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Die Gartenlaube (1887)/Heft 47

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[773]

No. 47.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Die Geheimräthin.

Novelle von Hieronymus Lorm.
(Fortsetzung.)

Als Brigitta allein war, erhob sie sich nicht von ihrem Sitze. Die Arme von sich gestreckt, die Finger in einander geschlungen, als ob sie bewegungslos die Hände gerungen hätte, wiederholte sie sich im Innern unaufhörlich, daß die Tochter Glowerstone’s während der ganzen langen Zeit, in der sie heimlich vor dem Unbekannten gebebt hatte, in der That kein Gespenst war, daß sie leibhaftig Abend für Abend dem Manne gegenüber gesessen haben mußte, der es geleugnet hatte.

Nein! er hatte keine Lüge gesagt, keine einzige Lüge. Was war es doch, wodurch sie sich am letzten Sonntage, als die Angelegenheit zum ersten Male zwischen ihr und Siegfried ganz zur Sprache gekommen war, so tief beruhigt, so völlig beglückt gefühlt hatte? Was war es doch? Er hatte ihr gesagt, Albert Glowerstone hätte hier in einem Hotel gewohnt wie ein Junggeselle, und keiner seiner Angehörigen sei bei ihm gewesen. Ja, das war auch die volle Wahrheit; nur lag heimlich in ihr eingeschlossen die perfideste Lüge.

Brigitta sprang auf. Sie wollte es sich nicht gefallen lassen. Sie hatte jetzt jahrelang dieses Glück behütet und bewacht, gepflegt und geliebkost wie eine Mutter ihren Säugling. Sollte sie es sich entreißen lassen? Eher ihr Augenlicht! Ihr gehörte er an, ihr allein. Tag für Tag hatte sie von Neuem um ihn geworben, stumm zwar, ohne die Phrasen und ohne die Zeichen der Leidenschaft, der thörichten Verliebtheit, aber mit dem Opfer, mit der Hingebung ihres ganzen Seelenlebens. Hohnlachend war von ihr, die an der Seite ihres Mannes nicht gelebt hatte, jede Verlockung zurückgestoßen worden, sich in eine Existenz zu bringen, die ihrer Person, ihrer Schönheit gebührte. Ihm hatte sie sich aufbehalten, beglückt schon dadurch, daß sie mit Gewißheit den Bund mit ihm erwarten durfte. Sollte er das Recht haben, ihr die Brust zu zerreißen, als ob die Krallen eines Raubvogels sie gepackt hätten? Sie wollte sich wehren; kein Unrecht, kein Verbrechen durfte an ihr begangen werden. Aber giebt es ein Recht, existirt ein Gesetzbuch für die Liebe, sitzt ein Richter auf dem Forum, um über die Irrgänge, die Schleichwege falscher Herzen ein Urtheil zu fällen, eine Strafe zu verhängen? War sie nicht verlassen und ohnmächtig?

Sie warf sich auf das Sofa, in dessen Kissen sie ihr Gesicht vergrub, bis ihren Augen heiß und gewaltsam die Thränen entströmten. Aber nicht lange, so stand sie wieder aufrecht, zum Aeußersten entschlossen.

Er ist bei ihr, sagte sie sich, er wirbt um sie; ich will sie von einander reißen. Der Tag darf nicht kommen, an welchem sie sich die Seine in der Zukunft glauben könnte. Was liegt mir noch an meinem Leben, wenn ich ihn nicht zu meinen Füßen zurückführe, und es sollte mir an Ruf und Schicklichkeit noch etwas gelegen sein?

Still faßte sie ihre Gedanken zusammen, nachdenkend saß sie an ihrem Schreibtisch. Heute noch mußte etwas geschehen; sie mußte zu handeln beginnen;


Die Rekruten. 0 Originalzeichnung von J. R. Wehle.


[774] unthätig, ein gebundenes Lamm, wollte sie sich nicht schlachten lassen.

Kaum hatte Perser seine Zimmer betreten, als das erwartete Telegramm eintraf. Er machte sich am nächsten Morgen bereit, das Haus zu verlassen, wieder den kleinen Handkoffer und den Plaid zu sich nehmend. Früher wollte er noch mit der Kammerfrau Elise eine Abrechnung treffen, um seine bisherige Benützung des Quartiers zu begleichen. Eben als er Elise rufen wollte, kam sie selbst, und bei der ersten bezüglichen Bemerkung erklärte sie, den Auftrag zu haben, nichts von dieser Art mit dem Baron zu verhandeln, da ihn die Geheimräthin ausdrücklich als ihren Gast betrachtet haben wollte. Nicht um diese Botschaft zu bringen, sei Elise herübergekommen, wie sie sagte, sondern um ihn zu bitten, vor seinem Weggehen noch einmal vor der Geheimräthin zu erscheinen.

Erwartungsvollen Gemüthes trat Perser bei Brigitta ein. Das weiße Morgengewand stimmte zu dem leidenden Ausdruck der ganzen Erscheinung.

„Ich habe Sie noch einmal sprechen wollen, Herr Baron,“ begann sie zögernd, „weil ich – es wird so viel um mich her von Reisen gesprochen; ich habe selbst die Absicht, eine Reise anzutreten oder wenigstens für die Zukunft einen andern Aufenthalt zu suchen. Es ist Alles noch im Unklaren, aber –“

Perser, der wohl die Verwirrung bemerkte, in welcher sich die Gedanken Brigitta’s befanden, jedoch nicht wußte, auf welche Weise er ihr helfend entgegenkommen könnte, ließ ihr Zeit, sich zu sammeln, indem er seine Blicke aufmerksam auf eine Kreidezeichnung richtete, die in seiner Nähe lag. Es war ein Portrait, dessen Original er gesehen zu haben glaubte, ohne sich desselben bestimmt erinnern zu können. Inzwischen war Brigitta ruhiger geworden und setzte ihm ein sonderbares Anliegen aus einander.

Sie hätte, wie sie sagte, eine unwiderstehliche Neigung, im nächsten Frühling nach dem Rheine zu gehen, möchte sich aber früher dort ankaufen, um nicht in Miethe bei fremden Leuten zu sein. Es wären nun, wie sie erfahren hätte, gerade in der nächsten Umgebung des kleinen Besitzthums von Glowerstone Villen, Schlösser, Häuser, oder was immer für Sommerwohnungen zum Kaufe ausgeboten, und wenn sich dies bewahrheiten sollte, wenn Perser dort ein Haus fände, das ihm für sie geeignet erschiene, so möchte er ihr sogleich davon Meldung thun. Sie würde augenblicklich dahin abgehen, um das bezeichnete Besitzthum in Augenschein zu nehmen.

Perser erklärte sich natürlich mit Vergnügen dazu bereit; aber es schien, als ob dadurch nicht völlig erreicht wäre, was sie wünschte. Sie rang sichtlich mit dem Bestreben, sich ganz verständlich zu machen, ohne eine verborgen gehaltene Absicht zu verrathen.

„Ich muß Sie noch bitten … es wird Ihnen seltsam erscheinen, aber manchmal beherrscht mich, wie vielleicht jede Frau, eine Laune so gewaltig, daß ich keine Hindernisse, keine Unmöglichkeit einsehe, wenn ich die Laune befriedigen will. Mir ist es hauptsächlich darum zu thun, sobald es nur immer geschehen kann, bestimmt zu erfahren, daß ein solches Domicil wirklich und wahrhaftig zum Kaufe angeboten sei. Es ist doch dann ganz natürlich, daß ich mich dahin begebe, es kann ja darin nichts Auffallendes liegen. Es kommt mir also darauf an, um es mit einem Wort zu sagen, daß die Angelegenheit außerordentlich beeilt werde, ja ich bin so maßlos unbescheiden, den Anspruch zu erheben, daß dies Ihre erste Sorge dort sei. Sobald Sie nur irgend Passendes gefunden zu haben glauben, dann telegraphiren Sie sogleich, nicht wahr? Und noch Eins! Sobald Sie dies gethan haben, sagen Sie auch Ihrer ganzen Umgebung, Glowerstone, der Gräfin, wenn Sie wollen, daß ich auf dem Wege bin, daß ich sogleich eintreffen werde und aus welchem Grunde. Daran liegt mir viel.“

Perser gab die Zusicherung, früher noch zu Glowerstone, der über verkäufliche Besitzthümer in seiner Gegend unterrichtet sein mußte, als nach Wiesbaden zu gehen, und Brigitta entließ ihn mit freundlicherem Gesichtsausdruck als am Tage vorher.




8.

Siegfried Malköhne war inzwischen in Wiesbaden eingetroffen. Sein Verhalten zu Brigitta bewegte sich auf jener schmalen Linie zwischen Wahrheit und Täuschung, wie sie nicht bloß ein Diplomat in schwierigen Fällen zu wählen hat, sondern wie sie sich auch gewöhnlichen Sterblichen als nothwendig aufdrängt, sobald Leidenschaft und Gewissen mit einander in Streit kommen. Die politische Angelegenheit, die ihm eine Verständigung mit dem politischen Agenten in Wiesbaden, ja den Versuch, ihn zu gewinnen, zur Aufgabe gemacht, war durchaus in der Wirklichkeit begründet, und er hatte in der umständlichen Auseinandersetzung dieser Angelegenheit zu Brigitta kein falsches Wort gesagt. Verschwiegen hatte er der Geliebten nur das Einzige, daß er zugleich mit seiner amtlichen Mission eine ihn selbst betreffende verfolgte; verschwiegen hatte er die Anwesenheit Edith’s, ja die Existenz der schönen Tochter Glowerstone’s und sein ernsthaftes Interesse für sie.

In der ersten Zeit seiner Aufmerksamkeit auf das wunderbar geartete Mädchen hatte er sich selbst allerlei vernünftige Reden gehalten, um sich zu beweisen, daß es Pflicht für ihn sei, heilige Familienpflicht, eine Ehe mit Brigitta für unmöglich zu halten. Sein Vater, ja selbst sein Minister, hätte ihm die Verbindung mit einer zehn Jahre älteren Frau niemals verziehen, und ganz unüberwindlich wären plötzlich die Schwierigkeiten geworden, die Verbindung trotz alledem durchzusetzen. Warum sollte er Brigitta durch die Darstellung dieser nicht zu besiegenden Hindernisse kränken und verwunden, so lange er überhaupt noch ledig bleiben und sie hoffen lassen konnte?

Es ist wahr, er hätte niemals von sich selbst geglaubt, daß er einst von dem Gedanken, sie zu seinem Weibe zu machen, ablassen würde. Wie es nun mit einem Male dennoch geschehen war, das wußte er nicht deutlich; nur fühlte er eines Tages, daß er ohne die Begegnung mit Edith nicht so schmerzlos zu der Trennung von dem jahrelang gehegten Gedanken gekommen wäre. Allmählich kam es dahin, daß er nicht einmal mehr begreifen konnte, wie er jenen Gedanken jemals hatte hegen können. Da er indessen nicht lügen und betrügen wollte, so würde er einen plötzlichen Bruch, eine brutale Ankündigung, daß die Vergangenheit ein Ende genommen, Brigitta gegenüber nicht gescheut haben, wäre er nur über die Handlungsweise, die er nach diesem Bekenntniß einschlagen sollte, im Klaren gewesen.

Dazu fehlte aber vor allem eine Verständigung mit Edith. Er hatte niemals Gelegenheit, diesem Mädchen gegenüber aus den konventionellen Formen herauszutreten. Wäre dies aber selbst geschehen, welche Befriedigung hätte er daraus zu ziehen vermocht?

Denn die Scheu, die er schon seit Jahren allen Partien gegenüber gehegt, die man ihm als passende vorgeschlagen hatte, die Furcht, der Millionen seines Vaters wegen geheirathet zu werden, ein Gedanke, der viel dazu beigetragen hatte, seinen Bund mit Brigitta zu festigen, diese Scheu und Furcht beherrschten ihn auch Edith gegenüber. Gewiß war sie als eine Fremde in seine materiellen Verhältnisse nicht eingeweiht, und so ernsthaft dachte er schon an sie, daß er aus diesem Grunde, um sie nämlich in Unwissenheit darüber zu erhalten, eine persönliche Begegnung mit Albert Glowerstone in der Hauptstadt vermieden hatte. Dadurch war es möglich, daß auch dieser nichts über seinen Reichthum erfuhr und folglich der Tochter keine bezüglichen Andeutungen machen konnte.

Malköhne dachte nun, bei Glowerstone wie ein mittelloser Beamter auftreten zu können, der bloß gekommen sei, um das Anliegen des rheinischen Gutsbesitzers beim Ministerium zu erledigen. Damit dies gelinge, wählte er zu seinem ersten Erscheinen einen Tag, an welchem die Gräfin, obgleich auch diese über seine Vermögensverhältnisse nicht genau unterrichtet sein konnte, sich nicht bei ihrem Vetter, sondern in Wiesbaden befand. Dies war aber sogleich nach seiner Ankunft dort der Fall; die Gräfin hatte Edith nur in das Haus ihres Vaters gebracht und sodann den geheimnißvollen alten Lord aufgesucht, der zur Zeit ihrer Jugend am englischen Hofe verkehrt hatte.

Dem ersten Blicke Malköhne’s drängte sich in dem kleinen Hause Glowerstone’s eine Armseligkeit auf, die er nicht erwartet hatte. Sie betrübte ihn, weil sie Anlaß geben mußte, eine Verbindung mit ihm um so wünschenswerther erscheinen zu lassen, sobald es zur Kenntniß gelangte, daß er der Erbe eines Millionärs war.

Albert Glowerstone hatte sich seit seiner Jugend wenig verändert, weder in seinem Aussehen, noch in seiner dem Schmarotzerthum geneigten Lebensauffassung. Er war blond und zwar so entschieden, daß man versucht war, ihm sogar eine blonde Gesichtsfarbe beizumessen, und als ehemaliger Student der Philosophie war er noch immer zum Philosophiren geneigt, um dahinter Mangel und ungestillte Bedürfnisse anständig zu verstecken. Was er nicht begreifen konnte und sich vergebens durch Ethik und [775] Psychologie, so weit ihm diese Wissenschaften noch in Erinnerung waren, zu erklären suchte, das war der Charakter seiner Tochter Edith. Gerade weil sie zur praktischen Anwendung dessen geboren war, was er nur theoretisch im Munde führte, zu einem seelenstarken Entsagen und Verzichten, verstand er sie nicht und glaubte, daß sie seine Bücherweisheit nicht verstehe.

Der frühe Tod ihrer Mutter hatte sie ihrer angebornen Gemüthsrichtung ungestört und ungehemmt überlassen. Diese war eine dem Weltleben abgekehrte, und Edith wäre vielleicht unter andern Verhältnissen dieser Richtung sich gar nicht bewußt geworden und hätte sich zu einem naiven anspruchslosen Geschöpf entwickelt, wie es in den Schranken der Dürftigkeit überall aufwächst. Allein in den Beziehungen ihres Vaters, ihres Hauses gab es so viele Berührungspunkte mit der reichen und vornehmen Welt, mit Menschen, welche die luxuriösesten Ansprüche an das Leben stellen und befriedigen, daß für Edith nur zwei Möglichkeiten übrig blieben: sie mußte entweder einen täglichen Kampf des Entbehrens und der Erbitterung mit den Verhältnissen führen und sich zuletzt so unglücklich fühlen, daß sie eine solche Existenz nicht mehr ertragen hätte; oder sie mußte zum Bewußtsein kommen, daß ihr Inneres stärker war als die äußere Lage, daß die Entbehrung überwunden werden könnte und die Erbitterung nicht aufzukommen brauchte. Ihre Natur befähigte sie, den letztern Weg einzuschlagen, und ohne daß sie geneigt oder geeignet war, sich darüber in Reden zu ergehen, sah man all ihrem Thun und selbst ihrer Erscheinung eine entsagende Gelassenheit an, die auf Männer von Geist einen noch tiefern Eindruck üben mußte, als die auffallende Schönheit des Mädchens, die freilich ihren ganz eigenthümlichen Charakter eben von jener Gemüthsrichtung erhielt.

Nach der Hauptstadt zum lange andauernden Besuch der Gräfin Surville hatte sie sich nur auf das Drängen ihres Vaters begeben. Glowerstone, während er gezwungen sich in die äußere Armseligkeit seines Daseins zu fügen schien, ertrug es nur durch zwei ihm zur Hilfe kommende Eigenschaften. Zunächst war er sanguinischen Temperamentes und hoffte von jedem Tage, von jedem Augenblicke einen besonderen Glücksfall; sodann war er eine Schmarotzernatur und stets begierig, nach einem Genuß zu greifen, der ihm geschenkt wurde, den er weder zu erwerben noch zu bezahlen brauchte. Der Gelegenheit, die Tochter eine Zeit lang das köstliche Leben der Hauptstadt, ohne daß es ihn etwas kostete, mitmachen zu lassen, hätte er unmöglich Widerstand leisten können. Zugleich war er überzeugt, daß Edith in der Hauptstadt eine Eroberung machen würde, die zu einer glänzenden Partie führen müßte.

Vater und Tochter saßen nach dem Mittagessen noch am Tische in ihrem „Salon“, der ziemlich groß und tüchtig geheizt, aber nicht anders als eine Bauernstube möblirt war.

„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll,“ setzte Glowerstone eine angefangene Unterhaltung fort, „ist denn meine Kousine lsabel ein Blaustrumpf geworden? Du sprichst von lauter Dichtern, Schriftstellern, Zeitungsschreibern, die zum Thee gekommen sind. Ich habe geglaubt, man läßt diese Leute gar nicht hinein, wo Diplomaten und Officiere erscheinen. Sind denn gar keine solchen dagewesen?“

„Eine Menge,“ erwiederte Edith, „von den Ordenssternen und Epauletten konnte man Augenschmerzen bekommen. Ich habe aber die Augen zugemacht und die Ohren aufgethan. Für die Ohren hatten diese funkelnden Herren gar nichts Angenehmes, wogegen die Zeitungsschreiber, wie Du sie nennst, wieder nichts Angenehmes für die Augen hatten.“

„Nun, und was hast Du Gescheites von ihnen gehört?“ fragte der Vater gleichgültig und sehr enttäuscht.

„Am meisten hat mir die Vorlesung einer russischen Novelle in französischer Uebersetzung gefallen. Die Novelle ist von Pawloff. Da kommt ein Mädchen vor, das seiner herabgekommenen Familie durch eine reiche Heirath aufhelfen soll. Der reiche Mann aber wittert diesen Beweggrund in der vorgeschützten Neigung der Geliebten und macht ihr den Vorschlag, der Familie zu helfen auch ohne eine Heirath, falls er nicht geliebt wird. Das Mädchen liebt ihn wirklich nicht und hat die Kourage, die Hilfe anzunehmen und ledig zu bleiben.“

„Die hätte ich nach Sibirien verbannt,“ rief Glowerstone; „kann es noch etwas Dümmeres geben? Als Frau hätte sie der Familie noch ganz anders beistehen können. Ich hätte Dir nach dieser Geschichte erst recht gesagt, daß Du die Augen aufmachen sollst. Hast Du denn Niemand gesehen, der Dich interessirt?“

„O ja,“ entgegnete Edith vollkommen ruhig, „ich hätte mich beinahe verliebt. Da war ein Legationsrath Malköhne, und weil mir seine Gespräche mit der Gräfin und manchmal auch mit mir so sehr gefielen, gerade deßhalb hab’ ich mich weiter nicht nach ihm erkundigt. Ich wollte mich nicht mit ihm beschäftigen.“

Die Köchin trat in das Zimmer und überreichte eine Karte. Glowerstone las laut: „Legationsrath Siegfried Malköhne.“

Der Vater sah die Tochter, die ebenfalls überrascht aufblickte, mit Erstaunen an und gab eilig Befehl, den Besucher eintreten zu lassen.




9.

Die jungen Leute begrüßten sich mit stummer Verbeugung und mit dem Blick des Wiedererkennens. Da Edith einen geschäftlichen Zweck seines Erscheinens voraussetzen mußte, so wendete sie sich hierauf, um den Saal zu verlassen. Malköhne that mit galanten Worten dagegen Einsprache und versicherte, wenn er sie auch nicht jetzt mit den bureaukratischen Details langweilen wolle, die er ihrem Vater vorzubringen hatte, so würde er doch die ihm auferlegte Beamtenpflicht untröstlich finden, wenn er nicht nachher das gesellige Vergnügen, sich mit ihr zu unterhalten, in das Geschäft mit einschließen könnte. Sie war einer inhaltslosen Plauderei niemals geneigt, fand aber selbst ein Interesse daran, Malköhne wiederzusehen, und antwortete ernsthaft und gemessen, ohne das konventionelle Lächeln, welches oft so gedankenlos gleichgültige Reden begleitet:

„Wenn Sie mich zu sprechen wünschen, Herr Legationsrath, so wird mein Vater mich rufen lassen, sobald er es passend findet.“

Malköhne verbeugte sich tief und sah der langsam sich Entfernenden gedankenvoll nach.

Die Angelegenheit Glowerstone’s war im Grunde sehr einfach, wenn auch ihre Erledigung bei den Umständen, in welchen sich der Besitzer dieses unansehnlichen Bauernhofes befand, große Schwierigkeiten bot. Unmittelbar an den Hof grenzte der unbedeutendste Theil eines Staatsforstes mit sonstigem dazu gehörigen Grund und Boden. Dieses Staatseigenthum war schon seit ungefähr einem halben Jahrhundert an dieselbe Pächterfamilie überlassen worden, die sich dort ein stattliches Landhaus auf eigene Kosten erbaut hatte. Der Vertrag mit dem Staate war dem Erlöschen nahe und der jetzige Pächter wollte ihn nicht erneuern. Dies hätte Glowerstone gern dazu benutzt, das staatliche Gut mit seinem kleinen Besitzthum zu vereinigen, was auch leicht zu ermöglichen gewesen wäre, wenn er die nöthigen Mittel beisammen gehabt hätte. Der Staat ließ sich auf keine Zukunftszahlungen ein und auch der Pächter wollte für sein eigenes Haus sogleich bares Geld haben.

Glowerstone wußte sehr wohl, daß nach der Arrondirung seines kleinen Besitzthums durch einen so stattlichen Zuwachs der ganze Komplex um einen doppelt so hohen Preis an den Mann zu bringen war, als jetzt dem Staate für seinen Theil zu bezahlen gewesen wäre, der Bauernhof aber für sich allein nicht zu einem wünschenswerthen Preise zu verkaufen war. Wie sollte aber der verschuldete Mann das nöthige Geld auftreiben, um die Regierung zu befriedigen? Er hatte keinen Kredit, und wenn er seinen Plan einem reichen Spekulanten verrathen hätte, so würde dieser für sich allein den Rahm von der Sache abgeschöpft haben. Deßhalb war Glowerstone nach der Hauptstadt gegangen, bei welcher Gelegenheit er Edith zur Gräfin Surville gebracht, hatte aber beim Ministerium nichts ausgerichtet und nur unbestimmte Zusagen, schwankende Hoffnungen mit heimtragen können.

Malköhne, in die ganze Sache umständlich eingeweiht, wußte sehr wohl, daß nur mit dem Geld in der Hand etwas von der Regierung zu erreichen war. Als nun die politische Affaire mit dem geheimnißvollen Lord in Wiesbaden auftauchte und Malköhne zur Verhandlung über dieselbe abgeordnet wurde, da lag diese Angelegenheit seiner eigenen so nahe im Gedanken, wie sie im Raume einander nahe lagen. Wenn es ihm gelang, die Hand Edith’s zu erhalten, bevor diese von seinem Reichthum unterrichtet war, dann konnte er nachträglich mit Leichtigkeit den Wunsch Glowerstone’s erfüllen und ihm das angekaufte Staatsgut gleichsam auf den Frühstückstisch legen.

Die Werbung war daher die Hauptsache, das Geschäft nur ein Vorwand, und Malköhne zitterte vor dem Gedanken, der Vorwand könnte ihn um den Zweck bringen, ein langes Verhandeln mit dem Vater die Gegenwart der Tochter unmöglich

[776]

Raubritter Schüttensamen wird gefangen nach Nürnberg gebracht.
Nach dem Oelgemälde von Konrad Weigand.

[777] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [778] machen. Etwas Rechtes hatte der Legationsrath nicht vorzubringen, dazu war die Sache von zu großer Einfachheit: mit Geld sogleich und ohne Geld niemals erledigt. Malköhne nahm zu Detailfragen seine Zuflucht, begierig auf eine Gelegenheit, sich vorläufig für befriedigt zu erklären und um das Erscheinen Edith’s zu bitten. Er notirte sich mit überaus wichtiger Miene alle Aussagen Glowerstone’s, die nicht die geringste Bedeutung hatten, und dankte seinem Schöpfer für den Zufall, daß, ehe er noch eine vorläufig abschließende Redensart ausgesonnen hatte, ein neuer Besuch sich melden ließ.

„Ludwig von Perser,“ sagte Glowerstone nachdenklich, als er die Meldung empfangen hatte, und Malköhne war in hohem Grade überrascht, daß sein neugeworbener Sekretär, von dem er geglaubt, daß er um dieselbe Zeit gerade in Wiesbaden eintreffen werde, sich zuerst hier einfand.

„Das ist ein alter Freund von mir,“ erklärte Sir Albert, wie sich Glowerstone gern nennen ließ; „wir haben uns wohl schon fünfundzwanzig Jahre nicht gesehen und ich habe gewisse Verpflichtungen gegen ihn. Ich würde ihn trotzdem fortschicken, Herr Legationsrath, wenn Sie eine Unterbrechung unseres Geschäftes nicht wünschen.“

„Im Gegentheil,“ beeiferte sich Malköhne zu versichern, „er ist auch mir sehr willkommen, und während Sie sich mit ihm unterhalten, kann ich überlegen, was ich hier notirt habe. Am besten wäre es zu diesem Zwecke, wenn ich mich mit Fräulein Edith besprechen könnte.“

„Um zu überlegen?“ rief Glowerstone, dem diese Logik nicht einleuchten wollte, „und meine Tochter versteht gar nichts von solchen Dingen. Indessen, wie es Ihnen genehm ist, ich will Alles, was dem Ministerium gefällig ist. Wünscht es, sich mit Edith zu unterhalten, so sei’s.“

Er ließ Perser eintreten und gab Befehl, Edith zu rufen. Seine Begrüßung des Jugendfreundes war ganz, wie es anständig und herkömmlich ist. Glowerstone wurde niemals warm, wo er nicht unmittelbar einen Vortheil für sich gewahrte. Perser war ebenfalls nicht gerade von Rührung überströmend, und nachdem er Malköhne die Hand gedrückt und sich in dem einzigen gepolsterten Lehnstuhl niedergelassen hatte, sagte er:

„Ich bin in Geschäften hier, Glowerstone! ich hätte nicht die Zeit, eine Scene des Wiedersehens aufzuführen. Ja, Herr Legationsrath, ich habe den Weg direkt über Mainz genommen und will erst von hier aus meinen Dienst in Wiesbaden antreten. Das Geschäft hier ist wichtig, aber kurz. Ich habe den Wagen unten.“

„Sie kommen also nicht aus Paris, lieber Baron, sondern aus der Hauptstadt?“ fragte Glowerstone.

Perser bejahte und mußte sich in demselben Augenblicke aus seinem bequemen Polstersitze wieder erheben, weil Edith eintrat. Sie lächelte beim Wiedersehen Perser’s freundlicher als früher bei der ersten Begrüßung Malköhne’s, gerade weil der Baron sich nur mit ihrer Erinnerung an das Haus der Gräfin, nicht mit einer persönlichen Regung ihres Gemüthes verknüpfte. Perser verschwieg nicht, daß er Eile habe, das Geschäft, das ihn hierher geführt, zu Ende zu bringen. Sich streng an den Auftrag der Geheimräthin haltend, wollte er ihr Vorhaben, in die Gegend zu kommen, erst ankündigen, nachdem er Gewißheit erlangt haben würde, daß in der That ein verkäufliches Gut vorhanden wäre. So machte er denn kein Hehl daraus, daß er mit Glowerstone über einen wichtigen Gegenstand zu verhandeln wünschte. Sir Albert brauchte nur von etwas Neuem zu hören, das wichtig genannt wurde, und sogleich stiegen goldene Berge vor ihm auf, wie viele auch schon spurlos wieder eingesunken waren. Gleichwohl drückte er stets eine philosophische Resignation aus, als ob ihm Nichts mehr auf Erden wünschenswerth wäre.

„Ach, meine Herren“ sagte er, „man sollte in dieser Welt Nichts beachten, was zum alltäg!ichen Treiben, zu sogenannten Geschäften gehört. Wie wenig braucht der Mensch, um glücklich zu sein! Müßiggang mit Würde, so übersehe ich mir die Weisheit der Alten. Indessen kann ich Ihnen in meiner philosophischen Bedürfnißlosigkeit keine andere Gastfreundschaft bieten, meine Herren, als auf Ihre Wünsche einzugehen. Sie wünschen Edith zu sprechen, Herr Legationsrath, hier ist sie; Sie wünschen mich zu sprechen, Herr Baron, kommen Sie mit mir!“

Er nahm den Arm Perser’s und geleitete ihn in seine sogenannte Studirstube, einen unmittelbar an die Küche grenzenden Raum, der mehr ein Erker als eine Stube war.

„Kann ich Ihnen mit einem Glas Aepfelwein aufwarten?“ sagte Sir Albert, der mit der Armseligkeit seiner Lage gewissermaßen Parade machte, weil ihm dadurch das Heroische seiner Resignation erst recht zur Geltung zu kommen schien. Beide hatten Platz genommen, und Glowerstone war innerlich entzückt, einen Mann allein sprechen zu können, der eben aus der Hauptstadt gekommen; denn der Vater Edith’s hatte nicht überhört, daß sie sich in Bezug auf den Legationsrath mit einer bei ihrer sonstigen kühlen Gelassenheit auffallenden Wärme geäußert hatte, und er hätte daran sogleich sanguinische Hoffnungen geknüpft, wäre nicht zu fürchten gewesen, daß dieser Siegfried Malköhne, dem er in der Hauptstadt nirgends begegnet war, ein mittelloser kleiner Beamter wäre. Darüber mußte Perser nach der Meinung Sir Albert’s genügend Aufschluß geben können. Allein der Baron zerstörte diese Erwartung.

„Ich bin erst vor einer Woche aus Paris gekommen, kenne die neuen Verhältnisse der Stadt noch gar nicht und am wenigsten die einzelner Personen, die ich nicht schon früher gekannt habe. Dieser Herr Malköhne hat mich auf Empfehlung der verwittweten Geheimräthin Forstjung für ein diplomatisches Geschäft gewonnen; weiter weiß ich nichts von ihm.“

„Das wäre fatal,“ brummte Glowerstone kaum vernehmbar in sich hinein, „wenn der jetzt immer größern Eindruck auf Edith machte, und es wäre eine hoffnungslose Sache.“

„Die Geheimräthin Forstjung,“ fuhr Perser fort, „könnte Ihnen genügend Auskunft geben, und dieser Frau wegen bin ich hier.“

Er berichtete nun über das Vorhaben Brigitta’s, sich in der Gegend anzukaufen, wenn irgend etwas für sie Brauchbares ganz in der Rähe von Glowerstone’s Besitzung ausgeboten würde. Sir Albert sprang auf und würde, wenn er nicht seine philosophische Würde beachtet hätte, Perser umarmt haben. Da war ja plötzlich ein Käufer für Alles und eine Frau konnte man schon gehörig herumkriegen. Er setzte den Sachverhalt aus einander, schwur, daß er Abscheu davor habe, durch diesen Legationsrath unmittelbar mit der Regierung verkehren zu müssen, rühmte das Haus des Pächters, die Lage, die Gegend, den Ertrag und würde noch lange nicht aufgehört haben, wenn Perser, der genug wußte und sich um weiter Nichts zu kümmern brauchte, nicht erklärt hätte, daß er den Wagen nicht länger warten lassen wolle.

„Sie werden Alles der Geheimräthin selbst sagen,“ sprach er eilig! „nicht wahr, sie kann sich ganz an Sie wenden? Jetzt fahre ich nach Wiesbaden, um ihr sogleich zu telegraphiren; sie wird übermorgen schon hier sein.“

„Sie haben einen Wagen,“ bemerkte Glowerstone, der niemals eine Gelegenheit versäumte, kostenfrei nach der Stadt zu fahren; „ich muß Sie begleiten, ich habe Ihnen noch viel zu sagen. Und dann, wir vergessen ja das Wichtigste, wir sind ja alte Freunde und haben noch gar nicht von alten Zeiten gesprochen. Glauben Sie mir, das ist nöthiger als die sogenannten Geschäfte, die ich verachte.“

Er hatte während dieser Rede die Thür geöffnet und der Köchin durch einen Wink angedeutet, was er haben wollte. Sie brachte ihm den Winterrock, Hut und Stock, und ohne in seinem Eifer zu bedenken, daß er sich früher noch von seinem andern Gaste hätte verabschieden müssen, folgte er Perser zum Wagen. Dem Baron war es lieb, noch in Erfahrung bringen zu können, welches Absteigequartier er der Geheimräthin telegraphisch anweisen sollte! denn offenbar lag ihr viel daran, in nächster Nähe des zu besichtigenden Gutes sich aufzuhalten.

„Wir haben gegenüber ein Hôtel,“ erklärte Glowerstone, während sie dahinfuhren, „ein prächtiges Etablissement. Im Sommer ist es zu klein für die andrängenden Fremden. Weine und table d’hôte sollen vorzüglich sein. Sie wissen, ich verachte solche Dinge. Jetzt ist es überflüssig groß. Meine Kousine Isabel, Sie wissen ja, die jetzige Gräfin Surville, die so wenig philosophisch ist, daß sie sich mit meiner Erkerstube nicht begnügen wollte, bewohnt das Hôtel. Sie reist freilich mit drei Personen, einer Gesellschafterin, einer Kammerfrau, die der Reisemarschall ist, und einer Zofe. Welche Thorheit, sich das Leben so schwer zu belasten, wenn man es so leicht nehmen kann!“

Perser achtete nicht sehr auf die Rede seines Gefährten. Dem Baron waren quälende Gedanken aufgestiegen. Wußte Brigitta nicht, daß Malköhne sich bei Glowerstone einfinden würde? Das war nicht anzunehmen. Weßhalb hatte sie dann nicht ihren Auftrag lieber diesem Freunde gegeben, der ihr

[779] jedenfalls viel näher stand als Perser? War ihr die Lust, im Spätherbst nach dem Rheine zu gehen, erst über Nacht erst nach der Abreise des Legationsrathes gekommen? Und dieser selbst! Als ihn Perser jetzt wieder gesehen, war ihm plötzlich das in Kreide gezeichnete Portrait erkennbar geworden, auf dessen Original er sich damals nicht hatte besinnen können. Es war das Portrait Malköhne’s, aber um vieles jünger, noch ohne Bart, und im Ausdruck eine Verklärung zeigend, wie Perser sie eben jetzt in Gegenwart Edith’s zum ersten Male an ihm bemerkt hatte.
(Fortsetzung folgt.)

Londoner Nebel.

Es ist eine auf dem Kontinent viel verbreitete Ansicht, London sei jahraus jahrein in einen mehr oder weniger dichten Nebelschleier gehüllt. Das ist durchaus irrig. Wie das Grün einer englischen Landschaft, die Hautfarbe eines englischen Mädchenantlitzes an Frische unübertroffen bleiben, so ist auch die Atmosphäre in England im Allgemeinen von einer Frische, Klarheit und Heiterkeit, um die manche Länder es beneiden könnten. Wohl ist das Klima feucht, aber das kommt mehr von der Nähe des Meeres, als von vielem Regen; denn der Statistik gemäß hat England im Durchschnitt nur 150 Regentage, also gerade nur so viele wie das nördliche Deutschland und kaum 20 Tage mehr als die etwas südlicher gelegenen Lande. So weist auch selbst London, namentlich im Sommer, häufig ein überaus klares heiteres Himmelsgewölbe auf, durch das freilich seine Millionen von Schornsteine recht garstige schwarze Striche ziehen. Aus Linien werden dann zuweilen Flächen und aus der Fläche ein großer Körper, ganz nach den Gesetzen der Geometrie. Das geschieht, wenn der Nebel mit dem Rauch sich vermischt.

Der Nebel entsteht vornehmlich, wenn die oberen Schichten der Luft kälter sind als die unteren und auf diese Weise das Aufsteigen des wässerigen Dunstes verhindern. Dieser saugt dann Rauch und Schmutz in sich auf und das Gemengsel bleibt in mehr oder weniger dichtem Zustande in der Nähe der Erdoberfläche gelagert. Am dichtesten wird dasselbe durch ein plötzliches Umschlagen des Windes. Wie dem Dampfer auf hoher See der ausgestoßene Rauch in einem oft viele Meilen langen Wolkenstreif nachhängt, so kann man häufig auch beobachten, daß der Rauch einer Großstadt wie London in einer oft dreißig bis vierzig Kilometer weit sich erstreckenden Wolkenschicht vom Winde davongetragen wird. Schlägt dieser nun plötzlich nach der entgegengesetzten Seite um, so muß die ganze Masse in immer dichterem Zustande wieder in die Stadt zurück, und vermengt mit dem einfachen Nebel, wird nun ein „Londoner Nebel“ daraus.

Die schlimmsten Nebel stellen sich gewöhnlich zu Anfang und zu Ende des Winters ein, im November und im Februar. Sie dauern dann oft mehrere Tage und bleiben auf ihrem Höhepunkt gewöhnlich nur einige Stunden, lange genug immerhin, um in das ganze öffentliche Leben störend einzugreifen. Sahen wir noch vor Kurzem die Sonne wie eine kleine röthliche Kugel ohne allen Glanz und von der Größe einer dicken Wallnuß matt durch die Nebelmasse schimmern, so ist dieselbe nun unserm Auge gänzlich entrückt.

Es ist Nacht ringsum, dunkle Nacht, die um so unerträglicher ist, als Niemand darauf vorbereitet war; denn diese Nacht kommt ganz unversehens. Es vermögen selbst die angezündeten Straßenlaternen nicht die geringste Helle zu verbreiten, die überhaupt nur sichtbar werden, wenn man gerade darunter steht, und der hohen eisernen Pfähle wegen in diesem Falle dem Verkehr mehr hinderlich als dienlich sind. Es laufen auch wohl Männer mit brennenden Pechfackeln umher, die uns ihre Begleitung anbieten; doch diese verbreiten nur ein Minimum von Helle, dagegen einen gewaltigen Qualm und schützen uns höchstens davor, daß wir nicht gegen Häuser und Menschen anrennen. Denn eine unbeabsichtigte – oder von Seiten der Strolche oder Gassenjungen bezweckte – „Anrempelei“ gehört zu den unerläßlichen „Nebel-Ereignissen“. In dem ersteren Falle ist dann gewöhnlich eine gegenseitige Entschuldigung, ein gegenseitiges Befragen nach dem Wege und das Bekenntniß beiderseits, daß man selbst nicht recht wisse, wo man sich befinde, die Folge dieser Berührung. Weit unangenehmer sind indessen die Folgen eines solchen Zusammenrennens mit Strolchen und Dieben, denen ein richtiger Nebel als ein wahres Mannafest erscheint. Er lockt dieselben in großer Zahl aus ihren Schlupfwinkeln, und sie sind unter seinem schützenden Deckmantel überaus – thätig. Dort klagt ein Unglücklicher, daß man ihm seine Uhr entwandt, ein anderer, daß ein Vorübergehender ihm einfach den Hut vom Kopfe genommen, um damit im Nebel zu verschwinden. Oft aber wird dieser Ruf von Gaunern ausgestoßen, die durch ihn arglose Opfer heranlocken wollen, und eine innere Stimme mahnt uns, unsere Schritte zu beschleunigen, um nicht auch ein Opfer solcher Diebesgelüste zu werden.

Wer zu solcher Zeit nicht ganz dringende Geschäfte zu verrichten hat, bleibt natürlich zu Hause oder sucht, wenn er fern von seiner Wohnung sich vom Nebel hat überraschen lassen, ein nahes Obdach, selbst ein Nachtquartier zu erreichen. Seltener begiebt man sich auf die Straße, um, vom Reiz der Neuheit verführt, diese immerhin interessante Erscheinung genauer kennen zu lernen. Man hat dann aber an einem Male gerade genug und sehnt sich, sein schützendes Heim zu erreichen.

Vorsichtig tappt man vorwärts, froh, daß heute nur wenig Menschen auf der Straße sich befinden, froh auch wohl, daß die Londoner Rinnsteine nicht so tief sind, wie man sie in mancher Großstadt des Kontinents antrifft, froh endlich, an der Ecke einen „Policeman“ zu finden, der freundlich genug ist, die nothwendigsten Kenntnisse lokaler Geographie dem Verirrten beizubringen oder doch in seinem Gedächtnisse aufzufrischen; denn er verliert sie fast bei jedem Schritte. Sämmtliche Fuhrwerke haben natürlich ihre Fahrten eingestellt. Keine Droschke, kein Omnibus ist zu solcher Stunde zu haben; die Läden werden „am hellen Tage“ geschlossen; alles Leben einer Großstadt hört auf.

Die Farbe des Nebels ist je nach Menge und Beschaffenheit des Zusatzes, den er aus den Schornsteinen erhält, eine verschiedene. Sie wechselt von einem schmutzigen Weiß bis zu einem dunklen Grau, von einem zarten Krême bis zu einem schwärzlichen Braun, welch letztere Art etwa in ihrem Mittelstadium auch wohl pease soup genannt wird. „Erbsensuppe“ nach englischer Art ist indessen wesentlich verschieden von der unseren. Die Engländer bereiten dieselbe so dick und kompakt, daß sie einen Brei bildet. Der „Erbsensuppe“, die durch die Londoner Straßen sich ergießt, fühlt man sich aber auch durchaus nicht versucht, mit dem Löffel in der Hand gegenüber zu treten. Man hat vielmehr das Gefühl, als brauche man ein zweischneidiges Schwert, um sich durch die dichte Masse Bahn zu schlagen. Ueberdies besitzt diese Masse die unsaubere Eigenschaft, die unverkennbarsten Spuren auf Gesicht und Kleidung zurückzulassen.

Diesen Zustand seiner höchsten Vollkommenheit erreicht indessen der Nebel – oder das Kompositum von Nebel, Rauch und sonstigem Schmutz – nur selten. Ja, es geht zuweilen ein ganzer Winter vorüber, ohne daß dies Triumvirat in seiner ganzen Glorie auftritt, während es in anderen Jahren London die Ehre wieder zum Oefteren erweist. Schlimm aber wäre es, wenn es auf dem Höhepunkte seiner Leistungsfähigkeit je länger als einige Stunden verweilen wollte. Denn dieses liebliche Gemengsel ist doch für die Dauer seines Besuches der Londoner Athmungsstoff, der sich in keiner Weise von seinen schädlichen Zuthaten reinigen läßt. Mag man auf der Straße auch ein Tuch vor Mund und Nase halten, um die Luft gewissermaßen zu filtriren; mag man zu Hause auch Thür und Fenster noch so fest schließen: das Gemengsel dringt überall durch und macht sich peinlich genug fühlbar durch einen brandigen Geruch, einen unangenehmen bittern Geschmack auf der Zunge, ein prickelndes, Thränen erzeugendes Gefühl in den Augen und nicht selten auch durch Schmerzen in der Lunge.

Unter diesen Umständen darf es nicht Wunder nehmen, daß zu dieser Zeit die Sterblichkeit in London wächst, daß Sterbefälle von Asthmakranken um 220 Procent und solche von Bronchitispatienten gar um 331 Procent sich vermehren! Mehr vereinzelt, aber darum nicht minder empfindlich sind die mehr mittelbaren Schäden und Nachtheile, die aus dem Nebel erwachsen.

Viele Personen werden überfahren; denn wenn auch während des stärksten Nebels der Verkehr fast ganz eingestellt wird, so kann dieses doch nicht auf einmal, nicht so plötzlich geschehen, wie [780] der Nebel heranzieht. Die Schifffahrt auf der Themse wird äußerst gefährdet; Unglücksfälle auf der Eisenbahn vermehren sich in entsetzlicher Weise trotz der besonderen Nebelsignale, die dadurch gegeben werden, daß man an besonderen Stellen an den Schienen Pulverpatronen anbringt, die, sobald die Räder der Lokomotive darüber gehen, sich selbst entladen und so dem Lokomotivführer kund thun, wo er sich befindet. Tausend andere Uebelstände sind im Gefolge dieser seltsamen Erscheinung, von der London wohl niemals ganz frei werden kann, deren schädlichste Auswüchse aber immerhin sich wesentlich abschwächen ließen.

Bis zur Zeit Eduard’s II. wurde in London nur Holz gebrannt und bis dahin gab es keine Nebel der schlimmen Sorte. Unter seiner Regierung begann man aber Kohlen von Newcastle einzuführen, und sofort stellte sich der verdickte und vermengte Nebel ein, so daß schon im Jahre 1316 das Parlament sich veranlaßt sah, dem König eine Petition gegen den Gebrauch der Kohlen einzureichen. Dieser verbot denn auch ihre Verwendung, belegte die seiner Verordnung zuwider Handelnden mit einer Geldstrafe und ließ ihnen im Falle einer Wiederholung einfach die Oefen niederreißen. Was war aber der Schaden, den die paar tausend Tönnchen Kohle von damals anrichten konnten, im Vergleich zu dem Unheil, das jetzt aus den alljährlich von London verbrauchten 5 000 000 Tonnen erwächst! Gleichwohl aber ist jene strenge Verordnung längst in Vergessenheit gerathen. Wohl hat man auch in neuerer Zeit im Parlament sich damit befaßt, dem Uebel Einhalt zu thun, und es sind längst sämmtliche Dampfschiffe und Fabriken in und um London zur Konsumirung des eigenen Rauches genöthigt worden, allein das große Heer der Privathäuser ist von ähnlichen Bestimmungen bislang immer noch verschont geblieben. So lange man diese aber ähnlichen Verordnungen nicht unterwirft, wird der Londoner Nebelkalamität kein Abbruch geschehen. Wilh. F. Brand.     


In Zeiten des Fehderechts.

(Mit Illustration Seite 776 und 777.)

 „Heraus soll man sie klauben
 Aus ihren fuchsenen Schauben
 Mit Brennen und mit Rauben
 Dieselben Kaufleut’ gut
 Um ihren Uebermuth.“

In dieser Strophe eines alten Reiterliedes aus dem 15. Jahrhundert spiegelt sich der Haß wieder, welcher zwischen dem burgsässigen Adel und den Reichsstädten loderte und zu jenen zahllosen Fehden führte, von denen die Geschichte des Mittelalters so viel zu berichten weiß.

Zu den am meisten befehdeten Städten zählten Augsburg und Nürnberg. Waren sie doch die Hauptstapelplätze der ostindischen Waaren, welche sie von den Venetianern bezogen und auf vielästigen Handelsstraßen zu den großen Messen in Franfurt am Main, Naumburg, Braunschweig und Leipzig weiter gen Norden führten. „Nürnberger Hand,“ sagte damals das Sprichwort, „geht durchs ganze Land.“ Die großen Waarenzüge Nürnbergs bildeten verlockende Greifobjekte für die Lüsternheit der Raubritter, und es waren oft Träger der edelsten Namen, welche dieser Lockung verfielen.

Die Nürnberger erwarben zwar für ihre Bürger von den Territorialherren der wichtigern Handelsstraßen, wie zwischen Nürnberg und Frankfurt, mit schweren Opfern ein sogenanntes Geleit. Allein dieses Geleitsrecht wurde nur wenig respektirt. Im Jahre 1437 hoben die Geleitsfürsten das versprochene Geleit sogar wieder auf, weil die „Räuberei und Plackerei“ auf der Straße von Nürnberg nach Frankfurt so stark wäre, daß sie deren nicht Herr werden könnten. So sahen sich die Nürnberger auf Selbsthilfe angewiesen, und es entspann sich eine Reihe von blutigen Fehden, die mit der größten Erbitterung geführt wurden. Eine der bedeutendsten und durch ihren tragischen Abschluß interessantesten war die gegen den Raubritter Hans Schüttensamen in den Jahren 1465 bis 1474. Sie erlangte ihrer Zeit eine solche Berühmtheit, daß sich sogar die Dichtkunst mit ihr beschäftigte. Ein als fliegendes Blatt gedrucktes Volkslied feierte in fünfundzwanzig gereimten Strophen den Verrath, die Gefangennahme und den Tod des Raubritters und wurde im „Tone wie man singt vom König Paris“ auf Herberg und Landstraße viel gesungen. Es gab also auch schon damals eine Romantik des Räuberthums!

Hans Schüttensamen der Jüngere, so berichten die Nürnberger Annalen, hatte sich eine Forderung gegen Hans Reinhold, Losungsschreiber zu Nürnberg, an Hans Wolf und Sebald Frever angemaßt, welche ihm diese nicht zugestanden. Der Rath verwies ihn daher zum rechtlichen Austrage. Der beutelüsterne Hans sagte statt dessen dem Rathe die jedenfalls von vornherein beabsichtigte Fehde an, und zwar scheint es nicht seine erste gewesen zu sein. Nürnberg bot angesehene Herren, Fürsten und Bischöfe zu Schiedsrichtern an. Hans Schüttensamen ging auch zum Scheine darauf ein, indem er seinerseits den Markgrafen Albrecht von Brandenburg als Schiedsmann nannte. Inzwischen aber begann er bereits lustig zu rauben und zu brennen. Den Bürger Gabriel Tetzel überfiel er auf der Jagd und erpreßte von dem Gefangenen ein Lösegeld von tausend Gulden. Dem Wilhelm Löffelholz brannte er sein Herrenhaus unter der Altenburg bei Bamberg und dem Hans Löffelholz sein Gut Seehof nieder. Beide waren angesehene Nürnberger Patricier. Einen Nürnberger Bauer, der sich nicht gefangen nehmen lassen wollte, erstach er und verbrannte sein Haus und Stadel. Zuletzt brannte er ganze Dörfer aus, darunter ein dem Nürnberger Schultheißen Sigmund von Egloffstein gehöriges. In Folge dieser Gräuel erließ der Nürnberger Rath einen öffentlichen Aufruf, daß, wer den Schüttensamen in Haft bringen würde, achthundert Gulden, aber wer ihn ums Leben brächte, vierhundert Gulden erhalten solle.

Die Belohnung verlockte einen von Schüttensamen’s Knechten zum Treubruch. Er verrieth seinen Herrn, indem er ihm vorredete, er wolle ihm einen reichen Bauern als Gefangenen zuführen. Während nun der Ritter in einer Herberge des Nürnberger Stadtwalds auf die willkommene Beute lauerte, sandte der Knecht heimlich eine ihm befreundete Nürnberger Dirne zum Magistrate, und dieser entbot rasch ein Fähnlein Söldner, das den eines solchen Ueberfalls nicht gewärtigen Ritter sammt „zween seiner Knechte“ überrumpelte und gefangen nahm. „Ihr kommt wohl her in des Teufels Namen!“ höhnte ihm Hans Löffelholz entgegen, als man den Ritter in Nürnberg einbrachte. Diesen Augenblick illustrirt unser Holzschnitt auf Seite 776 und 777 in trefflicher Weise. Hinter dem Ritter und seinen Knappen schreitet der Verräther neben seiner Gehilfin. Fluchend und drohend umringen die Nürnberger den seltsamen Zug.

Die Folter erpreßte Hans Schüttensamen das Geständniß seiner mannigfachen Uebelthaten. Das Urtheil des Rathes lautete gegen den Ritter auf Tod durch Feuer, bei den Knechten auf Tod am Galgen. „Beim Anhören dieses Urtheils,“ heißt’s im Volksliede, „war ihm das Lachen theuer.“ Vergebens berief sich der Verurtheilte auf das ritterliche Recht, durchs Schwert gerichtet zu werden. Der Groll wider den Mörder und Räuber saß bei den Nürnbergern zu tief. „Er ward in einem Feuer verbrannt.“ Nur die beiden Knechte begnadigte man vom Galgen zum Schwerte. „Darum,“ lautet die Schlußmoral des Volksdichters, „ist das mein treuer Rath, daß Niemand soll unrecht thun.“

Trotz dieser abschreckenden Sühne war die Schüttensamen’sche Fehde noch lange nicht die letzte, welche die Nürnberger zu bestehen hatten. Wissen wir doch aus dem Goethe’schen Drama, daß ihnen unter Anderen Götz von Berlichingen noch viel zu schaffen machte. Aber an ihm hatte sich bereits das Wort erfüllt, das der große Dichter in den Mund des Sterbenden gelegt hat:

„Stirb, Götz, Du hast Dich selbst überlebt, die Edlen überlebt.“

Eine neue Welt zog herauf, eine Welt, in welcher nicht mehr die blinde Kraft der Faust, sondern die lichte Kraft des Geistes die Herrschaft führte und ein geläutertes Humanitätsgefühl die Grausamkeiten des menschlichen Egoismus milderte und bändigte. Fr. Helbig.     


[781]
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Der Unfried.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Tage und Tage verstrichen.

So sehr der Bygotter in aller Leute Mund war, so wenig bekamen ihre Augen von ihm zu sehen. Jene Burschenschar, die Partei der Selbsthilfe, die an jenem Morgen einen so lärmenden Auszug gehalten hatte, war nach erfolgloser Streife bei Einbruch der Dämmerung gar schweigsam und verdrossen in das Dorf

Am Caldonazzosee. Originalzeichnung von Edm. v. Wörndle.

zurückgekehrt. Doch konnte sich auch die andere Partei keines besseren Erfolges rühmen. Der ausführliche Bericht, den der Pfarrer an das Bezirksamt hatte abgehen lassen, hatte zwar bewirkt, daß ein zwei Mann hoher Gendarmerieposten in das Dorf verlegt worden war. Auch war für den Fall, daß man des Bygotters habhaft würde, ein Irrenwärter in Aussicht gestellt. Vorerst aber hatte es bei diesen Verfügungen sein Bewenden; denn so viele Stunden auch die beiden Wächter der Sicherheit bei Tag und Nacht im Binderholze verpassen mochten, so häufig sie auch alle Winkel und Schlupfe der Sonnbergschluchten durchstöberten – der Bygotter blieb verschollen, als wäre er durch die Luft entflogen oder in die Erde versunken.

Die abenteuerlichsten Gerüchte waren über ihn im Umlauf. In diesen Gerüchten spielte nicht selten jener bekannte Unbekannte, dessen Namen man gerne durch drei Kreuze zu ersetzen pflegt, eine wesentliche Rolle. Aber je unheimlicher den Leuten der Vater wurde, je mehr er für ihren engen Verstand in das Reich des Un- und Außernatürlichen entwich, desto menschlich näher rückten ihre Herzen seinem Kinde. Es war eine Art von Fanatismus in dem Mitleid, welches man mit Sanni fühlte. Weder Alt noch Jung, weder Mann noch Weib ging am Pointnerhofe vorüber, ohne sich nach dem Befinden der Kranken zu erkundigen.

Da war nun freilich wenig Tröstliches zu vernehmen. Seit langen Tagen lag Sanni bewußtlos und in hohem Fieber. Was zu ihrer Pflege nur geschehen konnte, das geschah. Zweimal des Tages kam der Doktor. Kuni, die Frau des Lehrers und eine Wärterin theilten sich in die Wache. Der ganze Hofraum, und auf eine weite Strecke auch die Straße, war dicht mit Stroh überschüttet, welches das Rollen der Wagen und den Hufschlag der Pferde unhörbar machte. Daneben wachte der Pointner mit Eifer und Aengstlicheit über die Ruhe im Hause. Wo sich nur eine Fliege rührte, war er gleich mit seinem „Pst, pst, Jesus Maria, stad sein!“ bei der Hand. Im Uebrigen aber trippelte und hockte er umher wie – das Sprichwort sagt: wie Einer, dem das Zäpflein hinunter gefallen. Eine stäte Verzagtheit lag über ihm, die sich jedesmal zu einer seltsamen Scheu und Unruhe steigerte, so oft ihm Karli in die Nähe kam. Der aber schien Alles vergessen zu haben, was die vergangenen Wochen zwischen ihn und den Vater geworfen. Den letzten Brief des Pointner’s, den er von der Regimentskanzlei nachgeschickt erhalten, hatte er zerrissen, ohne ihn zu lesen. Sanni war sein einziges Denken, ihre Genesung sein einziges Hoffen. Er rannte wie verloren umher, war zu keiner Arbeit zu brauchen, und wenn er ja einmal [782] zugriff, griff er Alles von der verkehrten Seite an. Hundertmal des Tages schlich er auf den Zehen vor das Stübchen hinauf und pochte mit leisem Finger an. Dennoch war er niemals zu bewegen, die Krankenstube zu betreten. Eine eigene, ihm selbst unerklärliche Scheu hielt ihn davon ab. Manchmal nur lugte er mit nassen, traurigen Augen durch eine Thürspalte, und dann sah man es seinen Zügen an, wie ihm der Anblick des schmächtigen, von brennender Fieberröthe übergossenen Gesichtchens, das so regungslos in den geblümten Kissen lag, das Herz zusammenkrampfte. Ganze Nächte durchwachte er in seiner Kammer, das Ohr an die Mauer gedrückt, als könnte er den ersten leichteren Athemzug der Kranken, das erste Wort ihres wiederkehrenden Bewußtseins erlauschen.

So begreiflich nun auch das Benehmen des Burschen war, so verblüffend wirkte für manches beobachtende Auge die Ausdauer, mit welcher sich Kuni der Pflege Sanni’s widmete. Sie erntete auch Lob und Anerkennung von allen Seiten. Nur Karli vermochte es der jungen Bäuerin gegenüber zu keinem herzlichen Worte zu bringen, so häufig er sich auch im Stillen des Undanks zieh, und so sehr es ihn drängte, ihr einmal die Hand hinzustrecken, wenn sie mit verwachten Augen und bleichem, müdem Gesichte aus der Krankenstube trat.

Dann war auch noch ein Anderer, der in Kuni’s Verhalten kein besonders rühmenswerthes Werk der Barmherzigkeit erkennen wollte. Das war der Götz. In der ersten Stunde, das gab er zu, da hätte sich in ihr das richtige Herz gerührt. Und so hatte auch er zu Anfang ihre ausdauernde Pflege mit freundlich verwunderten Augen wahrgenommen. Allmählich aber war es ihm vorgekommen, als sei ihr das Verbleiben im Stübchen droben nur ein willkommener Vorwand, um die Stube und den Hof zu meiden, wo ihr Bruder mit der qualmenden Cigarre die Tage verlungerte. Unausgesetzt beobachtete Götz diese Beiden, ohne daß es ihm gelingen wollte, das Verhältniß, in welchem sie zu einander standen, klar zu durchschauen. Vielleicht wäre ihm das leichter geworden, wenn Karli Zeit oder Anlaß gefunden hätte, sich gegen Götz über all die sonderbaren Dinge auszusprechen, die er damals im Schimmelwirthsgarten zu München über Kuni’s Herkunft, über ihre Familie und über das Verhalten ihrer Brüder zu hören bekommen. So aber hatten die drängenden Ereignisse dem Burschen den Mund verschlossen – vielleicht auch schwieg er in Wahrung des Namens, welchen Kuni nun einmal trug. Götz war also bei seiner forschenden Beobachtung allein auf seine Augen und auf die Gedanken angewiesen, welche Kuni’s und Gregor’s Benehmen in ihm erweckten.

Jene erste Vermuthung, daß dieser „Bruder von irgendwo“ durch ganz andere Bande mit Kuni verknüpft sei, als durch geschwisterliche Bande, hatte er gleich in den ersten Tagen fallen lassen. Eine solche Beziehung hätte sich seinen wachsamen Augen und Ohren verrathen müssen, wenn auch nur durch einen winzigen Blick, durch einen flüchtig vertraulichen Druck der Hände oder durch ein leise gerauntes Wörtchen. Und so wenig ihm Kuni auch Anlaß gegeben hatte, Gutes von ihr zu denken – es war in seinem Innern doch eine Stimme, die es ihn auf die Dauer nicht glauben lassen wollte, daß sie so ganz verdorben wäre, um schon am ersten Tage nach der Hochzeit die ehrlose Schande in ihr Haus zu laden. Gregor mußte also doch wohl ihr wirklicher Bruder sein; denn wenn er nicht ihr ehemaliger Geliebter war, so konnten nur verwandtschaftliche Rücksichten sie bewegen, den widerwärtigen Gesellen unter ihrem Dache zu dulden. Freilich war es eine recht merkwürdige Geschwisterliebe, welche Kuni für diesen Bruder zu hegen schien. Sie wich ihm ersichtlich aus auf Schritt und Tritt, vermied jedes längere Gespräch mit ihm, und Götz meinte, daß es nur um Gregor’s willen geschehe, wenn sie sich von den gemeinsamen Mahlzeiten ferne hielt und sich mit der Krankenpflege entschuldigte. Das Gefühl, dem dieses Verhalten entsprang, schien mehr als nur Unbehagen und Widerwille – es erschien den forschenden Augen des Knechtes wie zitternde Scheu. Kuni haßte ihren Bruder, aber sie fürchtete ihn; er mußte durch irgend ein Etwas über sie Gewalt haben, daß sie bei all ihrem Hasse seine Nähe ertrug. In diesem geheimen, unerklärlichen Zwange meinte Götz auch die Ursache der seltsamen Veränderung zu sehen, welche sich in Kuni’s ganzem Wesen vollzogen hatte. Sie war in diesen Tagen eine völlig Andere geworden, als sie bis zum Tage der Hochzeit gewesen. Ihr helles, übermüthiges Lachen war erstorben, ihre berechnende Sicherheit geschwunden, ihr ganzer Trotz gebrochen, und unter der Wirkung des bangenden Kummers, den sie leiden mochte, schien so manches Gute lebendig zu werden, das unter Schmutz und Asche bisher vergraben lag in ihrer Seele.

Wenn Götz sich über diesen sonderbaren Umschlag seine Gedanken machte, mußte er häufig eines Vorfalles gedenken, dessen Zeuge er zufällig geworden war. Zwei Tage nach Gregor’s Ankunft hatte der alte, närrische Spinner-Veit, der „Zuchthäusler“, wieder einmal im Pointnerhofe vorgesprochen. Es schien, als hätte Kuni sein Kommen abgepaßt, als hätte sie es aus irgend welchem Grunde befürchtet; denn der Spinner-Veit hatte noch nicht die Hausschwelle betreten, da stand sie schon vor ihm, mit scheuen Augen und erregten Zügen, und unter wispernden Worten führte sie ihn zurück an das Zaunthor und schob ihn auf die Straße hinaus. Gleich am folgenden Morgen suchte Götz den Alten in seinem Armenstübchen auf und erfuhr nun, daß Kuni dem Spinner-Veit das Betreten des Pointnerhofes verboten habe, allerdings mit den freundlichsten Worten. „Jetzt is mein’ einzige Freud’ dahin,“ greinte der arme Narr, „denn wann ich ihr g’rad a Bißl gut wär’, hat die Bäuerin g’sagt, nachher soll’ ich mich net ehnder wieder sehen lassen, solang sie’s mir net selber verlaubt. Und schau, was kann ich denn nachher machen jetzt? Denn lieber möcht’ ich versterben, eh daß ich g’rad a Schrittl thät’, wo ihr net taugt – so viel gern hab’ ich s’, Dein’ Bäuerin, ja!“

In sonderbarer Bewegung hatte Götz den Alten verlassen. Von diesem Tage an beobachtete er Gregor mit noch schärferen Augen, da bei diesem allein die Ursache liegen konnte, weßhalb der Spinner-Veit seine „einzige Freud’“ entbehren mußte. Ihn drückte wohl die Ahnung, daß hinter diesen Räthseln Ereignisse im Anzug wären, welche nicht vorübergehen würden, ohne die Wohlfahrt des Hauses zu schädigen, als dessen Glied er sich mit vollem Rechte betrachten durfte. Dennoch brachte er es nicht über sich, von dem, was er dachte und gewahrte, gegen Karli oder den Pointner nur ein einziges Wort verlauten zu lassen. Aber er verblieb im Hofe und schickte an seiner Stelle den Martl zu den Holzarbeiten auf den Sonnberg.

Den lauernden Augen Gregor’s blieb es nicht verborgen, wie aufmerksam er von Götz beobachtet wurde. Da ging er nun bald dem Knechte auf jede mögliche Weise aus dem Wege; bald wieder drängte er sich mit herausfordernder Ausdauer in seine Nähe und schaute ihm durch lange Stunden mit zwinkernden Blicken und spöttischem Lächeln bei der Arbeit zu. In solchen Stunden aber schien ihn Götz geflissentlich als Luft zu betrachten. Schließlich kehrte sich der Andere mit einem spitzigen Lachen auf dem Absatz um und suchte den Pointner auf, dem gegenüber er alles Mögliche an dem „Maier“ auszusetzen hatte. Doch wollte es ihm niemals recht gelingen, den Pointner gegen Götz in Harnisch zu bringen; er brachte im Gegentheil den Bauer nur gegen sich selbst in Hitze, so daß es eines erklecklichen Aufwandes an Späßen und Anekdoten bedurfte, um den Pointner wieder in gute Laune zu versetzen – in eine Laune, welche meistentheils ohnehin nur eine gespielte war; denn wenn der Bauer auch manchmal unwillkürlich über den bissigen Spott und die gewagten Scherze des Schwagers ins Lachen kam, so schien die Nähe seines Gastes doch niemals besonders angenehm auf ihn zu wirken.

Der Einzige im Hofe, welcher mit Gregor in ruhiger Gleichmäßigkeit verkehrte, war Karli. Der Besuch war nun einmal im Hause, und das war für ihn eine Thatsache, deren Aenderung man eben abwarten mußte. Sonderlich gewogen war er dem Gaste freilich nicht. Ihm ekelte es fast vor diesem Burschen, dessen Faust er in Gedanken immer zum Schlage gegen ein wehrloses Kind erhoben sah, so oft er ihn betrachtete. Aber was hatte er sich schließlich darum zu kümmern, wenn Kuni die Gegenwart dieses Menschen ertrug, der nur dem Namen nach ihr Bruder war, der wacker mitgeholfen hatte, ihr die Jugend zu verbittern und das Zusammenleben mit der Mutter zu verkümmern – vorausgesetzt, daß Alles auf Wahrheit beruhte, was er im Schimmelwirthsgarten erfahren. Er wußte selbst nicht, wie es kam – aber manchmal zweifelte er an dieser Wahrheit. Vielleicht war Alles erlogen, vielleicht hatte Kuni den Inhalt jenes Briefes, den er aus München an den Vater geschrieben, aufs Klarste widerlegen können? Dann aber hätte der Vater wohl um so eher Ursache gehabt, ihn einmal bei Seite zu nehmen, vertraulich [783] mit ihm zu reden und ihm zu sagen: Alles, was Du geschrieben, ist Lüge und Verleumdung. So aber hatte der Vater bisher mit keinem Worte noch jenes Briefes gedacht. Vor diesem Widerspruch blieb Karli stehen und dachte nicht mehr weiter. Er hatte allzuviel mit seinem Herzen und seiner Hoffnung auf Sanni’s Genesung zu thun, um sich lange Gedanken über Gregor und alles Andere zu machen. Vor allem suchte er die Ruhe im Hause zu wahren, ließ also Gregor seines Weges gehen, und verzog nur manchmal die Lippen, wenn er so mit ansah, wie bequem es sich der Bursche auf dem Sofa zu machen wußte, wie tief er in die Cigarrenschachtel des Pointner’s griff, wie fleißig er jeder Arbeit aus dem Wege ging, dafür aber mit staunenswerther Pünktlichkeit zu jeder Mahlzeit erschien.

Einmal aber wollte den jungen Pointner diese Langmuth doch im Stiche lassen. Es war am neunten Tage seit Sanni’s Erkrankung. Der Doktor hatte bei seinem Morgenbesuche ein gar ernstes Gesicht gezeigt und schließlich gestanden, daß dieser Tag die Entscheidung bringen müsse, entweder die Wendung zum Besseren oder – das Schlimmste. Auf des Pointner’s jammernde Bitte hatte man diese Eröffnung vor Karli geheim gehalten. Der Bursche schien es aber zu fühlen, daß ihm irgend etwas verschwiegen wurde. Mit unruhigen Augen schaute er Jedem ins Gesicht, hielt immer wie unter stätem Lauschen die Lippen halb geöffnet und schoß in zitternder Aufregung während des ganzen Vormittags in Haus und Hof umher. Mittags bei Tische hielt er es kaum eine Minute auf seinem Platze aus. Um ihn ein wenig zu zerstreuen, nahm ihn der Pointner zur Besichtigung einer Wiese mit, die man ihm zum Kaufe angetragen hatte. Auf halbem Wege aber brannte Karli dem Vater durch und rannte wieder nach Hause. Als er hier den Flur betrat und über die Treppe hinaufschleichen wollte, schlug eine scharfe Stimme an sein Ohr. Unwillig über diese Ruhestörung öffnete er die Stubenthür und sah Götz mit zorngeröthetem Gesichte vor dem Tische stehen, hinter welchem Gregor saß, der eben unter bissigen Worten ein blankes Messer in die Tischplatte stieß.

„So, g’rad kommst recht,“ fuhr Gregor auf, als er des Burschen ansichtig wurde, „und da kannst Dei’m lümmelhaften Knecht gleich sagen, wie a Dienstbot’ mit der Herrschaft ihre Gäst’ zum reden hat!“

„Vor allem bitt’ ich mir a staders Reden aus,“ erwiederte Karli gereizt. „Und im Uebrigen – was hat’s denn geben, Götz?“

„Was wird’s denn ’geben haben? An Pfifferling!“ schnitt Gregor dem Knechte die Antwort ab. „Da am Tisch bin ich g’sessen, und in der Langweil’ hab’ ich mein Messer ’raus’zogen und hab’ so a Bißl im Holz umeinander g’stupft – und da kommt auf amal der arragante Lackl da ’rein –“

„Ja, ich komm’ in d’ Stuben,“ fiel Götz mit harten Worten ein, „und wie ich sieh, daß ihm nix G’scheiters net einfallt, als daß er den ganzen Tisch verschneidt, g’rad wie a Büberl –“

„Ja Himmel, Teufel!“

„– g’rad wie a Büberl, wo zum ersten Mal an Feitl in d’ Hand kriegt – da hab’ ich mir zum sagen ’traut, daß man mit ander’ Leut’ ihrem Sach’ dengerst a Bißl feiner umgeht und schon gar mit ei’m Tisch, an dem man dreimal im Tag von der Freundschaft zehrt.“

Gregor’s blasse, verlebte Züge spielten ins Grünliche. Mit einem knirschenden Fluche sprang er hinter dem Tische hervor. Karli aber vertrat ihm raschen Schrittes den Weg, und während er mit zornigen Blicken die schneeweiß gescheuerte Tischplatte streifte, in welche Gregor’s Name schon zur Hälfte tief eingeschnitten war, stieg ihm das Blut mit dunkler Röthe ins Gesicht.

Gregor stutzte, als er in Karli’s blitzende Augen sah, und murrte: „Jetzt ich sag’ halt –“

„Und ich – ich sag’ –“ fiel ihm Karli mit bebender Stimme ins Wort; doch weiter kam er nicht; erschrocken verstummte er und lauschte nach dem Flur hin.

Fliegende Tritte eilten draußen über die Treppe nieder, die Thür wurde aufgerissen, und Kuni schoß in heller Aufregung über die Schwelle: „Is der Karli net – Gott sei Dank, Karli, daß daheim bist! Jetzt komm nur geschwind, komm, d’ Sanni is aus’m Fieber erwacht, und g’rad allweil nach Dir verlangt s’ – nach Dir, Karli, nach Dir!“

Der Bursche stand und zitterte an Händen und Füßen. Der tödlichste Schreck hätte ihn nicht so sehr um alle Fassung bringen können, wie es die jähe Freude that. Doch als ihn Kuni am Arme packte, riß er sich mit einem schluchzenden Laute los, stürmte aus der Stube, und mit zwei Sätzen stand er oben auf der Treppe. Hastig stieß er die schweren Schuhe von den Füßen und taumelte in die Kammer. Die Wärterin, welche zu Häupten des Bettes stand, nickte ihm lächelnd zu; er aber sah sie nicht, er sah nur das schmale, blasse, von den schwarzen Haaren umrahmte Gesichtchen, aus welchem zwei feuchte blaue Augen ihn in heißer Sehnsucht entgegenleuchteten, und sah nur die mageren, wachsbleichen Hände, die sich verlangend nach ihm erhoben.

„Sanni – Sanni!“ stammelte er in Weh und Freude, und vor dem Lager in die Kniee brechend, umschlang er die Geliebte mit beiden Armen und barg sein thränenüberströmtes Gesicht an ihrer Brust.

Leise weinend legte sie ihre Wange auf seinen Scheitel und streichelte ihm mit bebender Hand die Haare.

Da klang von der Thür her ein schwerer stockender Seufzer; die Beiden aber hörten ihn nicht; nur die Wärterin drehte das Gesicht über die Schulter und schaute verwundert in die finsteren Züge der jungen Bäuerin, deren Augen unverwandt und mit verzehrenden Blicken an dem jungen Paare hingen. Als aber Sanni sich plötzlich aufrichtete, wandte sich Kuni hastig ab und verschwand im Dunkel des Flurs.

Mit ängstlichen Blicken schaute Sanni um sich, und in scheuer Frage glitt es von ihren schmalen Lippen: „Wo – wo is er – wo is er denn?“

„Mußt Dich net sorgen, Schatzerl – fort is er!“ stammelte Karli ohne Besinnen; er sagte eben, was ihm der Augenblick auf die Zunge legte. „Fort is er! Fort! Und wieder ’nüber in sein Amerika!“

Erschrocken starrte ihm Sanni in die Augen; ein Zittern kam über ihre Arme, und in lautes Weinen ausbrechend, barg sie das Gesicht in beiden Händen.

Karli wollte ihr die Arme niederziehen, wollte sie mit zärtlichen Worten beruhigen, aber die Wärterin duldete nicht, daß er noch länger bleibe. Sie schob ihn zur Thür hinaus und hielt ihm dabei mit leisen Worten vor, welche üble Folgen solche Aufregung für Sanni haben könnte.

Glücklicher Weise bewahrheitete sich diese Befürchtung nicht. Tag um Tag verging, und jeder brachte einen merklichen Fortschritt in Sanni’s Besserung. Da machte nun die Frau des Lehrers den Vorschlag, daß Sanni, sobald es thunlich wäre, vom Pointnerhof in das Lehrerhaus übersiedelt werden sollte. Alle waren dafür, der Pointner, Götz, der Doktor – nur Kuni und Karli wehrten sich gegen dieses Vorhaben mit allen Kräften. Aber die Beiden mußten sich bescheiden, als Sanni selbst mit schüchternen Bitten für die Uebersiedlung eintrat. Ein sonniger Oktobertag begünstigte die Sache. Der von Götz so ziemlich wieder in Ordnung gebrachte Schimmel wurde vor die kleine Kutsche gespannt und Sanni auf den mit Kissen ausgelegten Sitz gehoben. Dann ging es in langsamem Zuge die Straße dahin; Karli führte das Pferd am Zügel, während der Pointner an der rechten, die Frau des Lehrers an der linken Seite des Wagens schritt. Götz war auf die Straße hinausgetreten und schaute dem Gefährte nach, bis es um eine Biegung des Weges verschwand.

Nun schloß er das Zaunthor und schlug die Richtung nach dem Holzhof ein; doch als er um die Hausecke biegen wollte, stand er plötzlich still. Durch ein offenes Fenster schlug aus der Stube die erregte Stimme der Bäuerin an sein Ohr: „Und ich will amal nix hören davon. Und jetzt laß mich aus!“

„Und jetzt g’rad will ich’s haben, daß Du ihn ausschaffst!“ erwiederte kaum verständlich eine zischende Stimme.

„Den Götz – und ausschaffen? Da – reiß an Stein aus der Wand! Wie so a Stein in d’ Mauer, so verwachsen is der Götz in’ Hof!“

„Ob jetzt verwachsen oder net! Ich sag’ Dir nur g’rad das Eine: er oder ich! Daß aber ich net gutwillig geh’, das brauch’ ich Dir net erst zum sagen. Da könnt’ ich ’leicht zum Abschied a Bißl ’was verzählen! G’spaßige G’schichten – ja!“

Da wurde es so still in der Stube, daß Götz den Pendelschlag der Wanduhr hören konnte. Bis in die Lippen war er erblaßt, und nun ballte er die Fäuste, schüttelte zornig den Kopf und ging mit lauten Schritten davon.

(Fortsetzung folgt.)


[784]

Vom Nordpol bis zum Aequator.

Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Edmund Alfred Brehm.
Land und Leute zwischen den Stromschnellen des Nil.
(Fortsetzung.)

Die Stromschnellen werden thalab bei hohem und mittlerem, bergwärts bei mittlerem und niederem Wasserstande befahren. Während des tiefsten Nilstandes würde wohl jedes zu Thal ziehende Boot zerschellt werden, während der Nilschwelle selbst das größte Segel nicht ausreichen, ein größeres Fahrzeug aufwärts zu treiben. Zur Zeit der Nilsenke müssen Hunderte von Menschen aufgeboten werden, um eine mittelgroße Barke der alles vermögenden Regierung zu Berge zu ziehen; zur Zeit der Nilfälle würden sie auf den wenigen, nicht überflutheten Felseneilanden zu beiden Seiten der in Frage kommenden Fahrstraßen kaum oder nicht Raum finden, um fußen zu können. Die volle Nilschwelle eignet sich am besten für die Thalfahrt, mittelhoher Wasserstand auch aus dem Grunde am meisten für die Bergfahrt, als die um diese Zeit bereits regelrecht wehenden Nordwinde eine verläßliche Segelkraft gewähren.

Alle Boote, welche einzig und allein für den Dienst im Gebiete der Stromschnellen bestimmt sind, unterscheiden sich durch ihre geringe Größe wie durch ihre Bauart, durch Takelung und Gestalt des Segels wesentlich von den übrigen Nilfahrzeugen. Der Rumpf enthält nur wenige Rippen und die Planken werden durch schief eingeschlagene, die Schmalseiten verbindende Nägel zusammengehalten; das Segel ist nicht dreieckig, sondern rautenförmig, auch an zwei Raaen befestigt derart, daß durch die untere derselben mehr oder weniger Leinewand aufgewickelt oder dem Winde preisgegeben werden kann. Bauart und Takelung erweisen sich als durchaus zweckentsprechend. Die geringe Größe, zumal Länge des Bootes gestattet, jähe Wendungen auszuführen; die Zusammenheftung seiner Planken verleiht dem Schiffskörper federnde Bieg- und Schmiegsamkeit, welche bei dem häufigen Auffahren zu Statten kommt; der je nach der Stärke des Windes wie der Strömung zu regelnde Segeldruck endlich ermöglicht annähernd gleich nachhaltige Besiegung des so vielfach wechselnden Widerstandes. Demungeachtet fährt man im Stromschnellengebiete weder stromauf- noch stromabwärts allein, vielmehr stets in Gesellschaft, um sich gegenseitig und rechtzeitig unterstützen zu können.

Unmittelbar nach dem Absegeln vom Befrachtungsorte oder von dem während der Nacht eingenommenen Ruheplatze gewährt eine zu Berge ziehende Bootflotte ein hübsches ansprechendes Bild. Alle Fahrstraßen des Stroms weisen Segel auf; man sieht deren oft zwanzig und mehr zwischen den dunklen Felsen dahinschwimmen. Anfänglich halten noch alle Fahrzeuge ziemlich gleiche Abstände ein; bald aber verändern Strömung und Segeldruck die zuerst innegehaltene Ordnung. Ein und das andere Schifflein bleibt mehr und mehr zurück, ein und das andere läßt den Haupttheil der Flotte hinter sich, und schon nach Verlauf einer Stunde liegt eine weite Strecke zwischen dem vordersten und dem hintersten Boote. Doch fördert die Fahrt, selbst bei heftigem und stätigem Winde, weit weniger, als es den Anschein hat. Wohl brechen sich die Wogen rauschend am Buge des Fahrzeuges; dieses aber hat mit einem so heftigen Gefälle zu kämpfen, daß es trotz alledem nur langsam vorwärts kommt. Es gilt als Kunststück, hier so zu steuern, daß das Schifflein möglichst wenig Biegungen zu beschreiben hat und dennoch den unter Wasser liegenden Felsblöcken ausweicht; denn jede Wendung macht eine Veränderung in der Stellung des ungefügen Segels nothwendig und jeder Aufprall des Schiffsbodens, verursacht einen Leck. Schiffsführer und Schiffsleute haben daher ununterbrochen zu thun. Demungeachtet beginnt ihre eigentliche Arbeit erst Angesichts einer der zahllosen Stromschnellen, welche überwunden werden sollen. Das bisher nur theilweise entfaltete Segel wird gänzlich aufgerollt und dem Winde dargeboten; die Barke jagt wie ein kräftiges Dampfschiff durch das Felsengewirre und erreicht den unter fast allen Wasserstürzen kreisenden Wirbel. Alle Schiffsleute stehen an den ausgelegten Rudern und bereit gehaltenen Tauen, um nach Erforderniß einzugreifen, wenn das Boot, wie voraussichtlich geschehen muß, von dem Wirbel gefaßt und im Kreise umhergetrieben wird. Auf Befehl des Schiffers tauchen auf dieser Seite die Ruder ins Wasser, stoßen auf jener lange Stangen auf die Felsen, um das Fahrzeug vom letzteren abzuhalten; verkleinert oder vergrößert, dreht oder wendet sich das von den erfahrensten Matrosen gehandhabte Segel. Ein-, zwei-, sechs-, zehnmal versucht man vergeblich, den Wirbel zu durchschneiden; endlich gelingt dies doch, und das Boot erreicht das untere Ende des Wassersturzes. Hier aber steht es wie festgebannt: Segel und Wogendruck halten sich im Gleichgewichte. Der Wind verstärkt sich und das Fahrzeug rückt um einen, um mehrere Meter vor; der Segeldruck wird schwächer, und die Wogen werfen es an die alte Stelle zurück.

Nochmals beginnt es seinen Kampf mit Strudel und Wellen und nochmals wird es durch letztere besiegt. Jetzt gilt es, das glücklich errungene Ziel festzuhalten. Einer der Schiffsleute packt das Tau mit den Zähnen, wirft sich inmitten des ärgsten Wogenschwalles in den Strom und versucht, schwimmend das schwere Tau nach sich schleppend, einen oberhalb des Schiffes über die tosenden Wogen emporragenden Felsblock zu erreichen. Die Wellen schleudern ihn zurück, bedecken, überschütten ihn; er aber wiederholt seine Anstrengungen, bis er einsehen muß, daß seine Kräfte den gewaltigeren des Stromes unterliegen und er auf seinen Wink am Taue selbst zum Boote zurückgezogen wird. Noch einmal spielen, vernichtungsmächtig, Strudel und Wellen mit dem ihnen gegenüber, so gebrechlichen Gebäude, noch einmal treibt es der Wind, beiden zum Trotze, vorwärts.

Da hört man plötzlich einen beängstigenden Krach; der Steuermann verläßt in demselben Augenblicke seinen Platz und fliegt in hohem Bogen durch die Luft, in den Strom: das Boot ist auf einen unter den Wellen verborgenen Felsen gefahren. Eiligst bemächtigt sich einer der Schiffsleute des Steuers, unverzüglich wirft ein zweiter dem im Strudel treibendem Steuermanne einen aufgeblasenen, an einem Seile befestigten Schlauch zu und ohne jegliche Zögerung stürzen sich die übrigen, Hammer, Meißel und Werg in den Händen haltend, in den Schiffsraum hinab, um den bestimmt zu findenden Leck sofort zu verstopfen. Der Mann am Steuer wahrt, so viel ihm möglich, das Fahrzeug vor neuem Unheil; der gebadete Steuermann entsteigt mit einem mehr gestöhnten als gebeteten: „El hamdi lillahi“ – Gott sei Dank – den trüben Fluthen; die Uebrigen hämmern und stopfen und wehren dem eindringenden Wasser; Einer opfert sogar sein Hemd, einen welcher bereits alles vorhandene Werg in sich aufnahm. Und abermals segelt das Boot durch Strudel und Wellen, schwankend, ächzend, knarrend wie ein Seeschiff im Sturme; abermals erreicht es die Stromschnelle und abermals wird es festgehalten durch Wind und Wogen. Zwei Schiffsleute springen gleichzeitig in den Strom, arbeiten mit Anstrengung aller Kräfte gegen dessen Wogen, erreichen glücklich das ersehnte Felsstück, umschlingen es mit dem einen Ende des Taues und winken den Uebrigen, das Boot heranzuziehen. Dies geschieht; an den Felsen angekettet liegt das Boot, inmitten des heftigsten Wogenschwalles ununterbrochen so stark auf und nieder schwankend, daß es Seekrankheit verursachen kann und thatsächlich verursacht.

Ein zweites Boot nähert sich und bittet um Unterstützung. Ihm wirft man vermittelst des aufgeblasenen Schlauches ein Tau zu und erspart ihm so Zeit und Arbeit. Bald liegt es, wenig später ein drittes, viertes unter demselben Felsen, und alle tanzen, gemeinschaftlich auf und nieder.

Nun aber ist die vereinigte Schiffsmannschaft zahlreich und stark genug, um die Ueberfahrt vollends bewerkstelligen zu können. Doppelt so viele Matrosen, als jedes Fahrzeug führt, besetzen alle nöthigen Posten des einen; die übrigen schwimmen, waten und klettern, Taue nach sich ziehend, zu einer Felseninsel oberhalb der Stromschnelle, und schleppen eins der Boote nach dem andern, ihre Kraft mit dem Segeldrucke vereinend, über das rauschende Gefälle der Stromschnelle hinauf. Hier und da und dann und wann genügt wohl auch der Segeldruck allein, um dasselbe zu erreichen; unter so günstigen Umständen aber gefährdet nachlassender Wind nicht selten Fahrzeug und Bemannung. Oft muß ein Boot mitten im Wogengebrause stunden- und selbst tagelang

[785]

Berthalda.
Nach dem Oelgemälde von Hans Makart.

[786] liegen bleiben und günstigen Wind abwarten. Dann kann man wohl auch an jedem Felsenzacken ein Schifflein hängen sehen, ohne daß eines im Stande wäre, dem anderen Hilfe zu bringen.

Mehrere Male bin ich genöthigt gewesen, das nächtliche Lager auf einem der schwarzen Felsen aufschlagen zu müssen, weil die heftige Bewegung des in der Stromschnelle auf und nieder schaukelnden Bootes den Schlaf verhinderte. Schwerlich kann man sich eine absonderlichere Schlafstätte denken. Der Grund, auf welchem man ruht, scheint zu erzittern vor den anstürmenden Fluthen; das Brausen und Rauschen, Zischen und Toben, Dröhnen und Donnern der Wogen übertäubt jeden andern Hall: wortlos sitzt oder liegt man auf seinem Teppiche inmitten der Genossen. Wie vorüberziehender Nebel sprüht bei jedem Windstoße feiner Dunstregen über das Felseneiland. Das belebende Lagerfeuer wirft wundersame Lichter auf das Gestein und die dunklen, an allen vorspringenden Ecken und Kanten schäumenden Gewässer, läßt aber die im Schatten liegenden Wirbel und Wasserstürze noch grausiger erscheinen, als sie sind. Zuweilen möchte man meinen, daß sie hundert Rachen öffneten, um das arme Menschenkind zwischen ihnen zu verschlingen. Doch dessen Vertrauen ist fest wie der Grund, auf welchem es sich bettete. Mag der gewaltige Strom donnern, die Brandung tosen und schäumen wie sie wollen: man ruht sicher auf Felsen, welche beiden Jahrtausende hindurch Trotz boten. Aber wenn das Tau risse und das rettende Boot an den nächsten Felsen geschleudert und zerschellt würde? Dann wird ein anderes erscheinen, um die Schiffbrüchigen an das Ufer zu bringen! Man ist im Stande, zu schlafen, ruhig zu schlafen, trotz solcher und ähnlicher Gedanken und trotz des ununterbrochenen Dröhnens; denn Gefahr giebt Muth und Muth Vertrauen, und für das betäubte Ohr wird der Donner der Wogen zuletzt zum Schlafgesange.

Am nächsten Morgen aber, welch ein Erwachen! Im Osten erglüht der Himmel im duftigsten Roth; die alten Felsenriesen schlagen einen Purpurmantel um ihre Schultern und erglänzen sodann in blitzendem Lichte, als beständen sie aus geglättetem Stahle. Licht und Schatten weben auf den schwarzen Felsenmassen und in den mit goldgelbem Sande erfüllten Schluchten das wunderbare, unbeschreiblich herrliche Farbengewand der Wüste; Tausende und Abertausende von Wasserperlen glänzen und flimmern dazwischen, und der Strom rauscht seine gewaltige, ewig gleiche und ewig verschiedene Weise dazu. Solch Schauspiel, solche Melodie füllt jedes Menschenherz mit Befriedigung und mit Entzücken. Wahrhaft andächtig verbringt man den Morgen auf seiner großartigen Schaustätte; denn erst in den Vormittagsstunden erhebt sich der regelmäßig nach Süden strömende Segelwind. Mit ihm beginnt wiederum Arbeit und Gefahr, Mühe und Kampf, Wagniß und Sorge: und so schwindet ein Tag nach dem andern, so bleibt Stromschnelle nach Stromschnelle hinter dem Schiffer.

Die Reise zu Berg ist gefahrvoll und zeitraubend, die Fahrt zu Thal ein Wagestück ohne Gleichen; denn sie ist ein tolldreistes Jagen durch Fluth und Schnelle, Strudel und Wirbel, Wasserstürze und Felsenengen, ein muthwilliges Spiel mit dem eigenen Leben.

Thalfahrten durch das Gebiet aller Stromschnellen werden nur von solchen Booten unternommen, welche im Sudan gezimmert wurden und für das untere Stromthal bestimmt sind. Etwa zehn von hundert zerschellen auf der Reise; daß nicht verhältnißmäßig eben so viele Matrosen verunglücken als Schiffe, erklärt sich einzig und allein durch die unübertreffliche Schwimmfertigkeit der nubischen Schiffer, welche nicht einmal dann immer ertrinken, wenn sie von den Wogen gegen einen Felsen geschleudert wurden, für gewöhnlich aber wie Enten mit den Wellen treiben und schließlich doch wiederum das feste Land gewinnen.

Ich will versuchen, einige Bilder solcher Thalfahrt so treu als möglich wiederzugeben.

(Schluß folgt.) 




Beschränkung der Ansteckungsgefahr in Kurorten.

Die diesjährige Reisesaison hat wieder an vielen Orten einen Uebelstand hervortreten lassen, welcher dringend Abhilfe erfordert. Einige Beispiele mögen sprechen. Eine Familie reiste mit ihrem einzigen Sohne in ein Bad. Bald nach der Ankunft erkrankt das Kind an Diphtherie und stirbt. Nachträglich bringt der Vater in Erfahrung, daß in dem von ihm gemietheten Logis kürzlich ein Kind an Diphtherie erkrankt gewesen sei; er hätte gern die größte Entschädigung gezahlt, falls ihm diese Mittheilung früher geworden wäre. – In einem andern Bade-Orte brachte eine Mutter ihr Kind in das gemeinschaftliche Kinderbad. Ein darin befindliches anderes Kind beginnt plötzlich zu husten und leidet, wie sich zeigt, an sehr starkem Keuchhusten. Das Gegentheil zeigt ein weiterer Fall. Eine Familie, deren Kinder leichtes Scharlachfieber überstanden hatten, reisten vier Wochen nach dem Beginn der Krankheit in eine Sommerfrische. Ihr Haus bildete den Herd für eine Scharlachepidemie, welche sämmtliche Fremden zum großen Nachtheile der Einwohner aus dem Städtchen vertrieb.

Jeder unserer Leser wird ähnliche Beispiele anzuführen wissen; sie charakterisiren das von jedem Arzte zu bestätigende Faktum, daß bei Ausbruch ansteckender Krankheiten in fremden Familien mit peinlicher Sorge darüber gewacht wird, daß ja keines von den nicht erkrankten Kindern z. B. zu früh die Schule besuche, während andererseits bei einem ähnlichen Fall in der eigenen Familie die Eltern über diese lästige Maßregel der Schulenthaltung Gesunder, welche aber den Ansteckungsstoff mit sich führen können, lieber schneller hinwegzukommen suchen.

Das Reisen hat in den letzten Jahren einen Umfang erlangt wie nie zuvor. Zur Erleichterung der Fortbewegung (Rundreisebilletts etc.) tritt das Gefühl der Nothwendigkeit für die meisten Kreise hinzu. Die Zeiten, in denen ein Plauderstündchen auf den Steinsitzen vor der Thür die Geschäftssorgen vergessen ließ, sind selbst in den kleinen Städten vorüber; das hastige Leben der Jetztzeit erfordert aber dafür, wenn irgend möglich, ein Ausruhen von der Arbeit für einige Zeit. Mit diesem Vielreisen wird aber ein größerer Transport von ansteckenden Krankheitskeimen vorzüglich zur Zeit der Reisesaison nothwendig herbeigeführt: eine Thatsache, welcher bisher viel zu wenig Rechnung getragen worden ist.

In Sommerfrischen und Bädern sind lokalgesetzliche Bestimmungen erforderlich und leicht herbeizuführen, daß Fremde, in deren Familien Diphtherie und Scharlach geherrscht haben, nicht vor acht Wochen nach Beginn der Erkrankung solche Orte auf längere Zeit besuchen; bei Masern genügt eine kürzere Zeit von drei Wochen. Ausgebrochene ansteckende Krankheiten sind aber anders zu bekämpfen als bisher.

Die Familien sind nicht, wie leider häufig geschieht, schleunigst des Landes zu verweisen oder in einer Art Armenhause unterzubringen, sondern es müssen in den Kurorten einige Zimmer vorhanden sein, welche, wegen der später nothwendigen Desinfektion, mit dem einfachsten Meublement eingerichtet, einen billigen Aufenthalt für solche Erkrankte bieten. Das vorher innegehabte Logis soll während dieser Saison nicht wieder vermiethet werden und gebührt dem Besitzer eine Entschädigung durch die Gemeinde. Diese geringen Ausgaben können auf gleiche Weise durch die Badetaxe bestritten werden, wie Koncerte und die Verschönerung der Wege. In Thüringen, wo durch das Zusammenwirken der Mehrzahl der Bäder schon viel Ersprießliches zum Wohle der Besucher geschaffen wurde, stand dieser wichtige Gegenstand auf der Tagesordnung des im Oktober stattgefundenen Bäderverbandstages und in derselben gelangten nachfolgende Paragraphen zur Annahme:

„1) An Scharlachfieber leidende Kranke sind, so lange die Gefahr der Ansteckungsfähigkeit nach Ausspruch des Arztes besteht, zu isoliren und jedenfalls aus Kur- und Logirhäusern in eine Wohnung, wo Isolirung stattfinden kann, zu überführen; überhaupt ist möglichst Sorge dafür zu tragen, daß das Scharlachfieber nicht auf andere Gäste übertragen werden kann.

2) Keuchhustenkranke Kinder dürfen, so lange das Stadium der Ansteckung bei ihnen besteht, nur in bestimmten, bekannt zu machenden Stunden die Kuranstalten besuchen und sind, um eine Uebertragung der Krankheit auf andere Kinder möglichst zu vermeiden, auch von dem Besuche der gemeinschaftlichen Mittagstafel, der Koncerte und Vergnügungen und gemeinschaftlichen Promenaden fern zu halten. Die einzelnen Bäder haben in geeigneter Form für die Bekanntmachung dieses Beschlusses Sorge zu tragen.“

Dieser Beginn einer Reform auf dem Gebiete des Badewesens ist freudig zu begrüßen. Erst allmählich kann mehr erzielt werden. Die Maßregeln sind überall leicht einzuführen, und schon durch sie wird sicher die ausgebrochene ansteckende Krankheit leichter beschränkt. Zur Verhinderung der Einschleppung muß aber noch auf strengere Weise durch das Mitwirken der Fremden und ihrer Hausärzte vorgegangen werden. Manche Eltern brauchten dann mit weniger Schmerz an eine vergangene Reise zurückzudenken.

Einen Hauptübelstand in der Sommerfrische bilden immer noch die Kinderbettstellen. Gerade durch sie ist eine Ansteckung leicht möglich, und ist es zu verwundern, daß in unserer so praktischen Zeit noch keine Reisebettstellen für Kinder geschaffen wurden. Familien mit Kindern suchen während ihrer Ferien fast immer nur einen Ort auf, nach welchem gewöhnlich eigene Betten mitgenommen werden. An Kinderbettstellen herrscht aber dort fast immer Mangel. Der geringe Kostenbetrag einer solchen Reisebettstelle, welche beim Transport nur aus einem Bündel eiserner Stäbe bestehen dürfte, die, durch Schrauben verbunden, schnell ein Bett bilden, wird durch den Ausfall der Bettpreise in der Sommerfrische schnell gedeckt. Dr. Taube–Leipzig.     



[787]

Blätter und Blüthen.

Ein Urtheil über Lassalle. Ueber das Ende des vielbesprochenen Volksmannes hat sich allmählich eine ganze Litteratur gebildet. Dieselbe ist neuerdings vermehrt worden durch die Schrift: „Lassalle’s Leiden“, welche auf Grund einer verloren geglaubten Handschriftensammlung den so tragisch ausgehenden Liebesroman Lassalle’s schildert (Berlin, Paul Hennig). Die Grundzüge desselben erscheinen indeß dadurch nicht in neuem Lichte; die früheren Schilderungen werden nicht als unrichtig nachgewiesen, sondern nur ergänzt und farbenreicher kolorirt. Die Leidenschaftlichkeit Lassalle’s, die sein ganzes Herz erfüllende Neigung zu Helene von Dönniges macht sich in stürmischen Ausbrüchen Luft, und als er sich verrathen glaubt, da kennt sein Zorn und seine Verzweiflung keine Grenzen; er bewegt sich überhaupt in Ausdrücken, die man ohne Erstaunen in einem Drama der Grabbe’schen Schule, der genialübertreibenben Kraftdramatiker lesen würde.

„Du kannst mich nicht verrathen,“ schreibt er an Helenen, „einen Mann wie mich, der Dich so rasend liebt; ich bin mit Diamantketten an Dich geschmiedet. Ich leide tausendmal mehr als Prometheus am Felsen. Aber wenn Du meineidig wirst, nach so vielen Eiden und solcher Liebe gegenüber, so wäre die Menschennatur entehrt; man müßte verzweifeln an jeder Wahrheit, jeder Treue; Lüge wäre Alles, was existirt. Dies sagen Alle, welche diese blutige Geschichte kennen.“ Und an seine Freunde schrieb er: „Wenn dieses Weib von mir läßt, für das ich so namenlos märtyrere, so ist Alles geschändet, was Mensch heißt. Ein Felsenherz, das so liebt, so treu aushält wie das meinige, so zu zerreißen! Gehe ich jetzt zu Grunde, so ist es nicht mehr an der brutalen Gewalt, die ich gebrochen habe, sondern – wenn sie mir oben vor dem Notar ‚Nein‘ erklärt statt ‚Ja‘ und mit mir zu gehen – an dem grenzenlosen Verrath, an dem unerhörtesten Wankelmuth und Leichtsinn eines Weibes, das ich weit über alles Maß des Erlaubten hinaus liebe.“ Und in seinem Abschiedsbrief an Helene schreibt er fast im Stil der Schiller’schen „Räuber“: „Wenn Du mich zerbrichst durch diesen bübischen Verrath, den ich nicht überwinde, so möge mein Los auf Dich zurückfallen und ein Fluch Dich bis zum Grabe verfolgen. Es ist der Fluch des treuesten, von Dir tückisch gebrochenen Herzens, mit dem Du das schrecklichste Spiel getrieben. Er trifft sicher!“

Man wird erstaunt sein über den Sturm und Drang einer solchen Liebesromantik, welche das Herz eines Philosophen erfüllt. Wenig Ähnliches wird die Geschichte der Philosophie aufweisen. Welche Seelenruhe haben Spinoza und die anderen Denker auch im Leben bewährt! Doch Lassalle erscheint hier mehr in jener erregten Stimmung, die den leidenschaftlichen Agitator charakterisirt. Und doch war Lassalle ein großer Gelehrter, und wer sich durch Kenntniß seiner wissenschaftlichen Werke nicht selbst davon überzeugen konnte, der wird dem Urtheil eines ausgezeichneten Mannes der Wissenschaft hierin glauben müssen, eines großen Philologen, Boeckh, den Lassalle anrief, um in seiner Herzensangelegenheit bei Herrn von Dönniges, dem Vater Helenens, zu vermitteln. Er that das zwar nicht direkt, aber er stellte dem Rechtsanwalt Holthoff einen Brief zur Verfügung, in welchem er sein Urtheil über Lassalle ausspricht.

„Ich stehe mit Herrn Lassalle seit vielen Jahren in Verbindung; ich bin in diese Verbindung noch mehr hineingezogen worden durch Alexander von Humboldt, der sehr viel auf ihn hielt und ihn auch gegen Anfechtungen zu vertreten bestrebt war. Ich halte Herrn Lassalle für einen eminenten Geist von tiefen Einsichten in den verschiedensten Gebieten, von einer außerordentlichen Schärfe und Präcision des Urtheils und gleich großer Darstellungsgabe. Was seine politische Thätigkeit betrifft, so bin ich überzeugt, daß er nach bestem Wissen und Gewissen handelt, sich von Niemand als Werkzeug gebrauchen läßt, sondern mit voller Unabhängigkeit seinen Zweck verfolgt, keine Aufopferung scheut, jeder Gefahr trotzt, daß er eben gerade aus geht und weder rechts noch links schaut, können ihm die zur Last legen, die auf Klugheitsrücksichten halten. Er hat viele liebenswürdige Eigenschaften, und ich bekenne, daß ich mich durch die Lebhaftigkeit und das Geistvolle seiner Unterhaltung stets von ihm angezogen fühlte.“

Dies Letztere hat kein Geringerer bestätigt als Fürst Bismarck, der sich in ähnlicher Weise über Lassalle aussprach. †      

Wilde Ziege von der Insel Giura. (Capra dorcas.) Nach dem Leben gezeichnet von G. Mützel.

Eine neuentdeckte Wildziege. Wenn mit Hilfe des Mikroskopes neue Thiere aufgefunden werden oder das Schleppnetz aus ungeahnten Tiefen des Meeres noch nie gesehene lebende Wesen zu Tage fördert, so nehmen diese Entdeckungen im Hinblick auf die verbesserten wissenschaftlichen Hilfsmittel nicht Wunder. Aber die Aufgabe, ein neues Säugethier, und noch dazu auf europäischem Boden erjagen zu wollen, hätten die Zoologen für unlösbar gehalten; denn nach allgemeiner Annahme enthält ihr System alle höheren Thiere unseres Erdtheils, so daß für etwaige Eindringlinge nirgends eine Lücke gelassen ist. Trotz alledem ist von dem Forschungsreisenden E. v. Oertzen ein neues europäisches Säugethier entdeckt und damit die Klasse der Wiederkäuer um einen bisher unbekannten Artgenossen bereichert worben. Es ist die auf dieser Seite abgebildete Wildziege (Capra dorcas).

Das kräftig gebaute, im Berliner Zoologischen Garten befindliche Thier ist kleiner als unsere Hausziege und hat ein röthlich gelbes Fell, auf dem sich schwarze Binden über Rücken und Hals kräftig abheben. Seine Heimath ist die nördlich von Euböa (Griechenland) gelegene, schwer zugängliche kleine Insel Joura (Giura), welche wegen ihres Ziegenreichthums von den Alten „Polyaipos“ genannt wurde. In neuerer Zeit ist der Bestand bis auf wenige Exemplare gelichtet. Doch schreibt ein Reisender noch im Jahre 1844: „Auf der unbewohnten Insel wimmelt es von einer Ziegenart; von welcher konnte ich nicht erfahren und trotz aller Anstrengungen und Versprechungen nicht einmal ein Gehörn erhalten. Sie sind so schlimm, daß sie den Jäger anfallen und, wenn er nicht vorsichtig ist, über die Felsen hinabstürzen.“

Der etwa zweijährige Bock im Berliner Zoologischen Garten zeigt die angeborene Wildheit noch in hohem Maße. Mit furchtbarer Kraft rennt er gegen das Gitter, hinter welchem das Publikum steht, und die verbogenen Eisenstäbe lassen zur Genüge erkennen, daß er den Menschen recht gefährlich werden kann. Wahrscheinlich ist die Capra dorcas, und nicht, wie bisher angenommen wurde, die Bezoarziege, die Stammform unserer Hausziege.

Am Caldonazzosee. (Mit Illustration S. 781.) Einer der lohnendsten Ausflüge, die von der alten Bischofsstadt Trient aus zu machen sind, führt den Touristen nach Osten, dem Laufe der wilden Fersina entgegen. Das Thal, durch welches diese schäumend und tosend herniederbricht, ist enge.

Hat man nach dreistündigem Aufstiege die gesegnete Hochebene erreicht, auf welcher Pergine liegt, so blinkt uns vom Südosten herauf die Perle des heiteren, gartenartigen Thales, der liebliche See von Caldonazzo, entgegen, das eigentliche Ziel unserer Wanderung. In zwanzig Minuten erreichen wir von Pergine aus sein Gestade. Links von der Straße, nur einen Büchsenschuß entfernt, ragt einsam auf isolirtem Felsplateau die uralte, romanische Kirche S. Christoforo empor, der Sage nach auf den Ruinen eines Merkurtempels erbaut. Sie dient heute leider nur noch als Futter- und Geräthemagazin des daneben hausenden Bauers, ist aber immerhin ein interessanter Vorgrund zum ersten Ausblick auf die dahinter sich ausdehnende Wasserfläche.

Der See ist von Nord nach Süd beinahe zwei Stunden lang und einhalb bis dreiviertel Stunden breit; er hat schön geschwungene Ufer, deren nordöstliches von einer niedrigen, aber steilen Hügelkette, die einige Dörfchen trägt, begrenzt wird.

Südwestlich liegen waldige Vorberge, hinter denen der gewaltige Monte Scanubio sein mächtiges Haupt erhebt. Am Fuße desselben wandern wir auf gut gebahnter Straße hart am See dahin, und bald nimmt uns prachtvolle Kastanienwaldung in ihrem Schatten auf. Es giebt vielleicht in ganz Tirol kein anmuthigeres Landschaftsbild, als es die Ufer unseres Sees bieten. Wie erquickend ist die Rast in duftiger Kühle unter den riesigen, altehrwürdigen Stämmen mit ihren breiten, saftiggrünen Laubkronen, das friedliche Wellenspiel zu unseren Füßen, während der Blick über den klaren, glitzernden Wasserspiegel zum wildzerklüfteten, in grandiosen Linien hinlaufenden Hochleitengebirge und weit hinab ins Val Sugana schweift!

Ein anderthalbstündiger Marsch südwärts führt uns in das Dorf Calceranica, ehemals Kalkrein genannt, hier verlohnt es sich, mit dem Zeichner unseres Bildes den bereits zurückgelegten Weg nochmals zu überschauen und das Auge den See entlang nach Norden zu wenden. Wir erblicken da rechts auf der Höhe das Dörfchen Ischia, am See-Ufer das Christophkirchlein, die Hochebene um Pergine, dahinter die schöngruppirten Höhen bei Faida und Madonna di Caravaggio, weiter zurück den Aufstieg ins schöne Pinèthal, während die ernsten Bergkontouren des Etsch- und Fleimserthales das anziehende Panorama wirkungsvoll abschließen.

In der Todesstunde. Es ist wiederholt die Meinung ausgesprochen worden, daß die letzten Aeußerungen der Menschen vor ihrem Verscheiden, als Summe der ganzen Lebensgeschichte, als das werthvollste Bekenntniß zu betrachten sind, denn der Hauch des Todes streift auch der Heuchelei die Maske vom Gesicht; aber es spricht doch auch Manches gegen diese Annahme, und der „Treppenwitz“, der in der Weltgeschichte sein frivoles Wesen treibt, [788] hat manches als authentisch betrachtete „letzte Wort“ auf dem Gewissen. So klingt es nicht sehr wahrscheinlich, daß Danton’s letzte Worte in dem einem Freunde gemachten Bekenntniß bestanden: „Freund, sollte es auch jenseits Revolutionen geben, so mische ich mich nicht hinein.“

Goethe’s letzter Seufzer: „Licht, mehr Licht!“ wird von Ottilie von Goethe sogar bestritten, und Hegel’s geistreiche, angeblich letzte Aeußerung: „Es hat mich nur Einer verstanden, und der hat mich mißverstanden!“ scheint eben so eine nachträgliche Erfindung zu sein; denn Hegel’s Wittwe, die des Philosophen Tod schilderte, erwähnt keine Silbe davon. Sehr schön klingt auch das dramatische Schlußwort Cäsar’s: „Et tu, Brute?“ (Auch Du, Brutus?), von dem sich aber bei den römischen Geschichtsschreibern keine Spur vorfindet; nach Sueton’s Zeugniß ist der große Cäsar lautlos zu Boden gestürzt. Notorisch sind Heinrich Heine’s letzte Lebenszeichen: „Schreiben – Papier – Bleistift …“ Er rief dies mit ersterbender Stimme; dann schloß er die Augen und war todt. Schiller verlangte in den letzten Minuten, „einen Blick in die Sonne“ zu thun. Nach einer andern Version flüsterten die Lippen des sterbenden Dichterfürsten die Worte: „Immer besser – immer ruhiger!“ Mit dem frommen Gebet: „In Deine Hände, o Herr!“ starb Torquato Tasso, und Klopstock rief: „Ja, wir sind Alle in Gottes Hand gezeichnet!“ Des frommen Herder’s letzter Wunsch galt den „Ideen“, und Wieland soll mit der Hamlet’schen Frage „Sein oder Nichtsein“ aus der Welt geschieden sein. Ein echtes Philosophenwort wird dem englischen Gelehrten Locke in den Mund gelegt; er hauchte „Genug!“ und starb. Mozart sprach sterbend den Wunsch aus: „Laßt mich nur noch zum letzten Male Musik hören!“ ähnlich den Worten Mirabeau’s: „Laßt mich bei den Tönen der Musik sterben!“ „Sieh, der Zeitpunkt zum Schlafen!“ sagte Byron, ehe sein Geist entfloh; und dasselbe klare Bewußtsein des Ernstes der Situation bekundete Alfieri in den an einen Zeugen seines Todes gerichteten Worten: „Drücke mir die Hand, theurer Freund, jetzt sterbe ich!“

Der kürzlich verstorbene Th. Vischer hinterließ seinem an sein Todtenbett geeilten Sohn ein letztes, bedeutungsvolles Wort. „Arbeit!“ wiederholte er zweimal mit schwacher Stimme. Das Gefühl der Befreiuug muß Cromwell’s letzte Augenblicke verklärt haben, denn er seufzte: „Ich bin erlöst“, während Washington „Alles geht gut!“ leise vor sich hinsprach; eben so lauteten Wellington’s letzte Worte. Die stolze Majestät eines römischen Imperators drückt sich in Vespasian’s „Ein Kaiser muß stehend sterben!“ aus, und Kaiser Augustus rief: „Die Komödie ist zu Ende!“ Eben so gefaßt erwartete Georg IV. von England den Tod, indem er sich zu der Frage ermannte: „Ist der Tod nichts als dies?“ während Königin Elisabeth von England in ihren letzten Augenblicken flehte: „Mein ganzes Königreich für noch eine einzige Minute zu leben!“ Ein Bekenntniß in dem oben erwähnten Sinn ist Friedrich’s V. bekanntes Abschiedswort vom Leben: „Meine Hände sind rein von Blut!“ Und während der große Napoleon verscheidend in sich selbst zusammensank, müssen Bilder aus seiner Vergangenheit vor seiner erlöschenden Phantasie vorübergezogen sein. „Eine Heeressäule!“ sagte er kurz vor seinem Sterben. Börne’s allerletztes Wort dürfte nicht darin bestanden haben, daß er – wie man erzählt – dem Arzt auf die Frage: „Was für einen Geschmack haben Sie?“ geantwortet hat: „Gar keinen, wie die deutsche Litteratur!“ Von dem berühmten Direktor der Universitätsklinik in Wien J. P. Frank († 1821) erzählt man Folgendes. Acht Größen der Heilkunde umstanden sein Sterbelager. Da lachte der Kranke laut auf; befragt, was er habe, erklärte er: „Mir ist die Geschichte von dem Grenadier eingefallen, der auf dem Schlachtfeld von Wagram lag und seine Wunden zählte. ‚Parbleu,‘ rief er, ‚acht Kugeln sind nöthig, um einem französischen Grenadier das Leben zu nehmen.‘ Sie sind auch Ihrer acht!“ Mit diesen Worten soll er lachend das Zeitliche gesegnet haben. Mit einem Calembour ging der französische Schauspieler Dudos aus der Welt. Er verabschiedete seinen Beichtvater Namens Chapeau mit den Worten: „Ohne Schuhe und Strümpfe kam ich zur Welt, ich kann sie auch ohne Hut (chapeau) verlassen.“

Berthalda. (Mit Illustration S. 785.) Ein Charakterkopf von dem großen Farbenzauberer in Wien, dem nun der Pinsel für immer entfallen ist; eine Frauenschönheit von fremdartig-südlichem Gepräge, wie man sie ähnlich in Makart’schen Bildern oftmals findet: in dem schmalen Gesichtchen alles beherrschend zwei große dunkle Augen und ein schwellender Mund: ein kleiner Rassekopf auf schlankem Halse und ein üppiger Leib. Irgend eine Fürstin, welche aus ferner Vergangenheit auftaucht, mit malerischem Prunk drapirt. Vielleicht sitzt sie auf einem Zelter und die unsichtbare Hand hält edelsteinbesetzte Zügel: jedenfalls befindet sie sich auf einem Jagdausfluge; diese dunklen erregten Augen trinken das Vergnügen, welches der Luftkampf ihres Lieblingsfalken mit einem aufgejagten Reiher gewährt: das bedeutet die Falkenkappe, die man zwischen ihren Fingern erblickt.

Das Brockhaus’sche Konversationslexikon liegt jetzt abgeschlossen vor uns: den sechzehn Bänden des eigentlichen Werkes reiht sich als Schlußstein ein reichhaltiger Supplementband an. In diesem Bande befindet sich außer manchem neuen eingehenden Artikel und den durch die Zeitgeschichte der letzten Jahre gebotenen Nachträgen ein sehr umfängliches Register, in welchem die Gegenstände aufgeführt sind, welche in den 16 Bänden des Werkes oder in dem Supplementbande keine selbständigen Artikel oder Verweisungen auf solche gefunden haben, sondern in einem der Artikel selbst behandelt worden sind.

Das Brockhaus’sche Konversationslexikon, welches die bahnbrechende Idee seines ersten Begründers von Auflage zu Auflage in einer Weise durchgeführt, die den wachsenden Ansprüchen und Bedürfnissen des Publikums in jedem neuen Jahrzehnt gerecht wurde, erweist sich in seiner neuesten Gestalt als ein eben so inhaltreiches wie reich ausgestattetes Werk, welches auf allen Gebieten des Wissens, in allen Fragen der Zeit stets eine wohlbegründete Auskunft ertheilt. Dennoch darf es nicht bloß als ein unentbehrliches Nachschlagewerk betrachtet werden: viele der geschichtlichen, geographischen, naturwissenschaftlichen Artikel haben einen selbständigen Werth und bieten eine durchaus anregende Lektüre. Bilder, Karten und Pläne orientiren in willkommenster Weise überall dort, wo der Eindruck, den man beim Lesen erhält, durch die Anschauung ergänzt werden soll. In seiner jetzigen abgeschlossenen Gestalt zeigt sich das Konversationslexikon von Brockhaus als ein Werk seltensten Fleißes und umsichtiger Redaktion, als ein echter Hausschatz unseres Volkes. †      


Allerlei Kurzweil.


Schach.

Von Konrad Erlin in Wien.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem vierten Zuge matt.


Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 740:
Weiß: Schwarz: Weiß: Schwarz:
1. S c 8 – d 6 T c 1 – c 3 : 1. … K c 5 – d 4
2. D c 2 – b 5 K c 5 – d 4 2. D e 2 – d 2 K d 4 – c 5 a)
3. S d 6 – f 5 matt. 3. S c 3 – a 4 matt.

a) Falls 2 …. K d 4 – c 5 so 3. S d 6 – e 4: aufged. matt. – Nach 1. … L g 2 – f 1 ergiebt sich die schöne Wendung: 2. L b 8 – a 7: †, K c 5 – d 6: (b 4), 3. D c 2 – h 2 (b 2) matt. – Weiß droht mit 2. D c 4etc.

Ziffer-Räthsel.

1 2 3 4 schafft Mensch’ und Thieren,
Was ihnen thut am meisten noth,
Wogegen Schutz vor dem Erfrieren
1 2 3 3 schon Vielen bot.

Wodurch sich aber unterscheiden
2 3 1 2 und 1 2 2,
Darüber ließe sich noch streiten,
Ist beider Kunst doch Zauberei.

2 4 2 3 heißt, dessen Streben
Erzielt, was tugendhaft und brav,
Und welchem nicht gilt für das Leben
2 3 1 als Hauptparagraph.



Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Anfrage und Bitte. Wer von unsern geehrten Lesern vermag uns Adressen von Versorgungsanstalten anzugeben, in welchen ältere Frauen oder Männer entweder gegen Bezahlung, oder unter Leistung angemessener Gegendienste oder bei großer Armuth freie Aufnahme finden?

Wo giebt es ferner Anstalten, in welchen körperlich oder geistig Schwache, Gebrechliche und Unheilbare freie Unterkunft erhalten können?

Wir bitten dringend um Mittheilung derartiger Adressen und danken im Voraus allen Einsendern für ihre Bemühungen.

R. in Prag. Als sehr gute Singübungsstücke können wir Ihnen die kürzlich erschienenen „Zweistimmigen Lieder von Zenger“ (München, Hieber) empfehlen, welche um ihrer praktischen Brauchbarkeit willen in den Musikschulen in München und Würzburg eingeführt sind. Neben hübscher und ansprechender Melodie und Harmonie bieten sie in aufsteigender Schwierigkeit eine ausgezeichnete Schule für die Treffsicherheit, welche bekanntlich bei vielen Sängern und Sängerinnen sehr im Argen liegt. Die sämmtlichen Lieder sind a capella (ohne Klavierbegleitung) und bewegen sich mit Vorliebe in etwas schwierigen Einsätzen, deren Zusammenklang durchaus sicher und korrekt gehen muß. Im Anfang ist selbstverständlich für Ungeübte die Unterstützung durch das Klavier nöthig; bei einigem Fleiß aber wird der freie Vortrag schon bald erreicht werden und damit auch die Fähigkeit, schwerere Duette, z. B. die so vielbeliebten und meist so schlecht gesungenen Rubinstein’schen, wirklich befriedigend vorzutragen.

A. B. in Augsburg. Das schlichte Grab Dr. Gustav Nachtigal’s auf Kap Palmas ist in der „Gartenlaube“, Jahrg. 1885, S. 612 abgebildet; es soll sich jetzt in so verwahrlostem Zustand befinden, daß auf Befehl des Auswärtigen Amts die Leiche des berühmten Reisenden ausgegraben und nach Kamerun übergeführt werden soll. Dort wird ihm dann auch das Monument errichtet werden aus den Summen, die für das Denkmal auf Kap Palmas gesammelt worden sind.

C. K. in Riga. Geben Sie uns gefl. Ihre genaue Adresse an behufs brieflicher Auskunft.



Inhalt: Die Geheimräthin. Novelle von Hieronymus Lorm (Fortsetzung). S. 773. – Die Rekruten. Illustration. S. 773. – Londoner Nebel. Von Wilh. F. Brand. S. 779. – In den Zeiten des Fehderechts. Von Fr. Helbig. S. 780. Mit Illustration S. 776 und 777. – Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 781. – Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfrad Edmund Brehm. Land und Leute zwischen den Stromschnellen des Nil (Fortsetzung). S. 784. – Beschränkung der Ansteckungsgefahr in Kurorten. Von Dr. Taube-Leipzig. S. 786. – Blätter und Blüthen: Ein Urtheil über Lassalle. S. 787. – Eine neuentdeckte Wildziege. Mit Abbildung. S. 787. – Am Caldonazzosee. S. 787. Mit Illustration. S. 781. – In der Todesstunde. S. 787. – Berthalda. S. 788. Mit Illustration S. 785. – Das Brockhaus’sche Konversationslexikon. S. 788. – Allerlei Kurzweil: Schach. S. 788. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 740. S. 788. – Ziffer-Räthsel. S. 788. – Kleiner Briefkasten. S. 788.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.