“

„Arnt, bist Du’s?“ tönt es zurück.

„Lebt Beta?“

„Ja!“

„Und – und – und das Kind?“

„Es sind zwei, sie leben und sind gesund!“

„Und Du, Mutter?“

„Lebe auch!“

„Wer ist der Mann bei Euch?“

„Ein Binnenländ’scher, der wollte die See in Winterpracht sehen. Das hat er gehabt. Nun lang’ ’n Tau ’rauf, daß mir Beta ’runterlassen.“ –

Das war die Nacht des 3. Februar 1825, in welcher die Hallig Olderog vom Meere verschlungen wurde.




[213]

Oberstein an der Nahe. Von R. Püttner.
Aus dem illustrirten Prachtwerke „Rheinfahrt. Von den Quellen des Rheins bis zum Meere. Schilderungen von Karl Stieler, H. Wachenhusen, F. W. Hackländer.“

[214]

Neue Romane.

Aus der Geschichte des Alterthums, des Mittelalters und der neueren Zeit, ja aus der Gegenwart wählen unsere Romandichter ihre Stoffe, und alle finden ihr Publikum; ja die Mode schenkt oft den entlegensten Stoffen den wärmsten Antheil.

Wie Georg Ebers die Aegypter, Hamerling die Griechen, Felix Dahn die alten Deutschen, so bevorzugt Ernst Eckstein die Römer. Das beweisen seine Romane „Die Claudier“, „Prusias“ und sein neuestes Werk „Nero“ (Leipzig, Karl Reißner). Schon der Stoff der „Claudier“ war der römischen Kaisergeschichte entnommen; in „Nero“ macht der Dichter den berüchtigten Cäsar selbst zum Helden seines Romans, im Widerspruche mit dem oft aufgestellten Grundsatze, daß wohl die Dramatiker, aber nicht die Romandichter die großen geschichtlichen Charaktere in den Mittelpunkt ihrer Dichtungen stellen sollen. Doch Eckstein will uns eben ein Seelengemälde des Cäsars vorführen; er will, was eigentlich Aufgabe geschichtlicher Forschung wäre, nachweisen, wodurch sich der ursprünglich so milde, unverdorbene, groß und edel angelegte Nero in das unmenschliche Ungeheuer verwandelt hat, von dem uns die alten Schriftsteller so unbegreifliche Dinge erzählen. In der That hat er im Verlaufe der Darstellung manchen treffenden Gesichtspunkt hervorgehoben, uns manchen Blick in das Herz des Cäsars und auf die Entwicklung seines sich steigernden Cäsarenwahnsinns gestattet. Doch wird kaum für alle Leser die Darstellung überzeugend sein, um so weniger, als Eckstein der Geschichte gegenüber sich doch manche unverbürgte oder im Widerspruch mit den überlieferten Thatsachen stehende Milderungen erlaubt hat. Bei Eckstein erfährt Nero erst später, daß seine Mutter Agrippina seinen Stiefbruder Britannicus hat vergiften lassen: die Geschichtschreiber erzählen uns, daß dies auf Neros Befehl geschehen sei. Seine Gattin Poppaea Sabina ist nach allen Ueberlieferungen durch eine Mißhandlung, die sie von seiten Neros erfahren, getödtet worden: in Ecksteins Roman stirbt sie infolge eines unglücklichen Zufalls. Der Dichter hat die Thatsachen, die ihm unbequem waren, einfach aus dem Wege geschafft. Deshalb deckt sich aber auch sein Nero nicht ganz mit dem historischen. Gewiß haben ihn die Intriguen der Agrippina, die ihm seine geliebte Sklavin Acte rauben ließ, die Zuflüsterungen des schändlichen Tigellinus, die Mordgelüste einer Poppaea Sabina, die ihn durch ihre Reize und verbrecherischen Rathschläge beherrschte, immer tiefer in den Abgrund gelockt; doch die Lösung des Räthsels, die uns das moralische Ungeheuer erklärt, ist wohl wo anders zu suchen als in diesen äußeren Einwirkungen. Ein phantastisch überreizter Charakter, mit einer unerhörten Machtfülle ausgestattet, wird zuletzt dahin kommen, Traum und Leben, Schein und Wahrheit zu verwechseln und zu vermischen, seinen wüstesten Traumgesichten durch die nur leise angelegte Thür den Weg ins wirkliche Leben zu eröffnen. Der Komödiant Nero erklärt den Tyrannen Nero; doch gerade das schauspielerische Auftreten des Cäsars wird von Eckstein nur gelegentlich erwähnt, während der Cäsarenwahnsinn allerdings in einzelnen Selbstgesprächen des Kaisers einen bedeutsamen Ausdruck findet.

Die Vorzüge des Ecksteinschen Romans bestehen in dem glänzenden Kolorit der Schilderungen; er vereinigt hier Makart und Piloty. Was die Darstellung des goldenen Hauses, des Mordes der Agrippina, des Festes in der Arena betrifft, so hat Eckstein freilich in Hamerling einen nicht minder phantasievollen Vorgänger. Ueberall, wo der Held des Romans eine geschichtliche Größe ist, bleibt der freien Erfindung nur ein geringer Spielraum übrig. Eckstein hat diesen freien Spielraum zu manchem fesselnden Randbild benutzt; es ist ein poetischer Zug, daß die Christensklavin Acte, Neros Herzensliebe und auch ihrerseits dem Wütherich treu ergeben, sie, die er für verloren hielt, zu dem Verlassenen, Todgeweihten wieder zurückkehrt. Es ist des Grausamen und Gräßlichen viel in diesem Roman; doch bewegt sich alles auf der gegebenen Grundlage des Neronischen Zeitalters. Die Scene, wo die hingeopferten Christen, die brennenden Fackeln, zu sprechen anfangen, während sich die Gewalthaber mit ihren Frauen und Geliebten in wilden Orgien berauschen, ist eine der schauerlichsten; sie zeugt in ihrer tiefdunkeln Schattengebung und grellrothen Beleuchtung für die effektvolle Pinselführung eines Dichters, dessen schönes Talent sich auch bei diesem die Poeten und Künstler unserer Zeit in so seltener Weise anziehenden Stoffe wieder bewährt.

Von den Römern am Tiber führt uns zu den Hunnen an den Ufern der Theiß ein anderer Roman: „Attila“ von Felix Dahn (Leipzig, Breitkopf und Härtel), in welchem sich nicht minder Grausames und Gräßliches zuträgt, nur daß hier die Grausamkeit aus der wilden Rohheit der Naturvölker, nicht aus dem Raffinement der Ueberbildung hervorgeht; der Roman führt uns von den brennenden Fackeln Neron zu den auf spitzigen Pfählen sich windenden Opfern Attilas. Felix Dahn entwirft uns in seinen kleineren Romanen („Attila“ ist der achte derselben) ein Kulturgemälde aus den Zeiten der Völkerwanderung. Das Bild der „Gottesgeißel“ zeigt manchen großartigen Zug; wir lernen begreifen, wie dieser kleine unansehnliche Mann eine solche Macht über sein Volk gewinnen konnte, indem er alle Instinkte desselben in sich vereinigte und zu schreckhafter Bedeutung ausbildete. Das Leben und Treiben der Hunnen in der Hofburg Attilas, die Verschwörung der deutschen Fürsten, der Besuch der Gesandtschaften, vor allem die wilden Vorgänge und Kämpfe nach Attilas Tod sind sehr lebendig geschildert. Wie es bei diesen Hunnen zugeht, das erzählt uns gleich bei Beginn ein deutscher Fürst. Noch hört er die Gepfählten brüllen vor Schmerz, den greisen Vater, den Bruder, die ganz schuldlose Mutter, sieht seine vier schönen Schwestern zu Tode gequält von den Roßknechten. Ihm selbst hatte Attila das Antlitz auf den zuckenden Leib des Vaters gestoßen und dabei ausgerufen: „So endet Untreue wider Attila!“

Nach diesen Schrecknissen aus den Zeiten der Völkerwanderung kehren wir gern in eine trauliche deutsche Reichsstadt des fünfzehnten Jahrhunderts ein, wo Handel und Bürgersinn in Blüthe stehen, wenngleich es auch hier nicht an bedenklichen Händeln fehlt. In eine solche Reichsstadt, das mittelalterliche Nürnberg, führt uns Georg Ebers in seinem neuen Roman „Die Gred“ (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt) und niemand wird diesen Roman lesen, ohne sich mit Behagen in das Leben des alten Nürnbergs zu versenken. Freilich, wer von einem Roman fieberhafte Spannung verlangt, eine verwickelte Handlung und merkwürdige Enthüllungen und Ueberraschungen, der wird bei diesem neuen Roman von Ebers nicht auf seine Rechnung kommen. Der Dichter entrollt uns in einer Reihe von Familien- und Genrebildern ein Gemälde des damaligen Nürnberger Lebens, nicht ohne daß die Schicksale der geschilderten Personen unsern Antheil erwecken. Auch geschichtliche Streiflichter sind dem Bilde aufgesetzt, und es fehlt nicht an einem Blicke in die Weltweite, besonders nach der Marmorstadt Venedig hinüber und dem Orient, und bis in die Heimath der Ebersschen Muse, nach Aegypten, führt uns, wenn auch nur zu flüchtigem Besuch, der Gang der Ereignisse. Es ergiebt sich das ungezwungen aus den Handelsbeziehungen Nürnbergs, welche weithin über die Meere reichten. Die Gred ist eine Nürnberger Patrizierstochter und ihre handschriftlichen Aufzeichnungen, welche der Verfasser in Venedig gefunden haben will, bilden den Inhalt der Erzählung. Wir wissen nicht, inwieweit die Grundlage eine geschichtlich gegebene ist; jedenfalls gehört die Einkleidung und Ausarbeitung ausschließlich dem modernen Dichter an. Doch wenn die Gred selbst spricht, durfte sie nicht ganz wie eine moderne Schriftstellerin erzählen; es durften die alterthümlichen Anklänge nicht fehlen, welche uns einigermaßen in jene Zeit zurückversetzen. Der Autor ist dabei sehr maßvoll zu Werke gegangen, hat nur hin und wieder durch einzelne Wörter und Wendungen diese alterthümliche Färbung angedeutet und sich gehütet, uns gleichsam die Blätter einer vergilbten Chronik in die Hand zu drücken. Die Dekorations- und Sittenmalerei führt uns das alte Nürnberg wie ein sauberes Schmuckkästlein vor, in welchem es auch an dichterischen Kleinodien nicht fehlt.

„Die Gred“ heirathet zuletzt ihren Jugendgeliebten, der, von den Eltern verstoßen, es im Orient durch Thatkraft und Tüchtigkeit zu hervorragender Stellung gebracht hat. Ein früherer Verlobter war durch einen Unfall ums Leben gekommen. Abenteuerlicher werden die Geschicke der zarten geschmeidigen Ann, der Freundin der Gred, die, nicht den Patriziergeschlechtern angehörig, doch den Bruder der Gred liebt, den [215] wankelmüthigen Herdegen, der, eine Art von jugendlichem Don Juan, doch zu seiner Liebe zurückkehrt. Was Herdegen da alles zu Land und Meer im Orient erlebt, das giebt der Erzählung bunteren Farbenglanz; doch am liebsten verweilt man im alten Nürnberg, das sich ja auch zur Zeit des Reichstags mit festlichem Glanze schmückt. Da kehren wir in die Häuser der reichen Rathsherren ein, unter denen sich allerlei sonderbare Käuze finden, oder bei den reichgewordenen Handwerkern, oder im Forsthause im Walde, der so mit seinem Blätterrauschen und Vogelgesang zu allen Zeiten derselbe ist; aber prickelnde Ungeduld muß dem Leser fernbleiben; er muß dafür mit vollem Behagen sich einer liebevoll ausgeführten Detailmalerei hingeben können.

In die Napoleonische Zeit führt uns der Roman von Friedrich Spielhagen „Noblesse oblige“, der bereits in fünfter Auflage vorliegt (Leipzig, Staackmann). Ohne Frage fühlen wir hier festeren Boden unter unseren Füßen als in jenen mehr archäologischen Romanen; denn ohne jede gelehrte Vermittelung sind wir gleich mitten in der Handlung; es sind dieselben Gegensätze, die auch unsere Zeit bewegen; es sind Menschen, mit denen wir denken und fühlen, Blut von unserm Blut, Geist von unserm Geist.

Der Roman zeigt alle Vorzüge der Spielhagenschen Darstellungsweise: lebendige Schilderung der Vorgänge und Personen, feine Seelenmalerei und einen reichen geistigen Inhalt; auch verliert er sich fast nirgends ins behaglich Breite, was man nicht allen früheren Werken des Autors nachsagen kann. Den historischen Kanevas, in welchen das dichterische Gemälde hineingestickt ist, bilden die Zustände in Hamburg unter der französischen Occupation; die Schilderung der grausamen Mißhandlungen, welche die Stadt selbst und ihre Bürger von einer übermüthigen Soldateska und ihren Führern erdulden mußten, der Volksbewegungen und Kämpfe ist eine sehr farbenreiche, und die Hauptcharaktere sind in den Zwiespalt der Zeit hineingestellt und spiegeln ihn in ihren Empfindungen wieder. Die Heldin des Romans ist eine Hamburger Senatorstochter, welche den französischen Offizier Hippolyte d’Héricourt liebt. Das Verhältniß wird durch den Feldzug Napoleons nach Rußland unterbrochen; der alte Warburg unterschlägt alle Liebesbriefe seiner Tochter und diejenigen, welche von Rußlands Schlachtfeldern aus an sie einlaufen; daher Zweifel, Unglauben, Erkaltung zwischen den Liebenden, und als Warburg dem Bankerott nahe ist und nur durch einen jungen reichen Kaufmann, der um Minnas Hand wirbt, gerettet werden kann, opfert sich Minna und geht eine Ehe ohne Liebe ein. Die Zeichnung dieses Kaufmanns Theodor Billow ist vortrefflich; diese Finanzgröße voll Geldstolz, kleinlicher Gesinnung, Kaltherzigkeit, Gleichgültigkeit gegen die Interessen des Vaterlandes ist ein scharf umrissenes Charakterbild. Minna schenkt ihm einen Sohn, der bald darauf wieder stirbt. Sie hat sich den Hamburger Patrioten angeschlossen und muß viel Unwürdiges von der Franzosenherrschaft erdulden. Da sieht sie ihren Geliebten wieder; die alte Leidenschaft erfaßt sie; die Unterschlagung der Briefe kommt zu Tage. Dem Gatten hatte sie einen Absagebrief geschrieben, nachdem er in London, wo er sich aufhielt, kalt und roh die Kunde von der Geburt eines Sohnes aufgenommen; jenen Brief mit der Todesnachricht hatte er dort gar nicht mehr erhalten. Mit innerem Schwanken und Zögern nur wagt sich Minna, trotz ihrer glühenden Leidenschaft, dem französischen Offizier anzuvertrauen, der als ein edler Jünger Rousseaus, wenn er auch treu zu seiner Fahne hält, die Verwüstungen der Napoleonischen Kriegszüge verdammt. Ein Duell zwischen ihm und ihrem Bruder, einem hanseatischen Offizier und begeisterten Patrioten, sucht sie dadurch zu verhüten, daß sie auf das Schloß ihres Gatten zurückkehrt, den sie demnächst aus London erwartet.

Doch ein Meeressturm, den Spielhagen als meisterlicher Marinemaler schildert, verschlingt dicht an der Küste das Schiff, das ihn heimwärts trägt; aber auch d’Héricourt, der zur Rettung Billows ins Boot steigt, geht dabei zu Grunde. Dieser flüchtige Umriß der eigentlichen Begebenheiten des Romans muß aber lückenhaft erscheinen, da erst durch das vortrefflich geschilderte Seelenleben der Heldin die Linienführung ihre sich dem Verständniß voll erschließende Bedeutung erhält.

Man mag es eintönig finden, daß ein Motiv, wie die nicht an ihre Adresse gelangenden Briefe, sich auch in dem Verhältniß Minnas zu ihrem Gatten wiederholt; man mag ihren Gedanken, ein durch schwere Beleidigungen hervorgerufenes Duell dadurch zu verhüten, daß sie selbst sich gleichsam aus dem Wege räumt, nicht ganz stichhaltig finden: solche kleine Ausstellungen hindern nicht an der Anerkennung des Ganzen als eines aus dem Geiste der Zeit heraus geschaffenen Dichtwerkes, das reich ist an den Vorzügen, welche geistige Bedeutung und Kunst der Darstellung einer solchen Schöpfung verleihen.

Ganz in unsern neuesten Lebensverhältnissen spielt der Roman „Spitzen“ von Paul Lindau, der dritte jener Reihe von Romanen, die er unter dem Gesammttitel „Berlin“ erscheinen läßt (Stuttgart, Spemann). Der Verfasser hat sich mit den kriminalistischen Verhältnissen der Residenz, den Vorgängen in den Schwurgerichtssälen, dem Leben der Verbrecherwelt, den Eigenthümlichkeiten der Beamten, die sie zu überwachen und gelegentlich die Schuldigen zu ermitteln haben, ganz vertraut gemacht; wir erinnern uns, einige interessante Aufsätze von ihm über diese Themata gelesen zu haben. Aus solchen Studien ist sein neuer Roman erwachsen, der ein echter Berliner Kriminalroman ist. Die Grundlage der Handlung erinnert an Freytags „Valentine“ und an Victorien Sardous „Unsere braven Landleute“. Ein Edelmann, welcher den guten Ruf einer Dame schonen will, der durch das Bekanntwerden seines nächtlichen Besuches gefährdet werden müßte, schwört bei einem Prozeß, in den er als Zeuge mitverwickelt wird, einen Meineid. Es ist nämlich gleichzeitig mit seinem Besuch ein Einbruchsdiebstahl verübt worden, ganz wie in der „Valentine“, wo Saalfeld sich in ritterlicher Gesinnung selbst für den Dieb ausgiebt; nur statt der dort einbrechenden „Zigeuner“ sind es hier unehrliche Berliner Kinder. Zu den Hehlern und Hehlerinnen und in die Verbrecherspelunken führt uns der kundige Verfasser, der hier überall das richtige zutreffende Berliner Kolorit wählt. Jener Fürst, der den Meineid geschworen, wird, als er einen Erpressungsversuch zurückweist, kriminell angeklagt, aber doch von den Geschworenen freigesprochen. In diesem sehr eingehend dargestellten Prozeß zeigt der Verfasser seinen juristischen Scharfsinn; doch nach der Freisprechung erhält der junge Fürst eine Forderung von dem gekränkten Gatten und wird im Duell erschossen. Das alles ist spannend erzählt; doch warme Sympathien kann keiner der Hauptcharaktere erwecken, während die Gaunerei, die Spitzbubenkniffe, der Galgenhumor der Diebe und Hehler oft in drolliger Weise und mit großer Kenntniß der Nachtseiten des Berliner Lebens dargestellt sind.

In seinem nicht sehr umfangreichen Roman „Suam cuique“ (Leipzig, Karl Reißner) hat Ernst Wichert zu schildern versucht, daß ein Sprung über die Kluft der Stände oder vielmehr der Bildung bei der Wahl einer Lebensgefährtin nicht zum Heile gereiche, daß einem jeden die „Seine“ werden müsse, wie der Titel sagt. Ein junger reicher Baron, der zugleich ein Gelehrter ist und die akademische Carriere einschlagen will, verliebt sich in die schöne Zofe seiner Mutter und faßt den Entschluß, sie zu heirathen. Das Mädchen sträubt sich lange dagegen; die Familie sagt sich von dem Baron los, als die Verlobung öffentlich angezeigt wird; doch erst bei näherem Umgang mit der Braut lernt es der Baron erkennen, daß sie, in kleinbürgerlichen Verhältnissen und Anschauungen aufgewachsen, nicht zu ihm paßt, um so weniger, als sie in keiner Weise bildungsfähig ist; das Verhältniß löst sich wieder auf, als ein früherer Geliebter des Mädchens, der nach einem bestimmten Termin zurückkehren wollte, diesen Termin aber nicht eingehalten hatte, nun doch zurückkehrt. Der Baron aber heirathet eine hochgebildete, geistesverwandte Gutsnachbarin. Mit feinen Zügen der Seelenmalerei ist besonders die Zeit der Enttäuschung geschildert, in welcher das hübsche Mädchen so eigensinnig alle Versuche abwehrt, seine Bildung zu erhöhen.

Jedem das Seine – das gilt auch von der reichen Auswahl der neuen Unterhaltungslitteratur, mit deren Hauptwerken wir hier unsere Leser bekannt zu machen suchten. So mannigfach ist der Ton der Darstellung, so bunt aus allen Zeiten aufgegriffen sind die Stoffe, daß der verschiedenartigste Geschmack Befriedigung finden wird. Rudolf von Gottschall.




[216]

Die Achatindustrie in Oberstein.

Mit Illustrationen von R. Püttner und F. Kallmorgen.

Das Städtchen Oberstein an der Nahe ist recht malerisch gelegen. Das beweist jedem, der es nicht gesehen, die nachfolgende Schilderung einer alten Handschrift: „Oberstein liegt auf der Nah’; auf Oberstein liegt die Kirch’, auf der Kirch’ das Schloß, auf dem Schlosse der Weiher; auf dem Weiher liegt der Wald; auf dem Walde liegt eine Heid’, wo der Schäfer seine Lämmer weidt.“

Diese malerische Lage, welche der alte Chronist so anschaulich schildert, dürfte die Stadt mit vielen anderen Schwestern im Deutschen Reiche theilen, und ihretwegen wollen wir auch keineswegs mit den Lesern der „Gartenlaube“ Oberstein aufsuchen, sondern wegen eines anderen Vorzuges, den die Stadt dem regen Fleiß ihrer Bürger verdankt.

Schleifmühle im Idarthale.

Oberstein zählt nur 5000 Einwohner; trotzdem ist es ein weltberühmter Ort, ein Handels- und Fabrikationscentrum, von dem einzelne Fäden weit über die Marken Deutschlands reichen und beinahe die ganze civilisirte Welt umspinnen. Obersteiner Waare findet man fast überall: in allen europäischen Hauptstädten ist sie vertreten, in allen fashionablen und nicht fashionablen Kur- und Badeorten wird sie verkauft, Obersteiner Händler besuchen die Messe von Nishnei-Nowgorod, nach Oberstein kommen Kaufleute aus Amerika, Oberstein exportirt nach dem Kaukasus, nach Alexandria und Kairo, ja selbst Dakar – es liegt am Senegal – ist ein wichtiger Absatzort für Oberstein. Doch wir wollen uns kurz fassen und sagen: Oberstein und die noch kleinere Schwesterstadt Idar in dem oldenburgischen Fürstenthum Birkenfeld beherrschen den Weltmarkt in einem Industrieartikel, in allen den schönen und nützlichen Gegenständen, die aus Achat hergestellt werden.

Was Achat ist, weiß jeder unserer Leser, und er hat auch gehört, was aus diesem Halbedelsteine gemacht werden kann. Vor allem wird er an die kostbaren Gemmen und Kameen früherer Zeiten denken.

Heutzutage ist diese Art geschnittener Steine nicht sehr in Mode, wenigstens nicht so beliebt wie im alten Rom und Griechenland, und nicht so gesucht wie im 18. Jahrhundert, wo eine wahre Sammelwuth für Gemmen und Kameen herrschte und einzelne Sammlungen für Hunderttausende von Mark verkauft wurden. Aber ein Geschäft kann man auch heute noch mit den geschnittenen Steinen machen, und außerdem liefert der Achat zahlreiche Schmuck- und Gebrauchsgegenstände: Ringe, Broschen, Haarnadeln, Dosen, Vasen, Messer- und Gabelgriffe, Leuchter, Aschenbecher und Feuerzeuge, Rosenkränze und Schachspiele, Reibschalen für Chemiker, Falzbeine für Buchbinder und – Amulette für die Neger Innerafrikas.

Alle diese Gegenstände werden in Oberstein aus Achat hergestellt und zwar seit alten Zeiten; denn die ältesten Urkunden über die Obersteiner Achatindustrie reichen bis in das 15. Jahrhundert zurück, und in alten Meßberichten aus Leipzig und Frankfurt werden die Obersteiner Achathändler genannt. Ein Graf von Nassau-Saarbrücken, welcher in Bologna studirte, sah dort, so erzählt man, die Bearbeitung edler Steinarten, wie sie Italien vielfach besitzt. Da erinnerte er sich der Achatkugeln, welche die Nahe mit sich führte, unbeachtet und unverwerthet. Nach Hause zurückgekehrt, beeilte er sich, das, was er in der Ferne gesehen und gelernt, seinen Unterthanen mitzutheilen, und wurde so der Begründer eines blühenden Gewerbes. Früher verarbeitete man ausschließlich den einheimischen Stein, der in der Form von sogenannten Achatmandeln in dem Fürstenthum Birkenfeld sich vorfindet; im Jahre 1834 entdeckten jedoch Idarer Auswanderer in Uruguay große Lager von feinerem Achat, und jetzt wird derselbe in großen Massen nach Deutschland eingeführt und in Oberstein und Idar zu Fabrikationszwecken verwendet. – Um dieselbe Zeit wurde auch die schon den Römern bekannte Kunst des Steinfärbens durch Brennen und Beizen wesentlich vervollkommnet und die Achatindustrie nahm einen besondern Aufschwung. Augenblicklich giebt es im Fürstenthum Birkenfeld allein etwa 90 einfache und 25 doppelte Achatwerke mit 560 Schleifsteinen, und in allen den Werken herrscht ein lebendiges Treiben, welches selbst den Laien durch seine Eigenart fesselt.

Die Wasserkräfte des Idarbaches, der Nahe, des Fischbaches, des Schwollbaches, Siesbaches und anderer Wasserläufe der Gegend sind zum Betriebe der vielen Schleifmühlen benutzt.

Unsere nebenstehende Abbildung giebt eine Anschauung von einer solchen Mühle. Danach besteht die Schleiferei in einem kleinen einstöckigen Gebäude. Ein unterschlächtiges Wasserrad setzt die Schleifsteine aus festem, feinkörnigem Sandsteine, deren 4 bis 5 in scheitelrechter Lage auf einer Achse sitzen, in drehende Bewegung. Zwischen dem Wasserrade und der Achse befinden sich zwei Kammräder, welche die Umdrehungen vervielfältigen. Die Schleifsteine haben einen Durchmesser von 155 bis 170 Centimeter und eine Dicke von 36 Centimetern als Schleiffläche.

Die Geschwindigkeit der Umdrehung des Schleifsteines ist durchschnittlich dreimal in der Sekunde, also 180 Mal in der Minute, [217] somit 10 800 Mal in der Stunde. Die Schleifbahn legt daher an dem gegen dieselbe gehaltenen Schleifobjekte in der Stunde eine Strecke von 52 bis 58 Kilometer zurück. – Auf den Schleifflächen werden Hohl- und Rundkehlen mittels harter Stahlmeißel eingeschliffen, je nachdem dies die Form des zu schleifenden Achatsteines bedingt.

An den Schleifsteinen.

Die Schleifsteine dürfen keine Sprünge haben, weil die außerordentliche Schwungkraft dieselben leicht in Stücke zersprengt und dadurch das Leben der Arbeiter gefährdet. Die mit furchtbarer Gewalt herausgeschleuderten Stücke haben schon Arbeiter getödtet und verwundet und Wände und Fachwerk der Hütte zertrümmert. Sinnverwirrendes Geräusch macht sich beim Eintritt in eine in voller Arbeit befindliche Schleifstube bemerkbar. Sausend drehen sich die viele Centner schweren Schleifsteine an der Welle.

An jedem Schleifsteine können, wie unser Bild zeigt, zwei Schleifer gleichzeitig arbeiten, was unter Benutzung eines der Brustwölbung eines Mannes entsprechend ausgekehlten und an beiden Seiten für die Arme ausgeschnittenen Schemels in liegender Stellung geschieht. Die Arbeiter drücken in dieser Lage den zu schleifenden Achat entweder mit der Hand oder mittels eines an den Stein gekitteten Stäbchens fest an die durch einen stetig fließenden Wasserstrahl abgekühlte Schleifbahn, sich mit den Füßen gegen Querleisten stemmend, welche am Fußboden befestigt sind; nur in dieser Lage kann die ganze Körperkraft wirken. Die Arbeit hat aber in Verbindung mit den in die Lungen eindringenden, mit den feinen Abgängen des Schleifsteins und der Achate vermengten abgeschleuderten Wassertheilchen vielfach ein frühes Siechthum der Schleifer im Gefolge. Auch die unvermeidlichen Erkältungen in dem feuchten Schleifraume wirken ungünstig auf den Gesundheitsstand der Arbeiter.

Maschine zum Schneiden des Steines.

Sind die Achate geschliffen, so werden sie auf der Polirmaschine geglättet; dieselbe besteht aus einem Cylinder von hartem Holze, welcher mittels Treibriemen mit der Welle der Schleifsteine in Verbindung gebracht ist. Der zu polirende Stein wird einfach gegen den sich drehenden, mit Tripel bestrichenen Cylinder gedrückt.

Das Zerkleinern der Steine, welches früher höchst unzweckmäßig durch Zerschlagen mittels eines Hammers bewirkt wurde, wodurch eine Menge Rohmaterial unverwerthet in Abgang gebracht werden mußte, wird jetzt, wie dies unsere letzte Abbildung veranschaulicht, unter Verwendung einer sich drehenden Blechscheibe ausgeführt, deren äußere Kante, die Schneidefläche, sich beim Umdrehen mit einem Gemisch von Petroleum und Diamantstaub selbst bestreicht. Der zu schneidende Stein wird in einen klammerartig eingerichteten Hebel mittels Schrauben eingespannt und gegen die Schneidefläche gehalten.

Das Bohren der geschliffenen Achate geschieht unter Benutzung einer Stahlspitze mit eingesetzten Diamanten, oder von Messingröhrchen, die an dem bohrenden Ende mit durch Oel befeuchtetem Diamantstaube bestrichen werden. Die Stahlspitze, oder das Bohrrohr, wird mit einem Querholz nach Belieben stark angedrückt und durch die Schnur eines Fiedelbogens mit der Hand in kreisende Bewegung gesetzt.

Das Herstellen von Hohlgefäßen ist eine mühsame und langwierige Arbeit und bedarf großer Geschicklichkeit und Geduld.

Das Graviren der Steine wird auf einer Drehbank mit Fußbetrieb in der Weise vorgenommen, daß der zu schneidende Stein mit kunstgeübter Hand und sicherem Blick gegen eine an einer Achse kreisende Stahlspitze oder ein ganz dünnes Stahlrädchen gedrückt wird. Der Graveur bedient sich in der Regel geeigneter Vorbilder, aus Zeichnungen, Gipsabgüssen und sonstigen Abdrücken bestehend.

An die Achatschleiferei haben sich in Oberstein noch andere verwandte Industriezweige angeschlossen. So werden z. B. verschiedene optische Instrumente aus Bergkrystall geschnitten. Vor allem aber entwickelte sich in der Umgegend eine beachtenswerthe Metallschmuckfabrikation, die sogenannte Bijouterie fausse. Halbedelsteine braucht man nicht in gediegenes Gold zu fassen; Talmigold genügt in diesem Falle vollständig. Aber man darf auf die Herstellung des unechten Schmuckes nicht mit Geringschätzung herabblicken; sie beschäftigt mehr Hände und ernährt mehr Leute als die echte Goldschmiedekunst. Zählt doch der Bezirk Oberstein-Idar allein gegen 750 „Goldschmiede“ und verbraucht jährlich Edelmetalle für etwa 500 000 Mark.




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Ein nützliches Geburtstagsgeschenk.

Hygienische Plauderei von C. Falkenhorst.

Vor einiger Zeit mußte ich zu meiner Cousine, um ihrem Aeltesten, einem reizenden Buben von fünf Jahren, zu seinem Geburtstag zu gratuliren. Außer der „Eisenbahn“, die ich dem zukünftigen Techniker längst versprochen hatte, nahm ich auch eine „Düte“ mit, denn der Junge hatte prächtige Zähne, die wie Elfenbein zwischen den rothen Lippen hervorschauten.

Als ich in dem Geburtstagshause saß und ein Stück der unvermeidlichen Torte verzehren mußte, klingelte es an der Flurthür und das Dienstmädchen brachte ein Packet, welches der Postbote für den Kleinen abgegeben hatte. Obwohl es an Fränzchen adressirt war, öffneten wir selbst es und außer der Hauptsache, einer prachtvollen „Arche Noah“, fand die Mutter darin noch – – eine Zahnbürste!

Ich sah es meiner Cousine an, daß sie durch dieses Geschenk nicht gerade angenehm berührt wurde.

„Aber das ist doch eine sonderbare Art, uns an Reinlichkeitspflichten zu erinnern,“ sprach sie sichtlich verletzt, „was will nur der Onkel? Soll ich etwa schon jetzt Fränzchen die Zähne bürsten? … Und dieser Brief! Nein, ich habe wahrlich keine Zeit, ihn zu lesen!“

Ich aber nahm den Brief, las ihn mit Interesse, vergaß die Torte darüber und sagte: „natürlich, liebe Muhme, Du hast jetzt keine Zeit, ihn zu lesen. Schenk mir ihn, ich schicke ihn Dir gedruckt wieder.“

„Thue damit, was Du willst!“ lautete die Antwort, und da ich nun Eigenthümer des Briefes geworden bin und auch von dem Briefschreiber das Recht der Veröffentlichung erworben habe, so lasse ich ihn drucken zu Nutz und Frommen der Kinderwelt, zur Mahnung an die Mütter.

Der Brief lautet:

„Liebe Rosa! Außer der Arche Noah, in der so viele schreckliche Thiere enthalten sind, in welcher der Esel beinahe größer ist als der Elefant und das Kameel ebenso hoch wie das Pferd, außer dieser Arche, welche Fränzchen durchaus haben wollte, lege ich noch eine Kleinigkeit bei, welche ihm große Dienste erweisen und für die er mir danken wird in späteren Lebensjahren, wenn Du so verständig sein wirst, mein Geschenk anzunehmen und zu benutzen.

Als ich vor vierzehn Tagen bei Euch auf Besuch war, da habe ich bemerkt, daß sich an den blendend weißen Zähnen Deines Fränzchens ein grünlicher Belag zu bilden anfängt. Ich sah mir genau an, wie Du den Jungen abends zu Bett brachtest, nicht einmal, sondern wiederholt, und mußte bemerken, daß Deine mütterliche Liebe und Sorgfalt eines vergessen hat. Fränzchens Zähne.

Du bist wahrscheinlicherweise der Meinung, daß die Milchzähne der Kinder keiner besonderen Pflege bedürfen, da sie ja einmal ausfallen müssen. Das ist ein sehr bedauerlicher Irrthum. Die Milchzähne müssen gut erhalten werden, wenn später das Gebiß, das uns dauernd im Leben zu dienen bestimmt ist, gut wachsen soll.

Pessimisten haben zwar behauptet, daß die Menschheit ein besonderes Entwickelungsstadium durchmache und daß nach etwa dreitausend Jahren der Mensch zu haarlosen und zahnlosen Geschöpfen zählen werde, aber ich bin kein Pessimist und meine, man sollte durch richtige Pflege des Körpers alle derartigen Prophezeiungen Lügen strafen.

Ich glaube auch, daß die Zahnmisere der Menschheit vor allen. dem Umstande zuzuschreiben ist, daß wir unsere Zähne nicht richtig pflegen oder mit der Pflege derselben zu spät beginnen. Jüngst habe ich auch gelesen, daß es wünschenswerth wäre, die Zähne der Kinder mindestens zweimal im Jahre durch einen tüchtigen Zahnarzt untersuchen zu lassen. Der Rath ist wohlgemeint, aber ich versetzte mich dabei in die Wartezimmer unserer berühmten Dentisten und – ich mußte bedenklich den Kopf schütteln, denn, ganz abgesehen davon, daß bei vielen denn doch auch die Kostenfrage in Betracht kommt, die Herren Zahnärzte haben jüngst auf ihrem Kongreß selbst es ausgesprochen, daß im Deutschen Reich ein großer Mangel an Fachgenossen bestehen es sollen uns noch etwa fünfzehnhundert Zahnärzte fehlen. Ehe nun diese fehlenden fünfzehnhundert ihre Studien vollendet haben, werden gewiß noch Jahre vergehen, und so lange können wir nicht warten; wir müssen also zur Selbsthilfe greifen und selbst Mittel anwenden, unseren Kindern gesunde Zähne zu erhalten.

Ein solches Mittel habe ich Dir als Geburtstagsgeschenk für Fränzchen übermittelt. Merke, was ich Dir sage.

Unreinlichkeit ist der größte Feind unserer Zähne und es ist die Pflicht der Mutter, ihr Kind auch nach dieser Richtung hin an Reinlichkeit zu gewöhnen.

Die Zahnbürste gehört zu der Toilette des Kindes ebenso gut wie der Kamm, und je früher man das Kind anhält, seine Zähne rein zu erhalten, desto besser ist es. Jung gewohnt ist alt gethan, sagt ein altes Sprichwort, und das Kind, welches frühzeitig den Gebrauch der Zahnbürste gelernt hat, wird ihn im späteren Leben ebenso wenig unterlassen wie das Waschen der Hände und des Gesichtes.

Aber man muß die Zahnbürste auch richtig gebrauchen. Fahre Du mit derselben nicht quer in den Mund hinein, wie das andere thun denn Du wirst dabei alles das, was Du wegputzen willst, in die Zwischenräume der Zähne drangen und dabei vielleicht mehr Unheil anrichten, als wenn du die Zähne gar nicht geputzt hättest.

Die einzig richtige Art der Zahnreinigung ist, nach der Aussage einer Autorität, die, daß man die Bürste in der Richtung der Zähne selbst bewegt und zwar vom Zahnfleisch nach den Kauflächen hin. Man muß also nicht von rechts nach links im Munde herumfahren, sondern die oberen Zähne in der Richtung von oben nach unten und die unteren von unten nach oben bürsten.

Es ist allerdings etwas umständlicher, aber es ist eben einzig richtig.

Ich hoffe, liebe Rosa, daß Du von nun an allabendlich und jeden Morgen die Zahnbürste bei Fränzchen anwenden werdest. Dein Kind, der Junge, wird Dir später Dank dafür wissen, wenn andere die wüthendsten Zahnschmerzen zu ertragen haben und qualvolle Tage verbringen, während er noch in hohen Jahren, an der Grenze des Greisenalters, lustig Nüsse mit den Zähnen knacken wird.

Und vergiß ja nicht, dasselbe bei deinen Mädchen zu thun … Doch daran brauche ich Dich wohl nicht zu erinnern: die Mütter haben ja alle die sonderbare Ansicht, daß Zähne und Haare bei den Mädchen wichtiger sind als bei den Knaben.“ – –

Was da weiter in dem Briefe steht, das sind Anspielungen auf familiäre Zahnverhältnisse, welche für die Oeffentlichkeit nicht geeignet sind. Ich glaube aber, das Vorgehen des alten Onkels ist nachahmenswerth.




Blätter und Blüthen.

Das Erdprofil. Französische Gelehrte haben beschlossen, auf der diesjährigen „Weltausstellung“ in Paris einen Riesenglobus auszustellen, dessen Umfang 40 Meter und dessen Durchmesser 12,73 Meter betragen würde. In 24 Stunden soll sich dieser Globus einmal um seine Achse drehen. Ein solcher Globus, auf dem die Strecke von einem Millimeter einem Kilometer aus der Erde entspricht und auf dem Paris einen Fleck von etwa 1 qcm einnehmen würde, kann in der That in einzelnen Theilen eine richtige Anschauung von dem Relief der Erde geben, dem neugierigen Besucher deutlich vor Augen führen, wie winzig die höchsten Bergerhöhungen und die tiefsten Tiefen der Oceane im Vergleich zu der ganzen Erdmasse sind.

Um sich jedoch diese interessanten Verhältnisse klar zu vergegenwärtigen, braucht man nicht nach Paris zu gehen; in anderer und viel vollkommenerer Weise werden sie uns durch das Werk eines deutschen Forschers veranschaulicht, durch „Das Erdprofil“ von Hauptmann Ferdinand Lingg (Verlag von Pilory und Löhle in München). Wie würde wohl „der Erdapfel“ aussehen, wenn wir einen Schnitt durch denselben machen könnten. Welches Profil würde uns alsdann die Oberfläche der Erde zeigen, wenn wir uns vor die durchschnittene Erdhälfte hinstellten, wie zackig würden die Berge und die Meere erscheinen? Im Geiste können wir dieses Experiment wohl ausführen und den Durchschnitt durch Eintragung von bekannten Thatsachen beleben.

Schematisch sind schon solche Zusammenstellungen oft gegeben worden, und wir bringen in der beifolgenden Abbildung eine solche. In der Mitte der Tafel sehen wir eine Linie, die den Meeresspiegel darstellen soll. Ueber ihr sind, nach den Erdtheilen geordnet, die hervorragendste Berge der Erde eingetragen in dunkel schraffirten Gruppen. unter „Asien“ finden wir auch den höchsten ständig bewohnten Ort der Erde, Kloster Hánle in Kashmir in 4611 Metern Höhe angedeutet. Ueber dem Atlantischen Ocean schwebt ein Ballonzeichen, es bedeutet die höchste von den Luftschiffern erreichte Höhe. So hoch hat sich Glaisher am 5. September 1862 um 2 Uhr (30 Sekunden) nachmittags verstiegen. Um jene Zeit war es dort über den Wolken recht kalt, denn die Temperatur betrug −241/2° C. und der Luftdruck nur noch 175 mm, voraus die Höhe, bis zu der Glaisher aufgestiegen war, auf 11 272 Meter berechnet wurde. Er hat somit selbst den Adler, den König der Lüfte, und seine gefiederten Verwandten übertroffen, denn man nimmt an, daß der Kondor in den Anden mit 6300 Metern Höhe die Grenze des Vogelzuges erreicht. Hoch über diesen Zeichen sehen wir in der Mitte der Tafel noch eine Linie, welche die untere Grenze des Aufleuchtens der Sternschnuppen bezeichnet.

Unter dem Meeresspiegel zeigt der schraffirte Theil das räthselhafte Innere der Erde. Die dunkle breite Masse bildet nur einen Theil der Erdschale, denn im Vergleich zu den eingetragenen Bergeshöhen etc. ist sie nur 63,7 km tief, beträgt also den hundertsten Theil des Erdradius. Der Leser möge sich noch 199 solche schraffirte Streifen zu dem Bilde hinzudenken, dann wird er die Höhe des Gaurisankar mit dem Durchmesser der Erde vergleichen können.

Auch unter dem Meeresspiegel haben wir einiges eingetragen: zunächst die größten bisher gelotheten Tiefen der Oceane und namentlich die größte bekannte Meerestiefe, die Tuscaroratiefe im Großen Ocean in der Nähe von Japan, die 8513 Meter beträgt; ferner zwei winzige Striche, welche die Grenzen der menschlichen Wühlarbeit bedeuten. es sind dies das tiefste Bohrloch zu Schladebach, dessen Tiefe 1695 Meter[1] beträgt und auf dessen Grunde die Temperatur von 44° C. herrscht, sowie der tiefste Schacht, der etwa 1000 Meter tiefe Adalbertschacht zu Pribram in Böhmen. Noch tiefer vermag sich unser Geist zu versenken, wir können nach verschiedenartigen [219] Berechnungen einige Erdbebencentra eintragen – aber wir sind damit an der Grenze unseres Wissens angelangt und wir können nur vermuthen, daß tiefer unten im Erdinnern eine Zone des Schmelzflüssigen vorhanden ist und daß unter ihr in Tiefen, die auf unserer Tafel nichtmehr zu sehen sind, der Eisenkern der Erdkugel sich befindet. Unsere Skizze ist in Anbetracht des Raummangels und der wenigen willkürlich gewählten Eintragungen nur eine äußerst schwache Nachahmung eines wirklichen Erdprofils, und doch wirkt sie bereits in ihrer Einfachheit und Dürftigkeit in vielfacher Beziehung anregend.

Schematische Darstellung des Erdprofils.

Wenn wir aber anstatt dieser Skizze eine wirkliche Zeichnung des Erdprofils ausführen würden, wenn wir die Erde so mitten durchgeschnitten durch die beiden Pole und die Kaiserstadt Berlin uns dächten und dann auf diesem Durchschnitt alles das von Forschungsergebnissen eintragen würden, was der Fleiß der Gelehrten seit Jahrhunderten zusammengetragen hat, müßte nicht eine solche Abbildung des Erdprofils lehrreich im höchsten Grade sein? Eine solche Zeichnung würde gewiß ein förmliches Buch bilden, in dem wir Stunden und Tage lang studiren könnten und aus dem wir eine wirkliche Anschauung von der Größe und dem Bau der Erde erhalten müßten. Nun, eine solche Zeichnung bietet uns eben „Das Erdprofil“ von Ferdinand Lingg. Es umfaßt allerdings nicht den Durchschnitt der ganzen Erde Nordpol bis zum Südpol; denn was hätte wohl Ferdinand Lingg als Erdprofil am Nordpol oder mitten im „dunklen Welttheil“ eintragen können? Doch nur Vermuthungen, denn wir kennen noch so wenig von dem Planeten, auf dem wir wohnen, und nur einen sehr, sehr geringen Theil desselben haben wir wirklich wissenschaftlich erforscht.

Darum mußte sich Lingg Beschränkung auferlegen und giebt uns nur das Erdprofil der Zone von 31° bis 65° n. Br. und zwar in einer Linie, die von Drontheim in Norwegen über Berlin bis nach Tripolis reicht. Dieses Erdprofil bezieht sich aber gerade auf einen der bestdurchforschten Theile unserer Erde und giebt uns darum wahre Thatsachen. Wie in dem geplanten Pariser Globus sind auch hier die Maßverhältnisse derart, daß 1 mm der Zeichnung 1 km der Wirklichkeit entspricht.

Auf diesem Erdprofil ist nun eine überaus große Zahl von wichtigen Thatsachen eingetragen, welche sich auf den Bau der Mutter Erde und ihre atmosphärische Hülle beziehen.

Jeder Naturfreund, nicht nur der Fachmann, wird diese eigenartige Leistung mit Freuden begrüßen und aus ihr die überraschendste Belehrung schöpfen können. Für denjenigen, der mit den Elementen der Erdkunde bereits vertraut ist, ist das „Erdprofil“ Linggs ein ausgezeichnetes Selbstbildungsmittel, welches ihn aufs nachhaltigste zu weiteren Studien anregen wird. *

Eine seltene Geburtstagsfeier. Deutschland ist in unsern Tagen das Land der wunderbaren Greise, auf welche das Bibelwort: „Des Menschen Leben währt siebzig Jahre“ keine Anwendung zu haben scheint. Bis weit über diese Grenze standen Kaiser Wilhelm und der Historiker Ranke in voller Thätigkeit, stehen heute noch Moltke und Bismarck, ihnen gesellt sich als Nestor der hochgefeierte Gelehrte Professor v. Döllinger, der vor kurzem in voller Rüstigkeit und Geistesfrische den neunzigsten Geburtstag feierte. Wer seine schlanke, kaum etwas gebückte Figur in schnellem Schritt über die Straße gehen sieht, wird ein so hohes Alter nicht für möglich halten. Döllinger macht seinen täglichen Spaziergang von zwei Stunden in jedem Wetter, arbeitet auf der Bibliothek und an seinem Schreibtisch, wie jeder jüngere Gelehrte, und hält jährlich zweimal seine großen Reden als Präsident der Akademie, wobei der Neunzigjährige, anderthalb Stunden vor dem Pulte stehend, mit klarer, durch den ganzen Saal vernehmbarer Stimme spricht, während sein Haupt, wenn auch nicht mehr ohne Silberfäden, wie noch vor wenig Jahren, doch noch entschieden braun über die weißen Häupter der viel Jüngeren im Kreise emporragt. Selbst diejenige Altersspur, die sonst die rüstigsten Greise ertragen müssen, ist ihm erspart: sein Gedächtniß blieb unverändert in jugendlicher Frische, und der Mann, welcher aus persönlicher Anschauung über Napoleon I. sprechen kann, er erinnert sich zugleich jedes Namens und jeder Jahreszahl der Weltgeschichte mit einer erstaunlichen Schärfe und Klarheit. Die in zahlloser Fülle von allen Seiten beiströmenden Huldigungen zu seinem neunzigsten Geburtstag haben gezeigt, daß Deutschland die hohe Bedeutung des Gefeierten voll erkennt, dessen erstaunliche Frische ihm alle Anwartschaft auf die Centenarfeier im Jahre 99 giebt. Br.

Papa und Mama. „Ich bin eine deutsche Frau, nenne mich Mutter, mein Kind!“ So hörte ich einmal eine Mutter gegen das Wörtchen „Mama“ eifern. Als ob „Mama“ und „Papa“ Fremdwörter wären! Was sagt die Forschung dazu? Einige Gelehrten leiten den Ursprung der ersten Worte, mit denen wir unsere Eltern bezeichnen, vom Sanskrit ab. Das Wort „Mutter“ (im Sanskrit matâ) wird von ihnen auf eine Wurzel „ma“, die „bilden“ bedeutet, zurückgeführt, so daß Mama soviel wie die Bildnerin des Kindes heißen würde. Der andere Laut „Papa“ wird mit der Wurzel „pa“ = beschützen, unterhalten, ernähren in Verbindung gebracht. Wie interessant auch diese Ausführungen sind, so werden sie doch nicht allgemein anerkannt; denn nicht nur die Völker des indogermanischen Stammes bezeichnen ihre Eltern mit „Papa“ und „Mama“, sondern man findet diesen Brauch bei fast allen Völkern der Erde. „Mama“, „Imama“, „Himama“, „Pa“, „Baba“ und „Papa“ rufen die Negerkinder; „Amama“ und „Ababa“ heißen die Eltern bei den Eskimos der Hudsonsbai etc. Aus diesem Grunde dürfte die physiologische Erklärung der beiden Wörter zutreffender sein als die sprachgeschichtliche.

Die Physiologie, die sich in den letzten Jahrzehnten vielfach mit der Beobachtung der ersten Entwickelung des Kindes beschäftigt hat, weist nach, daß bei fast allen Kindern unter den Selbstlautern zuerst a, von den Mitlautern dagegen zuerst b, p und m von dem Kinde gebildet werden, so daß die Silben ba, pa und ma als Lallworte des Kindes gelten müssen. „Das lallende Kind,“ schreibt H. Ploß, „hat verschiedene Stufen des Sprachverständnisses zu ersteigen; denn es muß zunächst die Erfahrung erwerben, daß bei ma- oder ba-Uebungen entweder die Eltern herbeikommen oder den gegenwärtigen Freude bereitet wird. Dann erst wird der Laut von dem Kinde absichtsvoll geäußert; aber erst viel später und nicht ohne entgegenkommende Bemühung der Eltern gelingt es endlich, daß der eine Laut für den Vater, der andere für die Mutter als Lockruf angewendet wird. Monate, ja Jahre verstreichen, ehe hierauf die Erkenntniß durchbricht, daß ‚Mama‘ und ‚Papa‘ nicht Eigennamen sind, sondern für die [220] Kinder zunächst die Ernährer und Erzieher bezeichnen.“[WS 1] Die Lallworte „Papa“, „Baba“ und auch „Dada“, „Tata“ sowie „Mama“ sind uns so zu sagen von der Natur eingegeben, ihre Beziehung auf Vater und Mutter aber willkürlich festgestellt. So wird z. B. in Georgien „Mama“ für Vater und „Dada“ für Mutter, bei den Tuluva „Amme“ für Vater und „Appe“ für Mutter, in Chilian „Papa“ für Mutter etc. gebraucht.

So sind die Worte „Papa“ und „Mama“ weder deutsch noch französisch, sie sind international wie kaum irgend ein anderes Wort auf Erden – allgemein menschlich, kann man fast sagen. *

Gesundheitszeichen der Stubenvögel. Wer ein Vogelliebhaber ist, sich mit Pflege und Zucht von Vögeln befaßt, der kennt auch die Grundzüge der Stubenvogelpflege und weiß wohl, worauf er beim Einkauf der Vögel zu achten hat. Viele aber halten sich nur ein Vöglein oder kaufen Vögel ein, um sie zu verschenken und andern damit Freude zu bereiten. Die meisten haben dabei keine Ahnung, wie sie den Vogel beurtheilen sollen, und müssen einfach dem Händler vertrauen. Es dürfte ihnen darum erwünscht sein, die wichtigsten Gesundheitszeichen eines Vogels kennen zu lernen.

Einer unserer besten und hervorragendsten Vogelkundigen, Dr. Karl Ruß, faßt diese in folgender Weise zusammen:

„Jeder Vogel muß munter und frisch aussehen, seine natürliche Lebhaftigkeit und ein glatt und schmuck anliegendes, besonders am Unterleibe nicht beschmutztes Gefieder, ferner klare und lebhafte, nicht trübe und matte Augen, nicht schmutzige, nasse oder verklebte Nasenlöcher, keinen spitz hervortretenden Brustknochen, auch keinen tief eingefallenen weißfarbigen oder aufgetriebenen, entzündlichrothen Unterleib haben; er darf nicht traurig, bewegungslos und in struppigem oder aufgeblähtem Gefieder dasitzen, in der Ruhe nicht kurzathmig sein und namentlich nicht zeitweise einen schmatzenden Ton hören lassen; letzterer zeigt, vornehmlich bei Papageien und Finkenvögeln, immer Lungenentzündung an. Abgestoßenes Gefieder, mangelhafter Schwanz und argbeschmutzte Federn bergen, wenn die angegebenen Gesundheitszeichen nicht fehlen, keine Gefahr, vorzüglich bei wildstürmischen Wurmvögeln, bei denen als das sicherste Kennzeichen der Gesundheit die Körperfülle zu beachten ist, während Magerkeit bei ihnen immer verdächtig erscheint und sogar bei allen übrigen Gesundheitszeichen doch stets sorgfältige Pflege erfordert.“

Wir entnehmen diese Zusammenfassung dem trefflichen Werke „Lehrbuch der Stubenvogelpflege, -Abrichtung und -Zucht“ von Dr. Karl Ruß, das soeben in Lieferungen von der Creutzschen Verlagsbuchhandlung in Magdeburg herausgegeben wird und die wärmste Empfehlung verdient. *

Als Zimmerpflanzen und zur Ausschmückung des Balkons, auch der Veranda, wo solche vorhanden, bieten die sogenannten Sommergewächse eine großartige Auswahl, wie an dieser Stelle schon im vorigen Monat angedeutet wurde; es giebt in der Form von Stengeln, Blättern und Blüthen, in der Pracht und im Glanz der Farben ihrer Blumen, bei vielen auch im Wohlgeruch kaum ihresgleichen. Der Liebhaber wird die Samen in Cigarrenkisten oder Samenschalen säen, die zuerst mit einer Lage von Topfscherben zu versehen sind zu leichterem Abzug überflüssigen Wassers, wonach gute aber sandige Erde aufgeschüttet wird; diese Saatgefäße pflegt man in Untersätze zu stellen, welche das unten abfließende Wasser aufnehmen; sie sind aber desselben bald zu entledigen, weil es sonst wieder in das Saatgefäß zieht, wodurch die Erde in demselben allzu naß werden könnte. Sobald die Sämlinge groß genug geworden, müssen sie, was hier zu wiederholen ist, in andere Gefäße auseinander gepflanzt oder verstopft (pikirt) werden, wobei man ihnen die Wurzelspitzen abkneipt, damit sie zur Bildung von Seitenwurzeln gezwungen werden, die zum kräftigen Weiterwachsen der Pflanze unentbehrlich sind. Man kann dem zuvorkommen, wenn man nach dem Beispiel der Nordamerikaner 2 cm unter der Bodenoberfläche eine 2 cm starke Schicht fein gehackten Mooses unterbringt, in welchem sich die Wurzeln verbreiten, sobald sie dahin kommen; beim Verpflanzen ist der Pfahlwurzel ein Klümpchen Moos an den bereits gebildeten Seitenwurzeln angehängt und das Entspitzen ist überflüssig.

Professor Nobbe in Tharandt hat nach mehrjährigen vergleichenden Versuchen festgestellt, daß die am besten, beziehungsweise stärksten ausgebildeten Samen nicht allein zuerst keimen, sondern auch da, wo gefüllte Blumen erwartet werden, diese in den starken Sämlingen sicherer entstehen, als aus denen von schwachen und schwerkeimenden Samen. Bei Sommerlevkojen geben die Keimlinge des ersten Tages ausnahmslos gefüllte, die des zweiten Tages einige, die des achten oder letzten Tages nur einfache Blumen. Der Liebhaber wird also beim Verstopfen solcher Sämlinge, die gefüllte Blumen bringen sollen, nur die des ersten, vielleicht auch des zweiten Keimtages benutzen, die anderen aber wegwerfen, wenn er sie nicht zur Samenzucht verwenden will. Die nach dem Verstopfen genügend stark gewordenen Sämlinge sind, wenn sie sich allzu sehr drängen, einzeln in kleine, später noch in größere Töpfe mit geeigneter Erde zu versetzen.

Von wohlriechenden Blumen ist vor anderen die Reseda zu erwähnen; aber ihre Behandlung ist von der eben beschriebenen verschieden. Man streut einige Samenkörner einer der neueren Prachtsorten auf die sandige Mistbeeterde eines 10 cm weiten Topfes, bedeckt sie mit wenig Erde und drückt sie fest. Von den Keimlingen werden nach und nach alle, mit Ausnahme des in der Mitte stehenden, verzogen; dieser entwickelt sich unter aufmerksamer Pflege zu einem hübschen Strauch oder Bäumchen und hält sich mehrere Jahre. Aehnlich kann man den stark nach Moschus duftenden Mimulus moschatus behandeln, der sich auch leicht durch Stecklinge anziehen läßt. Leider erlaubt der knapp zugemessene Raum nicht, aus der großen Anzahl schöner Sommergewächse weitere auszusuchen und zu besprechen; der Liebhaber wird sich bei der Auswahl auf seinen Samenhändler verlassen müssen.

Ungefähr 15 cm lange junge Triebe von Oleander setzt man als Stecklinge in Medizingläser mit Wasser und hält sie warm; sie bewurzeln sich bald, werden dann herausgezogen und in passende Töpfchen gesetzt und geben so niedliche, noch lange blühende Pflanzen. – Die Krone der Ananas, unten glatt geschnitten, abgetrocknet und dann in ein Glas mit Wasser gesteckt, welches, je nachdem es verdunstet, ersetzt werden muß, und welchem man zweimal in der Woche einen Theelöffel geruchlosen Blumendüngers beigeben sollte, entwickelt eine kleine gewürzhafte Frucht, immerhin groß genug zur Bereitung des bekannten und beliebten Getränks für eine gemüthliche, aber nicht zu große Gesellschaft. O. H.

Von der illustrirten Marlitt-Ausgabe, welche in kürzester Zeit eine ganz außerordentliche Verbreitung gefunden hat, liegen jetzt 24 Lieferungen vor. Mit der 23sten schließt der Roman „Reichsgräfin Gisela“, mit der 24sten beginnt die Erzählung „Im Schillingshof“. Die Verlagshandlung (Ernst Keils Nachfolger in Leipzig) ist auch dem Wunsche derjenigen Leser nachgekommen, welche statt der einzelnen Lieferungen lieber vollständige Bände zu beziehen wünschen. Die ersten drei Bände, „Das Geheimniß der alten Mamsell“, „Das Heideprinzeßchen“ und „Reichsgräfin Gisela“, sind bisher erschienen (der Band zum Preise von 3 Mark, elegant gebunden 4 Mark). Vierteljährlich wird je ein weiterer Band sich anreihen. Das überaus große Lesepublikum, dessen sich die beliebte Romanschriftstellerin immer rühmen durfte, ist durch diese hübsche und billige Gesammtausgabe sicher noch erweitert worden.

Schach-Aufgabe Nr. 1.
Von G. Chocholous in Bodenbach.

SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Kleiner Briefkasten.

Fräulein Margarethe in Wien. Die Auslösung der scherzhaften Räthselfrage (im Briefkasten der Nr. 5) ist: 20 Pfund, 10 und noch einmal 10, die Hälfte des Gewichtes.

L. M. in Berlin. Es ist auch uns unerfindlich, aus welchen Artikeln der „Gartenlaube“ Herr Pastor Müller in Bliesendorf zu seinem Glauben an die übernatürlichen Ursachen des lächerlichen „Spukes von Resau“ gekommen sein will?! Die „Gartenlaube“ hat es ja, wie allseitig bekannt, stets als ihre Aufgabe betrachtet, gegen jede Art von Aberglauben Front zu machen. Und hier liegt vollends ein ganz handgreiflicher Unfug und Schwindel vor, wie aus den Verhandlungen vor der Potsdamer Strafkammer deutlich hervorgeht! Vielleicht kommen wir auf diese Angelegenheit noch zurück, wenn es sich nach näherer Kenntnißnahme überhaupt der Mühe verlohnt.

Franz R… in Berlin. Ihre Klage über die zur Beleuchtung der Hotelzimmer dienenden Kerzen, „deren hoher Preis nur noch durch die völlige Unbrauchbarkeit bei etwaigem Arbeiten übertroffen wird“ können wir Zeile für Zeile unterschreiben. Nicht allein, daß die Kerzen ungenügende Helle verbreiten, daß die Flamme fortwährend flackert und bei schriftlichen Arbeiten die Buchstaben auf dem Papiere gleichsam tanzen läßt; schädlich ist vor allem auch, daß der Winkel, aus welchem das Licht einfällt, bei der bald längern, bald kürzern Kerze fortdauernd verschieden ist. Wie aber Abhilfe schaffen? Für jeden, der häufig auf Reisen ist, dürfte sich eine Patentreiselampe der Firma Schuster & Baer in Berlin als praktisch erweisen. Dieselbe ist, bis auf den Cylinder, ganz von vernickeltem Messingblech und so eingerichtet, daß sie sich, gefüllt, leicht in einen Blechbehälter geringen Umfanges packen und überall hin mitführen läßt. In wenigen Minuten ist sie auseinander genommen oder zusammengestellt, und sie giebt für schriftliche Arbeiten das ruhige, stets aus demselben Winkel einfallende helle Licht, welches für die Schonung der Augen so dringend zu wünschen ist.

Theodor J. in W. Als Auskunft auf Ihre Anfrage bezüglich der Sodener Mineralpastillen dient am besten die Bekanntmachung, welche der Ortsgesundheitsrath zu Karlsruhe in Baden ganz kürzlich erlassen hat. Dieselbe sagt: „Durch hiesige Zeitungen werden in letzter Zeit sehr häufig die Sodener Mineralpastillen als Heilmittel gegen Lungen- und Kehlkopfschwindsucht marktschreierisch angepriesen. Dieser bedauernswerthen Reklame gegenüber muß darauf hingewiesen werden, daß die Pastillen zwar bei gewöhnlichen katarrhalischen Beschwerden den natürlichen Heilungsprozeß mehr oder weniger unterstützen können, daß der alleinige Gebrauch derselben aber niemals eine ernstere Erkrankung der Lungen oder des Kehlkopfs zu heilen vermag. Auch die weiterhin den Sodener Mineralpastillen zugeschriebene Wirkung, als Vorbeugungsmittel gegen die Ansteckung mit Diphtheritis zu dienen, kommt denselben nicht zu.“

Eine Fragelustige. Wann das Taschentuch in Gebrauch kam?! Genau zu beantworten ist diese Frage nicht, aber jedenfalls lautet die Auskunft: Spät, viel später, als Sie wohl annehmen. Das Alterthum weiß nichts davon, auch die mittelalterlichen „Schweißtücher“ waren goldgestickte Prunkstücke, die nicht zum eigentlichen Gebrauch herangezogen wurden. Das wirkliche Taschen- und Nastuch von weißer Leinwand brach sich langsam von Italien her Bahn in Deutschland, und erst im 16. Jahrhundert wurde es zum Gemeingut der vornehmeren Stände. Sein heute noch in manchen deutschen Gegenden bestehender Name „Facilettlein“ (von facialis, Schweißtuch) spricht deutlich genug für die ausländische Herkunft!


Inhalt: Lore von Tollen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 201. – Ein stolzes Fahrzeug. Illustration. S. 201. – Die Pilatusbahn. Von J. Hardmeyer. S. 206. Mit Illustration S. 204 und 205. – „Mein Vater lebt noch!“ Gedicht von Hermann Köhler. S. 208. – Auf der Hallig. Von Helene Pichler. S. 208. – Traumverloren. Illustration. S. 209. – Neue Romane. Von Rudolf v. Gottschall. S. 214. – Die Achatindustrie in Oberstein. S. 216. Mit Illustrationen S. 213, 216 und 217. – Ein nützliches Geburtstagsgeschenk. Hygienische Plauderei von C. Falkenhorst. S. 218. – Blätter und Blüthen: Das Erdprofil. S. 218. Mit Abbildung S. 219. – Eine seltene Geburtstagsfeier. S. 219. – Papa und Mama. S. 219. – Gesundheitszeichen der Stubenvögel. S. 220. – Zimmerpflanzen. S. 220. – Die illustrirte Marlittausgabe. S. 220. – Schach-Aufgabe Nr. 1. S. 220. – Kleiner Briefkasten. S. 220.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaklion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Neuerdings wird diese Tiefe mit 1716 Metern angegeben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. H. Ploss: Das Kind in Brauch und Sitte der Völker, 2. Auflage, Band 2, Berlin 1882, S. 280 Internet Archive