Die Gartenlaube (1887)/Heft 24
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No. 24. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.
Götzendienst.
Gamlingen begab sich zu Belzigs, um die Verwundung
Mühüller’s den Damen zu melden, ehe sie von anderer
Seite überrascht würden.
„Nicht möglich!“ schrie Melitta auf. „Ich habe ja noch vor ein paar Stunden mit ihm getanzt! Ich habe doch nicht weniger als drei Mal in dieser Nacht mit ihm getanzt!“
Sie sah noch die kräftige Gestalt des beliebten Officiers mitten im Saal unter der Helle des Kronleuchters stehen und mit seiner durchdringenden Stimme, der alle Paare wie am Schnürchen gehorchten, die Figuren des Contre und der Quadrille kommandiren. Und wenig Stunden darauf färbte sein Blut den schlammigen Schnee unter den Föhren der Hasenheide!
„Heiliger Gott!“ rief Frau Belzig, die Hände zusammenschlagend. „Er hat mir ja noch beim Büffett das Souper servirt!“
Olga saß ganz blaß da, mit großen, vom Schreck geweiteten Augen. Daher der eigenartige Klang, mit dem er das „Auf Wiedersehen!“ gestern zu ihr gesagt. Sie fühlte jetzt noch eine Spur des Schmerzes, den ihr sein Händedruck verursacht; noch klang sein metallenes Lachen in ihren Ohren. Und nun lag er zu Tode getroffen!
„Nicht möglich!“ hauchten ihre bebenden Lippen.
„Nun, was denn? Um was handelt es sich denn?“ fiel Herr Belzig ein.
Gamlingen zuckte finster blickend die Achseln.
„Hat da Einer seine Mütze schief sitzen gehabt, und das hat dem Andern nicht gefallen; da schießen sie sich todt!“ sagte Herr Belzig in spitzem Ton.
Diesmal blieb dem Unzerreißbaren der Vorwurf seiner Gattin, daß er Demokratenblätter lese, erspart.
Gamlingen hatte Eile. Der Dienst – und dann wollte er im Lazareth nachsehen, schließlich Urlaub nehmen und nach Stettin reisen, um dem alten Vater Mühüller’s Alles schonend beizubringen.
„Mein Gott! Mein Gott, und dieser prächtige Mensch!“ jammerte Frau Belzig. „Eilen Sie schnell hin, Walther, sehen Sie nach Allem! Sagen Sie, was wir für ihn thun können! und wenn er Pflege bedarf, so sagen Sie es ungenirt!“
Wahrhaftig, sie wäre im Stande gewesen, ihr Samariterthum selbst einem Mühüller zur Verfügung zu stellen! Sie begann sich der Aengste und der Nöthe zu schämen, die sie um den Namen ausgestanden. Es war bequem, jetzt, wo sie den Namen in der Tasche hatte. Sie meinte, sie müßte jetzt in gewissen Dingen sehr großmüthig werden, um die Erinnerung an so viel Thorheit bei sich selber, vielleicht auch bei Anderen zu verwischen.
Gamlingen war am Nachmittag des folgenden Tages von Stettin zurückgekehrt. Der alte Rendant Mühüller hatte nach der ersten Bestürzung über
[386] die schwere Verwundung seines Sohnes die Nachricht mit einer seltsam naiven Zuversicht verarbeitet:
„Er rappelt sich schon durch, der Junge,“ sagte er unter den gewaltigen Buschen der Augenbrauen hinweg, die wie das Haar des kräftig gemodelten Kopfes nicht weiß und nicht gelb waren, mit seinen treuherzigen grauen Augen Jenem dicht ins Antlitz blickend. „Wissen Sie, Herr Hauptmann, wir sind Alle von festem Korn, wir Mühüller.“ Er schien vergessen zu haben, daß es doch nicht ein Nadelriß sein konnte, der ihn, Gamlingen, veranlaßt hatte, nach Stettin zu fahren, um die Nachricht persönlich zu überbringen. Es war die echt Mühüller’sche Art, und Gamlingen hätte unter anderen Umständen über dieses köstliche Vorbild des Sohnes lächeln müssen.
Der Rendant wollte den Gedanken nicht aufkommen lassen, daß einem Turnergenie wie seinem Sohne irgend eine Verwundung ans Leben gehen könnte.
„Ich bitte Sie, mit herauszukommen!“ Gamlingen folgte dem Alten auf den Treppenflur. „Sehen Sie, dort hinab, die zwei Treppen hinab ist er als zwölfjähriger Knabe gestürzt. Aber sich schütteln wie eine Katze und verwundert umschauen und heil! Kein Härchen geknickt!“
Der Alte vergaß darauf hinzuweisen, daß sich im Parterre eine Wattfabrik befand, durch deren den Flur belagernde Ballen man Mühe hatte, die Treppe zu erreichen.
Doch noch ehe Gamlingen wegging, begannen sich die Zweifel einzustellen und zu mehren. Der Rausch, den der Alte sich zur Bekämpfung des ersten Schreckes selbst beigebracht, verflog, und die Zuversicht zerfiel in bebenden Kleinmuth. Und nun verstand Gamlingen erst Mühüller’s Sorge, die solchen persönlichen Beistand als Freundesdienst gefordert hatte. Zuletzt mußte er alle Trostesgründe aufbieten, und der Alte dauerte ihn von Herzen.
Gleich nach seiner Ankunft auf dem Stettiner Bahnhofe begab sich Gamlingen nach dem nahen Garnisonlazareth. Er fand den Verwundeten im Fieber. Lieutenant von Nevitz, der Sekundant, der es sich nicht hatte nehmen lassen, die Eiskühlung der Wunde, die sogenannte „Eiswacht“, wie sie bei solchen Mensuren üblich, selbst zu übernehmen, saß neben dem Bette, die Aermel über den sehnigen Handgelenken aufgeschlagen. Auf dem Tische stand eine Batterie geleerter Bierflaschen. Auf Gamlingen’s fragenden Blick, wie es ginge, hob Jener die Schultern, das fürchterliche ausweichende Schulterheben der Aerzte, das deutlicher als Worte die Angehörigen auf Schlimmes vorbereiten soll.
Gamlingen setzte sich stumm nieder, mit einer Miene, aus der Kummer und Zorn über das Geschehene mit einander kämpften. Jener schickte sich eben so stumm an, eine neue Eisbinde zurechtzulegen. Er that das mit einer gewissen linkischen Zimperlichkeit seiner gepflegten Hände, als besorge er, daß diese durch die rauhe Hantirung leiden könnten.
Ein trostlos öder, ungastlicher Raum! Weißgetünchte Wände, oben mit einem braunen Strich gegen die Decke abgegrenzt, ein gardinenloses Fenster, durch dessen blasige Scheiben die Nacht schwarz und hohl hereinstierte, Tische und Stühle von rothbraunem polirten Tannenholz, mit einem anfänglichen K. U. (Königliches Utensil) gestempelt. Als einziger Schmuck der Wände einige Inventartabellen und Hausordnungen nebst einem Thermometer.
Gamlingen saß und starrte das Gesicht des Verwundeten dort auf dem eisernen Bette an. Es war hoch geröthet, wie von einer scharfen Feuergluth beschienen und wiegte sich mit nicht völlig gesenkten Augenlidern in regelmäßigen langen Pausen von einer Seite zur andern.
Ja, der Zorn überwog bei Gamlingen fast die Sorge und die Angst um den Ausgang. Wie ist es möglich gewesen! Eine erbärmliche Bagatelle, die ein blühendes Leben an den Rand des Todes hingestreckt! Ein Wort, das gesprochen wurde, und ein anderes, das nicht gesprochen wurde: beide haben es vermocht, so viel strotzende Lebensfreude in den Staub zu schlagen!
Daß man es doch packen, zerreißen, zerschmettern könnte, so ein Wort! – Und ein Gefühl der Reue überkam ihn, daß er das Alles doch nicht so hätte geschehen lassen sollen. Man hätte die Sache einrenken müssen!
„Einen Säbel – gebt mir einen Säbel – einen Säbel!“ schrie Mühüller plötzlich aus dem Schlaf.
Dann wieder still. Die Thür öffnete sich und der Lazarethgehilfe trat ein. Er hatte durch die Wand von dem benachbarten Wärterzimmer aus das Schreien gehört und war herzugeeilt. Ein flinkes Kerlchen mit spitzigem Gesicht und glänzend frisirtem Haar, das auf eine drollige Weise durch die strengen Formen der Subordination, die er den Officieren gegenüber beobachtete, das Selbstbewußtsein seiner wissenschaftlichen Wichtigkeit hindurchblicken ließ. Er beugte sich mit seiner Kennermiene über das Gesicht des Kranken, legte die Hand behutsam auf dessen feuchtglänzende Stirn, nickte verständnißvoll mit dem Kopfe und sagte mit Sicherheit:
„Ich werde noch ein Pulver ordiniren.“
Da fuhr der Kranke abermals heraus: „Muß mir sehr – ausbitten – daß Sie Ihre Hände – von dem – Namen …“ rief er drohend gegen den Lazarethgehilfen, mit völlig geöffneten, hervorquellenden Augen. Dieser zuckte unwillkürlich zu einer militärischen Haltung zusammen.
„Er phantasirt immer noch davon,“ flüsterte Lieutenant Nevitz zu Gamlingen gewandt, „er regt sich immer noch darüber auf.“ Dann zu dem Gehilfen: „Sie dürften neues Eis beschaffen. Auch bitte, für mich noch einige Flaschen Bier.“
„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“
„Wieso ‚davon‘? Was hat der Name mit der Mensur zu thun?“ fragte Gamlingen verdutzt.
„Nun, er glaubt sich doch bei Töpfer, und die Geschichte will ihm nicht aus dem Kopf.“
Der Lieutenant konnte eine Miene der Verwunderung nicht unterdrücken: wie kam Jener nur dazu, so zu fragen? Er thut so, als wenn er gar nichts wüßte und ihn die Geschichte nichts anginge!
Gamlingen war aufgestanden, von einer unbestimmten Ahnung getrieben, die ihm das Blut plötzlich aufwallen machte.
„Darf ich Sie einen Augenblick draußen sprechen, Herr Lieutenant? Ich fürchte, wir könnten hier den Kranken beunruhigen.“
„Sehr gern, Herr Hauptmann!“
Sie traten in den Korridor. Und hier fragte Gamlingen seinen Begleiter:
„Ich bin leider nicht völlig au fait über das, was eigentlich vorgefallen. Sie würden mir einen Gefallen thun, wenn Sie mich orientiren wollten!“
Verdutzt blickte ihn Jener an. wie war es möglich, daß Gamlingen nicht wissen sollte!
„Ich dachte, Herr Hauptmann hätten doch davon erfahren …“ wehrte er verlegen lächelnd.
„Mühüller hatte mir das Versprechen abgenommen, daß ich mich nicht darum kümmern sollte.“
„Ein braver Kerl – und es wäre jammerschade, wenn er deßwegen draufginge …“
„Ich möchte wissen, ich muß wissen, um was es sich handelt!“ drängte Gamlingen.
„Wenn es Herr Hauptmann also noch nicht wissen und gern wissen wollen …“
Der Lieutenant stockte abermals. Dann aber faßte er sich und erzählte mit kurzen Worten den Hergang des Streites bei Töpfer.
Es wäre von einem Namen die Rede gewesen – „von Ihrem Namen, Herr Hauptmann – Sie wollten es ja wissen,“ fügte er leiser hinzu. Da sei Mühüller hineingefahren und hätte sich’s mit scharfem Ton verbeten, daß man daran rühre. Ein anderes scharfes Wort folgte dagegen und – nun, wie das so geht! „Sie wissen, man kann zu einer Mensur kommen, man weiß nicht wie!“
Was?! Des Namens wegen hat die blutige Mensur stattgefunden! Was!? Es ist der Name gewesen der Mühüller an den Rand des Todes dahingestreckt!
Wenige Herzschläge lang stierte Gamlingen den Lieutenant an. Dann schüttelte er ihm aufgeregt die Hand.
„Ich danke Ihnen, Herr Kamerad!“
Dann stürmte er davon, das Klirren seiner Sporen hörte man noch weit unten auf der Treppe, so wüthend klang es.
Ja, eine ungeheure Wuth hatte ihn erfaßt. In den Fäusten zuckte es ihm, als wenn der Name – sein Name – etwas Körperliches, Feindliches wäre, und er müßte sich nun darauf [387] losstürzen, es packen, zerschmettern, dies entsetzliche Ding, das bestimmt schien, ihm seinen Frieden zu rauben und sein Glück zu vergiften!
Vor seinem eigenen Namen schauderte er, der vom Blute eines unschuldigen Braven triefte. Aber so mußte es geschehen! Wir haben dem Alten den Namen auf dem Todtenbette erpreßt – das ist das nackte Wort! Gestohlen, geraubt haben wir ihn, es ist nicht zu viel gesagt! Der Name fordert seine Rache!
Er eilte zu den Belzigs mit einer grausamen Lust, ihnen die blutige Anklage hinzuschleudern. Sie sollten es sofort zu hören bekommen, was dieser Name für eine Unthat angerichtet! Sie sollen nicht verschont werden, auch seine Braut nicht!
Und mit allem Aufgebot von äußerer Gemessenheit, deren er in dieser Stunde habhaft werden konnte, setzte er sich zu ihnen an den Tisch und sagte, nachdem er die Fragen über Mühüller’s Befinden mit einem unwirschen Achselzucken beantwortet:
„Wißt Ihr auch, was schuld daran war, daß der arme Mühüller wahrscheinlich sein Leben lassen muß?“
Er stutzte – aber Olga war nicht bei Tische anwesend, da durfte er sich gehen lassen.
Sie sahen ihn erschrocken an über die Gereiztheit seines Tones.
„Der Name – dieser Name – Trutz von Gamlingen – der war es – der!“
Es lag ein solcher Haß in diesem „der“! Entsetzt fuhren sie zusammen.
Herr Belzig aber nickte und nickte. Ob er in der Eile abermals eine Art von Berechnung anstellte wie damals: wie hoch wohl solch ein Menschenleben taxirt werden müßte, und wie groß sich dann Alles in Allem die Summe herausstellte, die dem Götzen des Namens in diesem Hause geopfert worden wäre?
Maisonne – jubelnde lachende Maisonne!
Wie breit und triumphirend sie über den besprengten Damm der prächtigen Friedrich-Wilhelmstraße dahergezogen kommt!
Ferne, unter dem heiteren Tiefblau des Himmels, an dem die Schwalben mit lautem Schwi – i vorüberschießen, dämmert in majestätischer Ruhe das Baumdunkel des Thiergartens, das die Straße abschließt. Rechts und links hellgrüne Koulissen der Vorgärten, doch die Baumriesen des Waldes selbst schimmern noch im Braun der ersten Knospung. Eine seltsame Sinnestäuschung: wenn man dort hinblickt, so glaubt man den vielstimmigen Gesang der Vögel zu hören und den würzigen Frühlingsduft des Waldes deutlich zu riechen.
Der scharfe Klang eines Pferdehufes, lebhaft, mit beschleunigter Kadenz, jetzt sogar kurz trippelnd, nähert sich. Laut hallt und wiederhallt es zwischen den Häuserfronten; es ist die hohe Gestalt eines Officiers, die auf einem kostbaren englischen Vollblut reitet. Die Flanken des edlen Thieres glänzen naß von der Anstrengung des Rittes, und der feine Kopf mit den großen blaubraunen Augen nickt ungeduldig prustend und leichte Schaumflocken schleudernd. Der Officier hat schon von ferne einen gewissen geöffneten Altan eines gewissen ersten Stockes im Auge. Jetzt kommt aus der Thüre, die den Altan gegen den Salon abschließt, eine junge Dame hervorgehuscht, und zwischen den Azaleen, welche die Brüstung schmücken, taucht ein vor Freude strahlendes Gesicht, ein Kopf, den ein kokettes duftiges Häubchen überaus reizend kleidet, empor. Und eine schmale weiße Hand, an der ein neuer Trauring stark funkelt, winkt mit einem Tüchlein durch die Blüthenkronen hinab.
Als wenn er von einer weiten Reise heimkehrte und eine Sehnsucht von sechs Wochen auf ihn gewartet! Ein junges Paar – die Nachbarschaft kennt diese Scene des Wiedersehens, die sich schon seit mehreren Tagen, da er am Morgen ausreitet, wiederholt. Ein so glückliches Paar! Wie sie gehen und kommen, scheint ein Hauch des Glückes von ihnen auszustrahlen. Seit vierzehn Tagen sind sie erst von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt, das war fast ein Ereigniß für die Straße, die doch an den äußeren Schein des Glückes gewöhnt ist. Sie ist reich, aber man sieht, er hat sie nicht ihres Geldes wegen genommen; denn sie ist so schön. Aber auch deßwegen nicht – sie ist so lieb und lieblich und freundlich! Und es war gewiß nicht die Uniform und die rothen Ponceaustreifen des Generalstabs und auch nicht die imposante Prachtgestalt, die ihr in die Augen stachen, auch nicht sein Name – man munkelt, man weiß ja, der Name ist selbst noch neuer als dies Glück – eine Adoption! Nein, er liebt sie – sie lieben sich beide, das ist der Nachbarschaft gewiß und dem Vis-à-Vis und all dem vielköpfigen, hundertäugigen, spürenden, spionirenden Herum, das an dem Pulsschlag unsers Alltags theilnimmt.
Nun eilt auch Baptist aus dem Thorweg herbei, durch den Hufschlag benachrichtigt. Er trägt seine Musketieruniform, von der ihm der Hauptmann eine besondere Garnitur hatte anfertigen lassen, zur Verwunderung des Burschen – warum soll er denn nicht fort und fort die neue Livree tragen, deren Knöpfe die hübsche, siebenzackige Krone schmückt? Er begreift nicht die Abneigung, die sein Herr gegen diese Livree und diese Knöpfe empfindet, und hat auch nicht verstanden, was Jener ihm gelegentlich hingeworfen:
„Kein ehrenvolleres Kleid als des Königs Rock!“ Nun, er ist doch Lothringer und seinen Eid, den er dem Kaiser von Deutschland geleistet, in Ehren, aber die Livree würde ihn nicht immerwährend an den prussien erinnern, den sie dort unten in seiner Heimath so verwünschen.
Und Baptist reicht, indem er den Zügel des Pferdes ergreift, seinem Herrn die hohle Hand mit ein paar Stückchen Zucker hin. Gamlingen nickt lächelnd – von ihr! Wie hübsch, daß sie an den Braunen denkt! Während das Thier sich die Stücke mit dem wohlig hin und her mahlenden Maul schmecken läßt, winkt er immer wieder hinauf, wo das Köpfchen aus den Blumen ragt. Nun huscht die junge Frau davon. Ist es die Ungeduld, die ihn mit der plötzlichen Bewegung heraufwünscht?
Er eilt hinan über den rothen Teppich der Treppe, durch die magische Dämmerung, die den von schimmerndem, braungoldenem Marmorstuck bekleideten, von einem mattbunten Fenster erleuchteten Flur erfüllt. Neben der Thür aus polirtem Nußbaum, die den ersten Stock abschließt, haftet ein zierliches Porcellanschild. Etwas absichtlich Diskretes und Unscheinbares, das man fast übersieht. „Hauptmann Trutz von Gamlingen.“
Der Name klingt fast affektirt in dieser Verstümmelung. Warum steht nicht der „Freiherr“ dort, der ihm doch zukommt?
Als die junge Freiin zum erstenmale die Schrift auf dem Schilde las, stutzte sie und konnte ein leichtes Zucken unverhohlener Enttäuschung nicht zurückhalten: es ist so, als schäme man sich des Freiherrn!
Er hatte die Thür geöffnet und war schon im Korridor. Doch sie verlor kein Wort über die Verstümmelung. Sie durften sich nicht des Namens freuen, und sie sollten sich seiner nicht freuen! Das Duell und Mühüller’s Krankenlager lastete wie ein Schatten über dieser Adoption. Der Name war mit Blut getauft, und sie fuhlte, daß ihn sein Besitzer nur mit einem geheimen Widerstreben duldete: aber was war zu thun? Es ist geschehen! Der Name ist unser! Man muß ihn erdulden, man muß ihn sogar hoch zu tragen suchen! Man muß sogar darunter zu leiden wissen: noblesse oblige!
Gottlob war ja nicht das gefürchtete Schlimmste eingetroffen! Die Wunde hatte einen guten Verlauf genommen, und an dem Namen haftete wenigstens nicht der Fluch, den Tod eines braven Menschen veranlaßt zu haben. –
„Mein Liebling! Mein Weib! Mein süßes Weib!“
O, sie hatten sich so lange nicht gesehen: er war die Ewigkeit zweier voller Stunden ausgeblieben, der Böse! Das Glück ist so egoistisch. Wenn sie so in seinem Arme ruhte, das Köpfchen an seine Schulter gelehnt, mit den tiefverklärten Augen nach den seinen emporsehend, dann verschwand vor der Fülle solcher Seligkeit all’ der häßliche Dunst, der die Adoption und den Namen so schwül umbrodelte.
„Ich habe Dir auch eine gute Nachricht mitgebracht!“ rief er, sie loslassend.
„Kommt er?“ rief sie freudig auffahrend.
„Der Oberstabsarzt will ihn endlich freigeben, er hat eingewilligt, daß wir ihn holen.“
„O, wie freue ich mich!“ Melitta schlug die Hände zusammen wie ein glückliches Kind.
[388] Es war längst ausgemacht, daß Mühüller seine Rekonvalescenz bei ihnen verbrächte. Das hübsche Fremdenzimmer war für seinen Empfang bereit und an dem Fenster dieses Zimmers, das nach dem nun in der vollen Glorie des Frühlings prangenden Garten lag, stand längst der bequemste aller Lehnsessel, den Frau Belzig für den Kranken gestiftet. Wie wollten sie ihn pflegen und hätscheln – wie sollte er unter dem Uebermaß von Liebeswerken, mit denen man ihn überhäufen wollte, seine Schmerzen, das Duell und die unselige Veranlassung dazu vergessen lernen!
Auf der kurzen Hochzeitsreise, im Eisenbahnkoupé, an der table d’hôte, immer hüpfte wieder der Refrain in das Gespräch: „Wenn er kommt, wenn Mühüller bei uns ist!“
Die Hochzeit hätte nicht stattfinden sollen ohne ihn! Gamlingen lag es auch jetzt noch schwer auf dem Herzen, daß man die völlige Genesung des Freundes nicht abgewartet. Er litt doch ihretwegen; so hätte man doch den Jubel der Hochzeit hinausschieben müssen, bis auch er daran theilnehmen konnte. Der Termin zu Anfang Mai war längst festgesetzt, doch Gamlingen widersetzte sich offen herans. Es war zwar längst keine Gefahr mehr, nur die Heilung der Wunde nahm solch’ langsamen Verlauf. Die Belzigs stimmten ihm kleinlaut zu; auch die Heuchlerin Melitta meinte, sich an Walther schmiegend, eine Hochzeit ohne Mühüller wäre doch … wäre doch … sie fand nicht den Ausdruck.
Mühüller verwunderte sich auf seinem Krankenlager, daß keine Anstalten zur Hochzeit gemacht wurden. Gamlingen sagte ihm den Grund. Er war ganz aufgebracht. „Sofort werdet Ihr heirathen! Auf der Stelle werdet Ihr heirathen! Meinetwegen warten? Bis ich das Tanzbein schwingen kann?“
Es würde ja doch nur eine ganz stille Hochzeit werden, wandte Gamlingen ein, Lolo’s und ihrer Entlobung wegen.
„Erst recht also! Was soll das heißen? Es ist doch wohl nicht Euer Ernst. Wegen der Dummheit da! Ich bitte Sie, wenn es nicht der Name gewesen, so wäre es irgend etwas Anderes gewesen! Weßwegen schießt man sich nicht? Versichere Sie, ist mir eine Ehre gewesen – und wenn der Fingerhut Mühüller’sches Blut dazu beitragen sollte …“
Er murmelte etwas von Freundschaft und Kameradschaft; na, er liebte es nicht, solche Sentimentalitäten auf der Zunge zu führen. Dann schlug er mit der flachen Hand auf die Bettdecke! „Abgemacht, geheirathet wird! Ich nehme es Euch höllisch übel und ich will nicht heißen wie ich heiße, wenn ich einen Fuß in Euer Haus setze. Geheirathet wird – sofort wird geheirathet!“
Und Gamlingen hatte es dem Kranken in die Hand versprechen müssen, daß geheirathet würde – zwar nicht „sofort“, wie Mühüller begehrte, aber doch zum ursprünglichen Termin.
Am Hochzeitstage hatte Mühüller dem Oberstabsarzt die Erlaubniß zu einem Schluck Champagner abgezwackt, den er auf das Wohl des glücklichen Paares trank. Und er hatte den Schluck nach der Hochzeitstafel hin telegraphisch mit echt Mühüller’schem Kraftausdrnck beglaubigt.
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Am Nachmittage hielt vor dem Garnisonlazareth in der Scharnhorststraße die schmucke, in der Sonne glänzende und funkelnde Viktoria Gamlingen’s, ein Hochzeitsgeschenk der Belzig’s. Melitta, in den Duft ihrer Frühjahrstoilette geschmiegt, erwartete im Rosaschatten des großen Spitzenschleiers die beiden Herren. Endlich hallte Mühüller’s Stimme auf dem Flur des kasernenmäßigen Gebäudes. Diese Stimme schien nichts an ihrer durchdringenden Kraft eingebüßt zu haben.
„Ha, meine gnädige Frau, ’n Tag, meine liebe, gnädige Frau!“ rief er, noch aus dem Dunkel des Flures. An den Fenstern zeigten sich einige von den blau-weiß gestreiften Lazarethkitteln.
Er kam am Arme seines Freundes langsam genug dahergeschlichen. Aber das massive Elfenbein seiner Zahnreihen leuchtete. Melitta streckte ihm schon von ferne ihre Hand aus dem Wagenschlag entgegen. „Willkommen zur Genesung!“ rief sie.
Vor dem Schlag machte sich Mühüller von Gamlingen’s Arm los und hob die linke Hand salutirend an die Mütze, der rechte Arm ruhte der Vorsicht halber noch in einer schmalen schwarzen Binde. „Melde mich ganz ergebenst mit anderthalb Flügeln!“
Er wippte dabei nach seiner Gewohnheit leicht in den Knieen. Dann erst ergriff er Melitta’s Hand. An den Fenstern lächelten die wehmüthigen Blaßgesichter der Kranken, und in der Thür standen einige vom Hauspersonal, um ihn scheiden zu sehen. Sie hätten ihn am liebsten dabehalten mit seinem köstlichen Humor, der das ganze Haus zu erhellen schien.
Sein Humor – Gottlob, den hatte die Kugel nicht getroffen! Melitta war überglücklich, daß Alles so gut abgelaufen. Sie hatte sich ihn blasser und elender vorgestellt – nur der wilde Krankenbart, der sein Kinn umwucherte, stand ihm durchaus nicht. Gottlob, nun ist Alles gut – nun ist der Schatten von ihnen genommen! Die Aerzte haben ihm zugeschworen, daß der halbe Flügel wieder seine volle Flugfähigkeit erlangen wird, und der Direktor der Centralboxerei hat ihm erklärt, daß sie ihn einfach dort in der Anstalt nicht entbehren können. Das lange Krankenlager, der große Badeurlaub, den er vorhatte, nichts sollte ihm nachgerechnet werden – er ist als Lehrer unersetzlich!
„Der große Badeurlaub“ – er sprach mit ernster Miene davon. Er wußte noch nicht, wo er ihn verbringen würde, darüber seien die Aerzte noch nicht einig. Er meinte die Festungshaft damit, die ihm des Duells wegen bevorstände, und die Aerzte, die noch nicht einig sein sollten, waren der Auditeur und die Herren vom Gericht. Es machte ihm Spaß, den Damen fortan von diesem Urlaub vorzuflunkern.
„Famose Kurorte, die Citadellen von Magdeburg, Wesel, Spandau, was, Mühüller?“ lachte er dabei heimlich in sich hinein.
Keine Erbtante konnte mehr gehütet und gehätschelt werden, als der Oberboxer Mühüller während der Zeit, die er bei Gamlingens verbrachte.
Zuerst kam sich der „Hechtspringer“ und „Kraftbeißer“, wie er sich selber nannte, komisch in seiner Rolle als Nesthäkchen vor. Wenn er des Morgens aus dem verlängerten Schlaf erwachte und er den feinen singenden Ton vernahm, den eine zufällige Bewegung seiner Hand über die seidene Steppdecke verursachte, und seine schlaftrunkenen Augen in dem grünlichen Dämmerlicht umherspürten, das als Wiederschein der hohen Bäume vor dem Fenster den Raum erfüllte, so mußte er im Stillen lächeln.
Dann pflegte sich Trutz einzustellen und, bevor er in den Dienst ging, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Mühüller nannte ihn nur Trutz, und Jenem war der kurze Name, der sich in der Einsilbigkeit nicht von seinem bürgerlichen Originalnamen unterschied, ganz willkommen. Darauf erschien Baptist mit einem Gruß von der gnädigen Frau – und wieder die Frage nach seinem kostbaren Befinden. Und die kleinen ausgesuchten Diners, mit denen die junge Wirthschaft so glänzend kokettirte, die Ausfahrten auf rollendem Gummi in den Thiergarten und Grunewald, die Theaterlogen, die hübschen Privatkoncerte, die ihm die junge Freiin mit seinen Lieblingspotpourris aus „Fatinitza“ und „Fledermaus“ zum Besten gab, die Plauderstündchen im Garten, wo er unter den Damen saß und seine lustigsten Launen schillern und glitzern lassen durfte, ja selbst die „Bildung“, in die er sich kopfüber hineinstürzte – wahrhaftig, er las sogar Verse und staunte selbst darüber. Freilich, Wolff’sche Verse, in denen herzhaft der Humpen geschwungen wurde und schallende Küsse ertönten.
Er erinnerte sich aus seiner Schulzeit der schrecklichen Schilderung, die der Professor von dem Untergang der hannibalischen Heldenkraft in der verweichlichenden Ueppigkeit der capuanischen Winterquartiere gemacht. Sein Capua – das hier ist sein Capua! Es war das Wort, das ihm auf diese Verstrickungen der Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft zu passen schien.
Sie lachten, wenn er vor einem neuen Liebeswerk das Stichwort springen ließ. Ahnten sie doch nicht die Gefahr, mit der sein Herz in einem anderen Capua zu versinken drohte! Und dies Capua hieß die Liebe.
Ein Mühüller’sches Herz! Man stellt sich darunter ein muskelstarkes, elastisches, sehr widerstandsfähiges Organ vor, das nicht leicht zu bewältigen ist. Und dennoch! Das lange Krankenlager war daran schuld gewesen, die Einsamkeit der öden Lazarethstube, die Schwäche des Zustandes, die es nicht gestattet, gewisse,
[389][390] immer wiederkehrende Gedanken und Vorstellungen einfach über Bord zu werfen.
Nein, der Name war daran schuld gewesen. Der Name webte und flocht und verknüpfte allerlei geheimnißvolle Beziehungen zwischen ihm und ihr. Er hatte Olga von Gamlingen immer gern gelitten, er liebte ihre Gesellschaft, und sie vertrugen und schätzten sich wie zwei gute Kameraden. Sie war „seines Kalibers“, wie er sich burschikos ausdrückte; sie verdarb keinen Spaß, und Niemand lachte herziger über seine Scherze. Nun, und ihre großen Kinderaugen, die Einen so treu und lieb anlachen konnten! Als er im Fieber lag, hatten diese Augen oft genug vor ihm gestanden. Er hatte den Namen oft genug in seinen Phantasieen vor sich hergelispelt. Er hatte sich des Namens wegen geschlagen – zuweilen, wenn er daran dachte, überkam ihn ein Aerger, daß es nicht der Person wegen, nicht ihretwegen geschehen war!
Und dann das Wiedersehen! Er saß in dem von Lichtflittern besprenkelten Schatten einer Linde und rauchte seine Cigarre, als sie den sonnigen Weg, Arm in Arm mit Lolo verschränkt, zwischen den blühenden, von Insekten umsurrten Beeten daherkam.
Was es doch für seltsame Anfälle giebt: als wenn Einem der Athem plötzlich ausginge! Ob das eine Folge der Verwundung ist?
Damals war er noch nicht so stark auf den Beinen, und als er Miene machte, sich zu erheben, um die Damen zu begrüßen kam ihm Lo zuvor und trippelte ihm entgegen:
„Daß Sie nur sitzen bleiben, Herr Lieutenant!“
„Ha, famos! famos!“ rief er, „freu’ mich, Sie wiederzusehen!“
Lolo war erst kurz vor der Hochzeit aus Erfurt zurückgekehrt, wo das Paar sie abgeholt hatte.
„Nun, wie geht’s? wie geht’s?“
Er schüttelte dem Mädchen herzlich die Hand mit seiner heilen Linken.
„Welch’ ein Glück, daß Sie wieder auf sind!“ rief sie fast gleichzeitig. „Sie haben uns schöne Sorgen gemacht! Welche Geschichten!“
Sie hielten sich noch die Hände, wie im Gefühl, daß sie doch Beide eine Kampagne durchgemacht, jedes in seiner Art.
Ja, aber sieht er denn Olga gar nicht? Er thut ja so, als sei sie gar nicht da! Ja, warum ist sie nicht sofort gefolgt? Warum schleicht sie so langsam und verlegen heran wie ein Schulmädchen, das zum Geburtstag ein schlecht memorirtes Gedicht aufsagen soll?
„Mein gnädiges Fräulein!“ rief er plötzlich, als gewahrte er die Kleine jetzt erst.
Aber mein Gott, das ist ja seine schnarrende Lieutenantsart! – dachte Lolo. Ich meinte, die Zwei hätten herzlicher mit einander gestanden?
Wahrhaftig, er fühlte, während er ihr die Hand reichte, etwas wie eine leichte Gluth sein Antlitz überfluthen. Ist das wieder eine Folge der Verwundung? Und wie um dieser Abnormität Herr zu werden, zeigte er froh lächelnd seine breiten Zähne.
„Wie geht’s? Wie geht’s, mein Fräulein, wir haben uns lange nicht gesehen …“
Eine Redensart zur Aushilfe. Was sollte man sagen? Kein Wort „darüber“ – über das Duell – das geht nicht! Olga meinte, sie könne es doch nicht ganz unberührt lassen. „Wie schön, daß Sie wieder da sind, Herr Lieutenant –“ irgend so etwas sagte sie, sie wußte nicht was.
Mühüller sprang, nachdem man sich gesetzt hatte, gewaltsam in den altgewohnten Ton über und erzählte ihnen das Bunteste durch einander. Er wollte wissen, ob sein „Sprechanismus“ denn nicht gelitten, was er fast fürchtete. Von seinem „geheimen Medicinalrath“, dem Lazarethgehilfen, von den dreiundachtzig Büchern, die er während seiner Krankheit „eingenommen“ – als wären es so viele Flaschen Medicin, und er wird Jahre gebrauchen, bis er all die Bildung wieder aus dem Körper hat.
Ah, das paßte nicht mehr! Früher so, aber jetzt paßte der Ton nicht mehr! Es war Alles anders. In Mühüller war eine Veränderung vorgegangen, sie selbst schien ihm wie umgewandelt. Er hatte bisher einen lustigen Kameraden in ihr erblickt, der durch alle Tonarten der Fröhlichkeit mit ihm scherzte und schäkerte. Nun webte etwas wie eine Verklärung um ihr ganzes Wesen.
Er hatte noch nie in seinem Leben über etwas und über Jemand soviel nachgedacht, wie in diesen Tagen über Olga. Das Capua war schuld daran. Nun zum Teufel, man darf nicht ganz darin versinken! Man muß sich bei Zeiten davonzumachen suchen, ehe es zu spät ist. Die „große Badekur“ wird ihm gut thun und den alten Zustand wieder herstellen. Was soll es auch heißen? Wozu könnte das führen? Er hat nichts und sie hat nichts, und sie werden sich Beide nicht mit offenen Augen in das glänzende Elend einer Kommißheirath stürzen!
Aber Melitta sorgte dafür, daß „sein Capua“ nicht an Wirkung nachließ. Die Manie der Neuvermählten, Verlobungen und Hochzeiten zu stiften, stand bei ihr in voller Blüthe. Es ist selbstverständlich, daß sie ein Paar werden! Und sie werden eins! dekretirte sie. Sie waren vordem schon für einander bestimmt – nun, nach diesem Duell sind sie es erst recht! Der Name hat es so gewollt! So ist das unselige Duell dennoch zu einem Glück ausgeschlagen! Man wird fortan nicht mehr mit einem Schauder daran zu denken haben! Das Blut, das dieses Namens wegen vergossen wurde, wird durch dieses Glück hinweggelöscht.
Und sie arbeitete mit Eifer an ihrem Werk. Sie wußte so hübsche und bequeme Gelegenheiten zu veranstalten und zu improvisiren, wo die Beiden sich treffen mußten. Sie drechselte die raffinirtesten Anspielungen, sie legte ihnen so förmlich die Hände in einander – sie brauchten nur herzhaft zuzugreifen und diese Hände festzuhalten. Aber nein – es war zum Verzweifeln! Dies Zugreifen erfolgte nicht. Sie sahen nicht, sie hörten nicht. Und dennoch waren sie für einander bestimmt!
„Aber Litta, gute Litta!“ sagte Gamlingen eines Morgens, „was soll das nur heißen, laß doch die jungen Leute selber machen! Laß doch jeden nach seiner Façon selig werden!“
„Es ist doch Deine Schwester,“ warf sie hin.
„Nun ja, nun ja gewiß – (eine Pause) gerade deßwegen! Ich will nicht, daß sie sich ins Elend stürzen! Laß sie nur machen!“
Sie betrachtete unwillig den braunen Rücken eines Hörnchens, das sie eben aus dem Korb genommen. Den Einwand schien sie kaum gehört zu haben. „Weißt Du, wenn man mit Papa ein Wort redete, das Bischen Zulage würde ihn nicht arm machen …“
„Auf keinen Fall!“
Er setzte wie erschrocken die Tasse vom Mund ab. „Auf keinen Fall! Was denkst Du, wie kann man das ihm und ihr zumuthen!“
„Nun, sie ist doch Deine Schwester,“ wiederholte sie, ohne ihn anzusehen.
Zum ersten Mal fiel ihm das Bewußtsein der Pflichten, die er mit dem Namen übernommen, schwer aufs Herz. Gewiß ist sie seine Schwester, seiner Sorge und seinem Schutz unterstellt. Und zum ersten Mal fand sich das peinigende Gefühl der Ohnmacht bei ihm ein, daß er von den Belzigs abhänge, daß er eigentlich nichts für sie thun könne, der Bruder für die Schwester. Wie beschämend das ist! Er wollte von Neuem in Olga dringen, daß sie sein Heim als das ihre ansähe. Sie hatte sich bisher geweigert, und ihre Andeutungen wegen eines Engagements in England schienen nun sogar greifbare Gestalt anzunehmen. Man wird sie nicht fortlassen dürfen!
Mühüller wußte immer noch nicht, wo er seinen „Bade-Urlaub“ zu verbringen hätte. Die Aerzte waren noch nicht einig. „Ich denke mir so etwas wie Kasemattenheim,“ sagte er mit listigem Schmunzeln, das betreffende Wort undeutlich hinmurmelnd.
„Wie? Wohin?“ horchte Frau Belzig auf. „Ich kenne das Bad nicht. Wo sagten Sie?“
„Na, ich kann mich auch verhört haben. Es soll aber sehr heilsam sein. Leider dauert die Kur eine Weile.“
„Wir wollen uns Mühe geben, Sie heraufzubringen,“ fiel Lolo ein.
„Sie dürfen nicht gehen! Sie bleiben einfach!“ dekretirte Melitta. „Wie wir Jemand anders auch nicht gehen lassen!“
Ein deutlicher Seitenblick auf Olga. Aber diese blieb regungslos, als verstände sie nicht.
„Na, ich bitte Sie,“ fiel Mühüller ein, „ich habe die Kur doch von Staatswegen, sie geht auf Staatskosten und kostet mich [391] nichts. Ich werde doch nicht dumm sein und so etwas ausschlagen. Nichts wird dem Staat geschenkt!“ rief er in übermüthigem Ton.
Sie stutzten doch und starrten ihn fragend an: was für eine Unerklärlichkeit – man schießt mitten im Frieden mit Pistolen und bekommt vom Staat, der doch dergleichen verbieten sollte, eine Badekur als Belohnung bewilligt! Mühüller belustigte es ungeheuer, daß sie in ihrer Harmlosigkeit verharrten und immer noch nichts merkten. Und er hatte Herrn Belzig sowohl wie Gamlingen gebeten, ihm den Spaß nicht zu verderben und die Damen bei der Badekur zu belassen. Plötzlich wurden all ihre Verlobungspläne einfach entzwei geschnitten. Mühüller kam eines Tages feierlich und echauffirt in Helm und Schärpe von einem längeren Ausgang zurück.
„Kasemattenheim! Meine liebe gnädige Frau. Es ist so!“ rief er Melitta entgegen. Und er murmelte von „vier Monat.“
Es war ihm doch nicht gleichgültig. Er wischte sich mit einer großen Unmuthsgeste über den rothen Druckstreif, den ihm der enge Helm über die Stirn gezogen. „Na, wenn es nicht auf Staatskosten wäre …“
Aber der Scherz wollte nicht glücken, es war ihm wirklich nicht gleichgültig. „Ich werde Sie also morgen verlassen, meine liebe Baronin.“
„O, nicht möglich, was ist denn aber …“
Da ärgerte ihn die Naivetät, und er sagte es gerade heraus, daß er zu vier Monat Festungshaft verurtheilt sei und der Kurort Wesel heiße. „Ja, ja, spiele nicht mit Schießgewehr! Uebrigens soll Wesel sehr hübsch sein, die Citadelle liegt unmittelbar am Rhein, ich lerne bei der Gelegenheit doch den famosen Strom kennen.“
Bei Belzigs schienen die Damen wie aus den Wolken zu fallen. Gott, o Gott! Festung – welch’ eine Entsetzlichkeit! Und sie sahen den braven Mühüller schon mit einer Kugel am Bein angekettet, einen Schubkarren den Wall hinaufschieben.
Olga aber saß blaß und verstört auf ihrem Stuhl, und es machte ihr Mühe, ihre Bestürzung zu verbergen. Am andern Morgen trat sie zu Frau Belzig und sagte mit ihrem freundlichen Lächeln, aber ohne Ton in der Stimme: „Liebe Tante (Frau Belzig beanspruchte den Titel), ich habe heute früh nach England geschrieben un…d die Stelle in Norfolk angenommen.“
Auf einem weitgeschwungenen Blechschild, das von kunstvoll geschnörkelten schmiedeeisernen Ständern getragen war, stand die neue Firma „Adolf Eff und Kompagnie, Blechwaaren-Fabrik“, darunter viel kleiner „Specialität für Christbaumschmuckartikel“.
Unter diesem Schild hinweg gelangte man auf einem gepflasterten Fahrweg in den Fabrikhof. Links dehnte sich eine Ziegelmauer, rechts grenzte ein frischgestrichener Staketzaun den Garten ab, der noch verwildert war und in dessen Mitte eine Flora auf einem leicht nach der Seite neigenden Postament ragte. Dann kam das Haus. Ueber der Thür, die sich nach dem Fahrweg öffnete, befand sich ein Schirmdach aus zierlichen Eisenrippen, denen jedoch die Glasplatten fehlten. Man sah es dem Hause an, daß es in der schwülen Luft einer Spekulation über Nacht aus der Erde geschossen war. Es war für einen zweiten Stock projektirt, aber man hatte in der Eile ein leichtes provisorisches Dach über das Erdgeschoß gedeckt. Doch sah das Haus in seinem freundlichen und glänzenden Oelanstrich und mit seinen blanken Fenstern, hinter deren korrekten weißen Gardinen man die Musterhausfrau vermuthen konnte, schmuck und einladend genug aus. An einem der vorderen Fenster zeigte sich ein räthselhaftes Kreuz und Quer von Röhren; hier war auch die Wand, unbekümmert um den neuen Anstrich, unbarmherzig durchbrochen worden. Die Arbeiter betrachteten sich den seltsamen Apparat mit neugierig kritisirenden Blicken. Und im Davongehen ward die Berliner Redensart gehört, daß wohl Jemand einen „Vogel im Kopf haben müsse“ mit seinen Erfindungen.
Allerdings, wenn man bedachte, daß der Principal vor Wochen sogar einen Trupp amerikanischer Arbeiter von ganz besonderer Specialität engagirt hatte, um gewisse Theile seiner „neuesten Idee“ auszuführen –! Diese räthselhafte neueste Idee schlummerte nun in dem Verschlag eines Schuppens, weil sie sich als noch nicht reif genug zur Ausführung erwiesen. Die Amerikaner mußten mit vielen Opfern wieder entlassen werden.
Der Fabrikhof zeigte zwei lange und langweilige Schuppen aus Fachwerk, in der Ecke stieß ein schwarzes, mit Ketten wie ein Mast aufrecht gehaltenes Blechrohr einen weißen wüthenden Dampf aus, als wäre es der Dampfmaschine, die dort das kleine Häuschen mit ihrem Gestampfe erzittern machte, längst zu eng da drinnen und als könnte sie die Zeit nicht abwarten, daß sie in das geräumige Quartier des neuen Maschinenhauses übergeführt würde. Maurer waren mit dem Bau des großen Schornsteins beschäftigt, der zur halben Höhe gediehen war.
Die Vesperglocke gellte gerade durch den Hof. Die Arbeiter kamen aus den Schuppen, ihr Vesperbrot in der Hand, die Maurer kletterten von dem Baugerüst herab.
In dem Hof stand eine elegante Equipage, aus welcher vor einer Stunde etwa ein glänzender Officier und eine feenhaft schöne Dame gestiegen waren. Natürlich fanden sich unter den Arbeitern sofort einige Sachverständige, die, sich hin- und herbückend, die Konstruktion des Gestelles mit wichtigthuenden Mienen prüften und über Beschläge und Bemalung ihr Urtheil abgaben.
Baptist stand breitbeinig dabei. Er paffte an seiner Cigarre und horchte durch den Tabaksqualm auf die Aeußerungen der Arbeiter.
Man betrachtete das Wappen auf dem Schlag. Man stritt über die Bedeutung des Schildzeichens, die beiden gekreuzten stacheligten Morgensterne, dann erhob sich ein Wortwechsel darüber, ob das Krönlein über dem Schild eine Grafen- oder eine Baronskrone bedeutete.
„Mußt Du doch wissen!“ sagte einer von den Maurern, ein langer Mensch mit einem pockennarbigen Gesicht und einem röthlichen steifen Kinnbart, unter der gespannten Haut der einen Backe ein großes, eckiges Stück seines Vesperbrotes verarbeitend – „Mußt Du doch wissen …“
Und er ruckte mit dem Ellenbogen gegen seinen Nebenmann. Das war ein feistes gedrungenes Kerlchen von achtzehn Jahren, mit einem feinen, blonden, wolligen Flaum ums Kinn und sehr hellen wasserblauen Augen. Er trug ein seltsames, hierorts sonst nicht übliches Hütchen aus großkarrirtem bunten Tuche hintenüber, aus dessen Kordel das Auge einer Pfauenfeder schaute, die Hände steckten mit gewaltsam herabgezwängten Schultern in den tiefsitzenden Taschenschlitzen seiner weiten Englisch-Lederhose, und er hielt diese Taschen nach Franzosenart zu den Seiten aufgespreizt. Er antwortete nichts, sondern spuckte aus den eingezogenen Lippen mit schußartiger Geschwindigkeit dicht vor den Wagentritt hin.
„Mußt Du doch wissen …“ wiederholte der Lange, den Bissen nach der andern Seite herumwerfend.
Der junge Bursche hob und senkte nur langsam die Schultern.
„Ein Baron – na, ein schöner Baron …“ erhob sich eine wie verrostet klingende Stimme auf der andern Seite. Es war ein Bulldoggengesicht mit vorstehenden Backenknochen, die von starker Röthe erglühten. Das rechte Auge zeigte als Spur eines Faustschlages eine violettblaue Umrahmung. Und aus dieser Umrahmung blinzelte das Auge ironisch nach dem Burschen. „Na, so ein Baron!“
Der Bursche sagte noch immer nichts. Es war offenbar sein Spitzname; woher hatte er ihn? Es war nichts in seinem Wesen wie in seinem Anzug, was solchen Spitznamen veranlaßt hätte; hatte er ihn aus Amerika mitgebracht, wo er herstammte? Er hatte sich auf dem Dampfboot jenem Trupp amerikanischer Arbeiter angeschlossen und war mit diesen für die „neueste Idee“ engagirt worden. Nun, da diese schlummerte, hatte er bei dem Mauerbau eine Beschäftigung als Handlanger angenommen. Genug, der Spitzname haftete ihm an, warum sollte er sich darüber ärgern?
„Na, wie heißt er denn, der da?“ fragte Einer Baptist, auf den Wagen deutend.
Baptist rollte seine Cigarre zweimal herum, lächelte den Frager an, that einen starken Paff – „de Gamling!“ brachte er hervor.
„Graf, wie?“
Baptist verstand nicht gleich. besann sich – „o non, non!“
„Baron also?“
Baptist nickte. „Baron de Gamling,“ schmunzelte er. Es freute ihn offenbar, den schönen Namen, der so fett gegen den [392] mageren Einsilber von ehemals klang, über die Lippen fließen zu lassen.
„Ah, ein parlez-vous! Aus Elsaß?“ rief es aus der Gruppe.
„Lorraine!“ antwortete Baptist mit funkelndem Blick.
„Ah, ein Franktireur! – ein Nixversteh! – Malöhr bur nu – bur fu – bur tummelmond!“[1] rief Einer, der offenbar den Feldzug in Frankreich mitgemacht. Das Interesse der Gruppe wendete sich von dem Wagen auf den Diener hin.
Da zerschnitt die Glocke mit ihrem Gellen die Scene. Die Arbeiter trollten sich zögernd und lässig nach ihren Plätzen hin. Der Pockennarbige schob sich im Gehen an den Amerikaner:
„Hast Du den Namen verstanden?“ raunte er ihm zu. „Es klang ja fast – es klang ja gerad’ so wie ein gewisser Name.“
Der Bursche stieß einen Fluch aus.
„Was geht’s mich an! Mag es heißen wie es will! Ich heiße Trutz – Andere heißen anders. Zum Donnerwetter, ich hab’ die Namensgeschichte satt! – Wenn einmal wieder Einer mit diesem Baron kommt …“
Jagdleben im Hochland.
Vor manchen Jahren, an einem Sommertage war’s, als ich in Begleitung des Jagdgehilfen, eines stämmigen, schwarzbärtigen Gesellen, das Forsthaus verließ, um zu Berge zu steigen. Unser Ziel war die „Lärchkogelhütte“, ein kleines, hölzernes Jägerhaus, das drei „gute Bauernstunden“ über dem Thale zwischen Wald und kahlen Felsen auf einem mit schütteren Lärchen bewachsenen Hügel stand, inmitten des wildreichsten Jagdgebietes.
Ueber der mit grobem Kiesgeröll beschwemmten Isarau, welche wir durchwandern mußten, ehe der Wald uns aufnahm in seinen kühlen Schatten, brütete die Sonne mit zitternder Gluth; zahllose Fliegen, wilde Bienen und Bremsen sumsten und surrten um die heißen Steine und um unsere Köpfe. Mich aber kümmerte weder die drückende Sonne, noch der schlechte Weg, noch das Geleite der kleinen blutgierigen Teufelchen. Rastlos stolperte ich über das Geröll dahin, die Blicke sehnsuchtsvoll der fernen Höhe zugewendet, von welcher uns die sonnbeschienene Jagdhütte als ein weißglänzender Punkt entgegenblinkte. Brannte mir doch das Jagdfieber in jedem Nerv und in allen Adern! Und wenn der Jagdeifer schon manch einem graubärtigen Waidmann, wie das Sprichwort sagt, noch Feuer unter die Maschine zu legen weiß, wie kocht und brodelt das erst in solch einem blutjungen Bürschlein, das nach den Hasenschlachten des Flachlandes zum ersten Male das Jägerparadies der Berge betrat! Da draußen auf den ebenen Stoppelfeldern und in den sauber gehaltenen Waldgehegen hatt’ ich mich bei meinen zwanzig Jahren für einen großen Nimrod gehalten. Zu welch einem armseligen Nichts aber war mir bei dem ersten Schritt in die Berge mein waidmännisches Selbstbewußtsein zusammengeschrumpft gegenüber dieser in ihrer Schönheit und ihren Schauern so gewaltigen Natur, deren Jagdleben mich fast in jeder Stunde mit Neuem und Ungekanntem überraschte! Wie hatt’ ich es „da draußen“ so wohl verstanden, mit den ergrautesten Hasentödtern um die Wette zu lateinern – wie still aber mußte ich hier im Försterhause hinter dem Eichentische sitzen, wenn diese stahlsehnigen Gesellen mit den verwetterten Gesichtern und den blitzenden Augen um mich her ins Reden kamen! Und wenn ich von Seite des Försters und seiner Gehilfen auch alle Ehre und Bevorzugung eines „Jagdgawliers“ genoß, so war ich eben doch nur der „dappige Jaagerlehrbua“, in welcher demüthigenden Stellung ich mir höchstens durch meinen rastlosen Eifer und meine Eigenschaft als guter Schütze einige Anwartschaft auf zukünftige Achtung zu erwerben wußte. Da eilte denn meine Phantasie gar manchmal der Zeit voraus, und wenn ich nach einem an Jagdgeschichten ergiebigen Plauderabend mein Lager suchte, wurde ich im Traume mit einem Schlag zum fertigen Hochlandsjäger, der „jaagermaßig“ jede Fährte „anzusprechen“ und waidgerecht auf jedes Wild zu pirschen wußte. Was Wunder, daß ich von diesen Träumen häufig ein erkleckliches Theil mit hinübernahm in den wachen Tag.
Auch damals auf meinem Wege zur Lärchkogelhütte kürzten mir solche Träume die heiße Wanderung. Ich sah im Geiste schon den Vierzehnender aus dem Dickicht brechen und sah ihn stürzen unter dem Wiederhall meines Schusses; ich sah den Gemsbock niederflüchten übers Geschröff und hoch aufspringen in die Luft, aufs „Blatt“ getroffen von meiner Kugel, und dann – ich kniee vor dem erlegten Wilde auf der Erde; da plötzlich huscht ein großer Schatten über den Steingrund, aus den Lüften hör’ ich ein fauchendes Rauschen; unwillkürlich nach der Büchse haschend spring’ ich empor und sehe über mir mit zitterndem Schrei den König der Berge kreisen, den schwingenmächtigen Adler. Nicht zu hoch für einen gut gezielten Schuß! So kalkulir’ ich in Eile und bebender Erregung – da lieg’ ich auch schon mit der Büchse im Anschlag, und –
„Zeit lassen! Zeit lassen!“ störte mich recht unerwartet die Stimme meines Begleiters aus meinen hochfliegenden Träumen auf, deren fiebernder Eifer sich auch meinen Füßen mitgetheilt hatte. „Zeit lassen! ’s Laufen kann bei Enkere Hasen gut sein; aber in die Berg’ herin, da heißt’s: derwarten muß man’s können bei der Jaagerei, denn mit’m Derlaufen richt’chst nie nix G’scheidts net aus!“
Eine Weile hielt die Nachwirkung dieser guten Lehre wohl an; als wir jedoch in Wildhöhe kamen, prickelte mir schon wieder die Ungeduld und der Uebereifer in allen Gliedern, so daß ich auf dem schmalen Jagdsteige oft um Büchsenschußweite meinem [393] Begleiter voran war. Wohl rief er mir noch ein paarmal sein mahnendes „Zeit lassen!“ nach; dann aber überließ er mich meiner Ungeduld; vielleicht merkte er auch, welch besonderen Genuß es mir bereitete, mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören zu dürfen und mich so allein zu fühlen inmitten des sonnigen, sacht und geheimnißvoll rauschenden Bergwalds.
Und wie schön war dieser Wald in seinem bunten Wechsel! Da standen schwarze, hochragende Tannen, lichte, kronenrunde Buchen und fahlgrüne, spitzgewipfelte Lärchen traulich durch einander, und zwischen Farren, Moos und grauen Steinen verschlangen sich ihre Wurzeln in einem Grunde, der sich ansah wie ein Teppich, gewirkt aus dunklen, unruhigen Schatten und grellen, zitternden Lichtern. Aus dichteren Beständen führte der Steig über schmale Lichtungen mit niederem Buschwerk, mit üppigen Heidelbeer- und Almrauschbeeren, die in voller Blüthe standen. Dann wieder verlor sich der Pfad im dunkleren Walde, um plötzlich einzubiegen in eine jener schattenkühlen, tief in den Berggrund eingesprengten Felsenrinnen, durch welche der schmelzende Höhenschnee seine krystallklaren Wasser mit Murmeln und Plätschern thalwärts sendet. Emsig ließ ich die Blicke auf und nieder wandern über das Gehänge und lauschte in gespannter Erregung jedem leisesten Geräusche, jedem Vogelruf.
Manchmal stockte mir der Herzschlag, wenn von den höheren Felsen hernieder der zischende Pfiff einer allzu wachsamen Gemse sich vernehmen ließ, wenn aus dem tiefer liegenden Gehege ein kurzes Rascheln und Brechen hörbar wurde, das von flüchtendem Rothwild herzurühren schien.
Jeder dieser Zwischenfälle steigerte meine Erregung, verschärfte aber auch meine Aufmerksamkeit und bezwang die Ungeduld meiner Füße, so daß ich nun von selbst in den richtigen, achtsam und lautlos ziehenden Jägerschritt verfiel.
So gelangte ich wieder einmal aus dem dunkleren Walde auf eine mit dichtem Beerengestrüpp bewachsene Lichtung, als ich plötzlich von unfern unter dem Steige ein sachtes Knappen vernahm, wie das Brechen eines dünnen Zweiges. Hurtig flogen meine Augen der Richtung zu, aus welcher das Geräusch gekommen – und wie ein Schauer rann es mir über die Schultern, als ich des dunkelgefiederten mächtigen Vogels ansichtig wurde, der mit gespreizten Schwingen auf der Erde kauerte und mit dem Hakenschnabel das Gestrüpp durchwühlte.
„Ein Adler!“ fuhr es mir in der halben Blindheit meiner Erregung und in der unwillkürlichen Erinnerung an jene sehnsuchtvollen Träume durch den Kopf – doch riß ich auch im gleichen Augenblick die Büchse von der Schulter. Beim Knacken des Hahnes zuckte der Vogel mit dem schwarzen Kopf in die Höhe; ich sah ein rundes, dunkles Auge unter rothem Lide blitzen; ein Ruck durchfuhr das schöne Thier; mit schwerem, rauschendem Flügelschlage hob es sich von der Erde – schon aber krachte mein Schuß – im Feuer brachen dem Vogel die Schwingen, und prasselnd stürzte er nieder in das blühende Kraut.
Mit einem jubelnden Jauchzer sprang ich vom Steig hinweg und meiner Beute zu. Ein Adler war es nun freilich nicht; aber das that meiner hellen Freude keinen Eintrag; denn was ich da in der hocherhobenen Rechten hielt, es war ja auch ein edles Wild und auch eine Erstlingsgabe meines Jägerglückes – mein erster Auerhahn.
In Stolz und Neugier betrachtete ich des Vogels ausdrucksvollen Kopf mit dem starken, gelblichen Hakenschnabel, mit der grellrothen „Rose“ über dem Auge, den Federbart an der Kehle, die grün und stahlblau schillernde Brust, die kräftigen braunen Schwingen mit dem schneeweißen „Spiegel“ an den Schultern, den langen fächerartigen „Stoß“ mit den weißen Bändern auf schwarzbraunem Grunde, und besonders den weiß und schwarz gesprenkelten Unterstoß mit den schaufelartigen Federn, die nun als stolze Trophäe auf meinem Hute prangen sollten. Jetzt wurden rasche Schritte auf dem Steige hörbar und der Jagdgehilfe erschien mit der hastigen Frage:
„Was is? Han? Auf was haben S’ denn g’schossen?“
Als er aber des Vogels ansichtig wurde, verlängerte sich sein Gesicht so merkwürdig, und gedehnt klangen seine Worte: „Ijeh, jetzt da schau, a Hoh(n)! Und mit der Kugel g’schossen?“ fügte er bei, während er das Thier aus meinen Händen nahm und näher untersuchte.
„A sauberer Schuß! Alle Achtung! – Aber –“ noch länger wurde sein Gesicht, und mit der Linken schob er den Hut in die Stirn, um sich den struppigen Hinterkopf bequemer krauen zu können, „aber – an Haken wird die G’schicht halt dengerst haben!“
„Einen Haken?“
„No – von wegen der Schußzeit halt. Wissen S’, bei uns herin wird a Hoh(n) halt nie net anders g’schossen, als wie am Falz, im Fruhjahr. Das heißt, es is schon a Schußzeit auch im Sommer – aber weil’s g’rad a Wunder is, wann im Sommer amal an Hoh(n) zum sehen kriegst, drum weiß halt Unsereiner so ’was net. Der Förstner drunten könnt’s ei’m schon sagen – aber – an Putzer müssen wir schon riskiren! Denn natürlich – außer der Schußzeit – das wär’ halt so a Sach’!“
Da war nun allerdings meine Freude bedenklich herabgestimmt. Meinen ersten Auerhahn außer der Schußzeit erlegt zu haben – welch eine schmerzliche Wunde für meinen jungen Jägerstolz! Ich wollte und mußte Gewißheit haben, und so entschloß ich mich zur sofortigen Heimkehr, für die ich eine glaubwürdige Ausrede rasch zur Hand hatte.
Es dämmerte schon, als wir vor dem Forsthause anlangten. Der Jagdgehilfe machte sich gleich aus dem Staube, indem er mir allein es überließ, mein von Zweifeln bedrängtes Gewissen zu beruhigen. Der Förster empfing mich im Flur, wo ich meinen Rucksack, darin ich die Beute verwahrt hatte, mit gut gespielter [394] Harmlosigkeit an das Zapfenbrett hängte. Während wir dann bei Tische saßen, wußte ich das Gespräch nach langen Umwegen in möglichst unauffälliger Weise auf die Hahnenjagd zu bringen, so daß sich schließlich von selbst die Frage ergab: „Wann fängt für den Auerhahn die Sommerschußzeit an?“
„Am ersten August.“
„Und welchen Tag haben wir heute?“
Der Förster hob verwundert die Augenbrauen: „Den letzten Juli.“
„Na also! Dann hab’ ich ja morgen schon einen Hahn geschossen – und einen Prachtkerl!“ lachte ich jubelnd auf, rannte aus der Stube und brachte triumphirend meine Beute herbei. –
Seitdem ist nun manches Jahr vergangen, und manch ein stattlicher Hahn ist meiner Jagdlust zum Opfer gefallen. Aber jeden hab’ ich mir in waidgerechter Weise zur Frühlingszeit bei grauendem Morgen vom „Falzbaum“ heruntergeholt. Und wenn das tödliche Blei den seltsamen Liebesgesang des mächtigen Vogels so jählings verstummen macht, wenn das Echo des Schusses grollend dahinrollt über die schneebedeckten Tauern, und wenn das schöne Thier in wuchtigem Falle niederrauscht durch die dunklen, schwankenden Zweige: das gewährt dem Jäger eine Freude, die nicht einmal von dem stolzen Gefühle überboten wird, mit dem er den flüchtigen Hirsch im Feuer stürzen sieht.
Was den rechten und echten Hochlandsjäger der Hahnenjagd vor jeder anderen den Vorzug geben läßt, das liegt zum Theile wohl auch in dem Umstande, daß es gerade der Auerhahn ist, der nach den rauhen, schneereichen Wintermonaten mit seinem Falzgesang das neue Jägerjahr eröffnet; noch mehr aber ist die Ursache dieser Vorliebe in den reichen, herrlichen Reizen zu suchen, mit denen die erwachende Natur, mit denen das geheimnißvolle Dämmerleben des erstehenden Tages diese Jagd umgiebt – mit Reizen, die kein Wort ermißt, die nur Jener voll und ganz zu verstehen und zu würdigen weiß, der sie selbst genossen mit offenem Aug’ und offenem Herzen.
Wenn vor den siegreichen Strahlen der Frühlingssonne sich der Schnee in trotzigem Schneckengange aus den Hochlandsthälern zurückzieht in seine kalten Felsenhöhlen, wenn an den Buchen und Lärchen die Rinden springen und die jungen Knospen zu Tage streben, wenn der erste von Süden kehrende Wandervogel, die langgeschnäbelte Schnepfe, auf ihrem Zuge nach dem Norden den Wall der Berge kreuzt, dann erweist sich die belebende Macht des Frühlings auch an dem einsiedlerischen Anerhahn; sie löst ihm die sonst so stumme Zunge, bringt ihm in ihrer Weise die Meinung bei, „daß es nicht gut wäre, wenn der Hahn allein bliebe“, und treibt ihn aus seinem versteckten „Winterstande“ den lichteren Gehegen zu, in denen die grauen Hennen mit vertraulichem Gackern und mit dem glucksenden Paarungsrufe die Heidelbeersträuche und Farrenbeete durchhuschen.
Da zieht dann der Jäger lang vor dem Ergrauen des Morgens aus, um vorerst den Standort des Hahnes zu erforschen, den Hahn zu „verlusen“, der durch seinen Liebesgesang zum Verräther an seinem eigenen Leben wird. Oder es steigt der Jäger bei sinkendem Nachmittag zu Berge, um aus einem Verstecke den „Einfall“ zu belauschen. Gewöhnlich bei Beginn der Dämmerung kommt der Hahn mit schwerem Flügelschlage dem Falzbaum zu gestrichen, auf dem er schlafend die Nacht verbringt, um beim falben Frühschimmer des Morgens sein Falzlied anzustimmen, das er erst beschließt, wenn er sich vor dem vollen Erwachen des Tages zu den Hennen auf die Erde schwingt. Unruhig rückt er nach dem Einfall auf dem Aste hin und her, stellt sich von einer Seite auf die andere und äugt mit gestrecktem Halse nach allen Richtungen, bis ihn die herrschende Stille vertraut und sorglos macht. Ist er bei guter Laune, so fängt er wohl auch zu falzen an; aber es ist zumeist kein rechter Zug in solch einem Abendsang; die „Gesetzlein“ folgen träge auf einander; nach und nach verliert sein Klippen den hellen Ton und geht allmählich in Laute über, die den leise rasselnden Athemzügen eines müden Menschen gleichen, den wider Willen der Schlaf überkommen hat. Inzwischen sitzt der Jäger regungslos in seinem Verstecke; jede Bewegung, jedes Geräusch würde den Hahn „vergrämen“ und zum Abstreichen veranlassen. Erst wenn die Nacht mit ihren schwarzen Schatten über den Bergwald herniedergesunken ist, erhebt sich der stille Lauscher und schleicht sich mit lautlosen Schritten aus der Hörweite des Hahnes, um dann raschen Ganges das Dorf zu suchen. Solch einem Abend folgt ein kurzer Schlaf; denn ein paar Standen nach Mitternacht heißt es schon wieder munter sein.
Das Jägerherz erfüllt mit guten Hoffnungen, tritt man ins Freie; die kühle Nachtluft erfrischt das Gesicht, und aus der wolkenlosen Finsterniß des Himmels lächeln und winken die flimmernden Sterne. Schon mit der Wanderung durch das dunkle schlummernde Dorf beginnt der eigenartig bestrickende Reiz solch eines Waidmannsganges. Eintönig rauscht der Thalbach in seinem steinernen Bette; ein Hund schlägt an, träg und verschlafen; aus einem einzigen, unter Bäumen versteckten Häuschen schimmert ein Licht – ist es schlummerloses Elend oder stillwachendes Glück, dem hier die Lampe leuchtet? Vorüber! Dort winken die Berge, die sich aufwärts thürmen gleich einer schwarzen Mauer. Ein kurzer Anstieg über thaufeuchtes Wiesengehänge, und der Wald ist erreicht. Wie ein sachtes Flüstern geht es durch die nächtigen Zweige. In mäßiger Steigung zieht sich der Weg der Höhe zu, aus dem dichteren Walde über offene Rodungen lenkend und wieder im Hochholz sich verlierend. Die niederen Büsche, die Steinklötze und Wurzelstöcke, welche den Weg begleiten, zeigen in der Dunkelheit absonderlich gestaltete Kontouren und erregen die Phantasie – und zu den Erinnerungen an die Märchenzeit der Jugend, welche unwillkürlich beim Anblick dieser finsteren Gestalten erwachen, gesellt sich der wimmernde Schrei eines Käuzleins, das durch die Tannenwipfel seinem Felsenhorst entgegenstreicht. Jetzt geht ein leises Brechen und Knacken durch das Jungholz; da flüchtet ein Reh waldeinwärts, das der Schritt des Jägers aus dem Schlaf geschreckt. Allmählich wandelt sich die Finsterniß zu grauer Dämmerung; die weißen, abgetretenen Steine des Weges werden sichtbar, und auf kurze Strecken unterscheidet man schon die einzelnen Stämme des Waldes. Der Falzplatz ist nicht mehr allzu ferne; auf einem moosigen Felsblock hält man kurze Rast, um sich „ein Bißl zu verschnaufen“. Jetzt gewinnt auch die Jägersorge die Oberhand über die Freude an dem stillen Leben der Natur. Wird der Morgen Waidmannsglück oder Mißgeschick bescheren? Vorwärts! Vereinzelte schüchterne Vogelstimmen werden bereits im Walde laut, und am östlichen Himmel erwacht schon das erste fahle Licht, das die Sterne erlöschen macht. Drunten im Thal ermuntert sich das Dorf; Hundegekläff, langsamer Hufschlag und Wagengerassel tönen, durch die Ferne gedämpft, zur Höhe. Vorwärts! Schritt für Schritt geht es den letzten Rest des Hanges empor, geräuschlos, unter stetem Lugen und Lauschen. Da plötzlich schießt dem Jäger das Blut zum Herzen – er hat einen Laut vernommen gleich einem hellklingenden Zungenschlage: das Klippen, das „Schnackeln“ des falzenden Hahnes.
Einige Minuten, und die erste Erregung ist niedergezwungen. Achtsam jeden Stein und jeden dürren Ast vermeidend, schleicht man sich näher von Stamm zu Stamm, bis das Falzlied klar und deutlich zu vernehmen ist: das langsam beginnende Klippen, welches schneller und schneller auf einander folgt, um mit dem stark tönenden „Hauptschlag“ in das „Schleifen“ überzuleiten, das sich anhört wie das Wetzen einer Sense. Wie eine Säule steht der Jäger, und es rührt sich kein Härchen an ihm, so lange der Vogel schweigt und so lange das Klippen währt; der Hauptschlag erst erlöst ihn aus seiner Starrheit – nun zwei oder drei rasche, sicher ausgeführte Schritte – und wieder heißt es stille stehen, bevor das Schleifen noch zu Ende ging. Denn während dieses kaum vier oder fünf Sekunden währenden Schleifens ist der Hahn, der sonst mit Ohr und Auge so scharf „vernimmt“ und „äugt“, für Alles taub und blind, was um ihn vorgeht; da verdreht er in verliebtem, schmachtendem Affekte die Augen nach oben, und der Klang und die Anstrengung seines Gesanges verschließen sein Ohr für jedes andere Geräusch, selbst für den krachenden Hall eines fehlgegangenen Schusses.
So folgt „Gesetzlein“ aus „Gesetzlein“, und jedes bringt den Jäger Schritt um Schritt dem Falzbaum näher. Nun wieder ein Sprung – und da geht es wie ein Ruck durch seine Arme, und fester schließen sich die Hände um seine Büchse. Er hat den Hahn erblickt, auf dem wagrecht stehenden Aste einer kahlen Lärche. Scharf heben sich von dem dämmerigen Morgenhimmel die Kontouren des schwarzen Vogels ab – ein Anblick, der selbst den brennendsten Jagdeifer für eine Weile bannt. Sorglos und unverdrossen falzt der Hahn ein Liedlein um das andere, tanzt dazu in leidenschaftlicher Bewegung auf seinem Aste hin und her, wendet und reckt den Kopf aus dem Halse, an dem der Federbart sich [395] sträubt, und fächert und schließt im Takte den prasselnden Stoß. Heller und heller wird es am Himmel, dessen östliche Ferne sich schon mit farbigen Streifen säumt. Immer rascher und erregter tönt der Falzgesang des Hahnes, und prächtiger mit jedem Augenblicke entwickelt sich das Bild des leidenschaftlichen Thieres. Schon unterscheidet der Jäger die weißen Sprenkeln des Gefieders, feurig leuchtet ihm die „Rose“ entgegen, und schneegleich schimmern die „Spiegel“ der hängenden, zitternden Schwingen.
Da läßt sich von der nahen Lichtung ein leises, mahnendes Glucken vernehmen, der Hahn verstummt inmitten des beginnenden Klippens; eine Weile schweigt er, dann hebt er von neuem sein Falzlied an – sein letztes! Denn auch der Jäger hat jene Mahnung verstanden. Langsam führt er die Büchse zur Wange – eine Sekunde noch – dann bricht der Schuß, und
„Rings der Hall die Vöglein weckt,
Die schlafend in Busch und Baum versteckt,
Und keines von ihnen bekümmert der Tod,
Sie alle frisch grüßen das Morgenroth,“[WS 1]
wie Vater Kobell einst gesungen, der auch seine Herzensfreude daran hatte, wenn der stattliche Vogel niederstürzte durch das brechende Gezweig.
So willkommen glatt und sauber geht die Sache freilich nicht immer ab. Gar oft verdirbt die Bosheit des Wetters dem Jäger nach weitem Weg und langer Mühe die ganze Jagd. Oder es will der Hahn trotz aller Gunst der Witterung nicht falzen, und da läßt er sich nicht einmal fragen, weßhalb er nicht will – er macht sich eben unsichtbar. Häufig auch bringt sich der Jäger durch eigene Schuld um den erhofften Erfolg; ein Schritt zuviel beim „Anspringen“, eine unvorsichtige Bewegung während der Pausen, und der Hahn ist vergrämt; da heißt es dann vor dem mißtrauisch gewordenen Vogel stehen wie eine Mauer, oft durch lange, endlos scheinende Minuten, ob einem auch die Knochen im Leibe zerbrechen möchten; ein vorzeitiges Ermüden, ein einziges Wanken, und der Hahn reitet dem Jäger vor der Nase davon. Manchmal auch gelang das Anspringen trefflich; man steht schon in nächster Nähe des Falzbaumes – aber kein Hahn ist zu sehen. Denn wie in der modernen Lyrik, so giebt es auch unter diesen Liebessängern des Bergwaldes Idealisten und Pessimisten; diese letzteren singen ihr Falzlied in gar melancholischem Tone, halten sich dabei in einem dichten Tannenwipfel verborgen oder drücken sich während des Falzens regungslos an den Stamm der Buche, so daß nicht einmal das schärfste Jägerauge sie im Dämmergrau von den dunklen Knorren des Baumes zu unterscheiden vermag. Hat man endlich den Hahn erblickt, so gilt es immer noch einen guten Schuß zu thun, was bei dem grauen Lichte und bei der gesteigerten Erregung des Jägers auch kein so leichtes Ding ist. Und dann – es ist ja nicht jeder treffende Schuß im Momente tödlich; da streicht der Hahn im Feuer ab; tief unten auf dem Hange hört man ihn zur Erde plumpsen und findet ihn erst, wenn er überhaupt gefunden wird, nach stundenlangem Suchen. Manchmal auch ermuntert sich der angeschossene Hahn beim Anblick des Jägers wieder, flüchtet sich mit Flattern und Laufen, und ist gewöhnlich verloren, wenn ihn der Jäger nicht in der Eile mit einem zweiten Schuß zu erhaschen vermag.
Von solchen kleinen Bitternissen der Hahnenjagd könnte ich zur Genüge erzählen. So passirte es mir vor Jahren in der Forstei Seehaus, daß ich einen alten Pechhahn „flügelte“. Ich wollte das Gefieder des Vogels schonen, gab einen zweiten Schuß nicht ab, sondern verließ mich auf meine jungen Beine. Eine tolle Jagd begann; ein um das andere Mal hatte ich den Hahn unter den Händen, aber immer entwischte er mir wieder, meine Finger mit scharfen Schnabelhieben bedenkend. Schließlich geriethen wir in eine steile, mit tiefem Schnee erfüllte Lawinengasse, und da ging es an ein Stürzen, Kollern und Kugeln im Schnee, daß es für den lachenden Förster gar lustig anzusehen, für mich aber wenig lustig mitzumachen war. Als ich endlich des Hahnes habhaft wurde, war er in einem Zustande, als hätte ihn die des Rupfens kundige Köchin schon ein Stündlein in der Arbeit gehabt.
Kein Ungemach aber vermag dem rechten Waidmann die Hahnenjagd zu verleiden. Geht die Sache einmal schief, so macht sie sich ein andermal um so besser. Dann mag man sich des Erfolges doppelt freuen, mag zur Rast den weichen Wettermantel auf die Erde breiten, mag sich bei Vogelsang den Imbiß und das Pfeiflein schmecken lassen und von der luftigen Warte niederblicken in das graue Thal, aus dem die Morgennebel dampfen, indeß mit Glanz und Leuchten zwischen den weißen Felsenhörnern voll und ganz der schöne Frühlingstag erwacht.
Wetterprognosen.
Die Ueberschrift dieses Artikels fordert direkt zu einem Vergleiche mit der Heilkunde auf. Auch der Arzt prognosticirt. Aus beobachteten Krankheitssymptomen sucht er die Art des herannahenden Unheils zu bestimmen und die Krankheit bei ihrem rechten Namen zu nennen. Dann weiß er auch zugleich aus dem Schatze der tausendfältigen Erfahrungen, von denen er theils durch sein Studium, theils durch eigene Praxis Kenntniß erlangt hat, wie die Krankheit nun weiter verlaufen, welchen Theilen voraussichtlich die meiste Gefahr drohen wird und wie man derselben möglicherweise noch entgehen kann.
Das schlechte Wetter ist in der That auch nichts Anderes als eine Krankheit der irdischen Lufthülle, eine Gleichgewichtsstörung jener luftigen Lebenssäfte unseres Planeten, welche um seinen Körper pulsend kreisen und zugleich für uns arme Parasiten des Erdballes die erste unumgängliche Existenzbedingung bilden. Die Wetterforscher sehen es nun heut zu Tage immer mehr ein, daß sie es in Bezug auf jene „Luftkrankheiten“ den Aerzten ganz gleich thun müssen, die sich am Krankenlager nicht lange den Kopf darüber zerbrechen, wie die Krankheit entstehen konnte oder weßhalb nun die zu erwartenden Folge-Erscheinungen sich aus den zu Tage getretenen Krankheitskeimen entwickeln werden; denn sie haben längst eingesehen, daß über der Lösung dieser letzten Probleme der Lebensthätigkeit nicht nur jener Patient, sondern die ganze leidende Menschheit leicht zu Grunde gehen möchte. Wenn Jemand wiederholt niest, so vermuthet er, daß er den Schnupfen bekommen wird, während es ihm der beste Arzt nicht sagen könnte, wie es eigentlich zugeht, daß der Mensch überhaupt niest und in welcher Wechselwirkung diese sonderbare Zuckung mit dem herannahenden Schnupfen steht. Ist dann letzterer mit gewohnter Pünktlichkeit erschienen, so kommt es uns gewiß nicht so sehr darauf an zu wissen, wo wir uns denselben geholt haben, als vielmehr, wie wir ihn am schnellsten wieder los werden.
Wenn nun zwar der Wetterdoktor die herannahende „Luftkrankheit“ nicht verhindern oder auf ihren Verlauf irgend welchen Einfluß üben kann, so ist es dagegen für die Menschheit von augenscheinlichster Wichtigkeit, ihren weiteren Fortgang genau im Voraus zu wissen, damit wir unser Gut und Leben bei Zeiten gegen die Wuth der entfesselten Elemente schützen können. Zu diesem Ende kommt es offenbar zunächst darauf an, eine möglichst große Menge von Wetterbeobachtungen anzustellen, welche als Symptome den äußeren Charakter der Krankheit in ihren verschiedenen Stadien bestimmen. Solche Beobachtungen sind in der That an vielen Orten der Erde theilweise schon seit einem Jahrhundert mit größester Regelmäßigkeit und Ausdauer angestellt worden. Es ist daher um so seltsamer, daß die Forscher angesichts des ungeheuern Materials von beobachteten Symptomen doch erst in jüngster Zeit, seit kaum fünfzehn Jahren, an die praktische Bearbeitung desselben herangetreten sind, indem sie zahlenmäßig zu beweisen versuchen, daß auf ein gewisses Zusammentreffen solcher Wettersymptome beispielsweise nach vierundzwanzig Stunden regelmäßig ganz bestimmte Wettererscheinungen zu Tage treten und man folglich aus dem Vorhandensein der Symptome den künftigen Verlauf des Wetters vorher zu sagen vermag, ohne deßwegen über den inneren Zusammenhang zwischen dieser Aufeinanderfolge von Erscheinungen, so sicher derselbe auch vorhanden ist, irgend etwas zu wissen.
Von der alten Schule der Meteorologen wurde zwar ein derartiges Vorgehen als ein Fischen im Trüben und der strengen [396] Wissenschaft unwürdig bezeichnet, welche das allgemeine Gesetz, „den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht“, aufzufinden strebt. Aber diese alten zugeknöpften Schulmeisterseelen übersahen es, daß jede Wissenschaft in ihrer Kindheit sich mit derartigen einfachen Erfahrungsregeln behelfen mußte. Das schlagendste Beispiel bietet hierzu die Astronomie, die älteste und am meisten entwickelte Wissenschaft. Bereits in grauer Vorzeit wußten die Chinesen und die Hindus Sonnen- und Mondfinsternisse ziemlich genau vorher zu sagen, weil sie in den Aufzeichnungen solcher auffälligen Erscheinungen in verflossenen Jahrhunderten eine gewisse Regelmäßigkeit bemerkt hatten, welche sie nun zur Vorausberechnung praktisch benutzen konnten, ohne eine Ahnung von der eigentlichen Ursache der Finsternisse zu haben. Später lernte man auf dieselbe Weise die Bewegungen der Planeten voraus bestimmen; Kepler verstand es, die große Menge der hierzu nöthigen Regeln in drei hauptsächliche zusammenzufassen, aber erst ganz zuletzt konnte ein Newton die allgemeine Erklärung für all diese Erscheinungen in dem einen großen Naturgesetze der Gravitation aussprechen.
Viertausend Jahre hat die Menschheit darüber nachgrübeln müssen, bis sie sich das „Warum“ der Himmelserscheinungen erklären konnte, die Meteorologie aber ist noch eine Wissenschaft im Kindesalter und kaum hundert Jahre alt. Wenn sie dennoch merkwürdig viel Erfolge zu verzeichnen hat, so kann man allerdings wohl auf das frühreife Kind stolz sein, aber man darf darüber doch nicht vergessen, daß wir es eben trotz alledem mit einem Kinde zu thun haben, welches nun einmal seine Flegeljahre durchmachen muß, ehe es zum thatkräftigen Manne werden kann.
Daß diese neue Symptomatologie des Wetters eine sehr verwickelte Aufgabe zu lösen hat, kann man sich leicht denken; denn gerade hier, wo man die eigentlichen Gesetze noch nicht kennt, kommt es darauf an, das rein Zufällige aus dem Regelmäßigen durch unbefangene und streng systematische Behandlung einer möglichst großen Anzahl von Fällen herauszusondern. Wenn man niest, so ist das bekanntlich nicht allemal ein Zeichen des herannahenden Schnupfens; es kann auch daher kommen, daß man in die Sonne gesehen oder wohl gar eine Prise genommen hat. Diese Nebenumstände müssen bei der Prognose also wohl berücksichtigt werden. Eben so wird das Fallen der Quecksilbersäule im Barometer nicht allemal von schlechtem Wetter gefolgt sein, obgleich dies wohl die Regel ist. Um hierüber zu entscheiden, muß der Wetterkundige ganz eben so wie der Arzt die begleitenden Erscheinungen auch bis in weitere Entfernungen hinaus in Untersuchung ziehen können, so weit eben die krankhafte Erscheinung zu Tage tritt. Man begreift, daß er hierzu die gleichzeitige Kenntniß der Barometerhöhe, der Temperatur, der Windrichtung und -Stärke etc. vieler weit entfernten Orte besitzen muß, was überhaupt erst zu ermöglichen war, seitdem die Erde mit einem vielverzweigten Telegraphennetze überzogen und letzteres bereitwilligst den Meteorologen zur Verfügung gestellt worden ist. Die täglich in den Zeitungen erscheinenden Wettertelegramme und Wetterkarten stellen also das ärztliche Bulletin vor, welches über den Gesundheitszustand unserer lieben Mutter Erde oder eigentlich nur ihrer äußersten luftigen Umhüllung das Nöthige aussagt oder die Krankheitssymptome angiebt, welche soeben aufgetreten sind.
Unter den Letzteren werden bekanntlich in erster Linie die Luftdruckminima genannt. Man hat gefunden, daß die meisten derselben im hohen Norden über dem amerikanischen Festlande entstehen, indem auf weite Strecken die Luft sich hier, aus nicht genügend aufgeklärten Gründen, ziemlich schnell verdünnt, und zwar derart, daß in der Mitte jenes Gebietes der geringste Luftdruck, der niedrigste Barometerstand, herrscht, um welchen centralen Punkt sich ringförmige Gebiete gruppiren, wo gradweise nach außen hin immer höherer Luftdruck konstatirt wird. Das Ganze sieht also etwa aus wie ein trichterförmiges Loch in der Atmosphäre. Es ist eine Wunde in der luftigen Hülle unseres Planeten, nach welcher sich nun, ebenso wie nach einer Wunde an unserem Körper, alle Lebenssäfte drängen, um dieselbe wieder zu heilen, und die umliegende Luft um so schneller hinströmt, je tiefer die Wunde ist. Wir begreifen also, daß sich in solchen Lufttrichtern Stürme entwickeln müssen, die um so heftiger sein werden, je größer die Vertiefung, also je geringer der Barometerstand im Centrum des Trichters, der sogenannten Cyklone, sich herausstellt. Es zeigt sich nun ferner, daß die einströmende Luft eine wirbelnde Bewegung annimmt, und für diese Wahrnehmung haben wir sogar schon den Grund erkannt. Um ihn zu erfassen, müssen wir uns vorstellen, daß der ganze Vorgang auf einem Weltkörper stattfindet, der sich um seine Achse von Westen nach Osten dreht. In Folge dessen müssen die Luftmassen über dem Erdäquator, wenn es für uns windstill sein soll, sich mit einer Geschwindigkeit von 463 Metern in der Sekunde bewegen, das heißt fünfmal schneller als der entsetzlichste Orkan, und so arg würde diese Luft für uns in der That fühlbar wüthen, wenn sie, ohne an ihrer ursprünglichen Geschwindigkeit etwas zu verlieren, in unsere Breiten oder gar bis zum Pol transportirt würde, weil bei uns die absolute Geschwindigkeit der Achsendrehung der Erde bereits viel kleiner, am Pole aber gleich Null ist. Wenn nun auf unserer Halbkugel eine Cyklone entsteht, so wird die Luft, welche von Norden her in dieselbe strömt, eine geringere Geschwindigkeit mitbringen, als das Centrum der Cyklone ursprünglich besitzt, und folglich nach Westen zurückbleiben. Im Norden des Trichters werden also nicht nördliche, sondern nordöstliche Winde wehen. Die von Süden eindringenden Winde haben dagegen eine größere Geschwindigkeit, als das Centrum, sie eilen nach Osten hin voraus, hier herrschen also südwestliche Winde. Ebenso findet man, daß im Osten vom Centrum südliche, im Westen nördliche Winde wehen müssen. Wir sehen leicht, daß dadurch eine wirbelnde Bewegung der Luftmassen um das Centrum herum entsteht, dessen Richtung derjenigen des Uhrzeigers entgegengesetzt ist, während die Cyklone der südlichen Halbkugel aus ganz denselben Gründen die umgekehrte Bewegung besitzen müssen. Da man für diese beobachtete Regel, wie wir sahen, schon die physikalische Erklärung gefunden hat, so darf man ihr den Titel eines Gesetzes der Stürme wohl verleihen und nennt dasselbe nach seinem Entdecker das Buijs-Ballot’sche Gesetz.
Die neue Richtung der meteorologischen Wissenschaft, welche ich vergleichsweise eine Symptomatologie des Wetters nannte und zu deren hervorragendsten Vertretern Dr. van Bebber, der Vorsteher derjenigen Abtheilung der deutschen Seewarte in Hamburg, welche mit dem Sturmwarnungs- und Prognosenwesen betraut ist, gehört, hat nun ferner feststellen können, daß die Cyklone, welche alle nicht über dem Orte ihrer Entstehung still stehen, sondern sich auf unserer Halbkugel immer nach Osten hin weiter bewegen, dabei ganz bestimmte Straßen einzuschlagen pflegen, von welchen die eine beispielsweise längs der warmen Golfströmung hinläuft, die den Atlantischen Ocean durchkreuzt und zwischen Skandinavien und Grönland sich im hohen Norden wieder verliert.
Van Bebber unterscheidet fünf solcher Hauptstraßen, und man kann mit ihrer Kenntniß sehr oft den künftigen Weg eines Sturmcentrums bestimmt voraussagen, wenn man nur seinen Anfang kennt. Dies ist aber offenbar von der allergrößten Wichtigkeit für die Aufstellung der Wetterprognosen für einen bestimmten Ort. Findet man beispielsweise, daß eine herannahende Cyklone am folgenden Tage wahrscheinlich nördlich von uns vorüberziehen wird, so sind nach dem Gesetze der Stürme offenbar südwestliche bis westliche Winde zu erwarten, deren Stärke nach der Tiefe der Depression und der Nähe ihres Centrums zu bemessen ist. Geht das Centrum über unserem Orte vorbei, so haben wir zunächst südliche Winde, die sich bis zum Orkan steigern, zu erwarten, dann verhängnißvolle Windstille, wenn das Centrum des Wirbels gerade über uns steht, denn hier stoßen die Winde allseitig auf einander und können nur nach oben entweichen. Der aufsteigende Luftstrom kommt in kältere Regionen der Atmosphäre, hier kann die Luft ihren Wassergehalt wegen der schnellen Abkühlung nicht mehr festhalten, schwarze Wolken entstehen und es beginnt heftig zu regnen, während plötzlich ein kräftiger Nordsturm anhebt, sobald die Cyklone nach Osten weiter eilt. Man begreift, wie sich alle diese Erscheinungen aus jenem Gesetze voraussagen lassen, und man versteht auch, weßhalb das Fallen des Barometers gewöhnlich schlechtes Wetter im Gefolge hat, denn die Quecksilbersäule in demselben giebt uns bekanntlich an, wie viel Luft sich jederzeit über uns befindet. Wenn das Quecksilber fällt, so zeigt es, daß sich über uns ein Loch in der Luft befindet, das immer größer wird; es nähert sich uns also eine Cyklone, wir werden südlichen Wind und Niederschlag bekommen. Manchmal kann man sich allerdings in dieser Beziehung wohl irren, der Luftdruck kann auch gelegentlich durch lokale Einflüsse etwas sinken. Die Wettertelegramme geben hier allein maßgebenden Bescheid, weil
[397][398] sie eine Cyklone und ihren Lauf schon von fern her signalisiren. Das Verhalten des Barometers ist nur als eine erwünschte Bestätigung für die faktische Annäherung des Centrums anzusehen.
So ist man also heute in den Stand gesetzt, auf Grund jener tausendfältigen Beobachtungen über den Zustand unserer Atmosphäre über weite Distrikte hin Wetterprophezeiungen auf einen oder selbst zwei Tage im Voraus zu liefern, welche in der Mehrzahl der Fälle eintreffen werden, obgleich wir über das „Warum“ der vorausgesagten Erscheinungen durchaus nicht immer im Klaren sind. Aus denselben Gründen der vergleichenden Symptomatologie könnte man eigentlich unseren uralten Wetterkenner, den Laubfrosch, oder unser in Wetterangelegenheiten merkwürdig hellsehendes Hühnerauge ganz wohl in den Bereich unserer Beobachtungen einschließen.
Es wäre gar nicht uninteressant, ziffermäßig zu konstatiren, in wie vielen Fällen das Hühnerauge oder die „alte Wunde, welche wieder schmerzt“, mit ihren Prophezeiungen Recht oder Unrecht gehabt hatten. Eine Erklärung für so seltsame Beziehungen können wir eben so wenig verlangen, wie wir solche für manche andere Resultate der praktischen Meteorologie anzugeben vermögen. Daß aber Theile des thierischen Organismus für atmosphärische Feuchtigkeit sehr empfindlich sind, beweisen die Wettermännchen, welche, an Sehnen gezogen, beim Wetterhäuschen aus- und eingehen, je nachdem es schönes oder schlechtes Wetter giebt, oder der sogenannte Haarhygrometer, ein Meßwerkzeug, das allen Meteorologen wichtige Dienste leistet nur durch die außerordentliche Empfindlichkeit des menschlichen Haares für den Feuchtigkeitsgehalt der Luft. Ehe wir indeß an solche Wetterprophezeiungen des Laubfrosches, der Hühneraugen etc. ernstlich glauben sollen, müssen eben ziffernmäßige Beweise deßwegen geliefert werden.
Ganz eben so oder noch viel bedenklicher verhält es sich mit jenen Privatwettermachern, welche ohne tiefere Kenntnisse der Sachlage aus dem zufälligen Erfolge vereinzelter Voraussagen nach Kräften Münze schlagen, die ungünstigen Fälle aber möglichst unerwähnt lassen. Diese Leute können die junge hoffnungsvolle Wissenschaft der Wetterkunde beim Publikum leicht in unverdienten Mißkredit bringen. Wir wissen heute wenigstens so viel mit Sicherheit, daß wir höchstens auf ein paar Tage im Voraus, und das durchaus nicht etwa mit vollkommener Sicherheit, das Wetter angeben können. Dasselbe aber im Kalender auf ein ganzes Jahr, oder, wie es letzthin von privater Seite geschah, auf einen Monat pränumerando (gegen dito Zahlung, was die Hauptsache dabei ist) zu bestimmen, das kann entweder nur ein Hexenmeister oder ein Charlatan.
Der tarpejische Felsen war in Rom dicht beim Kapitole, und so liegen auch im schauspielerischen Leben die Extreme, Erfolg und Mißerfolg, nahe beisammen. Der allen Schicksalsmächten preisgegebene Darsteller glaubt sich oft berufen, einen entscheidenden künstlerischen Trumpf auszuspielen. Die Aussichteu sind glückverheißend, die Hände greifen schon nach dem sicheren Lorbeer … aber sieh da, sämmtliche Berechnungen täuschten, das Facit bleibt ein Manko, denn (so schließt Laube seine Karlsschüler) der Erfolg ist Gottes Gericht!
Als zur Zeit der Intendantenwirksamkeit Dingelstedt’s in Weimar die ersten Aufführungen der sieben großen historischen Dramen Shakespeare’s, welche den Kampf der weißen und rothen Rose darstellen, geplant waren, und, um der geistvollen dramaturgischen Bearbeitung mit ihren gewaltigen Wirkungen auf das Publikum den größten Zuschauerkreis zu sichern, an Künstler und Kunstfreunde aller Orten feierliche Einladungen ergingen, wurde mir von Seiten des Intendanten der die Feierlichkeit einleitende Prolog anvertraut. Jedenfalls hätte ich mich dieser Ehre nicht zu erfreuen gehabt – da ich damals noch zur Kategorie der „talentvollen, jungen Anfängerinnen“ zählte und viel Würdigere und Gereiftere sich unter dem Schauspielpersonale Weimars befanden – wäre ich nicht das einzige Mitglied gewesen, welches in der Vorstellung des ersten Festtages, „Richard der Zweite“, unbeschäftigt blieb. „Nehmen Sie den Prolog mit Jemand durch!“ befahl Dingelstedt, „mir gebricht’s an Zeit; ich stecke bis über den Kopf in Arbeit; auf der Generalprobe höre ich Sie dann; studiren Sie mit einem Kollegen!“
Gut gesagt – aber welcher Kollege hatte jetzt Zeit, sich dieser Mühe zu unterziehen? Die ersten, wohlrenommirten Künstler Grans und Lehfeldt widmeten jede freie Stunde den Rollen, welche sie in den Historien übernommen hatten.
Ich erinnerte mich Gutzkow’s, der meinen künstlerischen Interessen immer freundlich gesonnen war, zuweilen ein Gläschen Chartreuse in meiner Wohnung annahm und mir erst unlängst ein dickes, ihm zur Beurtheilung übermitteltes Manuskript zurückgeschickt hatte, mit den allerdings etwas zweifelhaften Zeilen: „Der Sendung allerbesten Dank! Ich war seit letzter Zeit wieder recht melancholischer Laune, aber ihrer fünfaktigen Tragödie gelang es, mich in die heiterste Stimmung zu versetzen!“ Schadet nichts! sagte ich zu mir in jugendlichem Optimismus; man erobert sich die Kritik nur schrittweise; es ist immerhin ein kleiner Anfang gemacht! Als ich Gutzkow aber von dem Dingelstedt’schen Shakespeare-Prologe sprach, wies er mich mit einer Entschiedenheit ab, die bereits auf eine Animosität der beiden zeitgenössischen schriftstellerischen Größen Weimars deutete, indem er sagte: „Wenden Sie sich lieber an einen Andern; ich würde Ihnen wenig nützen; die Dingelstedt’schen Prologe haben nicht meinen Beifall, sie sind gar zu pomphaft! Reden Sie mit Herrn Genast!“
Ich ging nun zum alten Genast. Aber o weh! Dieser lag wieder mit geschwollenen Händen und Füßen an der langweiligen Gicht danieder. „Was?“ rief er aus, nachdem ich meine Bitte, den Prolog mit mir durchzugehen, bescheidentlichst vorgetragen, „ein sechs Seiten langes Dingelstedt’sches Gedicht und dabei – Reißen in allen Gliedern? Das ist zu viel! Doch beginnen Sie nur!“
Kaum aber hatte ich die ersten Verse gesprochen:
„O eine Feuermuse, die hinan
Zum höchsten Himmel aller Dichtkunst stiege!“
als mich der alte Herr auch schon kläglich mit dem Schmerzensrufe unterbrach: „Au, au! das verwünschte Zipperlein! Es steigt auch wie eine Feuermuse! Ein anderes Mal! Heute geht’s nicht!“ und so mußte ich – da die feierliche Shakespeare-Woche immer näher rückte – mich ganz selbständig an das Studium des Prologes machen.
Weimar füllte sich allmählich mit dem geladenen Festpublikum. Man erblickte im Parke wie in den Straßen die charakteristischen Physiognomien bedeutender Menschen, renommirter Journalisten, geistreicher Kunstdilettanten, großer Künstler.
Die Sorge um den Prolog trat nun bei mir ganz in den Hintergrund. Eine gewaltige Leidenschaft bemächtigte sich jetzt nämlich des größten Theiles der Bühnenmitglieder und auch meiner: man sammelte, angeregt durch die Anwesenheit so vieler Berühmtheiten in Weimar, aufs Eifrigste – Autographen! Meine Kollegen ergriff die bekannte „Stammbuchmanie“, und welch’ reizende Verschen, Epigramme, witzige Einfälle – alle von bedeutenden Federn niedergeschrieben – hatten sich auch wirklich schon in einzelnen Goldschnittsbüchelchen angesammelt! Vorzüglich excellirte Charlotte von Hagen, die liebenswürdigste aller Schauspielerinnen, welche in bewährter Freundschaft und Verehrung für Dingelstedt auch zu den Festaufführungen herbeigeeilt war, in Impromptus; sie zeichnete sich in den schauspielerischen Stammbüchern durch kleine launige und schmeichelhafte Einfälle ganz besonders aus. Unserem Regisseur Heinrich Grans schrieb sie z. B. nach den Vorstellungen auf ein Gedenkblättchen: „Empfangen Sie den aufrichtigsten Dank für den prachvollen ‚Grans‘ Shakespeare’scher Könige, den Sie uns dargereicht haben, und verzeihen Sie einen orthographischen Fehler meiner warmen Verehrung für Ihr Künstlerthum!“ Gott! tönte es in mir, zehn Jahre meines Lebens gäb’ ich darum, ein solch schmeichelhaftes, schriftliches Wort von Charlotte von Hagen zu besitzen! So oft ich aber auch mit der Künstlerin zusammentraf, nie wagte ich mich mit einer Bitte heraus, dieses Autograph blieb die geheime Sehnsucht meines Herzens.
Endlich kam der Tag der ersten Vorstellung und des Prologs: offen gestanden, fühlte ich mich recht unsicher; auf der Vormittagsprobe arbeitete der Souffleur meinetwegen noch mit vollen Lungen, und Dingelstedt ermahnte in seiner kurzen, herrischen Weise: „Prolog muß fester lernen! Noch durchlesen! Nicht immer Hilfe im Kasten suchen!“
Ich hatte als Muse, im weißwollenen Gewande, geschmückt mit einem grünen Lorbeerkranze zu erscheinen; der Letztere sollte durch die herzogliche Hofgärtnerei geliefert werden, aber – o Himmel! als mir am Abende, eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung mein Kopfschmuck in der Theatergarderobe überbracht wurde, erblickte ich das grauenhafteste Ungethüm von Formlosigkeit! Es war ein thurmhoher, grüner, undefinirbarer Wulst, welcher etliche Dutzend Kaninchen gesättigt hätte, wären seine Blätter nur der edlen Kohlart entstammt! Kein Orpheus der bekannten Operette würde jemals mit einer solchen Lorbeerkarikatur nach der Unterwelt gestiegen sein!
Ich brach in Thränen aus; aber was half’s? Das letzte Klingelzeichen hatte man bereits gegeben; ein anderer Kranz war nicht zur Stelle; ich mußte hinaus, und in dem ärgerlichen Bewußtsein, ein förmliches Ungeheuer von Gewinde auf dem Kopfe zu tragen, ohne jegliche Sammlung, mit dem beängstigenden Gefühle, vor einer ganz auserlesenen kritischen Versammlung zu sprechen … schritt ich todesmuthig – nach des Verfassers Vorschrift – mit zum Himmel erhobenen Armen, in heftiger Erregung, schnell aus der ersten Koulisse rechts, vor bis an die das Podium säumenden Lampen … und begann mit folgenden begeisterungsvollen Worten meinen Prolog:
O, eine Feuermuse, die hinan
Zum höchsten Himmel aller Dichtkunst stiege!
Ein Reich zur Bühne – Kön’ge drauf zu spielen!
Dann – – dann – – dann – –
Weiter kam ich nicht! Nach diesen drei vergeblichen Ansätzen blieb ich, unter beginnender Todesangst und perlenden Schweißtropfen, stecken, vollkommen stecken; mir fiel buchstäblich keine Silbe mehr ein!
[399] – – – Lieber Leser, kannst du dir vorstellen, was bei Schauspielern „Steckenbleiben“ bedeutet?
Steckenbleiben entwickelt sich stufenweise! Es ist zuerst nur das plötzliche Vergessen eines Wortes; dann wird es durch Schreck verursachte Lähmung des Erinnerungsvermögens, ferner Aufhebung aller Verstandeskräfte … schließlich, im letzten Stadium, Hilflosigkeit neugeborener Kinder. Ein unsichtbarer Dämon ist schnell in die feinen Triebräderchen unserer Gehirnthätigkeit mit einem Halt! eingesprungen; das Gedächtniß ist geschwunden! Ganz geschwunden! Jede Erinnerung!
Ich hörte nichts mehr! Nicht die Stimme des Souffleurs im Kasten nicht die Stimme Dingelstedt’s in der Loge, nicht die Stimme des Regisseurs in der ersten Koulisse; Alle bemühten sich vergeblich, mir die fehlenden Worte laut und vernehmlich, vernehmlich für das ganze Publikum, zuzurufen!
Ich blieb momentan taub! Es war ein so ausgesprochenes, so vollkommenes Steckenbleiben, wie nur eines in den Annalen der schauspielerischen Unglücksfälle verzeichnet sein kann! –
Wie lange die Pause währte, bis ich wieder zum Bewußtsein kam und in der Recitation des Prologs fortfuhr:
„Dann stiege wohl der Geist des großen Todten
Zu uns hernieder“ u. s. w. u. s. w.
wußte ich selbst nicht zu beurtheilen; ich glaube – sie war so lang wie der Tag vor Johanni; denn Dingelstedt versicherte mir später: die Birch-Pfeiffer wäre im Stande gewesen, während meiner Pause einen Roman zu dramatisiren, und Eugen Sue, die „Geheimnisse von Paris“ zu schreiben!
Wer war unglücklicher als ich! Eine große schauspielerische Auszeichnung war mir durch Anvertrauung des Prologes zugedacht; ich trug eine Fülle von Lorbeern auf dem Haupte, die schon allein ruhmverheißend sein mußte; Keiner im Publikum zweifelte, daß ich mich mit meinen auch in Weimar geschätzten, vielversprechenden Qualitäten eines jungen Talentes überaus günstig der gewordenen Aufgabe entledigen würde – und doch, so nahe beim Kapitole ward mir der tarpejische Felsen! Eine moralische Zerschmetterung!
Nach Schluß des Prologes und nach dem Fallen des Vorhanges applaudirte man stürmisch. Dingelstedt stand bereits in der ersten Koulisse und rief mir zu: „Wenn aufgezogen wird, verbeugen Sie sich mit einer sehr deutlichen Handbewegung nach meiner Loge hin!“
Ich verstand ihn wohl; das sollte heißen: der Hervorruf gilt nicht Dir! Der Dank des Publikums richtet sich selbstverständlich heute nur an die Adresse des Autors. O weh!
Am andern Tage sprach Alles von dem fürchterlich dicken Lorbeerkranze und dem fürchterlichen Steckenbleiben. Mein Gott! Für den ersteren war der Hofgärtner verantwortlich, und was das Steckenbleiben anbelangt – je nun! ich will den erdgebornen Schauspieler sehen, der sich so frei fühlt, den ersten Stein auf mich zu werfen. Ich ging allerdings eine Zeit lang allen Bekannten wiederum aus dem Wege.
Aber Charlotte von Hagen, die liebenswürdige, theilnehmende Künstlerin, sandte mir nach der Prologaffaire eine kleine Visitenkarte mit folgenden Worten:
„Verzweifeln Sie nicht! Es kann Einem ja nichts Besseres passiren – als in so viel Lorbeeren stecken zu bleiben!“
Ich hatte nun plötzlich mein Autograph! Ob es mich aber so ganz mit Genugthuung erfüllte? Diese Frage habe ich immer – auch für mich – offen gehalten!
Blätter und Blüthen.
Ausstellung der Adressen zu Kaiser Wilhelms 90. Geburtstage. In dem prächtigen Berliner Kunstgewerbemuseum, welches mit seinen großen Schätzen alter und neuer Vorbilder eine Hauptstelle unter den Sehenswürdigkeiten der Reichshauptstadt einnimmt, waren vor einiger Zeit die sämmtlichen Adressen der deutschen Städte und Genossenschaften ausgestellt: vier große Gestelle voll der reichsten und mannigfachsten Bände, Mappen, Schreine, Pergamenttafeln, die fortwährend von Zuschauern umdrängt wurden. Die Mitte des Ganzen nimmt ein origineller, mehr als mannshoher Aufbau ein; auf reichdrapirtem Sammtsockel erhebt sich eine prachtvolle gotische Holzarchitektur mit der Inschrift: „Dem erhabenen Baumeister des Deutschen Reiches gewidmet von den vereinigten deutschen Baumeistern.“ Eine goldene Germania thront unter dem Baldachin, dessen gothisches Dach überragt wird von den farbigen Reichsstandarten und dem Adler. Farbige Frucht- und Blumenthürme umziehen den reichen Bau, dessen vier Ecknischen von kraftvollen Männergestalten, Bauhandwerkern mit ihrem Geräth, ausgefüllt werden.
Reizend stellt sich die Gabe der „Frauen und Jungfrauen von Wiesbaden“ dar: im reichen moosgrünen Plüschrahmen, auf einer sechs Fuß hohen Staffelei, die ganz aus lebenden Rosenkränzen gebildet ist, ein liebliches Aquarellbild, eine Jungfrau im Rosenhag vorstellend, die dem Kaiser den Kranz entgegenreicht. Amoretten spielen in den Zweigen und tragen hoch oben die Kaiserkrone.
Gegenüber ragt ein schwerer Schrein aus Eichenholz, dessen rother Sammtgrund eine kostbare Pergamenttafel umschließt mit der Widmung des Großlogenbundes. Sie ist umrahmt von reichstem gothischen Goldornament und Lorbeerzweigen mit goldenen Früchten.
Wahre Prachtbände, Meisterwerke deutscher Buchbinderei, umschließen die künstlerisch ausgestatteten Adressen der deutschen Bühnenangehörigen, der Kölner Frauen und Jungfrauen (Pergament mit edelster Randpressung und silbergetriebener Germania), der Stadtbehörde Breslau (gelbe Seide mit Malerei, reich gesticktem Ornamentrand und schweren Schmuckrosetten).
Die Adressen der Kunstakademien von München, Frankfurt, Karlsruhe, Weimar u. a. O. sind einfacher in der Ausstattung, dagegen meist mit Aquarellbildern von Künstlerhand geziert.
Ein wirkliches Kunstwerk von Metallarbeit ist auch das ganz eigenartige Geschenk der Stadt München: eine reiche Emailtafel im Renaissancegeschmack, welche die Inschrift trägt, nach Art eines Altarblattes mit Thüren zu schließen, die, in Silber getrieben und vergoldet, prächtige Ornamentfiguren zeigen. Ein herabhängendes köstliches Siegel von Krystall in edelster Fassung bildet den Abschluß des höchst originellen Werkes.
Unter dem vielen Kunstvollen sei zum Schluß noch Eins hervorgehoben, eine eben so sinnige als liebliche Gabe aus dem badischen Schwarzwalde. Es ist eine freistehende Uhr im Holzgehäuse, mit verschiedenen Zifferblättern, die alle umrahmt sind von reizenden Malereien auf Goldgrund, ländliche Embleme zeigend, auch zwei schmucke Schwarzwälderinnen, welche die Huldigung darbringen. Unten steht die herzenswarme Inschrift:
„Ein Schwarzwaldkind, geschmückt mit Kränzen,
Spricht heute Dir von neunzig Lenzen;
Es mißt die Uhr mit sicherm Schlag
Des Kaisers Fest, des Volkes Jubeltag.
Fortan nur frohe Tage soll sie zeigen,
Doch siegend über alle Zeit
Bleibt Ihm die Liebe, Treue, Dank zu eigen
In Ewigkeit!“
Nachklänge zur Uhland-Feier. In der von Karl Emil Franzos herausgegebenen Zeitschrift „Deutsche Dichtung“ finden sich 31 Lieder und Epigramme Uhland’s, welche weder in den bisherigen Sammlungen des Dichters, noch in der Cotta’schen Jubiläumsausgabe, noch in einer seiner Biographien enthalten sind. Darunter giebt es sehr werthvolle Liederspenden, wie z. B. das folgende schöne Gedicht:
Naturfreiheit.
Leben, das nur Leben scheinet,
Wo nicht Herz, nicht Auge spricht,
Wo der Mensch zur Form versteinet,
Machst du ganz mein Herz zu nicht’?
Die mich oft mit Trost erfüllet,
O Natur, auch du so leer?
Tief in Schnee und Eis gehüllet,
Blickst du frostig zu mir her.
Hör’ ich nur ein Waldhorn klingen,
Hör’ ich einen Feldgesang:
Rühret gleich mein Geist die Schwingen,
Fühlt der Hoffnung frischen Drang.
O Natur, voll Muttergüte,
Gieb doch deine Kinder frei,
Sonnenstrahl und Quell und Blüthe,
Daß auch ich gerettet sei!
Mit den Lüften will ich streifen
Rauschend durch den grünen Hain;
Mit den Strömen will ich schweifen
Schwimmend in des Himmels Schein;
In der Vögel Morgenlieder
Stimm’ ich frei und fröhlich ein:
Alle Wesen sollen Brüder,
Du, Natur, uns Mutter sein!
Ein Werk von Georg Hassenstein: „Ludwig Uhland. Seine Darstellung der Volksdichtung und das Volksthümliche in seinen Gedichten“ (Leipzig, Karl Reißner) verdient ebenfalls als ein Beitrag zum Uhlands-Jubiläum betrachtet zu werden. Der Verfasser sucht die volksmäßigen Bestandtheile der Uhland’schen Dichtungen nachzuweisen und giebt Uhland’s Abhandlung über die deutschen Volkslieder im Zusammenhang, aber mit Ausschluß alles speciell Gelehrten wieder, um Freunde des Meisters auf die Schätze wahren dichterischen Genusses hinzuweisen, die auch in seinen wissenschaftlichen Abhandlungen enthalten sind.
Auch das im Stuttgarter Hoftheater aufgeführte Festspiel zur Uhland-Feier von Friedrich Theodor Vischer ist jetzt im Druck erschienen (Stuttgart, Adolf Bonz u. Comp.). Der Genius Schwabens, der Genius Deutschlands, der Genius der Menschheit feiern den Dichter und krönen am Schluß gemeinsam seine Büste. Von den schwunghaften Versen führen wir die folgenden an, welche dem Genius Schwabens in den Mund gelegt sind:
„Bei Dir sein, Deinen Lebenshauch verspüren,
Heißt athmen in gesunder freier Luft,
Heißt Balsamduft in Fichtenwäldern trinken.
Du Braver, Laut’rer, Ungebroch’ner, Ganzer!
Du Mann, von dem man sagen darf: sein Leben
Liegt vor uns wie ein unbeflecktes Tuch!
O selten in der argen Welt und herrlich,
Wenn eine Seele wie ein Kind so rein,
So schlicht, so mild, so innig und so keusch,
So liederreich, von Feeenhand gesegnet,
Des Lebens herben, undurchsicht’gen Stoff
In Rosenlicht des jungen Tags zu tauchen,
Mit Dämmerschein des Mondes zu umweben,
Mit sinnigen Gedanken zu durchwirken –
Wenn diese Seele stark ist wie von Stahl,
Wenn Mark der Menschheit nicht im Liede nur,
Auch in der That sich offenbart und draußen
Im Lebenskampf, im Ringerkampf ums Recht
Nicht wankt und weicht und schmerzlich Opfer bringt.“ †
[400] Erste Schritte. Die Litteraturgeschichte aller Nationen ist reich an merkwürdigen Beispielen für die Tragik des Kämpfens und Ringens der Dichter, und es zeigt sich fast immer, daß die Götter vor den Erfolg nicht nur den Schweiß, sondern auch die Enttäuschung gesetzt haben. Ja, man kann sogar behaupten, daß die meisten Autoren, die später zu hohem Ansehen gelangten, am Beginn ihrer Karrière mit einem exemplarischen Mißerfolg debütirten. So erging es Sardou, dessen Drama „La Taverne des Etudiants“ erbarmungslos ausgepfiffen wurde. Der Autor selbst hat dieses Stück später als seine größte Jugendsünde bezeichnet, aber das Fiasko brachte ihn nicht außer Fassung; einem Freunde schrieb er einmal darüber: „Das Pfeifen entmuthigte mich nicht, es zeigte mir deutlich die Fehler des Stückes. Das Theater erfordert Bewegung, Leben, Leidenschaft; meine Arbeit hatte nichts davon. Ich studirte nun Nächte, Wochen, Monate, studirte Alles, was zu einem Theaterstück gehört, und ich habe das Geheimniß dieses wunderbaren Organismus ergründet, in welchem das kleinste Rädchen seine Funktion hat wie im menschlichen Organismus.“
Noch ärger erging es dem fruchtbaren Scribe, dessen erstes Stück „Le dervis“ den Reigen der Durchfälle eröffnete, von welchen Scribe’s dramatische Thätigkeit vier Jahre lang begleitet war, bis endlich 1816 „Une nuit de la garde nationale“ eine Jahrzehnte währende Periode großer Erfolge einleitete. Auch der gefeierte Dumas père empfing seine erste Tragödie aus den Händen des Sekretärs vom Théâtre Français zurück; zur Aufführung des Dramas „Christine de Suède“ kam es gar nicht. Nicht besser erging es Augier mit seiner Erstlingsarbeit „La Cigue“. Merimé verschaffte seinen geistvollen Komödien erst Gehör, als er sie für „Uebersetzungen aus dem Spanischen“ ausgab und sogar eine spanische Schauspielerin Clara Gazul erfand, der er die Urheberschaft zuschrieb.
Die ersten Novellen Daudet’s und sein erster, später mit großem Beifall gelesener Roman wurden von Zeitschriften zurückgewiesen. Dasselbe Loos erlebten Feuillet und Théophile Gautier; auch ihnen wurden ihre ersten Arbeiten von den Redaktionen als unbrauchbar zurückgeschickt. Walter Scott erzielte mit seinen metrischen Uebersetzungen von Bürger’s Balladen keinen Erfolg, und mit dem meisterhaften Roman „Vanity fair“ ging Dickens[WS 2] lange Zeit in London bei den Verlegern hausiren. Auch der berühmte Roman „Jane Eyre“ ist von verschiedenen Verlegern zurückgewiesen worden. Die Verfasserin Currer Bell hatte bereits alle Hoffnung verloren, als Smith Elder und Kompagnie den Werth der Arbeit erkannten und mit Enthusiasmus an die Herausgabe der oftverschmähten Arbeit schritten.
Auch den deutschen Dichtern ging es zum großen Theil nicht besser, als sie ihre ersten Schritte thaten; die Litteraturgeschichte giebt darüber Aufschluß. Die gefeiertsten Dichter, die später die Poesie und den Geschmack des Publikums kommandirten, blicken auf dornenvolle Anfänge zurück, und gewöhnlich hieß auch hier die erste Station auf dem Passionsweg des deutschen Poeten „Mißerfolg“.
Eine arabische Tänzerin. (Mit Illustration S. 389.) Alle orientalischen Völker lieben den Tanz nicht wie wir als ein geselliges Vergnügen, sondern als Schauspiel. Der Orientale tanzt nicht, er läßt sich etwas vortanzen, eine „Fantasia“, wie es dort heißt. Von den kleinasiatischen Küsten des Mittelmeeres, von Aegypten, Tunis, Marokko bis in die ehemals von Mauren bewohnten Gebiete des christlichen Spaniens hinein unterhält der Tanz das zuschauende Publikum. Sind es in Granada Zigeunerinnen, die solch Schauspiel für Geld ausführen, auf den Oasen der Sahara braune Weiber mit lose um den Körper flatternden Gewändern, so sehen wir in den von Arabern reinen Schlages bewohnten Gebieten die Alméen durch solche Produktionen das Publikum unterhalten. Prächtige Frauengestalten mit Köpfen von reinster Rassenschönheit, das blauschwarze Haar mit Münzen und Schleiertüchern geschmückt, den üppigen Leib von leichter, loser Gewandung halb umhüllt, überragen diese Alméen an Liebreiz, Grazie und Schönheit weit jene Biskris und die Zigeunerinnen des Albaycin. Ihre Kunstübung aber ist im Wesentlichen überall die gleiche. Im Kaffeehause hocken die Männer rings an den Wänden auf Polstern. Schweigend rauchen sie aus langen Pfeifen; schweigend schlürfen sie den wundervollen schwarzen Kaffee; kein Wort des Gespräches zerstreut sie, die Unterhaltung erwarten sie von außen her. Diese beginnt mit einer gräulichen Musik von schrillem Blech und dumpfen Trommeln. Die Tänzerin erscheint in der freien Mitte des Raumes, meist allein, manchmal in Begleitung eines braunen Mannes oder einer weiblichen Gefährtin.
Die Fantasia nimmt ihren Anfang. Der Tanz führt diesen Namen mit Recht, denn es ist kein Tanz, sondern ein wohliges Dehnen, Wiegen, Schaukeln des Oberkörpers, ein sinnliches Locken und Haschen. In kurzen Bewegungen zuckt der üppige Körper, schnellt empor, zieht sich schnell wieder zusammen, während das Gesicht niemals seine träumerische Ruhe verliert; nur die feucht schwimmenden Augen richten sich in mattem Glanze auf das Rund der Zuschauer, die, durch das Schauspiel aus ihrer Apathie erweckt, mit leuchtenden Blicken die in der That fesselnden Bilder verschlingen. Die Almée ermattet scheinbar, die schönen Glieder werden schlaff, die Arme sinken am Körper herab. Dies dient zum Signal, um der Tanzenden Münzen verschiedenen Werthes auf den Teppich zu werfen, der den Fußboden deckt. Schnell rafft sie die Gaben zusammen, grüßt leise rings umher und verschwindet, um im nächsten Kaffeehause das gleiche Schauspiel vorzuführen. Die Almée tanzt jedoch nicht nur in Kaffeehäusern; man entbietet sie in die Wohnungen der Vornehmen und Reichen. So sehen wir sie offenbar auf unserem Bilde: das bezeugen die Teppiche auf den Sitzen, die Säulen und Vorhänge im Hintergrunde. Sie scheint gleichgültig die Castagnetten, ihre kleinen Waffen zu prüfen, wie der Kämpfer die seinigen vor Beginn des Kampfes. Doch das ist nur Spiel, künstliche Apathie, aus der sie plötzlich emporschnellt; das Auge belebt sich, Feuer scheint ihre Adern zu durchströmen, sobald sie tanzt. Das wiederholt sich an jedem Abend, nicht nur in größeren Städten, sondern überall bis in die Palmenwälder der Sahara-Oasen. Nur Typus, Rasse und Erscheinung der orientalischen Tänzerinnen sind verschieden und unter allen nimmt die Almée, die wir nur im Osten, in Aegypten, in Arabien finden, an Grazie, Schönheit und Vornehmheit den ersten Rang ein.
Meyer’s Volksbücher. Die stehende Redensart von den hohen Bücherpreisen in Deutschland hat jedenfalls bezüglich der klassischen Werke ihre Berechtigung verloren. Schon allein durch die treffliche Cotta’sche „Bibliothek der Weltlitteratur“ ist für eben so vorzügliche wie billige Ausgaben der Klassiker – und nicht bloß der deutschen – gesorgt. Eine neue billige Ausgabe der klassischen Schriften aller Nationen und Zeiten bringt gegenwärtig das Bibliographische Institut in Leipzig unter dem Titel: „Meyer’s Volksbücher“, in Heftchen zum Preise von je 10 Pfennig. Von dem empfehlenswerthen Unternehmen sind bis jetzt gegen 200 Nummern erschienen, welche sehr gefällig ausgestattet und durch ihre Billigkeit auch dem Unbemitteltsten zugänglich sind. **
Weiß: | Schwarz: |
1. T g 4 – g 2 ! | e 5 – e 4 ! |
2. f 3 – e 4 : † | K d 5 – e 4 : (e 5) |
3. T g 2 – e 2 (g 5) matt. |
Kleiner Briefkasten.
Anfrage. Wer kann ein zuverlässiges Mittel angeben, wie man Ameisen aus Küche und Zimmer vertreibt?
B. K. in W. Sie wollen in Paris Arbeit suchen. Wir möchten Ihnen davon abrathen. Der deutsche Hilfsverein zu Paris erläßt wiederum einen Warnungsruf, daß nicht so viele Deutsche aufs Gerathewohl sich nach Paris begeben möchten. Die gegenwärtigen Verhältnisse, heißt es in dem neuesten Jahresbericht des Vereins, liegen hier derart, daß es nur in einzelnen Ausnahmefällen solchen Leuten gelingt, Arbeit zu finden. Die weitaus größte Mehrzahl findet sie nicht, kommt beinahe mittellos hier an und fällt sofort dem Hilfsverein zur Last. Dieser aber ist außer Stande, mit seinen unzureichenden Mitteln und gegenüber den von allen Seiten an ihn gestellten Anforderungen, denselben die nöthige und erwünschte Hilfe zu bringen.
Rosenfreund in B. Es ist eine altbekannte Thatsache, daß durch das Bespritzen der Rosenstöcke mit Laugen-, Seifenwasser und Tabakaufguß eine radikale Abhilfe der Plage der Blattläuse nicht erzielt wird. Die Eier der Insekten trotzen diesen Mitteln und nach kurzer Zeit sind die gelichteten Scharen der Rosenfeinde wieder vollzählig. Besser ist in der Wirkung das Naphthalin. Kleinere Blumenstöcke stellt man behufs der Vertilgung von Blattläusen unter eine Glasglocke mit einigen Streifen Papier, welches in Naphthalinlösung getaucht wurde. – In ein bis zwei Stunden sind die Insekten getödtet. Länger darf man aber die Pflanzen dem Einfluß des Naphthalins nicht aussetzen, da dasselbe sonst die Blätter angreift. – Im Freien wickelt man die am meisten betroffenen Stellen der Stöcke mit Naphthalinpapier ein und vertheilt kleine Stückchen desselben über die Pflanzen sowie am Erdboden unter denselben. Auch dieses Mittel bringt im Freien nur Minderung des Uebels für längere Zeit und muß darum wiederholt angewandt werden.
R. Pf. in M. Nach dem Werke „Der deutsch-französische Krieg 1870/1871. Redigirt von der kriegsgeschichtlichen Abtheilung des großen Generalstabes“ betrug die Gesammtsumme der Verluste der deutschen Armee 6157 Officiere und Officierdienstthuende, 123453 Mannschaften. Als „todt oder in Folge der Verwundung gestorben“ sind verzeichnet 1871 Officiere und 26397 Mannschaften, als „verwundet“ 4184 Officiere und 84304 Mannschaften, als „vermißt“ 102 Officiere und 12752 Mannschaften. Außerdem finden sich noch in der Verlustliste verzeichnet 6 Oberstabsärzte, 1 Regimentsarzt, 30 Stabsärzte, 1 Feldarzt, 36 Assistenzärzte, 7 Unterärzte, 4 Feldgeistliche, 3 Zahlmeister, 1 Intendanturbeamter, 1 Proviantbeamter. Der Verlust an Beamten im Feld-Eisenbahndienst betrug 34 Personen. Bei Unglücksfällen auf den Eisenbahnen wurden 14 Beamte getödtet und 17 verwundet.
K. M. in Braunschweig. Einen Artikel über Karl Sontag finden Sie im Jahrgang 1877 der „Gartenlaube“ (S. 381) unter dem Titel „Ein Humorist der Bühne und der Feder“. Demselben ist ein Bild Sontag’s beigegeben, welches den Künstler als Bolingbroke in Scribe’s „Ein Glas Wasser“ darstellt.
Inhalt: Götzendienst. Roman von Alexander Baron v. Roberts (Fortsetzung). S. 385. – Gut Wetter! Illustration. S. 385. – Jagdleben im Hochland. Geschildert von Ludwig Ganghofer. 1. Auerhahnfalz. S. 392. Mit Illustrationen S. 392, 393 und 397. – Wetterprognosen. Von M. Wilhelm Meyer. S. 395. – Ein Autograph. Bühnenerinnerung von Marie Knauff. S. 398. – Blätter und Blüthen: Ausstellung der Adressen zu Kaiser Wilhelm’s 90. Geburtstage. S. 399. – Nachklänge zur Uhland-Feier. S. 399. – Erste Schritte. S. 400. – Eine arabische Tänzerin. S. 400. Mit Illustration S. 389. – Meyer’s Volksbücher. S. 400. – Schach. S. 400. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 368. S. 400. – Kleiner Briefkasten. S. 400.
- ↑ Malheur pour nous, pour vous, pour tout le monde! – Redensart der Franzosen Anno 1870.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Franz von Kobell: Auerhahnfalz, in: Wildanger, Stuttgart 1859, S. 362–363 Google
- ↑ Nicht Dickens, sondern Thackeray schrieb Vanity Fair.