Die Gartenlaube (1887)/Heft 48
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No. 48. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.
Die Geheimräthin.
Perser und Glowerstone fuhren nach dem Telegraphenamt und begaben sich dann nach dem Hotel, welches Malköhne schon in der Hauptstadt Perser zum Aufenthalt angewiesen hatte. Dort trafen sie mit der Gräfin Surville zusammen, die im Speisesaale eben mit ihrer Gesellschafterin sich zu Tische setzte. Sie lud beide Herren ein, an dem Mahle theilzunehmen. Glowerstone schätzte sich im Stillen darüber glücklich und war nur beklommen durch den Gedanken, wie er auf eben so bequeme Weise, als er gekommen, in der Nacht wieder nach Hause gelangen sollte. Ein guter Genius schien jedoch an diesem Tage die geheimsten Wünsche seiner stets nach Gratisgenüssen schmachtenden Seele befriedigen zu wollen. Er hätte unfehlbar den weiten Weg in der Nacht zu Fuß zurücklegen müssen, da es doch nicht gut angegangen wäre, sich auch für ein Bett zu Gaste zu laden, wenn sich die Gräfin nicht beim Dessert bittend an ihn gewandt hätte. Er blickte dankend zum Himmel, als er vernahm, um was es sich handelte.
„Wiesbaden ist so voll,“ sagte die Gräfin, „daß ich für meine arme Freundin“ – sie deutete auf die immer finster blickende Gesellschafterin – „kein bequemes Schlafzimmer bekommen kann, während ich im Hôtel, Dir gegenüber, an Räumen Ueberfluß habe. Mein Wagen ist auch bereit, aber ich muß über Nacht hier bleiben. Du sagtest, daß Du nach Hause willst; möchtest Du nicht der Ritter dieser Dame sein, damit sie im fremden Lande in der Nacht den Weg nicht allein zurücklegen müßte?“
So fügte es sich, daß Perser später mit der Gräfin allein im Saale blieb. Nachdem er ihr mitgetheilt, daß er in derselben Angelegenheit nach Wiesbaden gekommen, für welche Malköhne auch die Gräfin zu interessiren gesucht hatte, sagte diese:
„Ich bin so unbekannt mit der Gesellschaft in Deutschland, daß ich nicht recht verstehe, was der Legationsrath von mir will. Er behauptet zwar, hier durch mich in Glowerstone’s Sache zu wirken; aber er hat mir so viele Aufträge für den Lord gegeben, meinen alten Freund, daß ich wohl bemerke, es handle sich um eine politische Affaire. Malköhne bittet mich auch, Ihre Bekanntschaft mit dem Lord zu vermitteln.“
Es konnte nicht fehlen, daß diese beiden Menschen, die einst eine den Ernst des Lebens betreffende Beziehung zu einander gepflogen hatten, jetzt, zum ersten Male ohne Furcht vor Störung beisammen, unbefangen und nüchtern, aber mit der Behaglichkeit,
[790] die der Rückblick auf die Jugend gewährt, das Schicksal besprachen, das sie für einen Augenblick vereint und dann für immer getrennt hatte. Die Unterhaltung mußte in Beiden ein freundschaftliches Gefühl erregen, und der Gräfin entging es nicht, daß Kummer auf dem Baron lastete, der, obgleich um vier Jahre älter, als Mann doch unvergleichlich mehr Jugend vor der Gräfin vorauszuhaben schien. Perser, der im ersten Gespräch mit ihr in der Hauptstadt kein Geheimniß aus seiner äußeren Lage gemacht, würde doch um keinen Preis verrathen haben, was ihn jetzt bedrückte. Er hätte gefürchtet, mit seinen fünfzig Jahren unendlich lächerlich zu erscheinen, wenn man ihm ein Liebesgefühl angemerkt hätte. Indessen sind die Frauen in diesem Punkte jedem Alter gegenüber außerordentlich tolerant und hierin zugleich mit einem Ahnungsvermögen begabt, welches sie rasch auf die richtige Spur führt.
„Sie sind nicht in glücklicher Lage,“ sagte die Gräfin, „und ich habe so viel Pietät für unsere abgethane Vergangenheit, daß ich Sie nicht leiden sehen möchte. Mein Leben ist abgeschlossen; ich trage es in Ländern und Städten umher, um leichter zu vergessen, daß es ein verfehltes ist, und mir einzubilden, ich hätte etwas zu thun auf dieser Welt. Oft habe ich gehört, daß die Menschen von eisernen Pflichten niedergedrückt werden und sich dadurch elend fühlen; ich meine aber, das größte Elend wäre, aller Pflichten los und ledig zu sein. Wenn ich nun plötzlich etwas zu thun bekäme, für einen Mann zu thun bekäme, um welchen ich vor vielen Jahren Träume und Gedanken gewoben habe, die nicht ohne Einfluß auf man Schicksal blieben, wenn ich einem solchen Mann etwas leisten könnte – ich würde erreicht haben, was mir bis heute unerreichbar schien: nicht umsonst gelebt zu haben.“
Perser war von dieser Aeußerung bewegt; aber in Regungen des Herzens von der Art, wie sie ihn überkommen hatten, giebt es keine Hilfe. Er gestand ihr so viel, daß nach einer unbeglückten und haltlosen Existenz, in der er niemals in einer festen Bestimmung aufgegangen war, jetzt ein Ziel vor seinen Augen schwebte, aber ein unmögliches Ziel, eine Thorheit, ein Wahnsinn.
In diesem Augenblicke trat Malköhne in den Saal. Er hatte inzwischen seine Absichten weiter verfolgt. Als Glowerstone und Perser sich entfernt hatten, knüpfte der Legationsrath an das letzte Zusammensein mit dem Mädchen im Hause der Gräfin an. Edith hatte damals große Sehnsucht nach der Wiederkehr zu ihrem Vater ausgesprochen und nicht verhehlt, daß die ländliche Stille und Verborgenheit eben so viel Antheil an dieser Sehnsucht hätten, als ihre kindliche Liebe.
„Haben Sie nun gefunden, mein Fräulein,“ fragte er, „was Sie so sehr gewünscht haben? Sie konnten damals auf das Drängen der Gräfin, zu gestehen, was Sie eigentlich nach Hause lockte, nichts Bestimmtes antworten, und ich glaube, man malt sich eine Wiederkehr immer schöner aus, als man sie zuletzt in der That findet.“
„Ich bin mir meiner Wünsche vollkommen bewußt,“ erwiederte Edith, „und es ist leicht erklärt, warum ich nichts Bestimmtes anzugeben wußte. Nicht das Heim hat mich gelockt, sondern die Fremde hat mich abgestoßen.“
Er sah sie erstaunt an; denn was nur immer einem jungen Geschöpf unter den Vergnügungen der Hauptstadt reizend und begehrenswerth, erscheinen kann, hatte die Gräfin Surville um Edith versammelt; nicht nur was die Phantasie erregen und den Sinnen schmeicheln kann, Tanz, Theater und die geselligen Freuden überhaupt, sondern auch was dem Geist und dem Ernst dieser Mädchennatur tiefere Eindrücke zurücklassen mußte, die Unterhaltung mit begabten Persönlichkeiten aus allen Gebieten des Schaffens und Wirkens, hatte sie Edith, so lange sie in der Hauptstadt geweilt, vollauf zur Verfügung gestellt. Dies hielt ihr Malköhne vor, als sie sich so widerwillig von dem Gedanken an ihr Leben in der Stadt abzuwenden schien.
„Ja, es ist der wahre Inhalt eines menschenwürdigen Daseins, was ich für kurze Zeit genossen habe,“ erwiederte Edith, und eine edle Gluth stieg bei der Erinnerung in ihre Wangen; „ich wüßte nichts auf Erden was mir noch einen Wunsch übrig ließe, wenn eine solche Existenz meine gewöhnliche wäre, Tag für Tag, nothwendig, sich von selbst verstehend wie das Auf- und Untergehen der Sonne, kurz, wenn es niemals anders sein könnte. Eine solche Lebensweise, eine solche Gesellschaft, das wäre dann wie mein eigenes Haus. Fühlen Sie aber nicht, daß es unheimlich, daß es entsetzlich werden kann, sich in seinem eigenen Hause als ein Gast zu wissen, den die Umstände jeden Augenblick nöthigen können, seine eigene Lebenssphäre zu verlassen, gleichsam seine Seele, die sich ganz damit erfüllt hat, wie Handschuhe abzulegen und arm und verbannt in die Ferne zu ziehen?“
Malköhne war in Versuchung, ihr zu sagen, sie brauche ihm bloß ihre Hand zu reichen, und was sie ihr eigenes Haus nannte, was ihrer Bildung und ihrer Denkungsweise mit Recht zukäme, wäre für immer ihr gesicherter Besitz. Er beherrschte sich aber, er wollte sich nicht wie ein verliebter Knabe von der Leidenschaft übermannen lassen. Zwei Dinge mußten früher festgestellt sein: zunächst, daß die Charaktereigenschaften des jungen Mädchens die unendliche Sympathie rechtfertigen konnten, die er ihrer äußeren Erscheinung zuwendete, sodann aber, daß es eben nicht das Verlangen nach dem eigenen Hause wäre, nach der Lebenssphäre, die der Reichthum aufschließt, was sie bestimmen mochte, auf seine Wünsche einzugehen. Darum wollte er, daß sie den Gedanken, der sie in diesem Augenblicke bewegte, ganz ausspreche, und er entgegnete:
„Sie selbst haben sich verbannt, früher als es nöthig war; ich weiß von der Gräfin, daß es nur von Ihnen abhing, den Aufenthalt bei ihr ins Ungemessene auszudehnen.“
„Was wäre damit gewonnen gewesen?“ rief Edith erregt; „das Gefühl, mich so zu sagen im Salon der Gräfin auf meinem eigenen Grund und Boden zu wissen, hätte mir keine noch so lange Dauer des Aufenthaltes verschaffen können. Das ist die Ursache, nach der Sie forschen, Herr Legationsrath, die Ursache meines Heimverlangens. Ich sehnte mich nach dem entgegengesetzten Pol jener Existenz, nach meiner Armuth, Verlassenheit, Einsamkeit; denn das sind, wie schwer es auch zu erklären ist, fast dieselben Güter, um das angenehme Bewußtsein noch vermehrt, daß sie mir wirklich zukommen, daß sie mein wahres Eigenthum sind.“
Sie lächelte bei diesen Worten, aber Malköhne ahnte, daß es ihr um mehr zu thun war, als um den Scherz, Armuth und Einsamkeit für Lebensgüter zu erklären. Er drang auf eine Erklärung.
„Es ist im Grunde einfach,“ bemerkte sie, „geben Sie einmal allen wünschenswerthen guten Dingen auf dieser Welt eine Zahl. Sagen wir, solcher Dinge gebe es 99, so werde ich immer noch das hundertste hinzufügen können, das nicht schon unter diesen guten Dingen ist, nämlich sie alle entbehren zu können. Es ist nicht auszudrücken,“ fuhr sie lebhafter fort, „wie glücklich eine volle Entsagung machen kann. Sie läßt den Geist der Dinge zurück, die man in Wirklichkeit entbehrt oder eigentlich dann nicht mehr entbehrt. Man hat Alles, wonach man nicht strebt. Bin ich mir nicht so gut wie eine Königin, sobald es mir ganz gleichgültig ist, ob ich eine bin oder nicht? Wenn etwas fehlt, so ist es ein zweiter Mensch, der eben so dächte, wenn man nun schon einmal einen zweiten an seiner Seite hat, der nicht so denkt und dadurch unglücklich ist, wie mein Vater.“
Hatte Malköhne der Versuchung widerstanden, ihr mit dem Reichthum Alles anzubieten, was sie entbehrte: er widerstand nicht ganz der Versuchung, den Schein der Armuth anzunehmen, damit sie das gesuchte Herz in ihm vermuthe. Eine erdichtete Andeutung in diesem Sinne nahm Edith mit Theilnahme auf. Sie mußte ihn für einen armen Beamten halten, der sich nach Stille und Verborgenheit sehnte, um wie Edith selbst in dem Gedanken der Entsagung dahinleben zu können. Fester und strahlender als bisher richteten sich ihre schönen Augen auf ihn; aber er konnte nicht den Muth finden, in einer trügerischen Maske um sie zu werben, so lange er nicht Gelegenheit gegeben, ihn in seiner Person zu erkennen, als einen Mann, der unabhängig von Besitz oder Nichtbesitz für sich selbst einen Werth beanspruchen konnte. Dazu bedurfte es einer zweiten Zusammenkunft und er schied mit dem Vorsatz, das nächste Mal als ein Beglückter von Edith zu gehen.
In dieser aber blieb der sie entzückende Traum zurück, einem Manne, der Nichts weiter auf Erden besäße als das Herz eines Weibes, mit diesem Herzen Alles zu ersetzen. Sie liebte.
Auf der Fahrt nach Wiesbaden dachte er einen Augenblick an Brigitta. Er hatte niemals aufgehört, sie zu lieben; aber seit Edith [791] in sein Leben eingetreten, war der Schleier von jener Liebe gefallen und sie zeigte ihr wahres Gesicht. Es war Alles: Verehrung, Dankbarkeit, Hingebung, Anbetung – nur nicht die Liebe selbst. Sie stand ihm hoch genug, um ihr zuletzt Alles zu gestehen; aber sie war ihm auch theuer genug, um ihr diese Kränkung so spät wie möglich zu bereiten.
Er trat, wie erwähnt, in den Saal, in welchem die Gräfin und Perser sich noch am Tische befanden, setzte sich zu ihnen und sprach von gleichgültigen Dingen. Allein der Ton und die Aufregung, womit dies geschah, hätten schließen lassen, daß er von Gedanken und Vorstellungen beherrscht war, die er keineswegs auszusprechen Lust hatte. Perser, der sich seines Auftrags erinnerte, sobald die Reise der Geheimräthin nach dem Rheine gesichert sein würde, Allen, die es hören wollten, davon Mittheilung zu machen, beeilte sich jetzt, die bevorstehende Ankunft Brigitta’s anzuzeigen.
Der Legationsrath verlor ein wenig die Farbe, und so sehr er sich bereits in seinem diplomatischen Berufe gewöhnt hatte, jeden bedeutenden Affekt zu unterdrücken: das namenlose Erstaunen, welches ihn in diesem Momente beherrschte, mußte sichtbar werden. Er war im Grunde eine biedere Natur, die nach sittlichen Motiven handelte, und wenn er in seinem Beruf als Politiker Verstellung und Heuchelei als eine Kunst betrachtete, deren er sich nicht zu schämen hätte: in den Angelegenheiten seines Privatlebens war er bisher unfähig gewesen, sich solcher Mittel zu bedienen. Erst die letzte Wendung seines Gemüthes hatte eine gewisse Unlauterkeit in seinem Verhältniß zu Brigitta hervorgerufen, aber im Tiefsten seines Herzens wollte er sich dafür eines Rechtfertigungsgrundes bewußt sein.
In wenigen Sekunden war er gesammelt und verlor nicht nur den Ausdruck des Erstaunens, sondern auch die Aufregung, die ihn beherrscht hatte, bevor Perser die bedeutungsschwere Nachricht mitgetheilt hatte. Nur um nicht dem Baron gegenüber wie ein Dupirter zu erscheinen und um Brigitta selbst zu schonen, bemerkte er, daß ein alter Plan der Geheimräthin mit ihrem neuesten Entschlnß zur Reife gekommen sei. Er erhob sich hierauf vom Tische; die Gräfin ließ ihre Zofe kommen und verabschiedete sich von den Herren. Diese gingen auf ihre weit aus einander liegenden Zimmer. Von dem Zweck der Anwesenheit Perser’s mit ihm noch an diesem Abende zu sprechen, wäre Malköhne unmöglich gewesen.
Er verbrachte eine schlaflose Nacht. Am nächsten Morgen setzte er sich mit Perser über die politische Angelegenheit ins Einvernehmen. Die Sache war beim Lord mit Hilfe der Gräfin bald geordnet; Perser übernahm den Dienst als Sekretär, und als er die Gräfin in ihre Wohnung zurückbegleitet hatte und noch in ihrem Salon verweilte, sagte sie:
„Sie sind gestern nicht zu Worte gekommen, lieber Baron; das Eintreten des Legationsrathes hat unser Gespräch abgeschnitten. So viel habe ich errathen, daß es nicht die Erbärmlichkeit der äußeren Umstände ist, was Sie zumeist beschäftigt; es läßt sich ja solchen Dingen auf irgend eine Art leicht abhelfen. Wenn Sie aber meine Theilnahme für Sie, die immer mehr in lebhafte Freundschaft übergeht, nicht für weibische Neugier halten wollen, so biete ich Ihnen meine Hilfe an.“
Perser theilte der Gräfin wenigstens so viel mit, daß sie die Absichten ihres Vetters Glowerstone verstehen konnte.
„Ja wohl,“ sagte die Gräfin, „ich kenne meinen Vetter sehr genau; er ist einer von den Menschen, die immer nach Geld verlangen, denen aber alles Geld der Welt nicht helfen könnte, weil sie nicht damit umzugehen wissen. Darum denke ich auch bloß an Edith und überlasse ihren Vater seinen Spekulationen; sie vertreiben ihm die Zeit und geben seiner beständigen Unzufriedenheit wenigstens einen bestimmten Gegenstand. Was er jetzt im Sinne hat, ist leicht zu durchschauen. Er wird der Geheimräthin das Besitzthum des Staates und sein eigenes aufzubürden suchen, mit dem Preis, den sie dafür zahlt, die Regierung befriedigen und ein hübsches Sümmchen für sich zurückbehalten. Damit kann er in die Hauptstadt ziehen, das Leben nach seiner Art genießen – aber wie lange? Dann fängt eine neue Spekulation und neues Elend für seine Tochter an. Warum aber sollte die Geheimräthin in die Falle gehen? Freilich, wenn sie ein unerfahrenes Weib sein sollte oder wenn die Motive des Ankaufs in dieser Gegend so stark sind, daß sie über Alles hinwegsehen muß … Wir kennen diese Motive nicht, und was geht uns die Frau an?“
Die Gräfin hielt bei dieser Frage ihre ausdrucksvollen Augen auf Perser gerichtet, der unwillkürlich seinen tiefer gehenden Antheil an den Schicksalen Brigittas äußerte. In der Gräfin erwachte die Ueberzeugung, daß der Kummer und die Niedergeschlagenheit des Barons in diesem Punkte ihre Quelle hatten.
Brigitta hatte sich nach der Verabschiedung Perser’s unwohl erklärt, was ihren Bediensteten gegenüber bedeutete, daß sie keinen Besuch irgend einer Art empfange. Sie wollte ihren Gedanken ungestört nachhängen, und doch kam ihr mitten in dieser Ungestörtheit ein bisher noch nicht erlebtes Gefühl der Vereinsamung ins Herz. Warum hatte sie keine Vertraute, weßhalb war in dem großen Kreise, den sie im Hause empfing oder dem sie sich in Gesellschaften anschloß, kein einziges weibliches Wesen, mit dem sie diesen schwersten Augenblick ihres Lebens hätte theilen wollen? Sie sah plötzlich mit Grauen auf die durchlebten Jahre zurück; tausend Anlässe, hier oder dort eine Gemüthsbefriedigung, einen erquickenden Anschluß zu finden, hatte sie mit übermüthiger Freude von sich geschleudert, weil das Opfer der Erhaltung des Geheimnisses gebracht wurde, welches sie mit Malköhne verband. Es war der Brennpunkt gewesen für Alles, was man Traum und wirkliches Leben nennen konnte, und nun zeigte ihr der Schrecken vor ihrer Einsamkeit, daß sie nicht wirklich gelebt, sondern in trügerischen Träumen die Jahre aufgezehrt hatte. Sollte es auf diese Weise fortgehen können, selbst wenn sie Siegfried wieder eroberte, ja selbst wenn ihre Befürchtungen nur eitel Gespenster gewesen wären?
Denn manchmal war es ihr, als könnte ihre Angst eine grundlose sein, hervorgegangen nur aus dem beständigen Zittern vor dem Untergang ihres Glückes. Nichts hatte sie erfahren, was darauf hindeutete, daß Siegfried die Tochter Glowerstone’s wirklich gekannt oder auch nur gesehen hätte. Wohl hatte er viele Abende bei der Gräfin zugebracht, aber es geschah aus politischen Gründen, und vielleicht war ihm das Mädchen nicht bedeutend genug erschienen, um auch nur den Namen zu nennen. Allein Brigitta verwarf diesen schwindelnden Trost so rasch wieder, als er in ihr aufgestiegen war. Siegfried’s ausweichende Antwort, als sie nach der Umgebung Glowerstone’s, nach seinen Angehörigen gefragt hatte, kam ihr in den Sinn, und der schreiende Schmerz in der Seele bestätigte das Schlimmste, was sie von Siegfried dachte. Es war kein Zweifel, er war auf dem Wege, einen unerhörten Verrath an ihr zu begehen – und es sollte ihm nicht gelingen, müßten sie Beide auch in Jammer und Verzweiflung untergehen.
Gerade in diesem Augenblick der Entschlossenheit war es, daß Perser’s Telegramm eintraf. Sie wußte jetzt klar, was sie zu thun hatte. Es war spät Abends, der Schnellzug ging in den frühesten Morgenstunden ab. Sie gab ihrer Kammerfrau Befehl, das Nöthigste zurecht zu machen und sich selbst zur Begleitung auf die Reise vorzubereiten. Die Lampe in der Hand schritt sie von Zimmer zu Zimmer, um nachzusehen, was von den tausend Kleinigkeiten, die der Luxus täglich gedankenlos in Gebrauch hat, ihr unvermuthet so dienlich sein könnte, um mitgenommen zu werden. Dabei fielen ihr die letzten Geschenke Malköhne’s ins Auge, die zierlichen und kostbaren Nippessachen, die er für sie bei Carmisoli erstanden hatte. Sie dünkten ihr eine Bestätigung seines Verrathes zu sein.
Sie setzte sich an den Schreibtisch und vergegenwärtigte sich noch einmal ihr ganzes Vorhaben. Dem Geliebten nachzureisen, um ihm Scenen zu machen, das wäre eine Lächerlichkeit gewesen und zugleich eine Herabsetzung ihrer Frauenwürde, und das war ihr keinen Augenblick in den Sinn gekommen. Allein er sollte sie auch nicht ohne Weiteres zerschmettern dürfen, um auf ihrer Leiche Hochzeit zu halten. Sie hatte ihm jene Jahre geopfert, welche die letzten sind, in denen ein Weib noch vollauf glücklich werden kann, er sollte das Opfer, wenn es umsonst gebracht war, mit seinem Leben bezahlen. Sie sah nach, ob der Revolver, den sie besaß, in gutem Stande war. Dann kehrte sie zum Schreibtisch zurück und setzte ihr Testament auf. Einige [792] Abschiedsbriefe, die sie noch aufs Papier warf, waren kurz und enthielten keinen Aufschluß über die Motive ihres Unterganges. Testament und Briefe wurden in einem Fache untergebracht, wo man sie sogleich finden mußte, wenn sie nicht mehr zurückkehrte.
Das Vollbringen dieses Geschäftes ließ ihr eine erstickende Ruhe des Gemüthes zurück. Sie warf sich sogar angekleidet zum Schlummer nieder, wenn sie auch oft wieder mit einem heftigen Aufzucken emporfuhr. Endlich erhob sie sich beim Schlage der Uhr, und sie war es, welche die Kammerfrau weckte, statt, wie es verabredet war, von ihr rechtzeitig geweckt zu werden.
Das Rasseln des Zuges, das Kommen und Verschwinden der Mitreisenden ging an ihr vorüber wie ein unverständliches Schauspiel; sie hatte Mühe, sich zu besinnen, weßhalb sie auf der Reise war. Wenn Menschen, die niemals aus dem gewohnten Geleise des vorgeschriebenen Thuns und Lassens gekommen sind, durch ein unerwartetes Schicksal zu einer außerordentlichen Handlung aufgerüttelt worden sind, dann ist es, als ob sie sich selbst auf der neuen Bahn nicht wiedererkennen würden und sich in jedem Moment erst fragen müßten, wozu sie entschlossen und wohin sie gerathen sind.
Der Abend war schon angebrochen, als sie in dem ihr von Perser bezeichneten Hôtel gegenüber der Besitzung Glowerstone’s anlangte. Man wies ihr Zimmer in der zweiten Etage an, und nachdem sie sich umgekleidet hatte, überlegte sie, ob es nicht noch an diesem Abend möglich wäre, da sie ja angeblich zu einem praktischen Geschäfte gekommen war, bei Glowerstone vorzusprechen. Da vernahm sie Geräusch auf dem Korridor, das ihr in einem Hôtel nicht auffallen konnte; aber die Kammerfrau trat bei ihr ein mit der Frage, ob die Geheimräthin geneigt sei, noch in so später Stunde die Gräfin Surville zu empfangen.
Als die Geheimräthin hörte, wer bei ihr vorsprechen wollte, war ihre Ueberraschung keine ganz freudige. Sie hatte nichts von Ermüdung und Abspannung gespürt, so lange alle ihre Kräfte ausschließlich auf den Zweck gerichtet waren, der sie hierher geführt und der wie Feuer durch ihre Adern rann. Darum wäre sie am liebsten sogleich in das Haus Glowerstone’s geeilt, um vor Allem die Situation zu übersehen. Im Augenblicke, da sie einer bloß geselligen Pflicht genügen sollte, fühlte sie sich von der Reise todmüde und der Erschlaffung hingegeben, die auf jede Ueberspannung folgt. Fast war sie im Begriffe, den Besuch abzulehnen, als ihr plötzlich die Verwandtschaft der Gräfin mit Sir Albert vor das Gedächtniß trat und sie sich zum Empfang bereit erklärte. Das Zimmer war behaglich erwärmt und beleuchtet, und die Gräfin stellte sich vor, indem sie bemerkte, daß die zwei einzigen Gäste dieses Hauses sich nicht früh genug mit einander gegen die etwaigen Unzukömmlichkeiten in einem Dorfwirthshause verschwören könnten.
„Ich habe mir die Berechtigung, Sie aufzusuchen, Frau Geheimräthin,“ sagte hierauf die Gräfin, „vom Baron Perser geholt. Er glaubt den Auftrag, den Sie ihm in der Hauptstadt gegeben, nicht völlig erfüllt, weil er, durch eine amtliche Beschäftigung an Wiesbaden gebunden, Ihnen nicht zur Seite stehen kann.“
„Er ist, wie ich meine, hier so fremd wie ich selbst,“ erwiederte Brigitta, „und könnte mir wohl wenig nützen. Freilich ist er mit Sir Albert Glowerstone befreundet, noch aus alter Zeit, und könnte mich dort einführen. Allein ich komme in Geschäften und weiß von praktischen Dingen wenigstens so viel, daß man überall gut angenommen wird, wo man ein Geschäft mitbringt. Perser hat mir telegraphirt, daß das Gut, welches ich in der Gegend anzukaufen wünsche, in den Händen Glowerstone’s ist.“
„Und Sie haben Niemand,“ versetzte die Gräfin, „der Sie als Sachverständiger begleiten würde? Sind Sie zufällig so bewandert in der Forstwirthschaft, um die Verrechnungen über den Holzertrag und die Anforderungen des Schiffsbaues an den Wald zu würdigen, zu verstehen? Dann bewundere ich Sie, Frau Geheimräthin; wenn aber nicht –“
Brigitta schlug die Augen nieder; das war die erste Verlegenheit, die ihr aus dem in Verzweiflung gewählten Vorwand erwuchs. Die Gräfin, welche nicht den Anschein hatte, die Befangenheit Brigitta’s zu bemerken, wie sehr sie auch ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet hielt, kam der Erröthenden zu Hilfe:
„Ich wollte sagen, wenn das nicht der Fall ist, wenn Sie von der Waldökonomie, die mit dem Ankauf der Villa unzertrennlich verknüpft ist, keine Kenntniß haben, so kann vielleicht ich Ihnen Beistand leisten. Ich erlaube Ihnen zu lachen; wer sollte mir auch glauben, daß ich in Land- und Forstwirthschaft zu Hause wäre und den wirklichen Werth einer ausgedehnten Besitzung zu ermessen wüßte? Die Sache ist aber einfach: ich selbst war einmal nahe daran, aus Rücksicht auf die Wünsche meines Vetters Sir Albert den ganzen Komplex anzukaufen, und habe mich deßhalb von allen Einzelheiten unterrichten lassen. Ich setze indessen voraus, daß es Ihnen zu langweilig wäre, sich noch heute davon zu unterhalten, und es fragt sich nur, ob Sie sich Glowerstone noch heute als eventuelle Käuferin anmelden wollen.“
Brigitta bejahte mit großer Lebhaftigkeit, und die Gräfin erbot sich, die Einführung selbst zu übernehmen. Es wären nur wenige Schritte zurückzulegen, und man käme Sir Albert und seiner Tochter zu jeder Zeit gelegen, besonders aber dem Vater, der nach Unterhaltung, nach irgend etwas Neuem in der Eintönigkeit seiner Existenz immer verlange. So begaben sich denn die beiden Damen über die Dorfstraße, in deren Finsterniß die Gräfin gut Bescheid wußte, nach dem Bauernhofe, wie Glowerstone selbst seine Besitzung gern nannte, um anzudeuten, welcher heroischen Einfachheit des Lebens ein von der Welt zurückgezogener Philosoph fähig wäre. Sie hatten die Schwelle noch nicht überschritten, als Brigitta dem unwiderstehlichen Drang ihrer Leidenschaft, den sie bisher mit Selbstbeherrschung zurückgehalten hatte, durch die Frage nachgab, ob nicht in der Angelegenheit des Gutskaufes schon der Legationsrath Siegfried Malköhne bei Glowerstone vorgesprochen hätte.
Die Gräfin dachte einen Augenblick nach, dann erwiederte sie:
„Ich kann nicht sagen, was den Legationsrath hierher geführt hat; aber ich weiß, daß er den Nachmittag des gestrigen Tages in diesem Hause verbrachte; er hat es mir selbst erzählt. Ich glaube jedoch nicht, daß wir ihn jetzt hier antreffen werden.“
Brigitta zuckte unwillkürlich zusammen; eine geheime Furcht, ihm zu begegnen, war sie los geworden, und dennoch blieb wieder ein leises Bedauern darüber in ihr zurück.
Skizzen von einer Sängerfahrt nach Amerika.[1]
Es war am Freitag, den 9. Juli 1886 gegen Mittag, als die freudige Nachricht die Schiffsräume der „Ems“ erfüllte: „Land! Land!“ Da standen wir nun, mit Ferngläsern bewaffnet, sahen den Leuchtthurm auf Long-Island aus dem Meere auftauchen, sahen die Küsten näher und näher hervortreten, und endlich – endlich fuhren wir bei prächtiger Abendbeleuchtung durch die Festungswerke von Long-Island und Staten-Island in den herrlichsten und großartigsten Hafen der Welt. Wir hatten von Bremerhafen aus neun Tage und sieben Stunden zur Fahrt gebraucht.
Das Gefühl, wieder festes Land zu betreten, ist ein eigenthümlich ergreifendes, und so war meine Stimmung eine hocherregte, als ich das erste Mal meinen Fuß auf amerikanischen Boden setzte. Plötzlich höre ich, daß Jemand meinen Namen ruft,
[793][794] und alsbald wurde ich zu meiner Freude von Herrn Reinhold Herman, dem Dirigenten des „Liederkranz“ in New-York, begrüßt. Herr Herman, mit dem ich schon in Berlin befreundet wurde und von dem ich auch in dem letzten Extrakoncert des Koncerthauses vor einigen Monaten ein größeres Vokalwerk zur Aufführung gebracht hatte, wußte von meinem Eintreffen, und da bereits sechs Stunden vor unserer Landung die Ankunft der „Ems“ in New-York signalisirt war, so war er rechtzeitig erschienen, mich und meine Tochter zu begrüßen. Und dies war mir äußerst angenehm, da wir, der englischen Sprache nicht besonders mächtig, jetzt mit nur englisch sprechenden Beamten zu verkehren hatten. Durch Vermittelung meines Freundes wurde die Zollrevision unseres Gepäcks von einem der höflichen und zuvorkommenden Beamten, wie ich sie stets in Amerika gefunden, sehr rasch erledigt. Das Bewußtsein, uns auf dem Boden der neuen Welt zu finden, sowie manche neue und ungewohnte Eindrücke übten einen ganz besonderen Reiz auf uns, und als wir nun in Begleitung unseres Freundes durch ein Ferryboot (oder Fährboot) nach New-York übergesetzt wurden, dort eine Straßenbahn bestiegen, um nach unserem deutschen Hôtel Belvedere zu gelangen, da huschte manches Fremdartige bei unsicherer Beleuchtung geheimnißvoll an uns vorüber, um unsere Erwartungen für den folgenden Tag noch mehr anzuregen. Mit kräftigem Händedruck verabschiedete sich Freund Herman, und wir betraten unsere komfortable eingerichteten Zimmer, um die erste Nacht nach glücklich überstandener Seefahrt, diesmal ungewiegt, auf amerikanischem Boden zu entschlummern. –
So war ich denn angekommen in der Riesenstadt New-York, die mit den angrenzenden Stadttheilen Brooklyn, Hoboken, Jersey etc. etwa drei Millionen Menschen zählt. Ein Berliner Bürger und Steuerzahler fühlt sich keineswegs als Kleinstädter, aber doch sollte mein Selbstbewußtsein, der größten Stadt des geeinigten Deutschlands anzugehören, etwas herabgestimmt werden, als ich am folgenden Tage meine erste Orientirungsfahrt durch New-York machte. Was für ein Verkehr zu Wasser und zu Land in dieser Weltstadt! Welch großartige Geschäftsräume, welche Pracht, welcher Reichthum! Welch ein buntes Durcheinander aller Nationen vom blendendsten Weiß der englischen Lady bis zum tiefsten Schwarz des Negers! Kurz und gut, als mein Freund und Kollege Herman mich durch verschiedene Avenues und Querstraßen theils auf ebener Erde, theils auf irgend einer Hochbahn, theils zu Wasser geführt und mir die hervorragenden Bauten und ihre Eigenthümlichkeiten, verschiedene Parkanlagen mit den Statuen der berühmten Präsidenten der amerikanischen Republik Washington, Lincoln etc. gezeigt und mich schließlich in die Halle des deutschen Liederkranzes geleitet hatte, da war ich von den neuen und großen Eindrücken fast überwältigt, obgleich ich mich stets bemüht hatte, mir ein unbefangenes Urtheil zu bewahren. Wir waren in das Gebäude des Liederkranzes, des größten, vornehmsten und, wie man sagt, musikalisch bedeutendsten Gesangvereins eingetreten. Ein so reicher Verein, der aus 1700 aktiven und passiven Mitgliedern der wohlhabendsten und angesehensten Deutschen besteht, zu dessen hervorragendsten Koncerten und Festlichkeiten das Eintrittsbillett mit 10 bis 15 Dollars (40 bis 60 Mark) bezahlt wird, vermochte es, sich ein Gebäude zu errichten, dessen Großartigkeit, zweckmäßige Einrichtung und hohe Eleganz einen überraschenden Eindruck machen. Der prachtvolle Koncertsaal, der Uebungssaal, die Bibliothekräume, Damen-, Spiel-, Billard- und Kegelzimmer, das Restaurationslokal, im Münchener Stil eingerichtet, das Vestibül mit seinen schönen Wandgemälden, von denen eines für 8000 Dollars von einem deutschen Maler angefertigt worden ist! Alles übt eine so harmonische Wirkung aus, daß man mit Recht dieses Heim des deutschen Vereines mit dem Prädikat „wirklich schön“ bezeichnen kann.
Trotz der Großartigkeit und Pracht der Gebäude New-Yorks und ihrer inneren Einrichtung ist ja nicht immer Alles schön zu nennen, und mit Genugthuung kann ich behaupten, daß unser Berlin entschieden architektonisch schönere und bedeutendere Gebäude besitzt, auch in Bezug auf Sauberkeit in den Straßen, schönes Pflaster und freundliches Aussehen New-York den Rang abläuft, daß ebenfalls Wien und das reizende Stuttgart weit schönere Städte genannt werden müssen; aber was man drüben sieht, ist praktisch, praktisch im Größten wie im Kleinsten; alle Einrichtungen des Fahrverkehrs, der Post, der Telegraphen, der Hôtels sind großartig und entsprechen jedem Wunsche des Publikums. Hierin sind uns die Amerikaner überlegen.
Während meiner Anwesenheit in New-York hatte ich zwei Besuche zu machen. Die betreffenden Einladungen waren mir schon in Berlin zugegangen, und auch als Musiker hatte ich ja das größte Interesse, die Inhaber der größten Pianofortefabrik der Welt sowie der größten Musikalienhandlung, wenigstens in Amerika, persönlich kennen zu lernen. Die Namen Steinway und Schirmer sind weltbekannt, und von diesen Herren wurde ich mit der freimüthigen, gewinnenden Herzlichkeit, die fast allen gebildeten Amerikanern eigen ist, empfangen.
Die Firma Steinway und Sons hat Niederlassungen in New-York, London und Hamburg. In der 14. Straße befindet sich das Hauptmagazin, in dessen Räumen Hunderte von Flügeln, tafelförmigen Instrumenten und Pianinos zur Auswahl stehen. Auch ein großer und kleiner Koncertsaal, von denen der erstere 2000 Sitzplätze haben soll, ist mit diesen Räumen verbunden. Außer dem Hauptfabrikgebäude zwischen der 52. und 53. Straße, in welchem die Instrumente zusammeugestellt und fertig gemacht werden, befindet sich noch ein mächtiges Etablissement auf der Insel Long-Island am East-River, welches eine kleine Stadt bildet und aus den verschiedensten Anlagen, als Säge- und Fournirmühle, Stahlmetall- und Bronzegießerei, Docks und Wasserbassins, Trockengebäude, Klaviaturfabrik und Holzschnitzerei, besteht. Vor Allem erwähnenswert ist jedoch die Holzbiegefabrik, in welcher die Pianozargen in eisernen, durch Dampf geheizten Formen gebogen werden. Die Firma beschäftigt gegen 1050 Personen.
Was die Instrumente selbst betrifft, so wurde mein Urtheil, welches ich schon früher über die Flügel dieser Fabrik hatte, bestätigt. Sie gehören zu den vorzüglichsten in Ton und Anschlag, die ich je kennen gelernt habe; besonders bestrickend ist der Glockenton des Diskant, jedoch kann ich nicht umhin, die Weichheit und das Gesangvolle des Tones unserer heimischen Fabrikate jenen gegenüber rühmend hervorzuheben. Daß die Instrumente hier bei uns nicht die Verbreitung finden, liegt einzig am Kostenpunkte; kostspieligere Herstellung, Transport, Zoll etc. machen das Instrument gerade noch einmal so theuer, als man hier zu zahlen gewöhnt ist. – Steinway-Hall ist das Rendez-vous der musikalischen Welt; im Bureau ist eine Art Postoffice für einheimische und auswärtige Musiker eingerichtet; auch meine eigene Korrespondenz wurde während meiner Anwesenheit auf amerikanischem Boden durch die Firma Steinway prompt vermittelt.
Die Musikalienhandlung von Schirmer befindet sich am Union-Square und vermittelt fast ausschließlich das Musikaliengeschäft mit Europa. Großartig und schön sind die weitläufigen Lagerräume, in denen man in großen Stößen gewiß alle gangbaren Erzeugnisse sämmtlicher deutschen, englischen und französischen Komponisten aufgespeichert finden konnte. Auch meine eigenen Kompositionen waren fast vollständig und dazu in großer Anzahl von Exemplaren vertreten, wenn auch bei einzelnen zu meinem Leidwesen das Heimathsrecht verloren gegangen war. In den oberen Räumen fand ich ferner noch Abtheilungen für Notenstecher und Notendruckmaschinen, in denen reges Leben herrschte.
Das wundervolle Wetter veranlaßte uns, am Nachmittage eine Fahrt nach dem allbekannten und vielbesuchtett Bade-Orte Cony-Island zu machen. Cony-Island liegt am südlichen Gestade von Long-Island. und wurde uns schon bei der Einfahrt in den Hafen gezeigt. Ein Dampfboot führte uns, den Hafen kreuzend, zur Anfangsstation einer Eisenbahn auf Long-Island, von wo wir in zierlichen, luftigen Sommerwaggons in kurzer Zeit nach unserm Ziel befördert wurden. Dicht am Strande des atlantischen Oceans liegen in größeren Entfernungen drei prachtvolle fashionable Bade-Etablissements, mit allem möglichen Komfort ausgestattet. In einem derselben koncertirte die berühmte Gilmore’sche Kapelle, deren Leistungen ich gerechte Anerkennung zollen mußte. An den Badeplätzen selbst waren terrassenförmig Zuschauersitze erbaut, von denen man die badenden Herren und Damen, die in seltsamen Kostümen sich in den Wogen herumtummelten, überblicken konnte. Eine Eisenbahn, am Strande entlang, vermittelt für fünf Cent pro Person den Verkehr von einem Etablissement zum andern, besonders zu einem Vergnügungsplatz, der einer kleinen Stadt gleicht und aus einer großen Anzahl Schaubuden, Dampfkaroussels, Schießständen, [795] Schaukeln und eleganten Restaurationslokalen besteht. Einen Heidenlärm machten nun aber die diversen Kapellen jener Schaubuden und die Dampfdrehorgeln der Karoussels, von denen man immer drei Kompositionen zu gleicher Zeit hörte, gerade wie in der Berliner Hasenheide, so daß wir endlich verzweiflungsvoll flüchteten.
Am nächsten Tage hatte ich das Vergnügen, die Bekanntschaft einiger geschätzter Kollegen zu machen, die als Leiter der besten Gesangvereine einen achtbaren Ruf unter den deutschen Sängern New-Yorks genießen. Es waren dies die Herren: Claassen, Dirigent des Eichenkranz und Brooklyner Zöllner-Männerchors, Mangold, Dirigent des Mozart-Schiller-, Franz Abt-Gesangvereins, sowie des Newarker Arion, und Spicker, Dirigent des Beethoven-Männerchors. Im Auftrage ihrer Vereine wurden mir von diesen Herren ehrende Einladungen zu Theil, denen ich auch später Folge leistete.
Zum heutigen Abend war ich durch den Präsidenten Herrn W. Steinway nach dem deutschen Liederkranz eingeladen worden. Es war dies das erste Mal, daß ich auf amerikanischem Boden in den Kreis eines hochangesehenen Vereins trat und von den liebenswürdigen Mitgliedern desselben begrüßt wurde. Als man mir mit Wärme und freudiger Begeisterung die Hände drückte, da hatte ich vergessen, daß ich nicht mehr in der Heimath, sondern Tausende von Meilen in fremdem Lande weilte. Eine ebenfalls herzliche Aufnahme wurde gleichzeitig meiner Tochter und Herrn Opernsänger J. von Witt aus Schwerin, der sich, gerade wie ich, auf der Durchreise zum Milwaukee-Sängerfest befand, zu Theil. Wir hatten alle Ursache, uns an diesem Abend in der Mitte unserer deutschen Sangesbrüder so recht von Herzen wohl zu fühlen. Manches vorzüglich gesungene Quartett, mancher herrliche Solovortrag, manche zündende Rede und mancher begeisterte Toast, besonders wenn man der alten, lieben Heimath gedachte, machten den Abend zu einem schönen und unvergeßlichen. Zu meiner Freude stellte sich mir auch ein früheres Mitglied der Berliner „Cäcilia“, Herr Mahling, vor, der vor langen Jahren bereits unter meiner Leitung gesungen hatte. Es war in später Stunde, als unser liebenswürdiger Begleiter, Herr Steinway, seinen Wagen vor unserem Hôtel halten ließ und sich von uns verabschiedete.
Wie oft ist es mir in diesem Lande vorgekommen, daß ich, manchmal ganz zufällig, Personen kennen lernte, die mir sofort mit einer Freundlichkeit und Herzlichkeit entgegen kamen, als wäre ich ein alter Bekannter, die mich in den Kreis ihrer Familie einführten und förmlich mit Güte und Liebe überschütteten! Ich habe gefunden, daß diese seltene Gastfreundschaft ein Grundzug des Deutsch-Amerikaners ist, der wohl allerdings auch zum großen Theil in der Anhänglichkeit an das alte unvergeßliche Vaterland wurzelt. So war mir und meiner Tochter durch Herrn Professor Mangold, den ich ja eben nur erst kennen gelernt hatte, eine Einladung in seine Familie geworden, deren Annahme ich ferner so manche schöne Stunde in New-York zu danken hatte. Herr Mangold ist der Neffe des Darmstädter Hofkapellmeisters M. und besitzt wie alle angesehenen Musiker in Amerika sein eigenes Heim.
Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, ein flüchtiges Bild der amerikanischen Häusereinrichtung zu geben. Die Privathäuser bestehen in der Regel aus zwei Etagen und dem Erdgeschoß. Die erste Etage ist hohes Parterre, zu dem von der Straße aus eine Freitreppe durch den kleinen, von schönem Eisengitter abgegrenzten Vorgarten führt. Schon der Flur ist, wie alle Wohnräume, mit schweren Teppichen vollständig ausgelegt und mit Spiegel, Kandelabern und Kleiderhaltern versehen. In dieser Etage befinden sich die Empfangsräumlichkeiten, das Arbeits- und Musikzimmer; in der höheren Etage die Wohn- und Schlafzimmer nebst Baderaum etc., im Erdgeschoß hingegen das Speisezimmer, die Küche und andere Gelasse. Die innere Einrichtung der Zimmer ist durchaus luxuriös, ohne dem Gemächlichen und Wohnlichen Eintrag zu thun. Meistentheils habe ich aber Tische, Konsols und Schränkchen mit Albums, Photographien und Nippsachen so überfüllt gefunden, daß ich selbst in meinem Schlafzimmer kein Plätzchen fand, wohin ich Uhr und Börse legen konnte. Die Betten sind musterhaft, fast so breit wie sie lang sind; hierin sucht die amerikanische Hausfrau ihren besonderen Stolz. Eines der beliebtesten Möbel ist der unvermeidliche Schaukelstuhl, der sich häufig in zwei bis drei Exemplaren in jedem Zimmer vorfindet, und natürlich mit Vorliebe benutzt wird.
Also weiter! Die Frau des Hauses, eine sehr liebenswürdige und feingebildete Dame, verstand es, bei einem vorzüglichen Diner, und auch nach demselben, uns die Stunden im Familienkreise zu recht angenehmen zu gestalten, und in heiterer und fröhlicher Stimmung begab ich mich am Abend in die Versammlung des Eichenkranz.
Dieser Verein war der einzige, der sich von New-York aus an dem Sängerfest in Milwaukee, welches allerdings von hier aus über 1000 englische Meilen entfernt ist, betheiligte. Nun hatte ich heute schon die Freude, daß mir von meinen lieben Sangesbrüdern der für das Fest studirte Einzelvortrag, eine Komposition meines Freundes Köllner in Guben, in ganz vorzüglicher Weise vorgetragen wurde. Der hierauf folgende Kommers veranlaßte eine begeisterte Stimmung, und als ich nun von den etwa 800 Berliner Sängern, die einige Tage vor meiner Abreise in meinem Jubiläums-Koncert auf „Tivoli“ unter meiner Leitung gesungen hatten, die mir aufgetragenen sangesbrüderlichen Grüße an die amerikanischen Sänger übermittelte, da brach ein endloser Jubel aus, und einstimmig wurde beschlossen den Berliner Sängern vermittelst Kabeldepesche den Gegengruß zu übersenden. Durch meinen Kollegen, Musikdirektor Edw. Schultz, an dessen Adresse die Depesche gerichtet war, erfuhr ich später, daß eine betreffende Mittheilung an die Berliner Sänger, die er als Referat an eine hiesige Zeitung geschickt, nicht erschienen ist. Ob die Notiz verloren gegangen oder nicht welterschütternd genug gewesen ist, ich weiß es nicht. Die amerikanische Presse ist in dieser Hinsicht zugänglicher und zwar zu ihrem Vortheil.
Die Nachrichten aus Deutschland, und auch speciell aus dem Vereinsleben, haben für die Amerikaner eine hohe Bedeutung; in allen Ständen wird mit gleichem Interesse die Zeitung, die man für 1 Cent auf der Straße kaufen kann, gelesen; in einer einzigen Familie findet man oft zwei bis drei deutsche und englische Zeitungen; auf den Pferde- und Eisenbahnen, auf den Ferrybooten, auf den Bänken der freien Plätze, überall forscht man nach dem Neuesten. Der „New-Yorker Herald“, der seine eigene Kabelverbindung mit Europa hat, bringt oft spaltenlange Nachrichten, die sofort wieder nach den größeren Städten der Vereinigten Staaten telegraphirt werden. So habe ich den eine halbe Spalte langen Bericht über die erste Festvorstellung im Wagner-Theater in Bayreuth schon am folgenden Tage Nachmittags auf der Fahrt von Milwaukee nach Chicago in der „Ill. Staatszeitung“ in Chicago gelesen. Die Nachricht von Liszt’s Ableben war sogar zwei Stunden vor seinem Tode, selbstverständlich mit Rücksicht auf die Zeitdifferenz, in den amerikanischen Blättern enthalten.
Vom Dirigenten und einigen Mitgliedern des Eichenkranz wurde ich an diesem Abend noch nach einem beliebten Restaurationslokal begleitet, woselbst ich eine höchst interessante Bekanntschaft machte. Ein Herr, der bereits am Tische Platz genommen hatte, war mir sofort durch sein ganzes Aeußere, welches den Künstler verrieth, sowie durch sein einnehmendes, joviales Wesen aufgefallen. Und ich hatte recht vermuthet; ich hatte das Vergnügen, in diesem Herrn den berühmtesten Photographen Amerikas, Herrn Kurtz, dessen Ruf übrigens auch in Fachkreisen Europas verbreitet ist, kennen zu lernen. Im Laufe der Unterhaltung erfuhr ich von ihm, daß er vor einer Reihe von Jahren, bei Gelegenheit eines Photographen-Kongresses in Amerika, unsern bekannten Berliner Professor Vogel kennen gelernt und mit demselben verschiedene Reisen nach dem Westen zu Kunstzwecken gemacht habe. Daß ich die freundliche Einladung des Herrn Kurtz, am nächsten Tage mit meiner Tochter nach seinem Atelier zu kommen, um durch eine photographische Aufnahme unsere Bilder zur bleibenden Erinnerung zu erhalten, nicht ausgeschlagen habe, wird wohl Jedermann begreiflich finden.
Eine Schilderung der großartigen Eindrücke, die der Besuch der weltberühmten Brooklyn-Brücke, des herrlichen Centralparks und anderer Sehenswürdigkeiten auf uns hervorbrachte, unterlasse ich, da die Leser der „Gartenlaube“ bereits Gelegenheit hatten, vorzügliche Berichte hierüber in früheren Jahrgängen des Blattes zu finden.
[796]
Ein Ehrenthurm für Friedrich Fröbel.
Wenn ich meinen Freund hätte fragen können: „Was meinst Du? Würde ein Aussichtsthurm auf Deinem Lieblingsplätzchen, zu Deinem Andenken erbaut, Dir Freude machen?“ so wäre der bescheidene Mann erst blutroth geworden, dann hätte er mit niedergeschlagenem Blick gesagt: „Wäre ein Kindergarten nicht schöner?“ Und gleich darauf hätte er die glänzenden Augen erhoben und mir die Hand gedrückt mit den Worten: „Den Standpunkt erhöhen, heißt den Blick erweitern, und da fehlt’s noch sehr. Laß sie bauen!“ –
Und nun lassen wir sie bauen! – Kommt doch dieser Bau recht spät für Den, der ihn zuerst verdient hätte. Es ist keine Verletzung für den hochverdienten Barop, wenn ich ehrlich gestehe, daß der Bau des Baropthurms mir zu bald gekommen war; mußte ich doch damals (1878) die bittere Klage hören: ob von diesem Thurmbau nicht ein paar Steine für Fröbel’s noch ganz schmuckloses Grab übrig sein könnten? – Vier Jahre später ward auch diese Klage gestillt. Zur Feier von Fröbel’s hundertstem Geburtstage, am 21. April 1882, erhob sieh auf seinem Grabhügel das Denkmal, aus Würfel, Säule und Kugel bestehend (vergl. die Abbildung „Gartenlaube“ 1882, S. 265), das mit folgendem Denkspruch enthüllt wurde:
„So ragt der Denkstein nun empor und deutet
Uns Friedrich Fröbel’s Menschenbildungslehre
In festgefügtem Aufbau sinnig an.
Zu unterst steht des Würfels fester Grund;
Die Säule ist das Zeichen der Erhebung;
Zum Ganzen halten, zur Vollendung streben,
Das ist der Kugel Bild, des Wirkens Krone.
Legt fest den Grund in Kindes Geist und Herzen,
Daß stark und schön die Jugend sich erhebe
Und sei zur That bereit ein ganzer Mensch.
O könnte so auf Deutschlands Boden einst
Der Bildungsbau des ganzen Volkes stehen! –“
Vater Fröbel, der Kindergärtner, würde keinen weiteren Denkmalswunsch äußern. Seine Freunde und Verehrer bewegt eine andere Pflicht, und zwar aus folgendem Grunde.
Als im Unglücksjahr 1806 mit Preußen der letzte selbständige deutsche Staat zu Boden geworfen und sogar der Name Deutschland von der Landkarte Europas verschwunden war, erscholl (1808) Fichte’s gewaltige Stimme in seinen „Reden an die deutsche Nation“. Die Unerläßlichkeit einer völligen Verjüngung der Nation auf dem Wege einer verbesserten Volkserziehung: das war der Gedanke, welchem Fichte Geltung zu erringen strebte, und gerade unserm Fr. Fröbel erfüllte er die ganze Seele. Er hatte schon damals sich der Pädagogik ganz gewidmet, an Pestalozzi sich angeschlossen und war eben in Berlin rastlos bemüht, sich wissenschaftlich zu dem großen Beruf auszurüsten, als der Befreiungskrieg ausbrach und Jahn die kampffähige akademische Jugend zu den Waffen rief.
Auch Fröbel ward ein Lützower. Wohin aber der Krieg auch zog, seine Lebensidee zog mit, und das Glück ließ ihn unter seinen Feldkameraden die besten Helfer finden: Heinrich Langethal und Wilhelm Middendorff. Der Krieg war zu Ende, die Befreiung auch, die Lützower zogen heim, und auf Deutschland sank der trübste Himmel seiner Geschichte. Die drei Lützower waren ihrem Schwur, fürs deutsche Volk und Vaterland zu wirken, treu geblieben. In wenigen Jahren finden wir sie vereint; an der Seite gleichgesinnter Frauen, umringt von ihren Schülern, pflegten sie deutsches Herz und deutschen Geist in dem Thüringer Waldthale von Keilhau. Und als sie fühlten, daß ein philologischer Kern ihrem Lehrwesen fehle, da kam ein Student von Jena, der wollte die Anstalt sich einmal ansehen, und er besah sie und die Männer Tage und Wochen lang, bis er ganz der Ihrige ward. So kam Barop nach Keilhau.
Wie viel man auch nach den Befreiungskriegen zu beklagen hatte, wie viel von dem Geist verschwunden war, der in den Tagen tiefster Noth das deutsche Volk so hoch erhoben: nichts rief schmerzlicheres Erstaunen hervor, als die Thatsache, daß von dem gewaltigen Sturm, welchen Fichte erregt hatte, kaum noch eine Spur zu finden war. Und doch ward endlich diese Spur gefunden und erkannt: in Keilhau wahrten als treue Priester die heilige Flamme dieses Geistes fest und rein Fröbel und seine Genossen.
Das ist die patriotische That, welche einen Thurm verdient hat. – Und der Ort, ist’s der rechte? – Auf diese Höhe ist Fröbel als Knabe täglich gestiegen; dort bot sich ihm der weiteste Blick in seine schöne Heimath. Und auch von Blankenburg und Keilhau lief er manche Nacht auf diesen Berg, um hier des Sonnenaufgangs sich zu freuen und mit gestärktem Aug’ und Herzen zu seinem Tagewerk zurückzukehren. An dieser Stelle hing das Herz des Mannes! Er hat sie selbst geweiht.
Betrachten wir unser Bildchen! Das ist der Kirchberg bei Oberweißbach, auf welchem der Thurm sich erheben soll. Am Fuß des Bergs der Friedhof und davor das Pfarrhaus; die Inschrifttafel über der Thür bezeichnet es als Fröbel’s Geburtsstätte. Und an der vorüberführenden Straße, gleich am Pfarrhausgarten, zeugt ein weißes Schild für die Thätigkeit des „Thüringer-Waldvereins“, der die Pflicht auf sich genommen, den Fröbel-Thurm zu bauen.
So sind wir bei der Kasse angekommen, für die es wohl nicht noch langer Bitten bedarf. Versäume kein Fröbel- und kein Kinderfreund, dem Vorsitzenden des Thüringer-Waldvereins zu Oberweißbach, Herrn Trautner, seinen Beitrag zu senden. Es geschieht ja Friedrich Fröbel zu Ehren!
Alle Rechte vorbehalten.
Der Unfried.
Noch hatte Götz den Holzhof nicht erreicht, als Gregor, den Hut auf dem Kopfe, aus der Hausthür trat. Unter spöttischem Lächeln folgte er mit eingekniffenen Augen dem Knechte, steckte eine Cigarre in Brand und schlenderte, die Fäuste tief in die Taschen grabend, zum Thor hinaus. Er schien in bester Laune zu sein, wie Einer, dem irgend ein Wunsch nach Willen gerathen.
Das Ziel seines Weges war das Wirthshaus. Dort war er der einzige Gast; aber die dralle Kellnerin genügte ihm als Gesellschaft, und an ihrer Seite verkneipte er den Nachmittag.
Als er kurz vor der Dämmerung den Pointnerhof wieder betrat, kam ihm ein Bettler entgegen, der eben unter der Hausthür eine Gabe von Kuni erhalten hatte, ein ruppiger, unappetitlicher Kunde. Der zerrissene, in verzogenen Falten schlotternde Zwillichanzug, den der Alte trug, mochte seit Jahren keine Wäsche mehr erlebt haben. Was er auf dem Kopfe sitzen hatte, schien einmal eine blaue Soldatenmütze gewesen zu sein. Durch den Spalt, der den abgerissenen Lederschild von dieser Kappe trennte, hatte sich ein Büschel der borstigen grauen Haare gezwängt. Das Gesicht war fast nur Bart, welcher struppig nach allen Seiten stand, in allen Farben spielte und sich immer bewegte, als wäre der Mund, der darunter verborgen lag, unaufhörlich im Kauen. Ueber den schmutzigen Stacheln des Schnurrbartes saß eine Nase, die [797] einem kugelrunden, bläulich angelaufenen Kupferknopfe glich. Das linke Augenlid war geschlossen und tief in die leere Höhle eingesunken. Das andere Auge, von dessen entzündeten Rändern eine Thränengasse in den Bart verlief, hatte einen feuchten und steifen Glanz.
Gregor stutzte, als er den Alten näher kommen sah, und während er die Brauen in die Höhe zog, zuckte es in verächtlichem Aerger um seine schmalen Lippen. Auch der andere riß beim Anblick des Burschen sein weitoffenes Auge noch weiter auf, verzögerte seinen tappenden Gang, zog mit zitterndem Arme den großen Hakenstock höher an die Brust und nahm eine scheue Miene an. Die Beiden schienen sich zu kennen. Dennoch gingen sie wortlos an einander vorüber. Dann aber drehten sie zu
gleicher Zeit den Kopf über die Schulter, kehrten sich um und blieben vor einander stehen.
Gregor schob die Hände in die Taschen und schaute aus stolzer Höhe auf den schmutzigen Kunden nieder, der ein Gesicht machte, als könnte ihm eine größere Ehre nicht widerfahren als diese Ansprache, deren er nun gewürdigt wurde.
„So? Haben s’ Dich wieder amal auslassen? Lump alter!“
„Ja, aber lang, mein’ ich, wird’s net dauern,“ entgegnete der Andere mit einer zerstörten Stimme, die so tief und hohl klang, als säße ihm der Kehlkopf zu unterst im Schlunde. „Der Winter is auch schon vor der Thür, da wird mir nix Anders übrig bleiben, als daß ich mich wieder ’neintummel’ in unserm König sein’ warme Stuben.“
Gregor lachte. „G’fallt’s Dir denn so gar gut da drin?“
„No mein, a z’friedens G’müth g’hört halt dazu,“ lautete die seufzende Antwort. „Und es is auch so weit gar net übel. A gut’s Essen – a langsame Arbeit – die schönste Liegerstatt – mehr kann sich ja Unsereiner net verlangen.“
„Aber der Schnaps? Was? Der Schnaps?“
„Der Schna – a – aps!“ quoll es mit wehmüthigem Stöhnen aus dem wackelnden Barte hervor. „Ah ja! Da fehlt’s freilich weit! Und g’wiß wahr, wenn mir da drin –“ dabei deutete der Alte mit dem Stock über die Schulter weg, „wenn mir da drin die Zung’ diemal gar so trocken worden is, da hab’ ich oft an dieselbigen Zeiten ’denkt, wo mir ein Glasl ums ander’ ’zahlt hast.“
Gregor lächelte und schaute ziellos ins Blaue, als dächte auch er an „dieselbigen Zeiten“.
„Ja – ja – a gut’s Herz hast allweil g’habt,“ kicherte der Alte, „und drum muß Dir’s auch gut gehn. Was is denn? Wie bist denn g’stellt jetzt?“ Er winkte mit einem Blicke gegen das Haus. „G’hörst ’leicht da ’rein?“
„So halb und halb.“
„So halb – und halb?“ wiederholte der Andere, wobei seinem starren Auge das versuchte pfiffige Blinzeln nicht recht gelingen wollte. Dann streckte er den Kopf und raunte gegen Gregor’s Ohr: „Du! Da halt’ Dich fein fest an! Is a nobligs Haus! Zehn Pfennig hab’ ich ’kriegt und –“ verstummend trat er einen Schritt bei Seite und schaute an Gregor vorüber mit steifem Blick dem Knechte nach, der aus dem Hause getreten war und quer über den Hof nach den Ställen ging. „Was habt’s denn da für Ein’ im Haus? G’hört der am End’ zu Dir?“
Hastig wandte Gregor das Gesicht und konnte gerade noch sehen, wie Götz in der Thür des Pferdestalles verschwand.
„Ah ja – ich täusch’ mich net – er is ’s schon!“ murmelte der Alte. „Wie heißt er denn gleich?“
„Gotthard Sauer,“ erwiederte Gregor mit leiser Stimme, während sich in seinen Zügen eine lauernde Spannung zeigte.
„Gotthard Sauer? Ah na! So hat derselbige net g’heißen. Aber macht nix. Ich hab’ mich net verschaut. Schon wie ich ’kommen bin und wie er vor mir ins Haus ’nein is, da hab’ ich ihn schon gleich wieder ’kennt am ersten Blick. Und wenn’s auch schon lang her is – er hat ja ’s G’sicht darnach – zum merken.“
„Und woher kennst ihn? Woher?“
„Aus der warmen Stuben! Ja, a meiniger Kamerad is er g’wesen!“ kicherte der Alte, und während er mit dem Ellbogen den Hakenstock an sich drückte, ahmte er mit den zitternden, von Schmutz überkrusteten Fingern die Bewegung des Spinnens nach.
[798] Da packte ihn Gregor beim Arme und fuhr ihn mit zischender Stimme an: „Wann aber der Nam’ net stimmt!“
„Macht nix! Macht nix! Leicht b’sinn’ ich mich auch nimmer richtig auf sein’ Nam’. Aber – sein’ Nummer weiß ich noch – der Dreiundsiebz’ger is er g’wesen! Und Einer von die G’wichtigen! Zwölf Jahrln hat er g’habt! A Malefizzeit – so was! Mir waren meine vier schon z’viel, wo s’ mir selbigsmal ’naufg’hängt haben, völlig unschuldig, wegen so ei’m miserabligen Schlösserl, wo mir unter der Hand verbrochen is. Aber no – jetzt bin ich’s g’wohnt –“
„Laß mich in Ruh’ mit Dei’m G’wasch,“ raunte Gregor dem Alten mit heiserer Stimme zu. „Warum s’ ihn ’packt haben, sag’ mir!“
„Ja mein, da bin ich überfragt. Aber was B’sonders muß er ang’stellt haben, weil er gar so stolz g’wesen is! Ja! Wir Alle, wir waren ihm gar net nobel g’nug!“
„Na – na – es kann net sein! Du mußt Dich dengerst verschaut haben in ihm!“
„G’wiß net! Das heißt, es is a Bißl lang schon her – und wetten möcht’ ich g’rad net, aber – schwören thu’ ich!“
„’s Wetten wär’ mir lieber! Aber wissen möcht’ ich’s! Und mach’ weiter, da kommst mit mir jetzt und fragst ihn vor meiner ins G’sicht ’nein, ob er’s is!“ Ein paar Schritte zerrte Gregor den Alten mit sich fort; dann plötzlich wieder blieb er stehen, schüttelte heftig den Kopf und murmelte: „Na – nix – so geht’s net! So taugt’s mir net!“ Mit einem forschenden Blick überflog er das Haus und den leeren Hofraum, griff in die Tasche, drückte dem verdutzten Alten ein Markstück in die Hand und flüsterte ihm zu: „Da hast a Zehrgeld. Und jetzt gehst ins Wirthshaus und bleibst über Nacht. Es soll Dir ’was tragen – ’leicht kann ich Dich morgen als Zeugen brauchen!“
„Ah so? So steht’s?“ kicherte der Alte unter einem verständnißinnigen Grinsen. „Und weißt es ja – Dir thu’ ich allweil gern an G’fallen! Ich – ich bezeug’ Dir Alles – was Du haben willst. Heut’ g’rad so wie selbigsmal!“ Dabei schielte er mit einem zwinkernden Blick zu Gregor empor.
„Halt’ Dein’ Schnabel und mach’, daß weiter kommst!“ zischelte der Bursche, wandte sich hastig ab und ging, die Fäuste in die Taschen grabend, dem Hause zu. Unter der Thür schaute er noch einmal zurück und sah den Vagabunden mit wackelndem Kopfe durch das Zauntor auf die Straße schlurfen. „Lump alter! Du bist mir amal g’legen ’kommen!“ lächelte er vor sich hin, und während er langsam hinüberblickte gegen die Ställe, blitzte eine boshafte Freude in seinen Augen auf.
Er sah den Stoffel aus einer Thür treten, sah ihn ein Brett quer über den Brunnentrog legen und allerlei Riemenzeug herbeischleppen. Nach einer Weile kam auch Götz zum Brunnen und füllte einen hölzernen Eimer zum Trank für die Pferde.
Mit gekreuzten Armen lehnte sich Gregor an den Thürpfosten, furchte die Brauen, zog über den geschlossenen Zähnen die Lippen aus einander und starrte nachdenklich vor sich hin. Dann plötzlich fuhr er mit der Hand in die Tasche und brachte mehrere Markstücke hervor, die er der Reihe nach betrachtete. „Akrat is eins dabei!“ lachte er leise auf, drückte die ausgewählte Münze mit dem Daumen gesondert in die Hand und schob die andern wieder in die Tasche.
Langsam schlenderte er auf den Brunnen zu und begann in einem gar gnädigen Ton mit Stoffel zu plaudern, der mit einer Bürste das Riemenzeug bearbeitete, um die darüber gestrichene Schwärze in Glanz zu bringen. Und während er so plauderte und lachte, klapperte er unablässig mit dem Gelde in seiner Tasche. Stoffel spitzte die Ohren und meinte schließlich mit einem neidischen Seitenblick: „Saxen, da scheppert’s aber!“
„No ja, wo Vögel sind, da zwitschert’s halt,“ gähnte Gregor, zog die Hand aus der Tasche, warf ein Markstück in die Luft und fing es wieder mit geschicktem Griff.
„Ah! Nobel!“ staunte Stoffel. „Das möcht’ ich schon noch amal sehen.“
„So schau halt her!“
Wieder flog das Markstück in die Höhe – so hastig aber auch Stoffel mit beiden Händen zugreifen mochte, dennoch kam er um einen guten Bauernschuh zu kurz.
„Ja, g’schnitten!“ lachte Gregor und schnappte die fallende Münze dem Knechte vor der Nase weg. Da hörte er schwere Tritte aus dem Stalle näher kommen. Hastig streckte er die geschlossene Faust. „Aber schau – daß net meinst, ich bin Einer von die Neidischen – wann d’ Jahrzahl errathst – g’rad oder ung’rad – nachher g’hört’s Dein!“
Die Verdrossenheit in Stoffel’s Zügen verwandelte sich in zweifelnde Hoffnung. Er schielte nach der Hand, die sich ihm entgegenbot, schlenkerte die Quaste der Zipfelmütze vom linken Ohr aufs rechte und brummte: „Ich glaub’s net!“
„Auf Ehr’!“
„No also – ung’rad!“
„So schau Dir’s an!“
Mit beiden Händen tappte Stoffel nach Gregor’s Faust; doch als er sie fest geschlossen fand, murrte er entrüstet: No freilich, wie soll ich denn da schauen! Aufmachen sag’ ich!“
„Plag’ Dich halt a Bißl!“ lachte Gregor.
Während Stoffel nun gewaltsam die Faust des Burschen zu öffnen suchte, trat Götz zu den Beiden, schob den Eimer unter die Röhre und wandte sich wieder zum Gehen, als hätte er in der Gesellschaft, die er am Brunnen fand, die Füllung des Eimers nicht erwarten mögen.
Da öffnete Gregor von selbst die Finger. Stoffel riß die Münze an sich, schob sie vor die funkelnden Augen und schrie in heller Freude die Zahl hinaus, die er auf der Prägung gefunden: „Dreiundsiebz’g!“
Als wäre vor Götz ein Blitzstrahl niedergefahren, so zuckte er zusammen. Die Kniee schienen ihm brechen zu wollen, und mit beiden Händen griff er nach der nahen Mauer.
Gregor hatte genug gesehen. Nun brauchte er keinen Zeugen mehr. Mit einem boshaften Lächeln wandte er sich ab, und während er dem Hause zuging, hörte er hinter sich den Stoffel jubeln: „Da schau, Götz – da schau her! A Markstück hab’ ich g’wonnen. Rathen hat er mich lassen – und ung’rad hab’ ich g’rathen! Und g’wonnen hab’ ich! A Dreiundsiebz’ger war’s! A Dreiundsiebz’ger!“
Als Gregor die dämmerige Stube betrat, fand er Kuni damit beschäftigt, den Tisch für das Abendessen zu decken.
„No also? Hast Dich schon b’sonnen?“ fragte er, während er den Hut in einen Winkel schleuderte. „Ja oder na?“
Kuni warf die Bestecke, die sie aus der Lade genommen, auf den Tisch, trat mit hastigen Schritten vor den Burschen hin und sagte mit einer mühsam gedämpften, vor Erregung bebenden Stimme: „Mit Ja und Na is da nix g’sagt! Ich will mich amal ausreden mit Dir – und ganz! Und heut’ noch! In der Nacht, da wart’ ich hinter der Holzleg’ draußen, bis vom Wirthshaus kommst; denn im Haus herin is kein Reden für uns! Ich mag amal nimmer – ich mag net! Und ich sag’ Dir’s im Ernst!“
„Oho! Oho! Im Ernst! Jetzt da muß ich mich dengerst gleich um an Aufheiterung umschauen für Dich! No also, paß’ auf, heut’ Abend kannst noch an G’spaß erleben – an ganz an guten!“
„Gori!?“
„Mußt Dich net sorgen! Dir gilt’s für heut’ noch net!“ erwiederte der Bursche mit höhnischem Lachen. „Aber – a Kunststückel will ich probiren. Paß’ auf – ich reiß’ an Stein aus der Wand, und wenn er gleich drein verwachsen is! Und bei dem G’spaß, da kannst Dich g’rad überzeugen, wie d’ Leut’ über g’wisse Sachen denken!“
In Kuni’s Zügen stritten Zorn und Angst. „Was? Was is jetzt das schon wieder? Was hast im Sinn? Es is nix Gut’s! Ich kenn’ Dich, Gori, und ich sag’ Dir’s –“
Jählings verstummte sie, huschte zum Tische zurück, und während sie mit zitternden Händen die Bestecke vertheilte, lauschte sie in scheuer Unruhe den Stimmen und Tritten, die sich vom Flur herein vernehmen ließen.
Die beiden Pointner hatten das Haus betreten.
Kaum eine Stunde später war’s, da brannte in der Stube schon die Hängelampe über dem gedeckten Tisch.
Hinter dem Ofen lag Gregor mit ausgestreckten Beinen auf dem Sofa Nebenan in der Kammer, deren Thür offen stand, rumorte der Pointner, und während er die schweren Schuhe in eine Ecke stieß, hörte man ihn seufzen, als wäre er nicht der Bauer auf der Point, sondern das armseligste Häuflein Elend.
[799] Karli lehnte, ein Knie auf die Holzbank stützend, in einer Fensternische und schaute mit zerstreuten Blicken in die sinkende Nacht hinaus. Er sah über den dunkelnden Himmel in raschem Zuge schwere, finstere Wolken aufwärts steigen, welche nach dem vergangenem schönen Tag einen der jähen Witterungswechsel zu bringen schienen, wie sie im Hochland dem Herbste eigen sind. Unter verlorenen Gedanken schaute Karli zu, wie hinter den treibenden Wolken Stern um Stern erlosch und wie die dunklen Kuppen der Berge immer tiefer in die wallenden Nebel versanken.
Lautlosen Schrittes kam der Pointner in seinen Filzpantoffeln aus der Kammer geschlichen. Während hinter ihm die Thür langsam zufiel, lugte er mit schiefen Augen auf den Ofenwinkel. Schwer seufzte er auf – er mochte wohl der vergangenen Zeiten gedenken, in denen er auf dem nun immer besetzten Sofa dort hinten die Dämmerstunde verduselt hatte, bis man ihn zur dampfenden Schüssel rief. Mit nickendem Kopfe, gähnend und seufzend, begann er ein unruhiges Umhertrippeln und griff in wehmüthiger Zerstreutheit mit den Händen nach allen Dingen. Ein paarmal räusperte er sich, nur um die drückende Stille zu unterbrechen, die in der Stube herrschte; dabei glitten seine Augen immer wieder mit halb scheuen, halb ungeduldigen Blicken zu Karli hinüber. Schließlich trat auch er an das Fenster, legte die Hand auf Karli’s Rücken, duckte den Kopf und schaute durch die Scheiben.
„Mir scheint, es überzieht sich a Bißl!“ sagte er mit einer Stimme, als hätte er dafür, daß es sich da draußen „ein Bißl überzog“, um Entschuldigung bitten müssen.
„A Bißl? So schau nur g’rad, ganz schwarz wird Alles,“ erwiederte Karli, während er ein wenig bei Seite rückte, um dem Vater Platz zu machen. „Mir scheint, heut’ Nacht schlagt ’s Wetter um!“
„Ja, kann schon sein!“ klang es mit dünnem Lächeln hinter dem Ofen hervor.
Die Beiden am Fenster schienen diese Stimme aus dem Hintergrunde überhört zu haben.
„Ah na, ich glaub’s net!“ versicherte der Pointner, während er sich, erleichtert aufathmend, neben Karli ins Fenster legte. „Der Mond is im Wachsen, der reißt’s schon wieder durch.“
„Wird sich wohl hart machen! Schau nur g’rad an, wie’s d’ Nebel niederdruckt. Aber am Heimweg hab’ ich mir schon so ’was ’denkt, weil’s auf amal gar so frisch über d’ Leithen ’runter ’zogen hat. Völlig frieren hätt’s Ein’ können! Wer weiß – ’leicht wirft’s uns schon an Schnee über’s Dach.“
„Jetzt gehst mir aber weiter,“ lachte der Pointner. „Drei Tag’ noch auf Allerheiligen – und schneien! Wo Ein’ die Sonn’ heut’ noch am Buckel ’brennt hat!“
„Macht nix! Wirst es sehen, heut’ über Nacht schlagt’s um. Der Götz hat die ganze Zeit schon g’meint, daß der Winter nimmer lang’ warten laßt! Und der versteht sich aufs Wetter.“
„Natürlich! Der Götz! Wann der was sagt, nachher haben bei Dir alle Andern ausg’redt!“ schmollte der Pointner in einer Anwandlung von Eifersucht. Nun hörte er ein Poltern an der Thür, und da er sich die Ursache desselben wohl zu deuten wußte, richtete er sich auf, strich die Hand über Karli’s Haare und sagte in traulichem Tone: „Aber komm, jetzt gehn wir essen.“
Zenz und Kuni hatten die Stube betreten, und hinter ihnen war Stoffel über die Schwelle gestolpert.
Kuni brachte ein hölzernes Geschirr voll gebratener Kartoffeln; dieselben schüttete sie rings um die irdene Schüssel, welche Zenz in die Mitte des Tisches gestellt hatte, und in welcher eine „braungeschmalzene“ Brotsuppe dampfte. Einen Teller erhielt nur der Bauer, für welchen auch ein Extragericht aufgetragen wurde – Nudelsuppe mit einer halben Henne.
„In Namen Gottes, Vaters und des Sohnes –“ fing der Pointner, sich bekreuzigend, zu beten an, worauf die Andern mit murmelnden Stimmen einfielen.
Der Erste, der sich nach dem Amen hinter den Tisch schob, war Gregor. Mit nicht sonderlich erbauten Blicken streifte er die Suppenschüssel; dann zwinkerte er den Teller des Pointner’s an und spöttelte: „Aber nobel ißt der Herr Schwager – akrat wie a Kindbetterin.“
„Johohoho,“ lachte Stoffel, während er für sich einen dreifüßigen Stuhl herbeizog. „Wann ich wieder amal auf d’ Welt komm’, werd’ ich auch a Großbauer und laß mir alle Tag’ ’was Extrigs kochen.“
„Jetzt red’ net so dumm, sondern hock’ Dich nieder und iß,“ schalt der Pointner, während er einen zornigen Seitenblick auf Gregor warf.
Und Karli fragte:
„Was is denn? Wo is denn der Götz?“
„Der wird schon noch a Bißl ausbleiben. Den Schimmel hat er nachfüttern müssen,“ antwortete Stoffel. Dabei griff er schon mit der Linken nach der größten Kartoffel, die er in seiner Nähe zu finden wußte. Durch einen Druck des Daumens öffnete er die Schale, stach mit der Rechten einen Theil der weißen, dampfenden Frucht auf den Löffel und fuhr damit in die Suppenschüssel.
Schweigend thaten es ihm die Andern nach. Die meiste Eile, satt zu werden, schien Gregor zu haben. Dabei blitzten seine Augen immer wieder nach der Stubenthür.
Niemand achtete auf ihn, außer Kuni, in deren Zügen eine seltsame Erregung zitterte. Sie verwandte fast keinen Blick von seinem Gesichte. Er merkte wohl, daß sie ihn beobachtete; doch schien er sich blutwenig um die halb ängstliche, halb drohende Sprache zu kümmern, die ihre Augen redeten. Jetzt sah sie ein böses Lächeln um seine dünnen Lippen zucken, hörte zugleich einen schweren Schritt im Flur – und aus ihrem Munde rang sich ein dumpfer, heiserer Laut, als hätte ihr plötzlich eine unsichtbare Hand die Kehle zusammengeschnürt.
Die Thür öffnete sich, und Götz betrat die Stube.
Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Edmund Alfred Brehm.
Land und Leute zwischen den Stromschnellen des Nil.
(Schluß.)
Sechs neu erbaute Boote liegen an der südlichen Grenze der dritten Stromschnellengruppe, angepflöckt am Ufer des Stromes; die zu ihnen gehörige Mannschaft ruht auf sandigen Stellen zwischen schwarzen Felsblöcken, woselbst sie die Nacht verbracht hat. Es ist noch früh am Morgen und still im Lager; der Strom allein redet seine rauschende Sprache in der Oede. Der aufdämmernde Tag weckt die Schläfer; einer nach dem anderen steigt zum Strom hernieder und verrichtet die gesetzlichen Waschungen zum Gebete des Frühroths. Nachdem das „Vorgeschriebene“ und das „Hinzugefügte“ des Gebetes gesprochen worden ist, erquickt sich allmänniglich an einem kargen Imbisse; hierauf eilt Alt und Jung zu einem Scheich- oder Heiligengrabe, dessen weiße Kuppel zwischen lichtgrünen Mimosen aus einem dunklen Thale hervorschimmert, um hier, unter Vorantritt des ältesten Reïs oder Schiffsführers, welcher die Stelle des Imâm vertritt, ein besonderes Gebet um glückliche Fahrt zu verrichten. Zu den Booten zurückgekehrt, wirft man schließlich noch, uralter, heidnischer Sitte folgend, einige Datteln, gleichsam als Opfergabe, in den Strom.
Nunmehr endlich befehligt jeder Schiffsführer seine Mannschaft auf ihre Posten. „Löst das Haftseil“. „Rudert, Ihr Männer, rudert, rudert im Namen Gottes des Allbarmherzigen!“ hallt sein Befehl. Hierauf beginnt er, singend den ewig wiederkehrenden Nachklang eines Gedichtes anzustimmen; einer der Ruderer nimmt die Weise auf und singt eine der Strophen des Liedes nach der anderen; alle übrigen begleiten ihn mit den taktmäßig vorgetragenen Worten: „Hilf uns, hilf uns, o Mohammed, hilf uns, Gottgesandter und Prophet.“
[800] Langsam bewegt sich die Barke der Mitte des Stromes zu, rascher und immer rascher gleitet sie stromabwärts; nach wenigen Minuten eilt sie, ihren Gang noch mehr beschleunigend, zwischen den Felseninseln oberhalb der Stromschnelle hindurch. „O Said, gieb uns Freude,“ fleht der Reïs, während die Matrosen noch immer singen wie vorher. Schneller und schneller tauchen die Ruder in die trübe Fluth; über die braunen, gestern erst frisch gesalbten Leiber der bis auf die Lenden nackten Schiffer rieselt der Schweiß hernieder; jeder Muskel ist angespannt und in Thätigkeit. Lob und Tadel, Schmeichelworte und Verwünschungen, Bitten und Drohungen. Segenswünsche und Verfluchungen wechseln im Munde des Reïs, je nachdem das Boot mehr oder minder seinen Wünschen entsprechend dahinrauscht. Die mit aller Kraft geführten Ruderschläge beschleunigen, obwohl sie nur zum Lenken bestimmt sind, den ohnehin ungemein schnellen Lauf des Fahrzeuges und vermehren die Gefahr manchmal eben so, wie sie ihr zu steuern suchen; der Reïs erscheint daher entschuldigt, wenn er alle ihm zu Gebote stehenden Mittel anwendet, um seine Leute anzufeuern.
„Legt Euch auf die Ruder; arbeitet, arbeitet, meine Söhne; zeigt Eure Kraft, Ihr Enkel und Nachkommen von Helden; beweist Euren Muth, Ihr Tapferen; bethätigt Eure Stärke, Ihr Recken, preist den Propheten, Ihr Gläubigen! O der Meriesa, o der sinnbildduftenden Mädchen von Dongola, o der Märchen in Kairo: Alles wird Euer sein! Backbord sage ich, Ihr Hunde, Hundesöhne, Hunde-Enkel, Urenkel und Nachkommen von Hunden, Ihr Christen, Ihr Heiden, Ihr Juden, Ihr Kaffern, Ihr Feueranbeter! Ach, Ihr Spitzbuben, Ihr Schelme, Ihr Diebe, Ihr Gauner, Ihr Strolche: wollt Ihr wohl rudern?! Erstes Ruder Steuerbord, hängen denn Weiber an Dir? Drittes Ruder Backbord, schleudere die Schwächlinge ins Wasser, welche Dich führen wollen! Recht so, vortrefflich, ausgezeichnet, Ihr kräftigen, gelenkigen, behenden Jünglinge; Gott segne Euch, Ihr Braven, und gebe Euren Vätern Freude, Euren Kindern Heil und Segen! Besser, besser, noch besser, Ihr Memmen, Ihr Kraft- und Saftlosen, Ihr Elenden, Erbärmlichen – verdamme Euch Allah in seinem gerechten Zorne, Ihr, Ihr – hilf uns, hilf uns, o Mohammed!“
So entquillt es ununterbrochen dem Munde des Befehlshabers; und Alles wird mit dem größten Ernst gesagt, gesprochen, geschrieen, gestöhnt und durch entsprechende Hand-, Fuß- und Hauptbewegungen noch besonders bekräftigt und verstärkt.
Das Boot lenkt in den oberen Anfang der Stromschnelle ein. Die Felsen zu beiden Seiten scheinen sich im Wirbel zu drehen; der donnernde Schwall des Wassers überfluthet Bord und Deck und übertönt jeglichen Befehl. Unaufhaltsam wird das gebrechliche Fahrzeug einer Felsenecke zugeschleudert. Furcht, Angst, Entsetzen prägen sich in Aller Gesichtern aus – da liegt die gefährliche Stelle bereits hinter dem Stern des Bootes: die von dem Felsen zurückschäumenden Fluthen haben uns das gefährdete Schifflein zurückgeworfen; nur zwei Ruder sind am Gesteine zersplittert wie schwaches Glas. Ihr Verlust hindert die rechte Leitung der Barke, und ohne noch länger dem Steuer zu gehorchen, treibt sie einem wirklichen Wassersturze zu. Ein allgemeiner Schrei, Entsetzen und Verzweiflung ausdrückend; ein Wink des mit zitterndem Knie am Steuer stehenden Reïs, und Alle werfen sich platt auf das Deck und versuchen, hier krampfhaft sich festzuhalten; ein betäubender Krach und allseitige Ueberfluthung durch zischende, gurgelnde Wogen; einen Augenblick lang nichts Anderes als Wasser, sodann ein förmliches Aufspringen des Bootes; auch der Sturz und mit ihm Todesgefahren sind überwunden, „El Hamdi lillahi“ – Gott sei Dank – ringt sich aus jeder Brust hervor; dann eilen einige in den Raum hinab, um entstandene Lecke zu suchen zu verstopfen, andere legen neue Ruder auf; es geht weiter.
Hinter dem ersten jagt ein zweites Boot durch die gefährliche Schnelle. Mit ungestümer, fort und fort beschleunigter Hast arbeiten die Ruderer; da stürzen plötzlich alle zu Boden, und einer fliegt in hohem Bogen vom Ruder hinweg, durch die Luft und in den Strom hinab. Er scheint verloren, in der tosenden Tiefe begraben zu sein; aber nein, inmitten des kreisenden und schäumenden Wirbels unterhalb der Schnelle taucht, während die Genossen rathlos die Hände ringen, der unvergleichliche Schwimmer wieder auf, und als ein drittes Boot an dem zweiten, auf einem Felsblocke sitzenden vorüberjagt und in den Wirbel gelangt ist, erhascht er eines der Ruder und schwingt sich gewandt an Bord: er ist gerettet. Auch das vierte Boot eilt herbei; flehende Gebärden der gescheiterten Bemannung, des zweiten rufen um Hilfe; ein Aufzeigen zum Himmel ist die beredte Antwort. In der That, menschliche Hilfe kann jenen nicht werden; denn kein Fahrzeug ist hier in der Gewalt des Menschen; der Strom selbst muß helfen, wenn er nicht zerstören will, und er hilft. Heftiger werden die Schwankungen des vorn und hinten in die Wogen tauchenden und von ihnen wieder gehobenen Bootes, und plötzlich wirbelt und jagt es wiederum durch Strudel und Strömung. Einige Schiffer rudern, andere schöpfen Wasser, wie zwei im Boote reisende Weiber; wieder andere hämmern, nageln und kalfatern im Raume. Zur Hälfte mit Wasser gefüllt, kaum noch über der Oberfläche sich haltend, erreicht es das Ufer und wird ausgeladen; aber die Hälfte der Ladung, aus arabischem Gummi bestehend, ist verloren, und klagend, jammernd, weinend, auf die mit den Männern reisenden Weiber fluchend, zerrauft der Eigenthümer, ein unbemittelter Kaufmann, seinen Bart. Die beiden Weiber haben Alles verschuldet; wie könnten auch sie, welche den ersten Menschen im Paradiese bereits ins Verderben gestürzt haben, gläubigen Muslimin jemals Heil und Segen bringen! Wehe, wehe über die Weiber und ihr gesammtes Geschlecht!
Die Barke wird am nächsten Tage ausgebessert, neu kalfatert und beladen; sodann schwimmt sie mit den übrigen den nächsten Stromschnellen zu, durcheilt sie ohne weitere Schädigung und erreicht, wie sie, das fruchtbare, felsenfreie Stromthal Mittelnubiens, welches alle Schiffer gastlich empfängt und aufnimmt. Vergessen ist alsbald jegliche Sorge, welche vorher gequält hatte; wie Kinder lachen und scherzen die braunen Männer wieder, und mit Behagen schlürfen sie Palmwein und Meriesa. Viel zu rasch für ihre Wünsche führt der Strom die Boote durch das glückliche Land.
Wiederum schüttet die Wüste goldgelbe Sandmassen über die Felsen des Stromufers; wiederum beengen, zertheilen, stauen felsige Eilande das Bett des Nil; die Schiffe sind in die zweite Stromschnellengruppe eingetreten. Einer der gefährlichen Wasserläufe, einer der gefürchteten Strudel oder Wirbel, eine der sorgenbringenden Engen und Krümmungen nach der andern bleiben zurück, nachdem sie glücklich durchfahren wurden; nur die letzten und wildesten Stromschnellen trennen die Schiffer noch von dem Palmendorfe Wadihalfa und dem von hier ab nur noch einmal, unterhalb Philä, von Felsen durchsetzten, übrigens aber gefahrlosen unteren Stromthale. Alle Boote suchen oberhalb der in der That furchtbaren Stromschnellen Gaskol, Mondjêna, Abu-Sir und Hambol eine ruhige Bucht auf; alle Schiffer lagern hier bis zum nächsten Morgen, um sich für die Arbeit, Anstrengung, Angst und Sorge des kommenden Tages stärken. Auf federnden Lagerstellen geben sich auch die Abendländer erquicklicher Ruhe hin.
Die Nacht zieht ihren Schleier über das wilde Land. Im Felsenthale donnern die abstürzenden Wogen; in der stillen Bucht spiegeln sich die Sterne wieder; am Strande duften blühende Mimosen. Da tritt ein uralter, zwischen den Stromschnellen geborener und ergrauter Reïs zu den Abendländern. Sein blendend weißer Bart umrahmt das würdige Antlitz; sein weißes Obergewand mahnt an den Talar eines Priesters.
„Söhne der Fremde, Männer des Frankenlandes,“ so beginnt er zu reden, „Schweres habt Ihr mit uns überstanden, Schwereres steht Euch bevor. Ich bin im Lande geboren; siebzig Jahre hat die Sonne mein Haupt beschienen; endlich hat sie mein Haar gebleicht; ich bin ein alter Mann – Ihr könntet meine Kinder sein. So achtet der Stimme des Warners und laßt ab von Eurem Vorsatze, uns morgen zu begleiten. Unwissend geht Ihr der Gefahr entgegen; ich aber kenne sie. Hättet Ihr, gleich mir, jene Felsen gesehen, welche den Wogen die Thore schließen, hättet Ihr vernommen, wie ich, wie diese Wogen zürnend und dröhnend Ein- und Durchlaß begehren, wie sie Felsen überfluthen und brüllend zur Tiefe stürzen; bedächtet Ihr, daß einzig und allein die Gnade Gottes, den wir bewundern und erheben, unser armseliges Schifflein führen kann: Ihr würdet mir nachgeben. Würde nicht Kummer das Herz Eurer Mutter brechen, wenn die Barmherzigkeit des Allerbarmers uns verließe? – Ihr wollt nicht abstehen? So möge des Allgnädigen Gnade über uns Allen sein!“
Vor Sonnenaufgang wird es lebendig am Strande. Inbrünstiger als je zuvor sprechen die Schiffer das Gebet des
[801][802] Frühroths. Ernste, des Stromes kundige Steuerleute, junge gliederkräftige und waghalsige Ruderer bieten dem Alten ihre Dienste an. Bedachtsam wählt er die erfahrensten Steuerleute, die kräftigsten Ruderer aus ihrer Mitte; dreifach bemannt er das Steuer, doppelt jedes Ruder; dann mahnt er zum Aufbruche. „Männer und Söhne des Landes, Kinder des Stromes, betet die Fatiha,“ befiehlt er. Und alle sprechen die Worte der ersten Sure des Koran: „Lob und Preis dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichtes. Dir wollen wir dienen, zu Dir wollen wir stehen, daß Du uns führst den rechten Weg, den Weg derer, die Deiner Gnade sich freuen, nicht aber den Weg derer, über welche Du zürnest, und nicht den Weg der Irrenden!“
„Amen, meine Söhne; im Namen, des Allerbarmers! Löset das Haftseil, und Hand an die Ruder!“ Mit gleichmäßigem Schlage fallen diese ins Wasser.
Langsam treibt der aufgestauete Strom das Boot der ersten Schnelle zu; und wiederum jagt es, nachdem es dieselbe erreicht hat, weder dem Steuer, noch den Rudern gehorchend, in allen Fugen knarrend und ächzend durch sich überstürzende Wogen und kochenden Gischt, durch Strudel und Wirbel, Engen und jählings sich wendende Straßen, von den Wellen umspült und überschüttet, auf Armeslänge an Felsenkanten vorüber und dicht über umwirbelte Felszacken hinweg einer zweiten Schnelle zu. Von der Höhe des Absturzes aus blickt das Auge mit Entsetzen zu einer in Anbetracht der furchtbaren Wassergewalt grausigen Tiefe hernieder, und gerade vor dem unteren Ausgange der Schnelle erhebt sich ein runder Felsblock, welchen schäumende Wellen umgeben, als ob ein von weißen Locken umwalltes Riesenhaupt aus dem Wasser aufgetaucht wäre. Einem abgeschnellten Pfeile vergleichbar schießt das gebrechliche, hier unlenkbare Gebäude diesem Riesenhaupte entgegen.
„Im Namen des Allbarmherzigen, rudert, rudert, Ihr Männer, Ihr gewaltigen, tapferen, kühnen Männer, Ihr Kinder des Stromes,“ stöhnt der Reïs; „backbord, backbord das Steuer mit aller Kraft.“
Aber Ruder wie Steuer versagen. Zwar nicht der Felsblock gefährdet das Fahrzeug, aber eine enge, in ein Felsenwirrsal führende, steuerbords vom Felsen abzweigende Straße nimmt es auf, und vergeblich suchen aller Augen nach einem Auswege aus jenem Wirrsal. Schon verlassen die Schiffer die Ruder, um sich ihrer letzten Bekleidungsstücke zu entledigen und nach dem voraussichtlichen Scheitern des Bootes im Schwimmen nicht behindert zu werden; da lenkt ein furchtbarer Krach aller Blicke wieder nach rückwärts: jenes Felsenhaupt hat das nachfolgende, längere, minder lenksame Boot als Opfer empfangen und trägt es frei schwebend über den darunter zischenden Fluthen. Das vermehrt das Entsetzen. Alle Schiffer sehen die Bemannung jenes Bootes als verloren an, und alle bereiten sich vor zum Sprunge in die Tiefe. Da zittert hell und klar die Greisenstimme des Stromesalten über das wirbelnde treibende Fahrzeug. „Seid Ihr denn toll, seid Ihr von Gott verlassen, Ihr Kinder der Heiden? Arbeitet, arbeitet, Ihr Knaben, Ihr Männer, Ihr Helden, Ihr Recken, Ihr Gläubigen! In der Hand des Allmächtigen ruht alle Kraft und Stärke; ihm sei die Ehre; an die Ruder also, Ihr Heldensöhne!“
Und er selbst tritt an das Steuer und führt das verirrte Boot binnen wenigen Minuten vom „Wege der Irrenden“ auf den „rechten Weg“ zurück. Eines der Boote nach dem andern erscheint im freien Wasser; aber nicht alle Fahrzeuge entrannen dem Verderben. Noch immer, und wohl bis zur nächstjährigen Nilschwelle trägt das Riesenhaupt seine Last, und jenes Unglücksboot, welches die Weiber führte, zerschellte in tausend Trümmer schon in der obersten Schnelle. Mit der glücklich geretteten Mannschaft beten die Schiffer wie vor der Abfahrt: „Lob und Preis dem Weltenherrn!“
Vor dem palmenbeschatteten Dorfe Wadihalfa liegen die geretteten Boote neben einander; am Strande selbst lagern um lodernde Feuer in malerischen Gruppen die Schiffer. Gewölbte Urnen, gefüllt mit Meriesa, laden zum Zechen ein; in anderen Gefäßen derselben Art brodelt das Fleisch geschlachteter Schafe, unter Aufsicht rasch herbeigekommener, mit Ricinusöl gesalbter, für Europäer unnahbarer Frauen und Mädchen. Citherklänge und Trommelschläge bezeichnen den Beginn der „Fantasia“, des Festes, des Schmauses, des Gelages. Unsägliches Wohlsein beglückt alle Schiffer; genußfreudiges Behagen drückt sich in Miene und Bewegung aus. Endlich aber fordert die nach dem heutigen schweren und segenbringenden Werke unausbleibliche Ermüdung ihre Rechte. Dem schlaffwerdenden Arme entsinkt die Tarabuka, der ermattenden Hand die Tambura, und alle die bis vor wenig Augenblicken so lauten Stimmen schweigen.
Dafür beginnt nunmehr die Nacht zu reden. Von oben hallt der Donner der Stromschnellen hernieder; in den Palmenkronen, mit deren Wedeln der Nachtwind spielt, hebt ein Geflüster an; am flachen Strande brechen sich klangvoll plätschernd die Wellen. Und Wagendonner und Wellenspiel, Windesrauschen und Palmengestüster weben den köstlichen Schlummergesang, welcher Alle hinüberwiegt in das lichtvolle Reich goldenen Traumes.
Wie oft finden wir während der Wintermonate diesen Ruf in den Spalten der Tageszeitungen abgedruckt und wie Viele kommen ihm freudigen Herzens nach! Die Bestrebungen der Vogelfreunde haben nach jahrelanger Agitation reiche Früchte getragen; und es geschieht gegenwärtig viel, um den gefiederten Scharen, welche durch ihren Gesang Wald und Flur beleben und durch Vertilgung von Insekten dem Landwirth und dem Gärtner unberechenbaren Nutzen bringen, den nöthigen Schutz angedeihen zu lassen. In der langen Reihe der Schutzmaßregeln ist aber die Fütterung der Vögel im Winter eine der beachtenswerthesten. Ihr Erfolg ist sehr bedeutend, wenn die Fütterung in passender Weise vorgenommen wird; denn auch auf diesem Gebiete des Wohlthuns darf man nicht allein dem Zug des Herzens folgen, sondern man muß sich durch vernünftige, gewisse Zwecke verfolgende Grundsätze bestimmen lassen. Viele legen im Winter auf gut Glück Futterplätze an, bemerken aber zu ihrer Ueberraschung, daß dieselben von den gefiederten Gästen nicht besucht werden, und gelangen in Folge dessen zu der irrthümlichen Meinung, daß solche Futterplätze unnöthig sind.
Das ereignet sich sehr oft bei Leuten, welche die Lebensart der Vögel nicht kennen und darum auch nicht wissen, daß ein Vogeltischchen besonders gedeckt werden muß.
Sperlinge und Tauben, die an Menschen gewöhnt sind, erscheinen auf jedem Futterplatz und lassen sich auch auf dem Fenstersims nieder; andere Vögel aber verlassen nur ungern oder gar nicht das ihnen Deckung gewährende Gestrüpp. Man muß darum ihre Gewohnheiten beim Nahrungsuchen belauschen und die künstlichen Futterplätze derart anlegen, daß sie den natürlichen, an welchen die Vögel sonst Nahrung finden, ähnlich sind. Ein und derselbe Platz wird niemals von allen Vogelarten besucht; es müssen für verschiedene Arten verschiedene Plätze angelegt werden, und wir wollen dies an einigen Beispielen erläutern.
Fassen wir die große Sippe der Meisen, die kleineren Spechte, Baumläufer, Spechtmeisen, zunächst ins Auge! Für diese bewegliche und muntere Gesellschaft werden sogenannte „Hochplätze“ angelegt. Ueber mannshoch bringt man im Geäst eines Baumes ein mit vorstehenden Latten benageltes, horizontales Brett an oder man benutzt in derselben Höhe in einem gut bewachsenen Spalier eine Latte oder auch ein Fensterbrett, falls davor ein höherer Baum steht. Es ist dafür zu sorgen, daß die kleinen Wintergäste von etwaigen Feinden nicht leicht überrascht werden können. Dichtes Gezweig in der Nähe des Brettes bietet ihnen genügenden Schutz; wo ein solches aber fehlt, muß man den Futterplatz unter einigen Dornen verstecken, was ja nur geringe Mühe verursacht. An einem solchen Plätzchen fühlen sich die genannten Vögel sicher, besuchen dasselbe gern und erfreuen den Thierfreund durch ihr bewegtes Treiben.
Andere Arten, wie Finken, Leinfinken, Zeisige, Feldsperlinge, Grünlinge, Goldammern, Spornammern, Bergfinken, Berghänflinge etc., müssen mit sogenannten „Feldplätzen“ versorgt werden. Diese sind stets etwas fern von dem lauten Treiben menschlicher Thätigkeit, am besten in der Nähe von Feldgehölzen oder Obstplantagen, zu errichten. Auch diese Plätze besteckt man mit einigen Dornen. Nothwendig ist es aber, daß man die Vögel von Weitem her dorthin „zusammenruft“. Dies geschieht, indem man dünne Pfählchen in die Erde schlägt und um diese Sträucher von Disteln, Cichorien, Spargel und Halme von Nesseln, Haferstroh in aufrechter Lage festbindet, sodaß diese Büsche einigermaßen ganz dünnen, aufrechtgestellten lockeren Garben gleichen. Die Feldplätze sind ungemein wichtig, werden aber leider viel zu wenig angelegt: sie eignen sich vorzüglich für die Feldmarken der Dörfer, namentlich die Areale der Rittergüter.
In ähnlicher Weise werden noch „Straßenplätze“, „Gartenplätze“ für Amseln, Drosseln und Staare, und „Zaunkönigplätze“ errichtet. Besondere „Gelegenheitsplätze“ bilden beerentragende Sträuche oder Sonnenrosen, die man in günstig gelegenen Gärten zieht und, an einen Pfahl gebunden, den Winter über stehen läßt. Man reiht auch Kürbis- und Gurkenkerne auf dünne Schnuren und wirft diese hoch hinauf in die Zweige der Bäume, wo sie sich sofort so verschlingen, daß sie hinreichend befestigt sind. Das sind auch kleine Gelegenheitsplätze.
In der Wahl der Nahrung, mit welcher die Futterplätze beschickt werden, muß gleichfalls sorgfältig vorgegangen werden. Es giebt [803] „Vogelfreunde“, welche gelochte Kartoffeln und Semmel- und Brotkrumen ausstreuen. Sie ahnen nicht, daß sie unter Umständen ihren Schützlingen einen schlechten Dienst erweisen. Kartoffeln und Brot werden auf dem Erdboden feucht und sauer, und sie erzeugen bei den Vögeln Durchfall – eine für die kleinen Geschöpfe stets sehr gefährliche Krankheit. Entsprechende Samen, gekochtes, nicht gesalzenes Fleisch sind die Speisen, mit welchen man den winterlichen Tisch der Vogelwelt zu beschicken hat.
Aber wir können hier nicht ausführlich auf alle Einzelheiten eingehen. Der aufmerksame Leser wird schon aus dem Vorstehenden ersehen haben, daß die Fütterung der Vögel im Winter besondere Vorkenntnisse erheischt, wenn sie nicht in eine unnütze Spielerei ausarten soll. Diese Vorkenntnisse sind sehr leicht zu erwerben. Im Aufträge der „Gesellschaft von Freunden der Naturwissenschaften“ in Gera ist eine Flugschrift „Futterplätze für Vögel im Winter“ von K. Th. Liebe (Theodor Hofmann, Gera u. Leipzig) erschienen. Sie kostet nur 20 Pfg. und bietet in klarer Weise jedem die nöthige Belehrung darüber, wie er für die kleinen Vögel zu sorgen hat, welche selbst in der harten Winterzeit unsre Heimath nicht verlassen. Wer die Flugschrift aufmerksam gelesen hat, der wird uns für diesen Wink Dank wissen; denn er wird an der Beobachtung des Vogellebens viel Freude haben. Er wird manche angenehme Ueberraschung erleben; er möge nur versuchen, die kecken Goldhähnchen vor sein Fenster zu locken; er wird alsdann mitten im Winter an kalten sonnigen Tagen zu seinem Erstaunen einen munteren kräftigen Gesang vernehmen. Frühlingsfreuden im Winter – die dankbare Vogelwelt vermag sie uns zu bringen! *
Friedrich Haase als Richelieu. (Mit Illustration S. 793.) Mehr als zehn Jahre sind verflossen, seitdem wir in dieser Zeitschrift ein Lebens- und Charakterbild des hervorragenden Darstellers gaben (Jahrgang 1876, Nr. 40). Nachdem er von der Leipziger Direktion nach Ablauf seines Kontraktes im Jahre 1876 zurückgetreten war, wandte er für einige Wintermonate der Berliner Hofbühne seine künstlerische Thätigkeit zu. Dann widmete er Jahr für Jahr seinen Gastreisen und führte seine Hauptrollen auf den meisten deutschen Bühnen vor. Im Jahre 1882/1883 unternahm er eine große Tournee nach den Vereinigten Staaten Nordamerikas, die ihn bis nach San Francisko führte; überall erntete er Lorbeeren in Fülle. Nach diesem Ausflug in den äußersten Westen schien er das Bedürfniß zu empfinden, für seine Kunst wieder eine sichere Heimstätte zu gewinnen und zugleich seinem Streben nach einer Theaterleitung, wie er sie in Leipzig jahrelang mit Erfolg verwaltet, Genüge zu thun. Als das Deutsche Theater in Berlin begründet wurde, um neben der Hofbühne der vornehmen Kunst noch eine Stätte zu bereiten, gehörte er neben L’Arronge, Dr. Förster, Barnay, Friedmann zu den Societären, welche das neue Unternehmen gemeinsam leiteten; doch schied er schon im März 1884 aus der Societät wieder aus. Seitdem hat Friedrich Haase wieder Gastrollencyklen an den verschiedensten deutschen Bühnen durchgeführt, immer des Beifalls gewiß, der vollendeten Kunstleistungen niemals fehlen wird. Einige seiner Rollen sind anerkannte Kabinetsstücke; wir haben die meisten derselben schon früher besprochen.
In neuester Zeit bevorzugt er eine Rolle, die allerdings zu den interessantesten Aufgaben gehört, wenngleich das Schauspiel, in dessen Mittelpunkt sie steht, nur ausnahmsweise auf den deutschen Bühnen erscheint: den „Richelieu“ in dem gleichnamigen Drama Bulwer’s. Unser Bild zeigt uns, welche vortreffliche Maske der Künstler gewählt hat, eine Maske, die sich mit dem historischen Portrait vollständig deckt.
Bulwer’s „Richelieu“ ist ein Schauspiel, das in hohem Maße interessirt; gleichwohl ist der Eindruck des Stückes kein reiner. Das Komische und Tragische darin ist zu sehr gemischt; es geht nicht, wie bei Shakespeare, das eine neben dem andern in selbständigen Scenen her: beides ist so in einander verschmolzen, daß die Haupthandlung bald nach der einen, bald nach der andern Seite hinüber schillert. Den Inhalt des Stückes bildet eine Verschwörung des Herzogs Gaston von Orleans, deren Leiter Baradas, des Königs Günstling, ist. Das erste Opfer derselben sollte Richelieu sein; dann aber richtete sie sich auch gegen den König Ludwig XIII. Richelieu hat sein Mündel, Julie de Mortemar, an einen tapferen Officier, Chevalier de Mauprat, verheirathet. Diese Julie wird aber auch von dem König und von dem intriganten Baradas geliebt. Mauprat, in der Meinung, daß diese Liebeshändel von Richelieu unterstützt würden, stellt sich an die Spitze der Verschwörer und will den Minister tödten; doch dieser überzeugt ihn, daß er sich geirrt, und Mauprat muß jetzt den Kardinal vor seinen Mitverschworenen schützen, denen er das Märchen von der Ermordung des Kardinals erzählt. Dies verbreitet sich bei Hofe; der König und Alle sind bester Laune; sie fühlen sich von dem Alpdrucke des Mächtigen erlöst. Da erscheint der Kardinal plötzlich, macht das Ansehen der Kirche geltend, als Alles über seinen Fall jubelt, und im letzten Akte gelingt es ihm, die Verschwörer zu entlarven.
Das Drama ist, trotz seiner Schwächen, geistreich und glänzend: Richelieu ist keine Rolle im großen, geschichtlichen Stil, aber wie sie ist, gerade für Friedrich Haase durchaus geschaffen. Sie bietet dem Darsteller, da der Kardinal in den verschiedenartigsten Situationen erscheint, Gelegenheit, eine fast unerschöpfliche Fülle von Nüancen zu entwickeln. Darum ist die Rolle auch ausnehmend beliebt bei englischen Darstellern. Für Friedrich Haase’s künstlerisches Genie ist ein historischer Charakter mit genrehaften Zügen willkommener als einer, der sich nur auf dem Piedestal seiner geschichtlichen Größe, auf einer durch nichts Anekdotisches herabgestimmten dichterischen Höhe hält; sein Richelieu ist eines der vorzüglichsten von seinen ernsten Charakterbildern. In seiner äußern Erscheinung ist er jeder Zoll ein Kardinal. Ueber die ganze Leistung ist eine Fülle von charakteristischen Feinheiten ausgestreut, welche die Kunst der Detailmalerei, die Haase eigen ist, ins vollste Licht setzen.
Friedrich Haase vollführt nach wie vor mit Frische und Rüstigkeit seine künstlerischen Thaten und wird gewiß noch durch manche neue Rolle erfreuen, neben den Charakteren, die unlösbar mit seinem Namen verknüpft sind. †
Der Justitiabrunnen zu Frankfurt am Main. (Mit Illustration S. 797.) Am 10. Mai dieses Jahres, dem 16. Jahrestage des Frankfurter Friedens, fand in Frankfurt am Main auf dem althistorischen Römerberge die Enthüllung des von dem Frankfurter Bürger Gustav D. Manskopf, Associé der berühmten Weingroßhandlung Manskopf und Söhne, neu hergerichteten Justitiabrunnens statt.
Dieser Brunnen, eines der Wahrzeichen der ehrwürdigen Kaiserstadt, wurde ursprünglich in einfacher Weise – aus Holz und Stein – im Jahre 1543 errichtet, etwa ein halbes Jahrhundert später renovirt und 1611 mit der in Sandstein ausgeführten Justitia geschmückt. Auf den vier Seiten der Brunnensäule befanden sich die Reliefbilder der Justitia, der Caritas, der Spes und der Temperantia. Bekanntlich wurde bei Gelegenheit der Kaiserkrönungen der Brunnen früher als Weinspender benutzt; später wurde zu diesem Zwecke ein besonderer Brunnen errichtet.
Der gegenwärtige Brunnen ist eine getreue Nachahmung des früheren; nur ist die Brunnensäule aus dauerhafterem Material – Bronzeguß – hergestellt, und zwar stammt dieselbe, nach einem Modell des Frankfurter Bildhauers Friedr. Schierholz, aus der Erzgießerei von Prof. Chr. Lenz in Nürnberg. Der Brunnentrog und die Basis der Brunnensäule sind in rothem Mainthalsandstein hergestellt.
Möge der Justitiabrunnen als ein Denkmal patriotischen Bürgersinnes Jahrhunderte lang von der Stadt Frankfurt behütet und erhalten werden!
Kochunterricht für arme Mädchen. Die Leser der „Gartenlaube“ werden sich gewiß einer Reihe von Artikeln und kleineren Mittheilungen erinnern, welche wir auf Grund der Berichte eines Darmstädter Freundes veröffentlicht haben. Da war die Rede von Pfennigsparkassen, von Kochherden für Arbeiterfamilien, von der Volksküche in der Familie und von einem Kampf gegen den Schmutz in Wohnungen kleiner und ärmerer Leute. Es handelte sich dabei durchgängig um recht nachahmenswerthe, vom edlen Geist der Humanität durchdrungene gemeinnützige Bestrebungen.
Heute sind wir wiederum in der Lage, über einen Versuch an demselben Orte zu berichten, der ähnliche Zwecke verfolgt und die größte Beachtung verdient. Er betrifft die ungemein wichtige Frage des richtigen Kochens in der Familie des Arbeiters.
Wer sich ein wenig unter seinen Nächsten umgeschaut hat und für sociale Fragen ein offenes Auge besitzt, der weiß es, daß die Haushaltungskunst einer Arbeiterfrau eine viel schwierigere ist als die einer gutsituirten Frau aus den mittleren Bürgerkreisen; der wird aber auch bei einiger Ueberlegung gefunden haben, daß die Arbeiterfrau meist weniger geübt ihr Amt übernimmt als ihre Schwestern in den besseren Lebenslagen. Selbst wenn sie die sogenannte Vorschule für ihren eigenen Haushalt als Dienstmädchen durchgemacht, hat sie eben nur den auf ein größeres Einkommen zugeschnittenen Haushalt kennen gelernt, nicht aber den des kleinen von der Hand in den Mund lebenden Mannes.
Die Ernährungsfrage spielt in jeder Familie eine wichtige Rolle, in der des Arbeiters aber unstreitig die wichtigste. Sie ruht hier ausschließlich in der Hand der Frau und von ihrem Geschick und ihrer Kenntniß hängt es ab, ob der Mann mit der Kost zufrieden ist und ob die Kinder gedeihen, ja ob bei durchaus günstigen Lohnverhältnissen die Arbeiterfamilie gesundheitsgemäß ernährt wird. Die überwiegende Mehrzahl der Arbeiterfrauen, welche in den Volksküchen erscheint, giebt es unumwunden zu, daß sie zu kochen nicht versteht, und die meisten Frauen fügen mit Bedauern hinzu, daß auch ihre Töchter es nicht lernen werden, weil sie schon in früher Jugend in Fabriken oder nach anderem Erwerb gehen müssen. Man könnte darauf erwiedern, daß wir Koch- und Haushaltungsschulen in Hülle und Fülle besitzen; das ist wahr, aber alle diese Schulen sind für höhere Verhältnisse zugeschnitten und arbeiten für Ansprüche, mit welchen der Arbeiter nicht gut rechnen kann. Für den Arbeiter wird in gemeinnützigen Volksküchen gekocht; aber diese rechnen mit Masseneinkäufen, mit Massenverkäufen und oft mit Zuschüssen wohlthätiger Stiftungen. Die Volksküche ist ein großer Segen; es wird aber durch sie gerade das umgangen, was uns als Ideal vorschwebt, die Schaffung eines traulichen Familienheims für die Arbeiter, das stärkere Fesseln derselben an den Familienherd. Dieses Ideal schwebt auch den Veranstaltern des von uns Eingangs erwähnten Darmstädter Versuches vor. Sie haben sich die Aufgabe gestellt, sogenannte arme Mädchen darin zu unterrichten, wie sie für ihre Eltern und für die von ihnen selbst zu gründende Familie die Speisen nahrhaft, wohlschmeckend, wohlfeil und in angenehmer Abwechselung herstellen sollen. Nach reiflicher Ueberlegung ist man in Darmstadt zu dem vielleicht auf den ersten Blick befremdenden Entschlusse gelangt, diesen Unterricht noch in das letzte Jahr des schulpflichtigen Alters zu verlegen. Man mag dagegen einwenden, daß in diesem Alter die Mädchen noch zu unerfahren sind; aber wenn man bedenkt, daß die dreizehn-und vierzehnjährigen Mädchen in verschiedenen schwierigeren Arbeiten, im Sticken und Hemdenähen unterrichtet werden, wenn man beachtet, daß wir gerade das fürs ganze Leben am besten behalten, was wir in so früher Jugend gelernt – dann dürfte auch die Besorgniß schwinden, daß die einfache Kochkunst, um die es sich hier handelt, für so junge Mädchen etwas Unerreichbares darstelle.
Man hat darum den Versuch in Darmstadt gewagt. Es besteht dort seit etwa 60 Jahren eine Privatanstalt für Unterricht armer Schulmädchen in Handarbeiten. Gegründet und fortgeführt von vortrefflichen Frauen, war diese Anstalt stets ungemein beliebt, und ihr einziger Mangel war genügender Raum, um der stets wachsenden Anzahl von Anmeldungen entsprechen zu können. Heute ist dem Mangel abgeholfen und die Anstalt
[804] hat auch den Kochunterricht übernommen. In der neu eingerichteten Unterrichtsküche werden die ältesten Mädchen vorläufig wöchentlich einmal Unterricht im Kochen erhalten. Die Bedürfnisse der Arbeiterküche werden dabei streng im Auge behalten, und um ein anschauliches Maß für die nöthigen Mengen von Viktualien zu geben, soll stets für 5 Personen, die Durchschnittszahl einer Familie, gekocht werden. Es ist vorgesehen, daß von den etwa 15 Mädchen, welche jährlich das Kochen lernen sollen, abwechselnd 5 Köchinnen und 10 Gehilfinnen sein werden, und daß, um das Urtheil der Mädchen bezüglich des Kochgeschäftes zu klären, die Köchinnen am Schlusse der Arbeit das Gekochte auch selbst essen sollen. Ueber alle Ausgaben, die dabei gemacht werden, wird sorgfältig Buch geführt, und so dürften die Ergebnisse des ersten Unterrichtsjahres einen recht wichtigen Beitrag zu der Frage der rationellen Volksernährung bilden. Wir sehen mit Spannung dem ersten Jahresbericht dieser Unterrichtsküche entgegen und werden nicht versäumen, ihn an dieser Stelle zu veröffentlichen. Vielleicht aber tragen diese Zeilen dazu bei, daß auch an anderen Orten ähnliche Anstalten zum allgemeinen Besten ins Leben gerufen werden. *
Merkwürdige Lehensbräuche. Gar seltsame Bedingungen waren in früheren Jahrhunderten oft an Belehnungen geknüpft und werthvolle Besitzungen wurden oft um Kleinigkeiten: Falken, Schwerter, mit Pfeffer gefüllte Handschuhe etc. verliehen, wodurch offenbar nur das Abhängigkeitsverhältniß der Lehensempfänger angedeutet werden sollte. Der Besitzer eines adeligen Gutes in Franken mußte z. B. zu Martini seinem Lehensherrn einen Zaunkönig darbringen, ein österreichischer Edelmann dagegen zwei Maß Fliegen liefern. Ein Graf v. Hohenlohe gab 1245 dem Bürger Otto Begenhaar seine Hofstätte zu Augsburg unter der Bedingung zu Lehen, daß er und seine Familie, so oft sie in die Stadt kamen, bei Begenhaar Herberge nehmen dürfen und ihm jedesmal ein Paar Corduan-Kniestiefel gereicht werden müssen. In der Bretagne mußten die Vasallen, wenn die Gemahlin des Lehensherrn im Kindbette lag, die Frösche durch Schlagen des Sumpfwassers zum Schweigen bringen, damit ihr Gequake der gnädigen Frau nicht beschwerlich falle. Andere Vasallen mußten in Harlekinskleidern bei der Hochzeitstafel der Tochter des Lehensherrn Aufwärterdienste thun, wofür sie dann das ganze Tafelservice an sich nehmen durften. Ein Vasall mußte der Gemahlin seines Lehensherrn alljährlich ein Liedchen vorsingen, und die Herren von Dymerode mußten dem Kaiser, wenn er nach Thüringen kam, einen Heerwagen mit Schüsseln präsentiren. Einige Vasallen des Hauses d’Argenton waren verpflichtet, an einem bestimmten Tage ihrem Herrn eine Lerche auf einem mit Ochsen bespannten Wagen zu überbringen. Dem Frauenkloster zu Remiremont hatte das Dorf St. Maurice am ersten Pfingsttage zwei Schüsseln voll Schnee zu liefern; kam dasselbe dieser Verpflichtung nicht nach, so mußte es dafür einen mit zwei weißen Ochsen bespannten Wagen geben. „Es fehlt demselben aber,“ schrieb ein alter Schriftsteller, „auch in der größten Hitze nicht an Schnee.“ Ein Vasall des Königs von England war verpflichtet, den König, wenn er über das Meer ginge, zu begleiten und ihm den Kopf zu halten, wenn er seekrank werden sollte. Dem Könige Eduard I. soll dieser Lehendienst wirklich geleistet worden sein.
Der Zauberer vom Kilima-Ndjaro. Unter diesem Titel hat C. Falkenhorst „Adler’s Kriegs- und Jagdabenteuer“ der reiferen Jugend erzählt (Leipzig, F. A. Brockhaus). Der Verfasser hat sich schon durch seine Erzählung „In Kamerun“ einen Ruf als gewandter Jugendschriftsteller verschafft, welcher aus den neuesten Reisebeschreibungen, die unsere kolonialen Besitzungen behandeln, phantasievolle Erzählungen zu gestalten weiß, in denen an einem Faden bunter Abenteuer Natur- und Landschaftsbilder und die Bilder von Volkssitten in durchaus ansprechender Weise gereiht sind und so Unterhaltendes und Belehrendes zu freundlicher Wirkung verknüpft ist. Die Umgegend des hochragenden Schneebergs Kilima-Ndjaro, unsere hoffnungsvolle Zukunftskolonie, wird mit den lebendigsten Farben geschildert und außerdem durch zahlreiche Bilder aus der Pflanzen-, Thier- und Menschenwelt illustrirt. Die Reisewerke von H. H. Johnston: „Der Kilima-Ndjaro“ und von Thomson: „Durch Massailand“ liegen der Erzählung zu Grunde, soweit es die Darstellung von Land und Leuten gilt. Der freierfundene Held der Erzählung selbst ist ein Doktor Adler, der von Sansibar aus eine Expedition ins Innere des Landes nach dem afrikanischen Mont-Blanc macht. Durch allerlei chemische Experimente, Bilder, die er als Geistererscheinungen auf die Leinwand zaubert, durch Aufstellung merkwürdiger Instrumente und durch eine zur rechten Zeit die Schwarzen erschreckende und verscheuchende Feuerwerkerei weiß sich Doktor Adler den Ruf eines großen Zauberers zu verschaffen und besonders dem König Mandara, der in der Erzählung eine Hauptrolle spielt, zu imponiren. Dieser König ist nicht ohne Humor geschildert; einzelne von Johnston angeführte Anekdoten werden durch freie lustige Erfindungen ergänzt. Ueberhaupt kommt der groteske Zug, welcher der afrikanischen Menschheit eigen ist, zu seinem vollen Rechte. Die Landschaftsschilderungen sind stimmungsvoll; die Darstellung der Kämpfe und Schlachten ist sehr lebendig. Mit Geschick ist Vieles benutzt und ersonnen, was auf die Phantasie der Jugend eine anregende und bestrickende Wirkung ausüben muß. Der Kilima-Ndjaro hat aber außerdem noch den Reiz des Tagesinteresses; erst vor Kurzem wurde sein Gipfel zum ersten Male von einem Deutschen, Dr. Hans Meyer, bestiegen. †
Jenny Lind, welche am 2. November in London gestorben ist, war wohl die gefeiertste Sängerin der neueren Zeit. Mit welcher Schwärmerei wurde die schwedische Nachtigall begrüßt; Jahrzehnte hindurch, nachdem schon ihre Glanzzeit längst vorüber war, brachten die Blätter noch Nachrichten über sie, Bulletins über ihr Befinden. Die letzteren lauteten zuletzt ungünstig, bis die Kunde von ihrem Tode eintraf. Jenny Lind, am 6. Oktober 1820 zu Stockholm geboren, war schon früh am dortigen Theater engagirt, studirte dann in Paris bei Garcia; ihr Ruf wurde erst seit ihrem Berliner Aufenthalt 1844 ein europäischer. Die nächsten Jahre waren ihre Glanzepoche: da sang sie bei den Festen am Rhein, vor dem König von Preußen und der Königin von England, dann in London und Wien. In der ersteren Stadt trat sie im Mai 1849 zum letzten Male auf der Bühne auf. Man mochte dies um so mehr bedauern, als ihre dramatische Darstellung einen großen Zug hatte und keineswegs hinter ihrem Gesang zurückstand. Seitdem bereiste sie als Koncertsängerin Amerika, wo sie sich mit dem Pianisten Otto Goldschmidt verheirathet hatte. Später lebte sie in Dresden, dann in London, wo sie nur selten in Koncerten auftrat.
Man kann den Triumphzug der jugendlichen Jenny Lind nur mit demjenigen des jugendlichen Franz Liszt vergleichen, was den Enthusiasmus betrifft, den er hervorrief. Keine spätere Sängerin, kein späterer Klavierspieler hatte gleiche Erfolge zu verzeichnen. Die vormärzliche Kunstbegeisterung nahm das ungetheilte Interesse des deutschen Volkes in Anspruch. Seitdem hat die „Hexe Politik“ dasselbe in erster Linie in ihre Kreise gezogen, so daß der Kunst nur eine zweite Stelle bleibt. Der Tod der Jenny Lind brachte uns dies wieder in lebhafte Erinnerung: es giebt ja auch jetzt hervorragende und berühmte Sängerinnen, aber „Phänomene“, wie in vormärzlicher Zeit, giebt es nicht mehr, trotz alles Zeitungslärms: dazu gehört eben der alleinseligmachende Glaube einer nur für die Kunst schwärmenden Zeit. Auch haben sich neuerdings zu viele Sterne als Sternschnuppen erwiesen. †
Allerlei Kurzweil.
In die leeren Felder des nebenstehenden Quadrats sind die noch fehlenden Zahlen der Reihen 188 bis 212 so einzutragen, daß die Summe jeder wagerechten, senkrechten und diagonalen Reihe 1000 ist. (Die bereits eingeschriebenen Zahlen bleiben in ihren Feldern stehen.)
Kleiner Briefkasten.
L. R. in Köln. Die Düsseldorfer denken daran, Heinrich Heine ein Denkmal zu errichten. Ein Aufruf ist von einem Komité erlassen, an dessen Spitze der Oberbürgermeister steht. So gut wie Geibel, Hebbel und Gutzkow verdient auch Heine ein Ehrendenkmal auf deutschem Boden, zumal sein Grab auf dem Pariser Kirchhof Montmartre an Schlichtheit und Poesielosigkeit nichts zu wünschen übrig läßt.
Inhalt: Die Geheimräthin. Novelle von Hieronymus Lorm (Fortsetzung). S. 789. – Eine schwierige Sitzung. Illustration. S. 789. – Skizzen von einer Sängerfahrt nach Amerika. Von Herm. Mohr. 1. New-York. S. 792. – Ein Ehrenthurm für Friedrich Fröbel. Von Friedrich Hofmann. Mit Illustration. S. 796. – Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 796. – Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm. Land und Leute zwischen den Stromschnellen des Nil (Schluß). S. 799. – Taubenfütterung. Illustration. S. 801. – Erbarmt euch der darbenden Vögel! S. 802. – Blätter und Blüthen: Friedrich Haase als Richelieu. S. 803. Mit Illustration S. 793. – Kochunterricht für arme Mädchen. S. 803 – Merkwürdige Lehensbräuche. S. 804. – Der Zauberer von Kilima-Ndjaro. S. 804. – Jenny Lind †. S. 804. – Allerlei Kurzweil: Bilder-Räthsel. S. 804. – Magisches Quadrat. S. 804. – Auflösung des Ziffer-Räthsels auf S. 788. S. 804. – Kleiner Briefkasten. S. 804.
- ↑ Wir entnehmen diese Skizzen einem umfangreichen Manuskripte, in welchem der Verfasser seine Reise zu dem vorjährigen deutsch-amerikanischen Sängerfeste in Milwaukee geschildert hat.