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Ein Humorist der Bühne und der Feder

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Textdaten
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Autor: J. J.
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Titel: Ein Humorist der Bühne und der Feder
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 381–382
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[381]
Ein Humorist der Bühne und der Feder.

Karl Sontag, als Bolingbroke in „Ein Glas Wasser“.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Der gefeierte Schauspieler Sontag in Hannover schrieb bekanntlich ein Buch: „Vom Nachtwächter zum türkischen Kaiser. Bühnen-Erlebnisse aus dem Tagebuche eines Uninteressanten". In diesen Erinnerungen spricht er über alle Verhältnisse derjenigen Theater, denen er angehörte, in der ungeschminktesten Weise. Viele Bühnen sind es nicht. Nur vier Theatern hat Sontag während seiner Carrière angehört: Dresden, Wien, Schwerin, Hannover. Das Buch machte Sensation; es erreichte in vier Monaten drei Auflagen, und die gesammte Presse ist demselben geneigt. Heinrich Laube, Paul Lindau, Rudolf Gottschall, Hackländer, Ludwig Hartmann, Emil Bürde, Karl von Holtei, Otto Devrient, Franz Wallner, Adolf Schwarz und hundert Andere vereinigten sich zu einer Stimme in der Behauptung: „Das Buch ist ein werthvoller Beitrag zur Geschichte des deutschen Theaters.“ Anderer Meinung sind der Intendant und fünfzehn Mitglieder des Hoftheaters. Der Intendant beantragt in Berlin auf Grund von fünfzehn bis sechszehn verfänglichen Stellen Sontag’s Entlassung. Kaiser Wilhelm schlägt das Gesuch ab. Sontag ist beliebt bei Kaiser Wilhelm, trotz seiner Anhänglichkeit an seinen ehemaligen König Georg den Fünften oder, wenn wir unsern erhabenen Kaiser richtig beurtheilen, vielleicht gerade wegen dieser Anhänglichkeit. Zudem hat Sontag bei jedesmaliger Anwesenheit des Kaisers in Hannover seine bedeutendsten Leistungen vorgeführt, und außerdem ist die Achtung und Verehrung bekannt, die das ganze Haus Hohenzollern [382] für Sontag's berühmte Schwester Henriette hegte, welche als Gräfin Rossi in Berlin – ihr Gemahl war als Gesandter daselbst accreditirt – durch viele Jahre eine hervorragende, tonangebende Stellung einnahm. Von Berlin kam ein Rescript, worin bedeutet wurde, Sontag nach dem Gesetze zu strafen. Da war nicht mehr herauszuklügeln, als eine kleine Geldstrafe; dieser war Sontag allerdings verfallen, denn das Gesetz verbietet öffentliche Besprechung des eigenen Theaters. Jetzt erklären aus der großen Corporation des Hannoverschen Theaters fünfzehn Mitglieder (und nicht eines mehr) in einem Briefe an Sontag: „Du hast die Collegialität verletzt; wir werden den contractlichen Verkehr aufrecht erhalten, den Privatverkehr jedoch abbrechen.“ Sofort kommt eine Gegenerklärung hochkomischer Art: Die gestrige Erklärung müsse auf einem Mißverständnisse beruhen; man könne nicht abbrechen, was nie bestanden habe. Er habe gerade mit diesen Mitgliedern nie verkehrt. Nun brachte man in Umlauf, das Publicum sei durch einzelne Stellen des Buches ebenfalls verletzt worden; die Stimmung der ganzen Stadt sei eine feindliche, und es stehe dem sonst so beliebten Künstler bei seinem Auftreten eine empfindliche Demonstration bevor. Sontag trat als Oranien in „Egmont“ auf. Orkanartig brauste ihm der Beifall entgegen und wollte nicht enden. Das Publicum, wissend, daß Hetzereien einzelner Persönlichkeiten die Demonstration veranlaßt, brach bei einer bezüglichen Stelle Egmont's: „daß anderer Menschen Gedanken doch solchen Einfluß auf uns haben!“ in Beifall und Gelächter aus. Nochmalige Erklärung der betreffenden Fünfzehn: „Sie könnten nun auch den contractlichen Verkehr nicht mehr aufrecht erhalten und mit Sontag nicht mehr auftreten.“ Der Intendant von Bronsart, anstatt seine Autorität zu wahren, einen solchen Uebergriff energisch zurückzuweisen und über den Parteien zu stehen, trat auf die Seite der Gegner und unterstützte ein Gesuch, welches nun in Berlin in oben erwähntem Sinne gestellt wurde. Dort befahl man, einstweilen die Stücke zurückzulegen, in denen Sontag beschäftigt sei, bis von ihm selbst irgend ein Schritt gethan werde. Dieser geschah nicht. Die Saison verging, ohne daß er in den neun Monaten ein zweites Mal aufgetreten wäre. In kleinlicher Weise verweigerte man ihm Urlaub, und nur den contractlichen konnte man ihm nicht rauben. Der an Hannover gefesselte Florestan-Sontag konnte singen:

„Wahrheit wagt' ich kühn zu sagen,
Und die Ketten sind mein Lohn.“

Im zweiten Jahre war man milder und lockerte die Ketten. Man gab ihm Urlaub in freigebigster Weise. Jetzt ist er ganz frei und wird nur gastiren. Das deutsche Theaterpublicum wird es den Fünfzehn danken, daß ihm der Genuß, Sontag zu sehen durch ihre Beihülfe nun häufiger zu Theil wird. Aber starr steht man einer Leitung gegenüber, die sich von einem kleinen Bruchtheile des Personals gängeln läßt, der einen satirischen Ausfall in einem Buche als „uncollegialisch“ bezeichnet und sich nicht entblödet, in der „Collegialität“ selbst so weit zu gehen, einen langjährigen Collegen um Stellung und Pension zu bringen. Doch innigen Dank Denen, die zu einer That verhalfen, deren Unterlassen bisher unbegreiflich war!

Wer die fast herzlichen Beziehungen Sontag's zu König Georg dem Fünften kennt, wird begreifen, daß ein Künstler wie dieser sich einem Theater dauernd erhält, das damals ein ganzes Firmament erster Sterne vereinigte. Aber daß Sontag auch in den letzten Jahren blieb, in welchen diese Sterne schnuppenartig bis auf wenige verschwanden, das ist nicht begreiflich, zumal der Gehalt, wie wir lesen, ein verhältnißmäßig kleiner war, der mehrfach von Stadttheatern überboten wurde. Anhänglichkeit an die Stadt Hannover ist es, so sagt man, und dem muß so sein; denn er hat sie jetzt zu seinem Domicil gewählt.

Von einer Biographie Sontag's stehen wir ab – wer sie lesen will, nehme sein Buch zur Hand! Was Sontag als Künstler leistet, ist bekannt. Er hat in fast allen deutschen Städten gastirt und einstimmige Anerkennung gefunden, zuletzt in Berlin. Kaum haben sich jemals alle Stimmen der Kritik so gleichmäßig anerkennend ausgesprochen wie Sontag gegenüber. Woher kommt das? Weil er genau weiß, was er kann und wie weit er gehen darf. Im Lustspiele, auf dem Gebiete des Humors, herrscht er als Souverän, sowohl im fürstlichen Salon, wie wenn er – Harun al Raschid gleich – in die niederen Volksschichten hinuntersteigt. Ueber sein Talent und die Grenzen, die demselben gezogen, lassen wir ihn selbst sprechen: „In meinem Talente ist ein Bruch. Meine Neigung, noch mehr mein Naturell weisen auf das Trauerspiel, mein Talent und Organ auf das Lustspiel. Die Rollen, die in der Mitte liegen, sind meine besten. Sowie mir hochtragische Rollen nicht gelingen, sind mir sprudelnd lustige verschlossen. Rollen, wie der „Landwirth“ von der Prinzessin Amalie von Sachsen, der im ersten Acte naiv erheitern, in den letzten rühren muß, spielt kein mir bekannter Schauspieler – das kann ich mit einigem Selbstbewußtsein sagen – besser; hauptsächlich trieb mich mein Organ aus dem tragischen Fache, ein Organ, auf das ich bei großer physischer Anstrengung nie sicher bauen konnte. Und wer nicht unbedingt und ungehindert in allen schwungvollen Rollen 'in's Geschirr gehen kann', der soll davon bleiben. Sonderbar, die schönsten Abende meiner Carrière, die glänzendsten an Beifall, habe ich dem Trauerspiele zu danken. Hamlet, Tasso, Uriel Acosta galten in Schwerin – allerdings im akustisch kleinen Hause – für meine besten Rollen. Auch in Hannover habe ich niemals in einer Lustspielrolle auch nur annähernd den Beifall gefunden, den mir im ersten Jahre die beiden Trauerspiele 'Der Wilderer' und 'Die deutschen Komödianten' brachten. Aber da ich nie wußte, ob das niemals gebildete Organ Klang und Ausdauer haben würde, saß ich an den Tagen großer Rollen in meinem Zimmer, probirte ängstlich wie ein erster Tenorist fortwährend meine Töne, rief alle Minuten abwechselnd bald tief, bald hoch ‚Piep‘ und stand Abends eine Angst aus, die mir das Herz hörbar klopfen ließ. Ich mußte das Fach endlich aufgeben, weil ich es nicht ganz auszufüllen vermochte.“

Sontag schildert nun den Genuß, den der Tragöde beim Studium seiner Rollen hat, wenn er in die Tiefen des Dichters immer mehr hinabsteigt, und die Qual des Lustspielschauspielers, der gezwungen ist, den flachsten Dialog sich zwanzig- bis dreißigmal „vorzukauen“. Er schließt das Capitel mit den Worten. „Beim Studium der Lustspielrollen muß man eben immer nur die Wirkung des Abends vor Augen haben und an das Wort Goethe's denken, das er einem berühmten Darsteller humoristischer Rollen zurief: 'Beneidenswerthes Loos, seinen Mitmenschen nur heitere Stunden zu bereiten.'“

Dergleichen Stunden hat Sontag seinen Mitmenschen oft bereitet. Daß ihm schwungreiche Rollen verschlossen, müssen wir ihm auf's Wort glauben, aber in ruhig edlen stellt er seinen Mann. Wir sahen ihn als Antonio im „Tasso“ und haben diese herrliche Goethe'sche Figur nie würdiger, edler gesehen. Niemals ist uns die Ueberzeugung klarer geworden, daß die Besetzung dieser Partie durch einen sogenannten Intriguantenspieler ein Mißgriff ist. Eine hinreißende Wirkung übt Sontag im letzten Acte als Heinrich in „Lorbeerbaum und Bettelstab“. Wer erheitern, erheben und erschüttern kann in gleichem Maße, ist ein Auserwählter. Dawison hat auch weder den Marquis Posa noch den Beaumarchais im „Clavigo“ spielen können, aber er war herrlich als Philipp der Zweite und Carlos. Jeder in seiner Grenze.

Wir bringen das Bild einer Scene, die wir nie so originell haben spielen sehen, wie von Sontag. Bolingbroke („Glas Wasser“ von Scribe) spricht in frivolster Weise seine Freude über den Tod seines Vetters aus, durch welchen nun ihm das unermeßliche Vermögen dieses „Dummkopfs“ zufällt. Diese Lustigkeit wird unterbrochen durch den Eintritt der Königin. Die darauffolgende Scene, in welcher Bolingbroke-Sontag seinen „tiefen Schmerz über den Verlust des vielgeliebten Vetters, dieses bedeutendsten Parteiführers“ ausdrückt und scheinbar vor Thränen nicht weiter sprechen kann, gehört zu dem Besten, was auf dem Gebiete der feinen Komik gesehen werden kann.

Hiermit schließen wir, noch eine kleine Schwäche unseres Künstlers berührend. Er ist Liebhaber von Orden und sagt selbst ehrlich und offen: „Ein Hoftheatergastspiel findet nur dann den gewünschten Abschluß, wenn es im Knopfloche bammelt.“ Nun, es bammelt bei ihm achtmal aus dem Knopfloche und einmal um den Hals. Gönnen wir ihm das Vergnügen! Uns thut es nicht wehe, und ihm macht's Vergnügen; übrigens verdient er solche Ermunterungen wie Einer. Warum sollen Fürsten ihrem Standesgenossen nicht Geschenke machen, beschenkt er sie doch reich aus der Cabinetsschatulle seines Humors, und Standesgenossen pflegen sich bei Geschenken auszugleichen. Und ein Standesgenosse ist er – ein Fürst im Reiche des Humors.
J. J.