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Die Gartenlaube (1884)/Heft 3

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 3.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Als die Sonne am folgenden Morgen sich mühsam gegen acht Uhr durch die Wolken gerungen, da sah sie in ein blasses Kindergesicht, das mit großen fragenden Augen aus dem Fenster eines Wagens schaute, der rasch auf der Landstraße dahin rollte. Im Fond saß eine blühende runde Frau in schwarzem Sammetmantel und ein wohlbeleibter kleiner Herr, und zwischen sich hatten sie ihr strohblondes, stumpfnäsiges Töchterchen – sie brachten es in das altberühmte D.’sche Institut auf ein paar Jahre. Jedes der Eltern hielt eine der kleinen Hände, und an den Augen der Mutter sah man noch, wie bitterlich sie geweint. Else saß allein auf dem Rücksitz neben sämmtlichem Handgepäck, und vor der Seele des Kindes stand es finster und schwer, das weite unbekannte Leben, in das die kleinen Füße heute den ersten Schritt gethan.

Acht Jahre waren dahingegangen seit jener Zeit, und nicht spurlos an den Menschen in dem kleinen märkischen Städtchen.

In seinem ungemüthlichen Wohnzimmer der Rosengasse saß noch immer rauchend und lesend der Major von Hegebach, und noch immer kochte die alte Siethmann ihren abscheulichen Kaffee; aber der Major wanderte nicht mehr so regelmäßig in den Club, wie einst, das Gehen wurde ihm schwer, er hinkte; die fatale Gicht hatte ihm auch noch die einzige Abwechselung verkümmert, die er bis jetzt gehabt, und seine Laune war nicht verbessert dadurch. Die alte Siethmann hatte es schwerer noch als sonst, aber sie empfand es nicht so, denn sie war stumpfer geworden, und außer ihrer Kaffeekanne existirte kaum noch etwas auf der Welt, das ihr Interesse einzuflößen vermochte, vielleicht die Else ausgenommen.

Regelmäßig alle vier Wochen hatte auf dem Schreibtische des alten Mannes ein Briefchen gelegen, und die Schrift war aus einer unbeholfenen Kinderhand allmählich in eine feine, elegante und doch nicht charakterlose Frauenschrift übergegangen. Er hatte nur einmal geantwortet, das war, als Else confirmirt wurde, und da hatte der Brief sogar in einer Schachtel gelegen neben einem schlichten Halsbande aus glührothen Granaten: der einzige Schmuck, den die verstorbene Mutter besessen.

Es war ein innig dankbarer Brief darauf gekommen mit dem kindlichen Versprechen, dem lieben Papa stets eine folgsame Tochter sein zu wollen. Und nun, heute, lag wieder ein kleiner Brief vor ihm:

„Mein lieber, verehrter Papa!

Du bist der Erste, der es wissen soll, daß ich das Examen mit Nr. 1 bestanden habe! – Die Vorsteherin ließ mich eben rufen, um es mir zu sagen. Ich bin so glücklich und so froh darüber, und alle Mühe ist vergessen. Ich komme nun schon in wenigen Tagen, mein lieber Papa, und es freut sich von Herzen auf ein Wiedersehen
  Deine treue Tochter Else.“

Er hatte den Brief gelesen und wieder gelesen, und sein Gesicht war noch ernster darob geworden. Und während er noch grübelte, waren auf der Burg zwei alte Frauenhände emsig beschäftigt, das Zimmer für den heimkehrenden Liebling zu schmücken. Tante Lott und Tante Ratenow hatten dieselbe Jubelnachricht mit der zweiten Post bekommen, und Erstere hatte sich sofort an ein rasches Instandsetzen der ehemaligen Kinderstube des jungen Mädchens gemacht; es war ja selbstverständlich, daß sie hier oben wieder hausen würde.

Drunten im Wohnzimmer der alten Frau von Ratenow hatte sich nichts verändert im Laufe der Jahre, nur sie selbst war etwas corpulenter geworden und das Gesicht zeigte vielleicht noch ein wenig schärfer den Ausdruck unbeugsamen Willens und rascher energischer Thatbereitschaft. Und doch war etwas Neues hier, das dem behaglichen Gemache mit dem weichen Teppiche, den schweren blauen Vorhängen und dem blitzenden alten Bronzegeräthe einen unendlich anheimelnden trauten Charakter verlieh. Vor dem Kamine, in welchem ein Herbstfeuer flackerte, hockten spielend drei Kinder, ein Knabe und zwei Mädchen, zwei blonde blauäugige Dirnen mit der rosigen Gesichtsfarbe und der unleugbaren Aehnlichkeit des Vaters, und ein brünetter Schelm von Jungen, das Allerjüngste. Es war ein Jubeln und Kichern dort, daß allen anderen Menschen, als eben einer Großmutter, die Ohren weh gethan haben würden. Frau von Ratenow schien indeß nicht zu hören; sie las eben einen Brief, ließ ihn sinken, und las dann wieder weiter.

„Lulu!“ rief sie, „hole mir einmal fix den Papa.“

Das Aelteste, ein schlankes Mädchen von fünf Jahren, sprang auf und lief eiligst hinaus. Ein Weilchen darnach trat, wie schwebend, eine kleine, unendlich zierliche, ganz in elegantes Schwarz gekleidete Frauengestalt unter den blauen Portieren hervor, die von den Kindern mit lautem Zurufe: „Mama! Mama!“ begrüßt wurde.

„Ihr goldigen Herzchen,“ sagte sie, die Kinder küssend, und dann zu Frau von Ratenow lebhaft neugierig: „Moritz kommt gleich, Mama – was giebt es denn?“

„Heißt Du ‚Moritz‘, kleiner Naseweis?“ fragte diese, wohl nicht unfreundlich, doch auch nicht gerade sehr erbaut.

[38] Aber das feine Geschöpfchen ließ sich nicht abschrecken, sie schlang auflachend ihre Arme um den Hals der alten Dame.

„O Mamachen, Du weißt ja, neugierig bin ich fürchterlich, es handelt sich auch wohl nicht um Staatsgeheimnisse? Bitte, bitte, laß mich hier!“

„Ob Du endlich mal vernünftig wirst, Frieda! Willst Du immer ein Kind bleiben? Aber das kommt davon, weil der Moritz Dich so grenzenlos verwöhnt.“

Sie war aber auch zum Verwöhnen geschaffen, diese reizende kleine Person mit den zierlichen Gliedern, dem ovalen feinen Gesichte und dem blauschwarzen glänzenden Haare, das, einfach geordnet, die schöne Kopfform sehen ließ, mit den großen tiefblauen Augen unter schwarzen langen Wimpern. Kein Wunder, daß der „Jung“, wie ihn die Mutter nannte, noch heute so verliebt war, wie am ersten Tage seiner Ehe.

„Nun natürlich!“ sagte er eintretend, wie ärgerlich und doch mit leuchtendem Auge, „da ist sie schon wieder, um zu hören, was es giebt.“

„Noch weiß ich nichts, Moritz.“

„Das ist allerdings sehr traurig, kleine Frau! Ruhig, Ihr Rangen!“ rief er, sich die Ohren zuhaltend. „Wer kann denn hier ein Wort sprechen? Geht rasch hinüber zur Caroline.“ Die Mutter hatte indessen dem Sohne den Brief gegeben: „Else hat ihr Examen bestanden und kommt Dienstag,“ bemerkte sie.

„Ach wahrhaftig!“ rief der stattliche Mann erfreut. „Na, Gottlob, sie wird auch froh sein, der Schulstube den Rücken wenden zu können.“

„Ich wollte Dich nur fragen, Moritz, was nun werden soll mit ihr?“

Seine guten ehrlichen Augen nahmen einen erstaunten Ausdruck an. „Gar nichts vorläufig, Mamachen, ich denke, das arme Ding ruht sich erst einmal ordentlich aus, sie wird einer Erholung wohl bedürfen.“

Frau von Ratenow nickte. „Schön! Aber Du machst ihr den Rücktritt in das Vaterhaus nur um so schwerer.“

„Ja, Moritz, Du verwöhnst sie nur dadurch!“ rief die junge Frau beistimmend.

„Barmherziger! Das arme Kind! Was soll sie denn nur bei dem alten Seebären?“ klang es mitleidig von des Mannes Lippen.

„Es ist ihre Pflicht, den alternden Vater zu pflegen; der Mann verkommt ja förmlich, Moritz, die Siethmann wird alle Tage älter und schmutziger –“

„Jawohl, Du hast Recht, Mutter,“ unterbrach er sie, „aber nicht gleich jetzt; wir haben Zeit genug gehabt, uns das zu überlegen. Die Wohnung dort müßte wenigstens so hergerichtet sein, daß es ein menschenwürdiger Aufenthalt ist; hätte ich es geahnt, es wäre längst etwas dazu geschehen; so wie sie jetzt ist, bringe ich das Mädchen nicht hinein. Die ersten vierzehn Tage bleibt sie hier, da rede mir nur nicht dagegen.“

„Da sind wir wieder auf demselben Fleck,“ sagte die alte Dame.

„Und ganz auf dem richtigen, Mutter!“

Es entstand eine kleine Pause, während welcher man nur die Stricknadeln klappern hörte.

„Heute sind es zwei Jahre, daß den Bennewitzer das Unglück traf mit seinen Söhnen,“ begann der junge Mann endlich; „es ist doch furchtbar, zwei Kinder auf einmal zu verlieren.“

„Gott, ja, es ist entsetzlich!“ stimmte die junge Frau bei. „Ich begreife noch heute nicht, wie es passiren konnte.“

„Ganz einfach, Frieda. Die beiden Knaben waren allein hinausgesegelt auf die Elbe, und da muß wohl ein plötzlicher Windstoß das Boot umgeworfen haben; erst am folgenden Tage fand man die Leichen.“

„Ja, das ist hart,“ bemerkte Frau von Ratenow und trocknete sich unwillkürlich die Stirn mit dem Taschentuch. „Es sind auch just vier Jahre, daß ihm die Frau starb!“

Sie ließ plötzlich die Hände in den Schooß sinken und blickte nachdenkend vor sich hin; endlich sagte sie tief erröthend; „Könnte man da nicht für die Else –, der Mann ist reich und steht ganz allein –?“

„In der That, der Gedanke ist mir auch durch den Kopf gefahren,“ erwiderte Moritz. „Indessen, da Töchter unbedingt von der Erbschaft ausgeschlossen sind, laut Testament des verstorbenen Onkels, und der Bennewitzer ein noch keineswegs alter Mann ist, so darf man wohl kaum zweifeln, daß er zu einer zweiten Ehe schreiten wird, und –“

„Dem Bettler fällt das Brod immer wieder aus der Tasche; es ist eine alte Geschichte, mein Jung,“ unterbrach Frau von Ratenow, wieder völlig im Gleichgewicht; „ich muß ihn aber doch einmal einladen, Moritz, seine Karte fand ich neulich hier vor.“

„Kennst Du den Bennewitzer Hegebach genauer, Mamachen?“ fragte die junge Frau. „Ich habe mich nie um ihn gekümmert, aber meine Schwester Lilli schwärmt sehr für ihn,“ plauderte sie weiter; „er ist ein stattlicher Mann und sieht jedenfalls seinem Vetter nicht ähnlich; weiter weiß ich nichts.“

Aber Frau von Ratenow antwortete nicht darauf.

„Moritz,“ fragte sie, „wie ist der Weg draußen?“

„Gut und fest, Mutter; der Regen ist kaum zwei Zoll durchgedrungen.“

„Dann, bitte, entschuldigt mich, ich habe noch einen Weg vor.“ Sie hatte sich erhoben und ging, freundlich dem jungen Paare zunickend, in ihr anstoßendes Schlafzimmer.

„Wo willst Du hin, Mutter?“ fragte Moritz.

„Mamachen, in einer Viertelstunde fahre ich zur Frau von Kayser!“ rief die junge Frau an der Thürspalte. „Wenn Du so lange warten möchtest?“

„Ich danke, Kinder: ich gehe,“ scholl es heraus. Aber eine Antwort auf die Frage: wohin? erhielten sie nicht. –

Es dunkelte schon stark, als Frau von Ratenow zurückkehrte und geradeweges die Treppe hinauf schritt, an Tante Lott's Thür pochte und gleich darauf eintrat. Das alte Fräulein saß am Fenster und schaute in den herbstlichen Garten hinaus; sie hatte Buch und Strickzeug weglegen müssen, die Dämmerung war zu stark geworden.

„Nein, Lott, zu glaubeu ist es nicht!“ rief die Eintretende und setzte sich, wie außer Athem, auf den nächsten Stuhl.

Tante Lott war erschrocken; die Cousine kam so selten aus ihrer reservirten ruhigen Haltung.

„Ratenowchen! Was um Gotteswillen ist passirt?“ fragte sie, von der Estrade herab tretend.

„Nein, Lott! Siehst Du, ich bin zu Dir gegangen, weil ich mit Moritz nicht darüber reden mag. Was passirt ist? Nun, Du weißt, übermorgen kommt Else; - Moritz und ich waren verschiedener Ansicht über ihre zukünftige Stellung, ich sagte: sie muß zu ihrem Vater, er behanptet, das sei eine Grausamkeit, sie solle hierher –“

„Und Frieda?“ wagte Tante Lott zu unterbrechen.

„Frieda? Frieda kommt hierbei gar nicht in Betracht,“ scholl es zurück mit sehr geringschätziger Betonung; „sie sagt einmal so und ein andermal so, wie es ihr gerade paßt, ein Urtheil hat sie nicht, hat es nie gehabt. Wenn sie gerade Theater spielen wollte, und ihr Jemand für eine Rolle fehlte, zu der sich Else am Ende eignet, würde sie sagen: ‚Ach, Mamachen, laß sie nicht zu dem bärbeißigen Vater!‘ - und wenn wir gerade zufällig Dreizehn zu Tische wären, so würde sie wahrscheinlich gesagt haben: ‚Ach ja, Mamachen, das Kind gehört zum Vater!‘ - nur der ominösen Zahl wegen.“

Frau von Ratenow war einen Moment still geworden.

„Na kurz,“ fuhr sie fort, während sie hastig den schweren seidenen Mantel aufnestelte, „ich machte mich auf und ging zu Hegebach; ich hoffte, er würde selbst den Wunsch haben, das Kind in sein Haus zu nehmen, damit es doch auf seine alten Tage noch ein wenig Licht darinnen werde. Und was glaubst Du, Lott?“ rief sie mit erhobener Stimme und ließ ihre Hand schwer auf die Tischplatte fallen. „Er will sie nicht! Hast Du es jemals anderswo als in Deinen dummen Romanen gefunden, daß ein Vater sein einzig Kind nicht in sein Haus aufnehmen will? Ordentlich heftig wurde er zuletzt, an allen Gliedern hat er gezittert, redete von einem jungen Mädchen mit seinen hunderttausend Ansprüchen an das Leben, und daß er nur nach dem Einen lechze, nach Ruhe, Ruhe, Ruhe!“

„Aber, Ratenowchen, Du alterirst Dich mehr, als nöthig!“ rief Tante Lott beschwichtigend; „er ist doch immer so gewesen.“

„In des Kukuks Namen,“ fuhr die erzürnte Frau auf, „da soll sich der Mensch nicht ärgern! Haarklein hat er mir bewiesen, daß er einen solchen Luxusartikel, wie eine erwachsene Tochter, [39] nicht gebrauchen könne. Er habe selbst kaum das Nöthige, er habe jeden Monat abzuzahlen an alten Lieutenantsschulden – wer das übernehmen wolle nach seinem Tode? Er könne nicht mehr thun, als daß er zu ihrer Erziehung die dreihundert Thaler gegeben, die ihm Lisa zugebracht; Else möge doch nun das verwerthen, was sie gelernt. Wie Viele müßten das – und so weiter.“

„Das arme Mädchen! Das arme Mädchen!“ jammerte Tante Lott und wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen.

„Ich habe es ihm aber gesagt, Lott,“ fuhr die erregte alte Dame fort, „und Du weißt, in Honig sind meine Worte nicht immer gebacken.“

Tante Lott blieb stumm; sie wußte das nur allzu gut.

„Still ist er geworden und blaß zu guter letzt, aber was hilft’s! Ich hatte es gut mit ihnen vor – man kann keinen zwingen, glücklich zu sein –“

„Und nun, Ratenowchen?“

„Na, nun hat Moritz seinen Willen,“ klang es grollend.

„Ach, laß doch, Cousine,“ begütigte Tante Lott, der das Herz innerlich vor Freude jauchzte, daß der Liebling wiederkehre; „laß doch sein - wer weiß, wie noch Alles kommt, sieh -“

„Ich weiß es ganz genau, Lott,“ fiel Frau von Ratenow der Andern in’s Wort; „so wird’s: ein Leben im hellen Trara, ein Entwöhnen von allem Ernsten, wie es ja leider jetzt Mode geworden ist bei uns; und eines Tages wird sie arbeiten sollen, denn das ‚Muß‘ kommt, verlaß Dich darauf, in vielleicht gar nicht langer Zeit. Aber dann wird sie verlernt haben, sich zu schicken und zu fügen.“

„Ei, das steht in Gottes Hand, Ratenowchen. Sie kann sich ja verheirathen.“

„Willst Du ihr eine Mitgift zusichern, Charlotte?“ fragte sie spöttisch zurück; „dann bemiß sie nur nicht zu knapp.“

„O, diese Prosa!“ stöhnte Tante Lott beleidigt.

„Mit Deiner Poesie bäckst Du keine einzige Semmel und deckst Du kein einziges Mal den Tisch. Der Magen ist einmal da, gutes Kind, und selbst in der zärtlichsten Liebeszeit bekommt man Hunger - das wissen unsere jungen Herren von heutzutage sehr wohl, und das wissen sie auch noch zum Ueberfluß, daß Caviar besser schmeckt wie Reisbrei.“

Tante Lott erwiderte keine Silbe auf diese bittere realistische Auseinandersetzung. Nach einer Weile tiefsten Schweigens fing sie noch einmal schüchtern an:

„Ratenowchen, ich habe eine Idee. – Wenn Du – nein, wenn Moritz –; Frieda sagte neulich, sie müsse bald eine Erzieherin haben - wenn nun Else es einmal versuchte mit den Kindern, sie hat doch dann eine ernste Thätigkeit, und –“

Sie hielt ängstlich inne und versnchte, durch die tiefe Dämmerung die Züge der Gegenübersitzenden zu erkennen.

„Das ist – das ginge vielleicht, Lott,“ sagte rühig Frau von Ratenow und erhob sich. „Das ist wirklich einmal gar keine dumme Idee, Lott; - wahrhaftig, ich will doch gleich mit Moritz –“

Sie raffte ihren Mantel zusammen und nahm ihn über den Arm.

„Ich will Dir sagen, Lottchen,“ wandte sie sich an der Thür noch einmal um, „es liegt mir viel daran, daß die Krabbe in der Nähe bleibt und daß sie auch nicht gerad’ als Gouvernante - Aber, laß Dir nichts merken! Guten Abend, Lott!“

Und dann war die Thür zugefallen und die festen Tritte schallten verhallend vom Corridor in das stille Zimmerchen; und Tante Lott stand kopfschüttelnd mitten darin. O, diese Welt wurde immer prosaischer!




Ein trüber, unfreundlicher Octobertag neigte sich seinem Ende zu; mit rothglühenden Augen sauste die Locomotive, eine lange Wagenreihe hinter sich, durch den schweren, grauen Nebel und blies mächtige Dampfwolken in das weiße Dunstmeer, und Nebel und Dampf wogten nun spielend und quirlend durch einander in phantastischen, wilden Gestalten, sie schwebten und wogten und zerflatterten und blieben hängen in dem Gezweig der Fichten, immer neuen Platz machend, unaufhaltsam im schwindelnden Vorwärtssausen.

Am Fenster des Frauencoupés stand ein junges Mädchen, so hoch und schlank gewachsen, daß die Bandrosette des runden Strohhütchens beinahe in gleicher Höhe war mit dem oberen Abschnitte des Fensters. Sie war die einzige Insassin des Coupés an diesem naßkalten Herbstabend, aber auf ihrem jungen Gesichte stand nichts geschrieben von Frost und Einsamkeit, die Wangen glühten in freudiger Erregung, die rehbraunen Augen leuchteten, um den kleinen vollen Mund zuckte es bald wie ein Lächeln, bald blieb er einen Augenblick offen stehen, gleichsam in Erwartung von etwas Wundervollem, was dem Gesicht einen süßen, kinderhaften Ausdruck verlieh. Sie ging von einem Fenster zum andern, aber es war noch immer nichts zu sehen als Dampf; der Zug fuhr auch unerträglich langsam, meinte sie. Wohl zum zwölften Male nahm sie das Ledertäschchen in die Hand und legte es wieder hin. - Wie sie sich Alle wundern würden! Moritz wollte sie um zehn Uhr erwarten, nun war es erst sieben Uhr.

Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen, als ein lang anhaltendes Pfeifen der Locomotive ertönte und nun einzelne Lichter an den Fenstern vorbeihuschten. Wie lange war sie nicht hier gewesen! Seit den letzten dritthalb Jahren hatte es auf der Burg während der Ferien ja nie recht passen wollen; einmal waren sie Alle im Bade, dann hatten die Kinder die Masern und –

Ach – und dort lag der Bahnhof! Else ließ das Fenster herunter und bog sich weit hinaus in die kalte nasse Herbstluft; da war der Brunnen, dort stand der alte einäugige Packträger, und hier unten, über die Gärten hinweg, schimmerten die Lichter des Städtchens rothgelb durch den Dunst und Nebel. Ach, es ist doch eine Lust, heim zu kommen, aus der Fremde heim zu kommen!

„Wohin, Fräulein?“ fragte der Packträger.

„O, es bleibt stehen, es wird morgen von der Burg abgeholt,“ sagte sie hastig; „ich bin früher gekommen –“

„Wollen Sie denn allein gehen?“ Dem Manne war es fatal, gar nichts zu verdienen.

Else dachte daran, daß Tante Ratenow es immer für unpassend gefunden, wenn Damen allein - „Sie können mir das Täschchen tragen, aber rasch, bitte,“ Und schon war sie vorangeeilt, die wohlbekannte, spärlich bebaute Chaussee entlang bis zum Stadtthor, und erst in der Thorstraße holte sie ihr keuchender Begleiter ein. Und da stand er noch, der alte Rathhausthurm, da waren sie noch, die schiefen und krummen Häuser, und noch ebenso schwankten die Laternen an den Ketten inmitten der Straße; noch ebenso klingelten die Hausschellen, und der Laden, wo Moritz ihr zuweilen Bonbons gekauft, hatte noch genau denselben Mohrenknaben hinter seinen Glasscheiben, zum Zeichen, daß echter Tabak hier zu bekommen sei.

Sie stand endlich still und sah zu einem Paar matt erleuchteter Fenster empor; unwillkürlich regten sich ihre Füße, hinaufzueilen - zum Papa. Aber Moritz hatte ausdrücklich geschrieben, er und Tante Ratenow wollten sie erst sprechen - nein, sie mußte gehorsam sein, und langsam wandte sie sich um.

„Schöner Umweg, Fräulein,“ brummte ihr Begleiter; „Sie wissen hier doch wohl nicht Bescheid.“

Sie nickte nur lächelnd, und wieder ging es weiter mit beflügeltem Schritt, zum Steinthor hinaus in die Lindenallee; sie kannte noch jeden der knorrigen Stämme, die sich schwarz aus der Finsterniß hoben; sie kannte den Laternenschimmer dort unten und das Bellen des Hofhundes, das an ihr Ohr scholl. Nun lehnte sie herzpochend an dem Bogen des Thorweges - da lag es vor ihr, das liebe alte Haus; dort oben Tante Lott’s Fenster, sie waren hell, und darunter die von Tante Ratenow’s Zimmer; über der Hausthür flammte die Leuchte und hinter den Küchenfenstern bewegten sich Gestalten, und dort wurde eben der große Wagen aus der Remise gezogen.

„Sie können gehen,“ flüsterte sie dem Manne zu, das Täschchen hinnehmend und ihm ein Geldstück in die Hand drückend; und mit immer schnelleren Schritten flog sie über den Hof, die Stufen der Freitreppe empor und stand nun in dem gewölbten Flur.

Wohin zuerst? Aber nur einen Augenblick schwankte sie, dann hatte sie sich der Treppe zugewandt; dort oben das kleine blinkende Zimmer, es war doch ihr eigenstes, ihr trautestes Daheim. „Tante Lott!“ rief sie auf der Schwelle; wie Lerchenklang flog es durch das stille Gemach der alten wunderlichen Jungfer.

[40] „Elschen! Herzenskind!“ tönte es zurück. Ja, sie war wieder daheim, hier wurde sie erwartet. Ach, es ist zu schön, heim zu kommen, heim zu kommen aus der Fremde!

„Gott im Himmel! Ich hätte Dich beinahe nicht wiedererkannt, Else; nur die Augen sind’s noch!“ rief Tante Lott, nachdem sie das Mädchen aus den Armen gelassen.

„Herzenstante, ich bin gewachsen, nicht? Ich bin aber auch achtzehn Jahre!“

„Komm, komm! Nimm den Mantel ab; so – und hier, siehst Du, der Thee ist gleich fertig. Freilich, achtzehn Jahre, Kindchen! Ich habe Dir es ja auch gesagt in dem Gedicht zu Deinem Geburtstage, was das heißt für Unsereins.“ Und Tante Lott stand mit der Theekanne vor dem lächelnden rosigen Mädchen und declamirte:

„Achtzehn Jahre! Lenzeszauber,
Der dich einmal nur begrüßt
Halb erschloss’ne Rosenknospe,
Die die Frühlingssonne küßt –“

„Ach Tante, und ich freue mich so auf das Leben,“ unterbrach das Mädchen die alte Dame. „Wenn ich über den Büchern saß und mir’s so schwer im Kopfe war, daß gar nichts mehr hinein wollte, dann dachte ich an all das Schöne, das ein Jeder erleben muß, an die Jugendzeit, die vor mir liegt. Schwester Beate sagte es immer: jedem Menschen hat der Himmel einen Antheil Glückes zugesichert. – Ach Tante, wie freue ich mich auf meinen Antheil, ich konnte es kaum noch erwarten, aus der Schulstube zu laufen!“

Tante Lott schenkte hastig Thee ein; sie war auf einmal mitten in einem Traum von Frühling und Nachtigallenschlag – sie war doch auch einmal jung gewesen, und dort saß ja der verkörperte Lenz in ihrem Stübchen! Wie war sie hübsch geworden, die Else, wie thaufrisch schaute das junge Gesicht in’s Leben, wie viele, viele Hoffnungsknospen blühten hinter der glatten weißen Stirn und zauberten Glanz in die Augen und Freude in das Herz.

„O, die Jugend!“ flüsterte die alte Dame.

„Achtzehn Jahr! In’s ärmste Leben streut es seine Freuden ein,
Füllt der Zukunft dunkle Thäler ganz mit goldnem Sonnenschein –“

(Fortsetzung folgt.)

Thier-Charaktere.

Von Adolf und Karl Müller.
Der rothrückige Würger oder der Dorndreher, Neuntödter (Lanius collurio).

Die Würger nehmen in der gefiederten Welt eine Zwischenstellung ein und bilden den Uebergang von den Singvögeln zu den Raubvögeln. Für ihre Verwandtschaft mit letzteren spricht entschieden schon die Aehnlichkeit in der Schnabelbildung, insbesondere der seichte Ausschnitt an der Spitze des Oberkiefers und das Vermögen wie die ausgesprochene Neigung, den Raub unter einen Fuß zum Zwecke des Zerlegens zu nehmen. Innerhalb der verschiedenen Arten zeigt sich jedoch die Raubnatur mehr oder weniger ausgeprägt und vorwaltend. Am meisten tritt sie bei den großen Arten hervor, bei dem Raubwürger und dem Grauwürger, weniger bei dem Rothkopfwürger und dem rothrückigen Würger. Der Raubwürger „rittelt“ auch ganz in der Weise der Raubvögel, um aus der Höhe sich auf die Thiere zu stürzen. Er steht dabei, wie der Sperber, aufrecht in der Luft unter eilenden Schlägen der ausgespannten Flügel und wechselt in kurzen Entfernungen seine Lauerstände. Sein Raub erstreckt sich über Mäuse, Lurche, Insecten und vorzugsweise im Winter über Vögel bis zur Größe der Amsel, die er bei Schnee und Kälte hinterlistig überfällt, während die kleineren Würgerarten vorzugsweise aus der Insectenwelt ihre Nahrung nehmen. Entsprechend dem Bedürfnisse des bei uns überwinternden Standvogels ist der Raubwürger denn auch mit einer viel derberen, den Witterungseinflüssen kräftiger widerstehenden Natur ausgerüstet, als unser Dorndreher oder Neuntödter, mit welchem wir es hier besonders zu thun haben. Der Dorndreher zeigt uns ein hochinteressantes Vogelcharakterbild, eine unverkennbare Doppelnatur, von der bald die eine, bald die andere Seite zur Herrschaft kommt. Mit dem Rothkopfwürger hat er noch die sprechendsten Züge der Singvögel gemein, er nimmt sogar unter den Sängern, welche den Potpourrigesang vertreten, die höchste Stelle ein. Mit den Singvögeln theilt er die Liebe und das Bedürfniß für Sonnenlicht und Wärme so entschieden, daß er erst in der ersten Hälfte, und zwar nicht gleich am Anfange des Mai bei uns erscheint und schon im September in die Fremde zieht. Die Frostschauer der Mainächte oder die rauhen Nord- und Ostwinde berühren ihn so empfindlich, daß er mit aufgeblasenem Gefieder traurig die geschütztesten Lagen seines Standreviers aufsucht und unter der Nahrungssorge ein klägliches Aussehen bietet.

Vielseitig sind diese Standorte seines Sommer- und Familienlebens. In Gärten, Parkanlagen, Remisen, Feldhecken, an Dornhagen, Waldrändern mit niederem Gebüsche, ja selbst etwas tiefer im Walde in jungen Hegen an Wiesen und Waldwegen, am liebsten aber stets an Plätzen, wo dichtes Dorngebüsch wuchert, läßt sich das Männchen mit dem in der Regel gleichzeitig ankommenden Weibchen nieder. Seine Art ist zahlreich vertreten und macht sich durch die Neigung des Lauerns auf hervorragenden, hohen und niederen Zweigen, sowie durch seine auffallende Färbung überall dem guten Auge bemerklich. Er gehört zu den volksthümlichen Vögeln. Die Zusammenstellung der Farben beim Männchen ist eine wirkungsvoll schöne. Oberkopf, Hinterhals, Bürzel und die oberen Schwanzdeckfedern sind hellaschgrau, die übrigen Theile der Oberseite glänzend rostroth. Ein schwarzer Streifen zieht sich über die Stirn und durch die Augen. Backen, Kinn und Kehle sind weiß, ebenso die unteren Schwanz- und Flügeldeckfedern, die Schwingen schwarzbraun, die hinteren Armschwingen rostroth gerändert. Die schwarzen Schwanzfedern sind von der Wurzel zur Hälfte weiß, die vier äußersten haben einen schmalen, weißen Rand an ihren Enden. Die Unterseite zeigt ein schönes, sanftes Rosa. Unscheinbar ist dagegen das Weibchen gefärbt. Seinen Namen Dorndreher verdankt dieser der Eigenthümlichkeit, Käfer, Eidechsen und junge Mäuschen öfters an Dornen aufzuspießen.

Das Volk hat ihn auf Grund dieser Vorliebe auch Neuntödter genannt, weil zufällig die Anzahl von neun Käfern hier und dort an Dornbüschen angespießt gefunden wurde. Merkwürdiger Weise liest man selbst in guten Naturgeschichtswerken, daß der Dorndreher so verfahre, um für rauhe Tage Nahrung aufzuspeichern. Die Unterlegung einer solchen Absicht beruht auf ganz falscher und willkürlicher Deutung. Denn der Vogel befriedigt mit diesem Unternehmen nur ein Bedürfniß vererbter Gewohnheit und thut es immer zur Zeit, wo er Ueberfluß an Nahrung hat und seine Raubnatur ihn über das Maß seines Nahrungsbedürfnisses hinausführt, angeregt durch die lebendige Beute um ihn her. Spießt er doch auch in der Gefangenschaft Käfer und Fleischbrocken an spitze Gegenstände an! Gewöhnlich vertrocknen die Käfer an den Dornspitzen und werden von ihm nicht weiter beachtet. Uebrigens bedient er sich beim Tödten von Eidechsen ebenfalls der Dornen wie der Füße zum Festhalten. Hierbei verfährt er ebenso praktisch wie ausdauernd. Die Eidechse im Schnabel, reckt er sich hoch empor und sucht diese alsdann von oben durch Niederziehen an der Dornspitze einzuhaken. Die zähe Haut des Amphibiums leistet Widerstand, und darum währt es oft lange, bis er sein Ziel erreicht. In Folge dessen ermüdet der Vogel, ruht einige Augenblicke aus und geht dann wieder frisch an’s Werk, einen unverkennbaren Zorn dem Hindernisse entgegensetzend und unruhig die Stellung verändernd.

Die kleineren Käfer und sonstigen Insecten nimmt der Dorndreher nicht unter den Fuß, sondern verschlingt sie unmittelbar nach dem Fange. Am häufigsten stürzt er sich von den freien Zweigen des Gebüsches und der Bäume auf die Beute am Boden. An sonnigen Tagen jagt er aber auch dem fliegenden Insect nach, welches er auf Entfernungen von dreißig bis vierzig Schritt wahrzunehmen vermag. Mäuse bilden nur einen verschwindend geringen Theil seiner Nahrung. Er überfällt sie mit gesträubtem Gefieder und ausgebreiteten Flügeln, indem er derbe Schnabelhiebe

[41]

Schwarzköpfige Grasmücken vom Neuntödter überfallen.
Nach dem Leben gezeichnet von Adolf Müller.

[42] nach dem Kopfe richtet. Weit mehr locken ihn junge Kleinvögel an, die er aus den Nestern reißt oder deren Sitz er, wenn sie ausgeflogen sind, auskundschaftet. Geleitet von Gehör und Gesicht, entdeckt er die nach Futter schreienden Kleinen und läßt sich nicht so leicht von den erbitterten Eltern derselben in die Flucht schlagen. Unser Bild stellt seinen Raub an einer jungen schwarzköpfigen Grasmücke dar, wie wir ihn in dem Park unserer früheren Heimath Staden in der Wetterau beobachtet haben. Trotz solcher da und dort vorkommenden Eingriffe des Dorndrehers in das Familienleben der Singvögel können wir kein so hartes Urtheil über ihn als Vogelräuber fällen, wie es Andere gethan haben.

Die Nachstellungen nach dieser Richtung hin sind vielfach abhängig von individueller Neigung, welche hauptsächlich durch zufällige Entdeckungen und dargebotene günstige Gelegenheiten zur Ausprägung gelangt. In den meisten Fällen nisten die Singvögel in der Umgebung des Dorndreherpaares ohne besondere Behelligung. Wohl finden Streitigkeiten zur Zeit des Nistens statt, aber die Unduldsamkeit zeigt sich wenigstens zum Theil auch bei den anderen Vogelarten. Die Goldammern verhalten sich gegen die Neuntödter so feindselig und zänkisch, daß letztere förmlich in die Flucht geschlagen werden. Schließlich wird doch Friede oder wenigstens Waffenstillstand geschlossen, den die Sorgen um den eigenen Haushalt jederseits erfordern. Am häufigsten sind die Dorngrasmücken in Hecken und Remisen von dem Neuntödter gefährdet, weil ihre Brut sich vielfach in seiner unmittelbaren Nähe befindet. Aber die Thierchen nisten fast immer in der Tiefe des Dorngestrüpps gut verborgen und halten sich mit ihren Jungen gar heimlich und stille.

Sogleich nach der Ankunft in der Heimath beginnt unter günstigen Witterungsverhältnissen das Minneleben des Dorndreherpaares. Da wechselt das Werben des Männchens um die Gunst des Weibchens in langem Hin- und Herjagen ab mit zeitweisem Ausruhen der erschöpften Vögel, daß sogar der sonst so starke Ernährungstrieb merklich zurücktritt. Da hat auch das Männchen keine Zeit zum Gesang, nur sein Gätzen vernimmt man in gewissen Werbungssituationen, ähnlich wie bei der Entdeckung es befremdender Erscheinungen, wenn diese nicht allzu schreckhaft auf das Gemüth wirken, sondern mehr die Neugierde, gepaart mit Mißtrauen, erregen. Aber wenn das Weibchen auf den Eiern sitzt, dann hört man an schönen Tagen in der Frühe das Männchen singen. Wie in philosophischen Betrachtungen versunken sitzt der Dorndreher mit dem bedeutenden Kopfe und dem intelligenten Auge auf einem Lieblingszweige und reproducirt die mannigfaltigen Weisen der von ihm belauschten Vögel. Doch versteht man ihn nur in der Nähe ganz, weil sein Stimmwerkzeng zur Hervorbringung weittragender Töne nicht ausreicht.

In etwas weiterer Entfernung sind nur einzelne ausgezeichnete Individuen zu belauschen. Im Zimmer aber kommt der höchst interessante Vortrag erst wahrhaft zur Geltung. Wir können die Begabung dieses Generalspötters unter den Vögeln nicht ausdrücklich genug rühmen. Seine ausgezeichnetsten Repräsentanten sind unvergleichliche Künstler in der Wiedergabe ganzer Lieder, einzelner Strophen und kennzeichnender Rufe anderer Vögel. Originell ist eigentlich nichts von allem, was der Dorndreher vorträgt, als sein Gätzen und der laute, bekannte Würgerschrei. Aber dennoch wird man nicht müde, ihm zu lauschen. Denn die Detailausführungen sind die naturwahrsten Copien, welche man hören kann. Das gilt in erster Linie und in vollem Sinne von den Gesängen der samenfressenden Singvögel und unter den Insectenfressern von den Grasmückenarten. Den Schlag der Nachtigall, das laute Flötenlied der Amsel kann er trotz aller Mühe nicht zu der Originalform gestalten, weil seine Stimme zu schwach ist. Doch reden wir in Beispielen nach unseren eigenen Erfahrungen, und die Meisterschaft dieses Obersten der Spötter wird in klarem Bilde vor des Lesers Geist treten.

Wir besaßen im Jahre 1879 zwei im Mai eingefangene Dorndreher. Der jüngere hatte einen Doppelschläger unter den Edelfinken gehört und trug diesen Doppelschlag entzückend schön vor; der ältere führte den einfachen Finkenschlag aus, aber viermal hinter einander; er sang das Lied der Feldlerche lange unaufhörlich. Das Lied des Bluthänflings sammt den Locktönen und den Rufen, die zum Aufbruch mahnen, den Gesang und die Locktöne des Stieglitzes, das Lied und die Zankstrophe der Amsel, fünf markige Singdrosselrufe, das dreimal wiederholte Rauchschwalbenlied, das Balzen und Knappen des Staars, das Geschrei der ausgeflogenen jungen Staare, den Pirolruf, die Gesänge der Dorn- und Klappergrasmücke, des Baumrothschwänzchens und Trauerfliegenfängers, des kleinen Weidenlaubvogels, das Wettern der Kohl-, Blau- und Sumpfmeise nebst den Locktönen, das bei der Jungenpflege häufig wiederholte Locken des Baum- und Hausrothschwänzchens, drei Nachtigallenstrophen, die drastisch wirkende Darstellung des in Zorn gerathenden zankenden Haussperlingmännchens, die Locktöne des Feldsperlings, tiefe Rabentöne, das in mehrfacher Wiederholung sehr schön ausgeführte Lied des aufsteigenden und niederschwebenden Baumpiepers und das Gewulle junger Gänse, in welches sich höchst komisch der Ton der alten Muttergans mischte – alle diese Tonstücke führte der fleißige Sänger vor das Ohr der Zuhörer. Der jüngere Vogel schilderte eine ganze Heerde Gänse, die dem Dorfe zueilt, und einzelne Töne gaben zu erkennen, daß der Hund oder der Hirte mit der Peitsche hinter ihnen her ist.

Im Jahre 1881 sollten wir glücklicher Weise in den Besitz des unvergleichlichsten Exemplares gelangen. Welch ein Fülle herrlicher Gesänge sprudelt wahrhaft aus seiner Kehle! Laut wie bei keinem seiner Brüder und raumbeherrschend quellen die Töne hervor, und malen nicht blos die feinsten Nüancirungen und Charakterausprägungen, sondern zaubern auch die verschiedenartigsten Situationen der nachgeahmten Vögel vor die Seele des Zuhörers. Er vergegenwärtigt uns nicht blos den einzelnen Vogel, sondern auch mitunter ganze Gesellschaften gleichartiger Vögel, Staarenfamilien, Bachstelzen, die in nebenbuhlerischer Stellung oder im Verfolgen und Ausschelten des Raubvogels ihr erregtes Zwitschern und ihre Lärmtöne hören lassen. Den Edelfinken hat er den schmetternden Frühlingsschlag in drei verschiedenen Formen abgelauscht, darunter paradirt der brillante Doppelschlag eines Originals, das ehedem in Thüringen den Werth einer Kuh herausgefordert hätte. Ebenso trägt er drei von einander abweichende Bluthänflingsgesänge vor mit entzückend feiner Schattirung, den Feldlerchengesang in modulirter Form, auch verschiedene Variationen des Dorngrasmückenliedes. Von Singdrosseln muß er viele Vorbilder gehört haben, denen er mehr als ein Dutzend herrlicher, metallisch klingender Strophen und das zusammenhängende Balzgezwitscher des Abendvortrags verdankt. Der Baumpieper ist in zwei Variationen des auf’s Feinste ausgeführten Liedes vertreten. Das Wettern der Amsel, das Angstgeschrei der Singdrossel, das Lied der Sperbergrasmücke, das Hammerschlagliedchen des kleinen Weidenlaubvogels, das Lied des Goldammers, seine Locktöne, welche die Gefährten zum Aufbruch mahnen, der vollständige Gesang des Rothschwanzes, der Braunelle, des Grünlings, des Stieglitzes: diese und andere ausführliche oder kürzere Reminiscenzen vollenden den Reichthum seiner staunenswerthen Kunstschätze. Das kostbare Colorit, die treue Ausführung und die Situationscharaktertstik erheben diesen Würger zur höchsten Stufe.

Nach unserer gründlichen Erfahrung sind meistens die alten, mehrere Jahre zählenden Vögel die fertigeren und vielseitigeren im Gesang. Es scheint demnach, als ob der Würger in der Freiheit als Einjähriger noch nicht mit seiner Ausbildung abgeschlossen habe, sondern auch später noch im Stande wäre, Neues zu lernen und namentlich sich im Vortrag zu verbessern. Indessen haben wir auch von jüngeren Männchen vorzügliche Leistungen gehört, wobei Talent und Gelegenheit zur Ausbildung die Grundlage bildeten. Eine wichtige und anregende Frage wirft sich dabei dem Vogelkundigen auf. Wo lernt der Dorndreher eine so große Anzahl von Gesängen wiedergeben? Denn es ist Thatsache, daß mancher Bewohner von Feld- und Gartenhecken, die weit vom Walde entfernt sind, dennoch vorzugsweise die nur in letzterem vertretenen Vögel nachahmt oder auch Weisen von solchen, welche die Rohr- und Schilfniederungen beleben. Unstreitig sind dies Errungenschaften, welche aus der Fremde heimgebracht werden.

Während des Winteraufenthaltes in den südlich gelegenen Ländern wohnt der Dorndreher mit mannigfaltigen Singvögeln zusammen und hört ihre schon lange vor dem Rückzuge in die Heimath beginnenden Vorträge, die er seinem Potpourrirepertoire mit aller Sorgfalt und Treue mehr oder weniger umfassend einverleibt. Sicherlich wird auch auf dem Zuge zufällig Gehörtes dem scharfen Gedächtniß tief eingeprägt und daheim einstudirt. Höchst wahrscheinlich bereichert sich der begabte Vogel im Laufe [43] darauffolgender Jahre durch sorgfältigere Ausführung des Angeeigneten und durch neue Aufnahmen bis zu gewissen Grenzen. Doch würden wir sehr irren, wollten wir nicht noch einen andern Bildungsfactor gelten lassen. Der junge Dorndreher ist vielfach der Schüler seines Vaters. In den Nachsommermonaten sitzt der Alte mit den noch immer die Lieblingsplätze des Standreviers theilenden Jungen, die längst selbstständig geworden sind, im anregenden Sonnenschein und läßt seine Weisen leise als getreue Nachklänge aus der Sommerzeit ertönen. Junge Vögel mit so eminenter Gedächtniß- und Nachahmungsgabe saugen da natürlich die, wenn auch in unterdrückter Art vorgetragenen, aber dennoch scharf genug ausgeprägten Gesänge tief in das musikalische Ohr ein und bilden sich später darnach größtentheils aus. Außerdem hören sie noch solche Vögel locken und singen, welche draußen bis in den Herbst hinein sich vernehmen lassen.

Gemäß unseren Erfahrungen müssen wir der Meinung entgegentreten, welche ebenfalls, wie so mancher andere Irrthum, in sehr verbreiteten Büchern ausgesprochen ist, daß der Dorndreher, alt eingefangen, schwer zu zähmen sei. Abgesehen von Individuen, die sich alsbald nach der Versetzung in den Käfig durchaus nicht stürmisch, sondern ziemlich ruhig, besonnen, wir möchten sagen, gewissermaßen heimisch betragen, haben wir auch sehr wilde Exemplare bald zu artigem Benehmen gebracht, dadurch, daß wir sie in das bewegte Treiben der Wohnstube an ein helles und doch dabei geborgenes Plätzchen versetzten. Bei solchen Polterern wurde natürlich immer erst abgewartet, bis sie in einsamer Stube entweder Käfer und Mehlwürmer oder rohes Fleisch angenommen hatten, während andere Exemplare vor unseren Augen sogleich das dargebotene Futter sich wohlschmecken ließen. Wohl giebt es entsprechend der Individualität anderer Vögel auch unter den Dorndrehern störrische Gefangene, die man am besten, sobald man hartnäckige Verweigerung der Annahme des Futters wahrgenommen hat, rasch und entschlossen wieder freilassen soll.

Solche Vorkommnisse sind aber äußerst selten. Wo täglich frische Ameisenpuppen zu erhalten sind, bewährt sich diese Nahrung als die gesündeste und den Gesang am meisten anregende. Es fällt auch nicht schwer, den Vogel gleich anfangs daran zu gewöhnen, wenn man von ihm nicht mehr verschmähte Mehlwürmer in kleine Stücke zerschneidet und den frischen Puppen beimischt. Oft schon nach wenigen Tagen erhebt dann der Vogel seinen Gesang und läßt ihn selten in den Stunden des hohen Tages verstummen. Dadurch, daß er an den Anblick der auf- und abwandelnden Menschen sich gewöhnt, wird die Gesangslust gesteigert. Besonders ist es das weibliche Personal, welches ihm sehr bald sympathisch wird, weil dieses ihn fortwährend umgiebt und nicht beunruhigt und ängstet. Scheinbare Gleichgültigkeit der Umgebung zähmt ihn, wie ja auch die übrigen Stubenvögel, am leichtesten. Die Unterscheidungsgabe, welche er den mannigfaltigen Erscheinungen in seiner Nähe gegenüber beweist, zeugt von Intelligenz.

Dank diesen seinen Eigenschaften ist der Dorndreher in letzter Zeit ein sehr beliebter Stubenvogel geworden, und dies gab Gelegenheit, einen tiefern Einblick in sein Wesen zu gewinnen.

Ganz gegen Erwarten sind jedoch Versuche mißlungen, aufgefütterte Nestlinge zu Meistersängern dadurch heranzubilden, daß man sie mit vielen ausgezeichneten Singvögeln zusammenbrachte. Sie reichten nicht entfernt an die Meisterschaft der alten Wildfänge hinan. Der Einfluß des Freilebens auf die Entwickelung und Ausbildung des Gesangs wird also hier durch die sorgfältigsten künstlichen Veranstaltungen nicht ersetzt.

Karl Müller.     

Das neue deutsche Bühnendrama.

Von Rudolf von Gottschall.
I.

Wie steht es mit dem deutschen Theater? So viele Klagen werden darüber laut; doch noch immer ist es eine Culturmacht, und jeder aus dem Publicum hat doch ein stärkeres oder schwächeres Interesse dafür. Es ist wahr, von einem Aufschwung der Bühne ist nichts zu merken, aber auch viele Klagen über den Verfall derselben sind übertrieben.

Am wenigsten kann ein Vergleich mit dem Theater unserer classischen Epoche für das unserige ein so niederdrückendes Resultat ergeben. Die Stücke Lessing’s und Schiller’s kamen damals wohl zur Aufführung; aber sie beherrschten nicht das Repertoire; Goethe’s Dramen wurden sehr selten gegeben; einige machten bei der Aufführung Fiasco, wie „Die natürliche Tochter“ in Berlin. Schiller selbst klagt darüber, daß es nur Festtage der Theater seien, wenn seine Stücke gegeben würden; das Alltagsrepertoire, welches für das tägliche Unterhaltungsbedürfniß des Publicums sorgte, setzte sich aus den Stücken von Iffland, Kotzebue und anderen zum Theil namenlosen und heute vergessenen Poeten zusammen. Diese überwiegende Herrschaft des Familiendramas, das oft in’s Criminaldrama überging, hat Schiller selbst in seiner Parodie „Shakespeare’s Schatten“ gegeißelt.

Es ist keine Frage, daß Schiller’s Trauerspiele jetzt viel häufiger gegeben werden, als zu Lebzeiten des Dichters; manche Bühnen veranstalten sogar Schiller-Cyklen, in denen die Werke des großen Dichters hinter einander und gewissenhaft in ihrer Zeitfolge zur Darstellung kommen. Auch von Goethe-Cyklen weiß die Chronik der deutschen Theater zu berichten; wer dachte damals an eine Aufführung von Goethe’s „Faust“? Und als man kurz vor dem Tode des Dichters daran zu denken begann, da handelte es sich nur um den ersten Theil; der zweite, der eben erschienen war, blieb schon bei der Lectüre eine harte Nuß und Niemand hätte gewagt, sie durch ein Theaterpublicum knacken zu lassen. Von Shakespeare wurden nur die großen Meisterwerke aufgeführt; von einer Aufführung des Historiencyclus war nicht die Rede. Schiller, durch die Lectüre desselben begeistert, sprach einmal davon in einem Briefe; doch es war nur ein zufälliger Bühnengedanke, eine Art von Zukunftstraum – keiner der damaligen Bühnenleiter hätte sich daran gewagt, diese Historien im Zusammenhang zu geben; man kannte überhaupt damals die Cyklen nicht. Welche Cyklen sind neuerdings mit Shakespeare’schen Lustspielen gemacht worden! Die unmöglichsten hat man eingerichtet, von den besseren gehören einige zum eisernen Inventar unserer Bühne.

Kurz, das Repertoire unserer classischen Epoche war bei weitem nicht so classisch, wie das heutige ist; freilich hatten die Dichter auch damals freie Hand; die Tradition mit ihren berechtigten Meisterwerken und ihrem unberechtigten Wust lastete nicht auf ihnen. Das ist heute ganz anders! Die Summe jener classischen Werke beherrscht die Bühnen; ein neues Dichterwerk muß sich durch sie hindurchdrängen, wenn es Platz finden soll. Die Bühnenleiter, besonders die vornehmen, glauben der ernsten Dichtung die nöthige weihevolle Beachtung gesichert zu haben, wenn sie jene Werke zur Aufführung bringen; geben sie gar den ganzen Goethe’schen „Faust“ an zwei oder drei Abenden, oder lassen sie eine ganze Woche lang allabendlich die Sporen der Shakespeare’schen Könige, Fürsten und Ritter über die Bretter klirren, so haben sie einen Ueberschuß von guten Werken, der ihnen den Glorienschein des feinen Kunstsinns einbringt.

Hierzu kommt, daß die Zahl der classischen Bühnendichter sich neuerdings vermehrt hat: Heinrich von Kleist, der bei Lebzeiten keines seiner Stücke auf der Bühne sah, der Liebling der Essayisten, die sich an ihm ihre kritischen Sporen verdienen, ist jetzt in ihre Reihe miteingerückt, und die Ehrenrettung dieses bei Lebzeiten so erfolglosen Dramatikers erstreckt sich nicht blos auf seine besten Stücke; man experimentirt mit ihm wie mit Shakespeare und bringt auch seine gewagtesten dramatischen Dichtungen auf die Bühne. Außer ihm ist auch der österreichische Classiker Grillparzer unter die Unsterblichen aufgenommen worden, welche jede Direction respectiren muß.

Die Werke dieser Dichter bilden das Stammrepertoire der großen Hof- und Stadttheater, das Repertoire der berühmten Gastspieler und dasjenige, aus dem in der Regel die Debütrollen der Tragöden gewählt werden.

[44] Die nächstfolgende Generation dramatischer Dichter hatte schon einen schweren Stand. Am erfolgreichsten bewährte sich Friedrich Halm mit seinen Dramen: „Griseldis“, „Der Sohn der Wildniß“, „Der Fechter von Ravenna“, ja er stellte lange Zeit mit diesen Werken seinen österreichischen Collegen Grillparzer in den Schatten, der erst von Laube wieder entdeckt werden mußte, um dann mit dem ambrosischen Lichte seines Talentes und der Gaskrone seines großartig gefeierten Jubelfestes alle dichtenden Stammesgenossen zu überstrahlen. Die Dramen von Prutz und Mosen sind gänzlich vom Repertoire verschwunden; von Mosenthal’s größeren Dichtwerken behauptet sich nur „Deborah“, von Gutzkow’s Tragödien „Uriel Acosta“, von denen Laube’s „Graf Essex“.

Diese drei letzteren Stücke haben neben den classischen Wurzel geschlagen in dem Repertoire der Gegenwart und werden auch an den kleinsten Bühnen gegeben. In geringerem Maße gilt dies von einigen Dramen, welche indeß auf größeren Bühnen doch noch wiederholt zur Aufführung kommen: von Geibel’s „Brunhild“, Putlitz’ „Testament des großen Kurfürsten“, Lindner’s „Bluthochzeit“, von „Katharina Howard“ und „Mazeppa“.

Der Tragödie wird es schwer, durchzudringen; so lange die classischen Dramen noch begeisterten Anklang finden, kann man nicht einmal sagen, daß der Geschmack des Publicums sich ihr abgewendet habe; er verhält sich nur spröde gegenüber neuen Erscheinungen, denen nicht von Hause aus ein so glänzender Geleitbrief mitgegeben ist, wie den durch hundert Commentare verherrlichten Dichtwerken der großen Meister. Ja, wo der Autor nach dichterischer Bedeutung strebt, da pflegt die Kritik den strengsten Maßstab anzulegen, oder sie nimmt gar den Maßstab von den erfolgreichen ephemeren Tagesproducten und läßt dann manches treffliche Werk klanglos in den Orcus der Langenweile hinabgleiten, welche vielleicht der Kritiker selbst empfindet. Jede Kritik ist nicht blos eine Kritik des besprochenen Werkes; sie ist auch immer eine Selbstkritik, und wie geistig tief stehen oft die Tagesrecensenten unter dem Dichter, über dessen Werke sie zu Gericht sitzen!

Doch auch die tragischen Darsteller und Darstellerinnen, welche eine hochgestimmte Dichtung mächtig zu tragen wissen, sind in Deutschland gegenwärtig so selten, daß einzelne Fächer an ersten Bühnen gar nicht oder in ungenügender Weise besetzt sind. Ein jugendlicher Nächwuchs mag die „Essex“ und „Uriel Acosta“ zur Geltung bringen; aber die wuchtvollen Helden der Tragödie, die „Macbeth“, „König Lear“ und „Wallenstein“ sind auf den Aussterbeetat gesetzt. An gefühlsinnigen Gretchen und Clärchen ist kein Mangel; auch für „Maria Stuart“ und ähnliche Rollen, die an der Grenze des Hochtragischen stehen, reichen die geistigen und äußeren Mittel vieler Darstellerinnen noch aus; aber was über diese Grenze hinausreicht, das findet meistens nur versagende schauspielerische Kräfte.

Unter diesen Umständen wird es den jüngeren Tragödiendichtern nicht leicht, die Bühne für ihre Werke zu erobern; sie bleiben meistens auf die Buchdramatik beschränkt, die, von opferlustigen Verlegern gepflegt, bei uns gehörig in’s Kraut schießt. Selbst die Preisertheilungen, auch wenn sie von hochangesehenen staatlichen Commissionen ausgehen, sind meistens ein Schlag ins Wasser: welches von den Stücken, denen der Berliner Schiller-Preis zu Theil geworden ist, hat sich auf der Bühne erhalten? Einige sind nur höchst sporadisch, andere gar nicht zur Aufführung gekommen. Die deutschen Bühnendirectoren lassen sich einmal nicht imponiren: sie wissen, wo Bartel den Most holt, an der Casse nämlich; der Cassenrapport regiert die deutsche Bühne. Daran kann keine ästhetische Autorität etwas ändern.

Sehen wir uns indeß die dramatischen Dichter höheren Stils etwas näher an, die trotz aller dieser Hindernisse in jüngster Zeit mit ihren Werken auf die Bühne gedrungen sind.

Da begegnet uns zunächst Adolf Wilbrandt, der jetzige Director des Wiener Burgtheaters, eine liebenswürdige dichterische Individualität, feingebildet, geistig zart organisirt und doch des tragischen Pathos mächtig; ihm ist es gelungen, sogar mit Römertragödien auf der Bühne schöne Erfolge zu erringen. Sein bedeutsamstes Werk ist das Trauerspiel „Arria und Messalina“. Die Kritik hat viel daran herumgemäkelt; die geniale Wüstheit der Cäsarenzeit erschien zu treu in diesen Situationen abgespiegelt. Vielen war die Messalina zu lasterhaft; uns würde eher die Arria zu tugendhaft erscheinen. Doch den Maßstab für die Bedeutung eines Dichterwerkes können nicht derartige fertige Censuren an die Hand geben: das Stück ist ein kühner Wurf und zeugt von ungewöhnlicher Begabung. Daß die üppige Kaiserin Messalina den Sohn der tugendstrengen Arria in ihre Netze lockt, ist für den Gegensatz der beiden Frauen eine wohlerfundene Handlung; Marcus fällt nicht wie der „Fechter von Ravenna“ durch das Schwert seiner Mutter; aber er tödtet sich selbst, als ihm diese die ganze Schmach vorhält, der er verfallen ist. Die Römertugend der Arria und des Pätus, welche sich der Gewalt der verbrecherischen Kaiserin durch freigewählten Tod entziehen, ist mit starken Zügen gezeichnet, mit dem üppigsten und dämonischen Colorit aber der Charakter Messalina’s selbst ausgemalt, mit seiner ganzen Weltmüdigkeit und Blasirtheit und dem dithyrambischen Cymbelschlag unersättlicher Genußsucht: es sind Farben von Makart und Hamerling, mit denen Wilbrandt dies dramatische Gemälde ausgeführt hat.

In Charlotte Wolter fand er eine Darstellerin der Messalina, welche durch die geniale Kühnheit ihrer Darstellung damit Sensation machte und andere Tragödinnen zur Nacheiferung anspornte: hier zeigte sich wiederum, daß, wie die umherflatternden Insecten die Blumen befruchten, so die umherreisenden Darsteller vorzugsweise den Blüthenstaub neuerer Dichtung über die Bühnen verbreiten.

Wilbrandt’s zweite Römertragödie „Gracchus der Volkstribun“, an der Burg mit großem Erfolg, in Norddeutschland vorzugsweise bei Ludwig Barnay’s Gastspielen aufgeführt, in Wien mit dem Grillparzer-Preis gekrönt, hat dramatische Züge von markigem Gepräge und Scenen von großer Bewegung wie diejenige zwischen Gracchus und Scipio am Schlusse des dritten Actes. Weniger indeß seine Begeisterung für die Sache des Volkes als sein pietätvolles Streben, den ermordeten Bruder zu rächen, ist das Motiv für das Auftreten des Helden; überhaupt erscheint er durchweg als ein leidenschaftlicher Gemüthsmensch, nicht als eine erzene Römergestalt, wie man sich den tapfern Volkstribunen vorzustellen geneigt ist.

In „Chriemhild“, dem mit dem Schiller-Preise gekrönten Trauerspiele Wilbrandt’s, das aber nur über wenige Bühnen ging, hat der Dichter versucht, ein Nibelungendrama ohne Brunhild zu schreiben. Alle sagenhaften Motive sind beseitigt; dafür ist aber ein Shakespeare’sches Gespenst eingeführt, Siegfried’s Kopf, welcher Chriemhildens zögernden Entschluß durch sein bejahendes Nicken entscheidet, und die große Schlächterei im Schlosse Etzels, dies unvermeidliche wüste Schlußtableau aller Nibelungentragödien, entläßt die Hörer mehr mit dem Eindrucke des Gräßlichen als des Tragischen. Dafür ist der erste Act von bestrickender dichterischer Schönheit; auch die beiden andern enthalten Scenen, wie sie nur ein echter Poet zu schaffen vermag. Wie Wilbrandt sich als Schau- und Lustspieldichter zeigt, werden wir später sehen: in seinen Tragödien bewährt er ein hervorragendes Talent, einen ausgeprägteu Sinn für theatralische Wirkung und hohen dichterischen Schwung.

Beides, wenn auch das zweite in geringerem Maße, findet sich in den Werken eines Dramatikers, dessen Name, obschon er nur das dem großen Publicum eigentlich unbequeme Genre des Trauerspiels angebaut hat, in jüngster Zeit auf fast allen deutschen Theaterzetteln zu lesen war. Ernst von Wildenbruch hat sich im Sturm die Bühnen erobert, nachdem er lange Jahre hindurch mit großer Resignation die Kinder seiner Muse in seinem Pulte bewahren mußte, wohin sie stets zurückkehrten, nachdem sie vergeblich bei den Intendanzen angeklopft hatten. Sein dramatisches Talent hat einige Verwandtschaft mit demjenigen von Wilbrandt, besonders was die Gabe betrifft, die Vorgänge auf der Bühne effectvoll zu steigern; er hat jene scenische Anschauung, welche für den Dramatiker unerläßlich ist. Die Situationen, die er uns vorführt, weiß er kräftig und markig hinzustellen, aber die Motivirung schwebt oft in der Luft; den Charakteren fehlt die innerliche Vertiefung; er liebt das Herbe und Schneidige und erinnert im Ausdrucke mehr an die genialen Kraftdramatiker als an Schiller. Für Scenen des Affectes und der Leidenschaft besitzt er durchgreifende Kraft; nur bisweilen finden sich bei ihm Härten des Ausdrucks, schiefe und geschmacklose Bilder.

Das beste seiner Stücke in Bezug auf den dramatischen Aufbau ist „Der Mennonit“; es behandelt überdies ein interessantes Problem, dasjenige des persönlichen Muthes, der durch die

[45]

Der Pifferaro auf Reisen.
Nach dem Oelgemälde von K. Grob in München.

[46] Satzungen der Gemeinde geächtet wird. In diesem Kampfe unterliegt der Held. Den Hintergrund bildet die Zeit der Demüthigung Preußens durch die Oberherrschaft Frankreichs. Der dramatische Stil dieses Dramas steht nicht auf gleicher Höhe mit seiner künstlerischen Architektonik; ihm fehlt jene hinreißende Leidenschaftlichkeit, die sich in den „Karolingern“ und in „Harold“ findet; der letzte Act des „Mennonit“ ist ganz flache Reliefarbeit.

Der Held der „Karolinger“ ist Bernhard Graf von Barcelona, ein thatkräftiger Mann in einer Zeit des Verfalls und der Zerrüttung, als Ludwig der Fromme, der das Reich zwischen seinen drei Söhne getheilt hatte, die Kaiserkrone trug. Seine zweite Frau, Judith, von der er einen Sohn Karl hat, nimmt für diesen das gleiche Recht, einen Theil des Reiches in Anspruch. Bernhard liebt die Kaiserin; er trachtet nach ihrer Hand und nach der Krone, auf einem kleinen Umwege, indem er vorher Judith’s Sohn zum Kaiser krönt: er vergiftet Ludwig, wird aber von den Söhnen desselben im Kampfe getödtet. Es ist eiserne Kraft in diesem Helden; aber er ist gewissenlos, ganz anders als Shakespeare’s dämonische Charaktere Macbeth und selbst der eingeteufelte Richard III., die von den Qualen des Gewissens zerfleischt werden. Diesen Bernhard stört keine innere Stimme in seinem Vorgehen; er tödtet seine frühere Geliebte ohne inneren Kampf vorher, ohne eine Spur von Reue nachher. Einzelne Scenen des Stückes, wie die Liebesscene mit der Kaiserin, haben einen großen und bedeutsamen Zug.

Der Held des Trauerspiels „Harold“ ist der Sachsenkönig, der auf dem Schlachtfelde von Hastings dem Normannen-Herzog Wilhelm erliegt. Den Angelpunkt der Handlung bildet der Eid, den Harold in der Normandie schwört, die Ansprüche Wilhelm’s auf die englische Krone unterstützen zu wollen: ein Eid, den er bricht, als ihn selbst das englische Volk zum König wählt. In Wildenbruch’s Stück läßt sich Harold überlisten; die geistesbeschränkte Unbedachtsamkeit setzt den Helden in unseren Augen zu sehr herab. Die beiden ersten Acte haben eine dramatisch lebendige Exposition; der letzte klingt poetisch stimmungsvoll aus.

Wildenbruch’s Drama „Väter und Söhne“ zerfällt in zwei Haupttheile, die in der Zeit aus einander liegen; das Stück löst sich überhaupt in eine Reihe Tableaux auf, hat einen sehr matten letzten Act und ist in seiner Ausführung von oft abstoßender Herbheit.

Einige andere Dramatiker, die trotz der Ungunst der Zeiten zum Banner der Melpomene schwören, werden wir in unserem nächsten Artikel näher ins Auge fassen und uns dann den mit günstigerem Fahrwind segelnden Lustspieldichtern zuwenden.




Dschapei.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.

Mutterle! Mutterle! Da schau her! Was der Almbauer mir g’schenkt hat: a Lamperl [1] – so a lieb’s! Schau nur g’rad, Mutterle! Schau, schau!“

So rief mit einer Stimme, aus welcher helle Freude sprach, ein junges Mädchen, während es mit dem Ellbogen die Klinke der Thür niederdrückte und in die kleine, wohldurchwärmte Stube trat.

Die alte Baslerin – ihr Mann selig hatte sich Johann Nepomuk Basler geschrieben – legte das Strickzeug auf ihr offenes Gebetbuch, rückte aus dem Herrgottswinkel hervor gegen die offene Wandbank und wollte sich erheben.

Schon aber stand das Mädchen vor ihr, ließ sich auf beide Kniee nieder, schob mit dem Kinn die aufgeschlagene Schürze von den belasteten Armen und legte in den Schooß der Mutter ein kleines, schneeweißes Lamm, das mit ängstlich scheuen Augen umherblickte in der Stube und empor zu den beiden ihm noch fremden Gesichtern.

„Ja Nannei – Nannei – so sag’ nur g’rad – na [2], so ’was!“ lächelte die Alte mit vergnüglichen Mienen.

„Gelt, Mutterle – so ’was – gelt – so ’was Liebs hast ja noch gar nie net g’sehen!“ jubelte Nannei, während sie mit behutsamen Händen das niedliche Thierchen liebkoste. „Schau nur, die Haar’, die rühren sich an wie lauter seidene Schneckerln [3], und die feinen, dünnen Füßerln, da glaub’ ich schon, daß sie ’s noch net amal recht dertragen wollen – und das Goscherl, g’rad wie a recht a lichts Röserl, g’rad so a Farb’ hat’s und die sanften Aeugerln! Aber geh,“ sprach Nannei nun das Lamm mit schmollenden Worten an, „geh, du Dschapei, du, was schaust denn jetzt gar so fürchtig drein, als ob dich wer beißen wollt’. O, wir thun dir nix – na – gewiß net! Und zittern thust – ja mein – gelt – draußen is halt so gar viel kalt g’wesen, du arms Hascherl[4] du!“ Schmeichelnd drückte Nannei ihr Gesicht an den Hals des Thieres und ließ ihm den warmen Hauch ihres Mundes unter die lockige Wolle strömen.

„Ja, Nannei, schamst Dich denn jetzt net, bist denn ganz übergeschnappt?“ eiferte die alte Baslerin, während sie den Daumennagel in das Ohrläppchen des Mädchens kniff. „Redst ja g’rad daher wie a Deandl von a fünf Jahr’. Geh weiter, sei doch net gar so narrisch!“

„O mein – Mutterle, schau, ich hab’ halt a so a Freud’ – ich kann Dir’s gar net sagen – mit dem Viecherl!“

„Ja, ja, es is schon recht; aber da braucht man doch net gleich so obenaus sein und so ganz verruckt! Könntst mir doch auch amal verzählen, wie’s denn eigentlich zu’gangen is, daß Dein Almbauer heut’ so a Spendirhosen an’zogen hat.“

„Ja mein – und das is ja noch lang net alles! Ich sag’ Dir – was mir der heute alles g’schenkt hat! Gar net derschleppen hätt’ ich’s können auf amal – und weißt, drum hab’ ich halt zuerst mein Lamperl heim’tragen, weil’s mich gar a so g’freut hat! Ja – daß ich’s nur sag’ – weißt – nach der Kirchen – na, Du, Mutterle, der hochwürdige Herr Kapaziner hat Dir heut’ ’predigt – so schön – vom Lamm Gottes und seiner Gutheit – weißt, und drum hat mir auch nachher das Lamperl gar so a b’sonderne Freud’ gemacht – ja, also – nach der Kirchen, wie ich so ’rausgeh’ mit die Andern, da steht mein Almbauer und lacht und nickt mir zu: ‚Grüß’ Dich Gott, [47] Nannei! Bist auch beim Zeug?‘ ‚Ja,‘ sag’ ich, ‚wär’ net aus, wann ich heut’ daheim bleibet.‘ ‚No,‘ sagt’r, ‚wie geht’s denn Deim Mutterl?‘ ‚Ich dank’ schön,‘ sag’ ich, ‚in die Füß’ hat sie’s halt a bißl. Ja, es is ihr recht arg, daß sie ’s Haus hüten muß – g’rad am heutigen Tag.‘“

„Is schon wahr auch,“ seufzte die alte Baslerin, „der erste Ostersonntag, an dem ich zur Kirchenzeit in der Stuben sitz’! Unser Herrgott verzeih’ mir’s, aber ich kann nix dafür. O – die Füß’, die Füß’!“

„No also,“ plauderte das Mädchen weiter, ab und zu das Gesicht an den Kopf des Lammes drückend, „so haben wir halt noch a Weil’ so fort g’redt, wegen Deiner und von wegen die Küh’ und die Schaf’, bis er auf amal sagt: ‚So, Deandl, und jetzt gehst mit mir, mein Weib hat Dir an Ostersegen herg’richt’, und den tragst Dir nachher schön stad heim.‘ ‚Jesses na,‘ sag’ ich ganz derschrocken und verlegen, ‚Bauer, das hätt’s ja doch gar net ’braucht!‘ ‚No, no,‘ sagt’r, ‚’s is net so g’fährlich.‘ Ja – nachher is er vor mir her’gangen – und ich bin hinterdrein – ’nunter in sein’ Hof. Und wie ich ’nein komm’ in d’Stuben, da – g’wiß wahr, Mutterle, ich hab’ gar nimmer g’wußt, was ich sagen und wo ich hinschauen soll, so g’schamig [5] hat mich die G’schicht’ g’macht – da tragt mir die Bäuerin am Tisch her an Kretzen,[6] bis oben voll mit Aepfel und Nuß’ und Eier und weiße Wecken – ja – und in der Mitt’ drin is Dir an Ends-Trumm Schunken [7] g’legen – schad’ daß ich ihn net vor der Kirchen kriegt hab’, hätt’ ihn nachher noch können weihen lassen! Ja – und wie ich noch allweil so steh’ und schau’, da legt mir der Bauer neben den Kretzen hin a Fünfmarkstückl – sixt es, da hab’ ich’s.“ Nannei zog aus ihrem Rocke ein weißes Taschentuch hervor, löste mit vor Eile zitternden Fingern den dicken Knoten, der darein geschlungen war, und drückte die große Silbermünze, die nun zum Vorschein kam, ihrer Mutter in die hagere, faltige Hand. „So, Mutterle, das gehört Dein – da mußt Du ganz allein für Dich ’was d’rum anschaffen!“

„Jawohl – sonst nix! Was will denn ich ält’s Leut mir noch anschaffen! Das wird g’spart, Nannei – für Dich – zum andern – weißt, Du kannst es amal ganz gut brauchen, wenn –“

„Mutterle! Mutterle! Heut’ därfst mich aber schon g’wiß net verzürnen! Ich hab’s amal g’sagt – und da drum mußt Du Dir an neuen Sommerjanker[8] anschaffen – weißt, der alte schaut schon recht schiech her in der Farb’.“

„Was! Der is ja noch wie neu! Ich hab’ ihn ja noch gar net amal lang – höchstens a zwei-, a dreiundzwanzig Jahrln!“

„Jesses na! Der is ja nachher älter wie ich – und schau’ ich schon nimmer ganz schön her!“ scherzte Nannei und drückte ihrer Mutter an jener Hand, welche das Geldstück hielt, immer wieder die Finger zu. „Du kaufst Dir den Janker – oder ich bring’ Dir selber amal ein’ über Nacht in’s Haus – und der muß nachher noch mehrer kosten. Ich will auch wieder amal Staat machen mit mei’m Mutterle – ja…a…a!“

„O Du Kindsköpferl Du, Du narrisch’!“ schmollte die Alte, während sie mit glückselig lächelnden Augen auf das Gesicht der Tochter niederblickte. „Aber mach’ doch, daß Du wieder amal weiterredst! Bis Du ’was verzählst, derzeit könnt’ dieselbige G’schicht’ schon fünfundvierzigmal passirt sein – is schon wahr auch!“

„A geh! Aber schau – eigentlich is ja gar nimmer viel zum verzählen. Ja weißt – da is halt der Bauer nachher ’naus’gangen aus der Stuben – und wie er wieder ’rein’kommen is, da hat er ’s Lamperl auf die Händ’ ’tragen und hat g’sagt: ‚So, Deandl – weil ich kein zuckerns net hab’, jetzt muß ich Dir dengerst[9] a lebendigs schenken, damits auch an guten Braten habts – Du und Dein’ Mutter – die paar Feiertäg’!‘ Ja, so hat er g’sagt und hat mir’s Lamperl hin g’reicht – aber na – gelt, Mutterle, na – gelt, na – wir essen’s aber net? Wär’ doch g’wiß a Sünd’ und a Schad’ um so a herzliebs Viecherl. Gelt, Mutterle – gelt, wir ziehen’s auf –.“ Und ohne die Zusage ihrer Mutter abzuwarteu, sprang Nannei auf die Füße und eilte zur Stube hinaus mit den Worten: „Wart’ nur – ich will ihm gleich a Liegerstatt richten – hinterm warmen Ofen.“

Bald erschien sie wieder, in den Händen einen großen, an manchen Stellen schon zerrissenen Korb, der bis zur Hälfte mit lockerem Heu gefüllt war. Den stellte sie in der Ofenecke auf die schrundigen, doch blank gescheuerten Dielen und ging dann, das Lamm von ihrer Mutter Schooß zu heben und herbeizutragen.

„Deandl, Deandl,“ mahnte nun die Alte, während sie den grauen Kopf bedenklich zwischen den Schultern wiegte. „Das wird sich hart machen. Weißt es ja; im Haus haben wir nix, kein’ Milli und sonst nix – haben ja selber kaum ’was z’beißen!“

„Ach was!“ lachte Nannei. „Der Almbauer hat mir so viel heut’ g’schenkt, daß ich g’rad ganz keck worden bin. Der muß mir diemal[10] an Krug voll Milli schenken – bei seine zweiunddreißig Küh’ kann er’s leicht machen. Die paar Wochen werden wir’s schon durchbringen – und nachher geht’s ja so wie so mit mir auf d’Alm. Da hat’s g’rad g’nug zum Umeinandergrasen. Ja – und für heut’ – für heut’ weiß ich auch schon an Rath.“

Mit den durch die Schürze vor der Hitze gesicherten Fingern öffnete sie das Bratrohr und entnahm demselben einen dampfenden Hafen.

„Jesses na! Was machst denn?“ kreischte die alte Baslerin, während sie hurtig herbeigehumpelt kam. „Das is ja unser Milli für Mittag – zur Millisuppen!“

„Geh, Mutterle, geh – ich hab’ an einer Wassersuppen auch ’gessen. Und wegen Deiner – ja – da lauf’ ich nachher gleich und hol’ den Kretzen mit mei’m Ostersegen – ja, und da mach’ ich Dir nachher Schunkenknödel – von derer Größ’!“ Und Nannei beschrieb den Umfang eines solchen Riesenknödels „von derer Größ’“ mit beiden Armen in die Luft.

Die Baslerin spitzte unwillkürlich die Lippen. Sie war beruhigt und befriedigt. Solch einem seltenen Genuß zuliebe, wie er ihr nun für heute noch in gewisser Aussicht stand, hätte sie ihre hungrige Seele auch länger denn ein paar kurze Stunden vertröstet.

Nannei war schon ganz vertieft und versunken in die Sorge für ihren Pflegling. Sie kühlte die allzu warme Milch mit frischem Wasser, goß sie in eine große, noch aus Vaters Lebzeiten herstammende Branntweinflasche und verschloß dieselbe in Ermangelung eines Saugschlauches mit einem aufgerollten Leinwandstückchen, sodaß die Milch bei gehobener Flasche in dicken, reichlichen Tropfen aus den Fäden sickerte.

Ihr niedlicher Pflegling, der im Alter wohl kaum die zweite Woche erreicht haben mochte, stellte sich bei den ersten Versuchen solch’ künstlicher Ernährung wohl ein wenig ungeschickt, und ein über das andere Mal rief Nannei in sorgender Ungeduld:

„Du Dschapei – o du Dschapei, du dummes – o du Dschapei du!“

Und dieser Name, mit dem die Leute am Königssee und im Berchtesgadener Lande halb in scheltendem und halb in schmeichelndem Sinne ein sanftes, gutmüthiges, nur etwas ungeschicktes und beschranktes Wesen zu benennen pflegen, wofür die Schwaben das bekannte „Tschapperle“ haben – dieser Name war hier berechtigt, wie nicht leicht ein anderer.

Ja – das war ein richtiges Dschapei! Die Nannei meinte es gewiß so gut mit ihm – doch immer und immer wieder riß dieses kleine Dschapei sein weißes Köpfchen aus dem darum geschlungenen Arme des Mädchens, stieß und strampelte mit den Füßen, wollte aus dem Korbe springen, puffte mit der Schnauze die Milchflasche zur Seite oder ließ, wenn es wirklich einmal die Flasche nahm, die Milch, statt sie zu schlucken, aus den Mundwinkeln niedertriefen auf das Heu.

Und Nannei reichte ihm doch ihr eigenes Mittagsmahl und hungerte ihm zuliebe.

Ob es wohl an seine Mutter dachte, die man am Abend des verwichenen Tages von seiner Seite hinweg aus dem Stalle geführt hatte? Armes Dschapei – die hing jetzt drunten in Unterstein zur Hälfte in des Almbauern Keller an einem blutigen Eisenhaken, zur anderen Hälfte dampfte sie als Ostersonntagsmahl [48] in der mächtigen Schüssel, die nun inmitten des Tisches stand, um den der Bauer, die Bäuerin, die drei Kinder der Beiden, der Knecht und die Mägde saßen, mit spitzen Gabeln und scharfen Zähnen.

Du dummes Dschapei, du solltest froh sein, daß du zu klein warst für den großen Hunger dieser vielen Leute – froh sein, daß dich der Zufall unter die liebevolle Obhut eines gutherzigen Mädchens führte. Und wie bist du so blind für dieses Mitleid, gegen diese Fürsorge so widerspänstig!

„Mein Gott – mein Gott,“ jammerte Nannei, die vor dem Korbe auf den Dielen kauerte, und der schon die Thränen in die Augen kamen; „geh – so sei doch g’scheid – geh, da schau her – geh, so trink doch, g’rad a bisserl, geh – schau, thust mir ja sonst verhungern, du Dschapei du!“

„Es nimmt’s net – es nimmt’s net!“ sagte die alte Baslerin, welche die ganze Zeit über mit aufgestemmten Armen an Nannei’s Seite gestanden war. „Wart’ nur – jetzt will ich die G’schicht’ amal probiren!“

Sie ging auf den Tisch zu und tauchte den mit langer Zunge benetzten Zeigefinger der rechten Hand in das der Schublade entnommene Salzfaß. Als sie zurückkehrte, setzte auch sie sich vor dem Korbe auf den Stubenboden und nahm die Flasche aus Nannei’s Händen. Sie lockerte den Leinenpfropf, wickelte das vorgezogene Ende des milchgetränkten Gewebes um den gesäuerten Finger und steckte diesen mitsammt dem Flaschenkopfe in die von Nannei geöffnete Schnauze des Lammes.

Und siehe – das Dschapei schnappte begierig zu, reckte und dehnte sich in erkennbarer Behaglichkeit, legte die Kehle in den Schooß der alten Baslerin und sog in langen, durstigen Zügen die Milch aus der Flasche. Und während es so lag und trank, da blinzelte es wohl ab und zu nach dem faltigen Gesichte der Alten empor, zumeist aber hingen seine sanften blaugrauen Augen an Nannei’s Antlitz.

Es war auch eine Freude, in dieses jugendfrische, muntere Gesicht zu schauen. Es sah sich an wie ein rothbackiger Apfel, auf dem noch der duftige Thau der kaum erlangten Reife liegt. Diese vollen Lippen wußten nur kindlich keusch zu lächeln, und diese großen braunen Augen blickten so sanft und harmlos, und doch so klar und leuchtend; sie hatten die den Glanz der Augen trübende Thräne noch nicht kennen gelernt, sie kannten nur die Kinderthräne; nie noch hatten sie geweint aus wirklichem, das Herz zerreißendem Leide – denn damals, als die Leute den Vater nach Hause gebracht hatten, zerrissen und zerschunden von den Zacken und Schroffen der Sigerethwand, über die er als Treiber bei einer Gemsjagd herniedergestürzt, da war das Nannei noch ein Kind gewesen, das mit dem Köpfchen kaum an die Tischplatte reichte, das den Tod des Vaters nicht zu fassen wußte, das eben weinte, weil es die Mutter weinen sah.

Und die Enge ihres elterlichen Hauses, die Armuth ihres Lebens, das für Mutter und Tochter mit knapper Mühe nur das sättigende Brod zu bieten wußte – o, diese Dinge störten Nannei’s Laune nicht; sie kannte das nicht anders; sie war das gewöhnt von Jugend auf, war zufriedenen Herzens und wünschte sich kein Besseres. Das kleine Häuschen mit der winzigen Küche und den zwei engen Stübchen schien ihr so traut und heimlich. Was brauchte sie auch mehr als einen Raum, in dem sie an der Seite ihrer Mutter schaffen, essen und schlafen konnte. Und nun – nun waren ja überhaupt die Tage der gröbsten Sorge vorüber. Nun war sie ja groß, nun konnte sie arbeiten, für zwei und drei. Schon im verwichenen Sommer war sie Hüterdirne auf der Regenalm gewesen; da hatte sie keinen Pfennig von ihrem Lohn gebraucht – im Gegentheil, sie hatte von den Trinkgeldern der die Alm besuchenden Sommergäste noch ein Hübsches hinzugespart. Der hungerige Winter hatte freilich von diesem Gelde gezehrt; doch aber mußten ihr – das hatte sie lange schon ausgerechnet – bis sie wieder zu Berge zog, an zwanzig Mark verbleiben. Das war ja schon der Anfang zu einem Vermögen! Und was sollte erst der kommende Sommer bringen! Da sie sich droben am Regen so schicklich angestellt und so tüchtig gehalten, hatte sie jetzt der Bauer trotz ihrer siebzehn Jahre schon als richtige Sennerin eingedingt. Während sie selbst dann droben schaffte, und ihren Lohn sparte, saß die Mutter herunten im Stübchen und strickte und strickte immerzu – das deckte ihre winzigen Bedürfnisse, darüber hinaus fiel sogar ab und zu noch ein Nickelstück in die Sparcasse – viel war es freilich nicht, aber „Regnet’s net, so tröpfelt’s doch!“ pflegte die alte Baslerin zu sagen. Nannei wußte in Gedanken schon gar nicht mehr wohin mit all dem grausam vielen Gelde. Und nun hatte sie auch schon ein Lamm – das sollte ein Schaf werden und gute, schwere Wolle geben, die dann von der Mutter gesponnen und für die Bauern und Burschen zu Wadenstrümpfen verstrickt werden konnte, zwei Mark achtzig Pfennig das Paar – oh – und wer weiß – wenn ihr droben auf der Alm kein Unglück widerfuhr, das heißt, wenn ihr kein Stücklein abstürzte und keines einer Seuche erlag; wenn sie im Herbste heimwärts zog mit ihren Kühen, so jede recht kugelrund und von glänzenden Haaren – wer weiß – das war ja schon öfters dagewesen – vielleicht schenkte ihr dann der Almbauer in seiner ersten Freude, und ihrer Wachsamkeit zum Danke eine Kalbin – eine weiße mit braunen Backen und einem dünnen braunen Striche über den Rücken hin wäre ihr am liebsten gewesen – aus der wurde eine Kuh; und die Milch, welche sie gab, konnte man zur Hälste in der Wirthschaft brauchen, zur Hälfte verkaufen; und die Kühe vermehren sich – dazu sind sie doch eigentlich auf der Welt – da kam also mit der Zeit eine zweite, eine dritte und immer so zu – und – ja, und mit dem Inhalt der Sparbüchse ließ sich dann an das kleine Haus ein kleiner Stall anbauen, und – und – o Gott, o Gott!

Der Nannei ward bei solchen Gedanken ganz wirblig im Kopfe; sie wandte das Gesicht, just als ob es der Blick des so fleißig an der Flasche zullenden Dschapei wäre, der diese hochmüthigen Gedanken in ihr erweckte. Ein Schauer überlief ihren Nacken, und sie hob ihre Hand – es war eine zwar kleine, doch braunrothe, schwielige Hand um von der runden Stirn die blonden Haarbüschel hinwegzustreichen, die sich unter den dicken, das Haupt umschlingenden Zöpfen hervorgestohlen hatten.

„Weißt ’was, Nannei –“ sagte mit einem Male die alte Baslerin, „das Thierl kommt ohne Deiner auch zu sei’m Sach. Geh zu – geh ’nunter zum Almbauer – hol’ Dein’ Ostersegen.“

Von Nannei’s Zügen schwand der nachdenkliche Ausdruck; sie lachte und zeigte dabei ihre weißem regelmäßigen Zähne.

„Gelt, Mutterle, gelt blangt’s Dich [11] halt schon a bißl nach Deine Schunkenknödel? Aber hast Recht –“ einmal noch strich sie dem Dschapei mit der Hand über Kopf und Hals, dann sprang sie auf die Füße und schüttelte die Röcke, „jetzt tummel’ ich mich recht und schau’, daß ich bald wieder daheim bin; und nachher – oh – die sollen Dir aber schmecken, Mutterle!“

Da war sie auch schon draußen zur Thür, und rüstigen Schrittes wanderte sie über die schneebedeckten Wiesen der Fahrstraße zu.

Die Männerleute, die ihr begegneten, grüßten mit freundlichen Worten und blinzelnden Augen; und wenn es ledige Burschen waren, so blieben sie am Wege stehen, wandten die Hälse und blickten der schmucken Erscheinung nach, die so unbekümmert um die ihr folgenden Blicke dahinschritt, im dunkelblauen Röckchen mit der weißen Schürze, im schwarzen Wamse mit dem rothen, grünumränderten Latze, mit dem schmucklosen Hütchen über den blonden Flechten. Was aber half ihnen das Hälsedrehen und Nachgucken? Nannei dachte kaum, daß ihr diese Ehre gelten sollte – und dann – der liebe Herrgott, die Mutter und das kindliche Erinnern an ihren todten Vater füllten ihr junges Herz bis in das letzte Winkelchen aus. Da drinnen hatte bislang nichts anderes Platz – nun höchstens noch ihr kleines Dschapei.

Die Weiberleute, die ihren Weg kreuzten, dankten wohl auf Nannei’s Gruß; hintnach aber zuckten sie die Achseln und verzogen die Mäuler über die Arme da, die kein Ringlein am Finger, nicht das winzigste Kettlein am Halse, nicht einmal Silberknöpfchen in den Ohren, ja nicht einmal ein Stämmchen Adlerflaum am Hute trug. –

Als Nannei so eine Stunde später, das Körbchen mit ihrem Ostersegen am Arme, daheim die Stube betrat, saß die alte Baslerin wieder im Herrgottswinkel vor dem offenen Gebetbuche, das klappernde Strickzeug in Händen – das Dschapei aber lag ruhig in seinem Heu und ließ den Kopf mit geschlossenen Augen über den Rand seines Korbes heraushängen; ab und zu runzelte es die Stirn und zuckte die kärglich behaarten Ohrlappen – zwei deutliche Zeichen von Wohlbefinden.




[49] Der Ostermontag hatte ein richtiges Frühlingswetter gebracht.

Die Bäume und Dächer troffen von dampfendem Thauwasser, die Wege wurden braun und kothig, auf den Wiesen hoben sich schon einzelne fahlgelbe Flecken aus dem rissigen Schnee, und die winterlichen Berge nahmen jene blaugraue Färbung an, die das beste Zeichen des werdenden Lenzes ist.

Und so ging das weiter, Tag um Tag – der kommende noch immer schöner als der verwichene. Wohl füllten die wallenden Nebel das Thal, aber die Sonne kam zu Kräften und trieb sie hinauf bis zu den Kuppen der höchsten Berge. Bald lagen die weiten Fluren ledig ihrer weißen Bürde – und wie eine Schnecke bei jäher Berührung die Fühler schrumpfen läßt und sich zurückzieht in’s Gehäuse, so schrumpfte mählich und mählich der Schnee die steilen Hänge hinan und zog sich zurück in sein kaltes Felsenhaus.

Da stachen die ersten frischen Gräser aus dem feuchten Grunde, aus allen Zweigen sprangen die winzigen, lichtgrünen Knospen, und in der Nähe dichter Hecken und bestrüppter Straßenraine füllte ein leichter Veilchenduft die sonnigen Lüfte.

Inzwischen ging in dem kleinen Baslerhäuschen, das dicht an jenem Wege lag, der von Königssee nach Ilsank führt, so Alles den gewohnten stillen Gang.

Vom frühen Morgen bis zum späten Abend saß die alte Baslerin im Herrgottswinkel und ließ die Nadeln klappern, aus denen die grünen und grauen Strümpfe hervorwuchsen, kurz oder lang, eng oder weit, wie es die Wadenverhältnisse der Besteller eben verlangten.

Ein Lied.0 Oelgemälde von W. von Miller.
Nach einer Photographie im Verlag von Fr. Hanfstaengl in München.

Nannei führte die Wirthschaft. Das machte ihr freilich wenig Mühe, denn die Brennsuppe am Morgen, die „Nudln mit Kraut“, oder die „Kaasnocken“ oder der „Schmarren“ des Mittags, und die Milchsuppe am Abend, diese Dinge kochten sich rasch, und das wenige Geschirr war auch bald wieder gesäubert. Daneben aber gab es noch mancherlei Arbeit, besonders mit der „Nahterei“. Da galt es, die eng gewordenen Spenser und Janker weiter zu machen, da mußten an den verwachsenen Röcken die Querfalten ausgelassen oder wenn solch ein Mittel nicht mehr fruchtete, mußten neue, breitere Säume angenäht werden, um diese Kleidungsstücke wieder zu schicklicher Länge zu bringen. Sogar die Bergschuhe, die der letzte Sommer tüchtig mitgenommen hatte, flickte sich Nannei selbst zurecht – sie schnitzte sich sogar mit eigenen Händen die für die Almarbeit nöthigen „Holzpatschen“. Die Dinger fielen zwar auch darnach aus, es waren die reinen Flöße – aber sie waren billig, und das gab bei Nannei vor der Schönheit und Bequemlichkeit den Ausschlag.

Ein paarmal in der Woche ging sie dahin und dorthin zur Taglohnarbeit. Besonders gern wurde sie vom Oberförster zum Unkrautjäten in die Culturgärten gerufen; denn während die anderen Arbeiterinnen hier mit groben Händen zugriffen und ihre Arbeit nur so „überhops“ thaten, mühte sich Nannei mit immer gleicher Sorgfalt und Achtsamkeit, und nie geschah es, daß sie mit dem Unkraute auch eines der kleinen Baumpflänzchen aus der Erde riß.

Jede freie Stunde aber widmete sie der Erziehung und Pflege ihres Dschapei, nachdem sie die Ernährungsmühe schon am Ostermontage der Mutter abgenommen hatte. Und das Dschapei gedieh und wuchs auch unter dieser steten Fürsorge, daß es für Nannei eine Freude war. Bald lernte es seiner Herrin auf einen Lockruf durch die ganze Breite der Stube entgegen trippeln, bald fing es an, dem Mädchen aus eigenem Antriebe nachzulaufen, hinaus in die Kammer, darin die zwei Betten mit den wurmstichigen Gestellen standen, von der Kammer wieder in die Stube und von da in die Küche. Es begann auch schon Verstand zu bekommen – denn wenn es nicht pünktlich zur gewohnten Stunde seine Nahrung erhielt, dann mahnte es mit lautem, weinerlichem Schmählen seine Pflegerin an ihre Pflicht. Freilich – Verstand, das ist ein wenig viel gesagt – es war das so eine eigene Sache mit diesem Verstande; es war der richtige Dschapei-Verstand.

Nicht einmal nur geschah es, daß sich das ungeschickte Dschapei an den heißen Eisenplatten des geheizten Ofens die Schnauze oder die Ohrlappen verbrannte; einmal sogar zog es mit dem Maule [50] das blaugefärbte Linnen vom Tische und verbrühte sich am siedheißen Inhalte der niederstürzenden Suppenschüssel den halben Rücken; die Stubenschwelle überschritt es zumeist in dem Momente, in dem eine achtlose Hand oder ein Windzug die Thür zuwarf; wenn es versuchte, der Nannei über die Bodenstiege nachzuklettern, fiel es gewiß herunter oder klemmte doch wenigstens einen der Füße in die Bretterklumsen. Und wie es erst hinaus durfte in den Hof, auf die Straße, auf die Wiese – o du lieber Himmel! da stand es lange Stunden auf einem Flecke und starrte mit verwunderten Augen hinein in die schöne Gotteswelt – und in solch einer Stellung wär’ es einmal auf der Straße fast überfahren worden; von allen Hunden der Nachbarschaft ward es zerrauft und gebissen; um ein Gras, ein eben, erst aufgeschossenes Kräutchen zu holen, zwängte es den Kopf in die Lucken der Lattenzäune und würgte sich, da es zumeist nicht wieder zurück konnte, an den unnachgiebigen Stäben halb zu Tode; einmal auch stürzte es in einen Tümpel und wäre jämmerlich ertrunken, wenn es nicht die Hände der gelegen kommenden Nannei noch zur rechten Zeit an’s Trockene gezogen hätten.

„O, du Dschapei – du Dschapei du!“

Das zu rufen hatte Nannei an jeglichem Tage dutzendfachen Grund – und so kam es, daß dem Thiere zum bleibenden Namen wurde, was ihm erst nur als Schelt- und Schmeichelwort gegolten hatte: Dschapei!

(Fortsetzung folgt.)

Der Zimmer- und Fenstergarten.

Wenn ich der Blumenliebhaberin und Pflegerin von Floras Kindern mit einigen Rathschlägen für die Behandlung ihrer Lieblinge an die Hand zu gehen gedenke, so muß ich vor allen Dingen bitten, nicht Wunderwerke von mir erwarten zu wollen, denn meine Vorschriften helfen nur „der glücklichem Hand“, das heißt Demjenigen, der sie mit seinem eigenen Verständniß für die Bedürfnisse der Pflanzen zu vereinigen weiß.

Ehe ich die eine oder andere besonders beliebte Pflanzenfamilie bespreche, möchte ich mir erlauben, den Bedürfnissen der Pflanzen im Allgemeinen einige Zeilen zu widmen, sei es auch nur, um sonst nothwendiger Wiederholungen überhoben zu sein, und bemerke vor Allem, daß am geeignetsten als Zimmergarten ein zu diesem Zweck eingerichtetes Blumenzimmer ist, was nicht ausschließt, daß einzelne besonders geduldige Blüthen- oder Blattpflanzen auch im gewöhnlichen Wohnzimmer gut gedeihen. Die beste Lage für ein solches Blumenzimmer ist die gegen Süden und Südost, im Winter noch besser die gegen Südwest, weil auf die Morgensonne wenig zu rechnen ist; das Sonnenlicht wirkt meist sehr wohlthätig auf die Pflanzen und wer solches entbehrt, wird nie viel Glück mit ihnen haben, am wenigsten mit denen, die im Winter blühen sollen. Ein Ausbau mit Fenstern an drei Seiten dürfte allen Zwecken vollständig genügen; doch darf ihm eine bequeme Einrichtung zum Lüften der Fenster, zum Schutz gegen Kälte im Winter und gegen die Mittagssonne im Sommer nicht fehlen. Im Nothfall muß man sich, namentlich bei geringem Vorrath von Pflanzen, mit einem einfachen Doppelfenster begnügen.

Gewächse, welche im Herbst mit ihren Stengeln absterben, oder harte Holzpflanzen, auch solche, welche die Blätter abwerfen, können wenigstens bis dahin, wo sie von Neuem beginnen zu treiben, in einem trocknen Keller oder frostfreien Schuppen überwintert werden, denn ihnen ist die Winterruhe ein ebenso großes Bedürfniß, wie ihnen und allen andern Pflanzen die Wärme, das Licht und zum Theil auch der Sonnenschein im Sommer. Sind jene Räume nicht dumpfig, mit Einrichtungen zum Lüften versehen und noch genügend hell, so kann man darin wohl auch Levkojen, Goldlack, Myrthen, Oleander, Fuchsien, Agaven, Yuccas und viele andere überwintern, welche in dieser Jahreszeit nicht blühen.

Im Allgemeinen sollen die Zimmerpflanzen in nicht zu großen Gefäßen stehen, weil sie darin, namentlich während des Winters, leicht faulen oder sonst krank werden. Bemerkt man dies, so soll die Pflanze in einen andern kleineren Topf versetzt werden, wobei man den Wurzelballen durch Auswaschen in lauwarmem Wasser vollständig reinigt, die faulen Wurzeln ausschneidet und bis zu beginnendem Wachsthum nur wenig Wasser giebt. Die großen Töpfe sind auch unbequem, weil sie viel Platz beanspruchen, und kann man, wenn man die Pflanzen in gehacktes Moos setzt, welches mit Mineraldung getränkt wurde, sehr kleine Gefäße anwenden, also auch verhältnißmäßig viel Pflanzen unterbringen, und hat sich folgende Mischung als Blumendünger im Moos ganz vorzüglich bewährt: 38 % salpetersaures Ammoniak, 30 % doppelt phosphorsaures Ammoniak, 26 % salpetersaures Kali (Salpeter), 5 % doppelt phosphorsaurer Kalk fein gepulvert, 1 % schwefelsaures Eisen, welche Materialien von jeder Droguenhandlung abgegeben werden. Man löst dieselben in Wasser auf und vermischt das Moos mit der Lösung. Bei Bedarf kann solches Wasser später auch in verdünntem Zustande zum Gießen benutzt werden. Im Allgemeinen ist Waldmoos zu empfehlen, nur für Sumpfpflanzen darf Sumpfmoos (Sphagnum) angewendet werden, weil dieses die Feuchtigkeit länger anhält, als gewöhnlichen Landpflanzen dienlich ist.

Das Versetzen der Gewächse in andere und größere Gefäße darf nicht zu oft geschehen: holzige Pflanzen werden in der Regel am seltensten versetzt, weil sie nur langsam größere Wurzeln treiben, weil ihre Blätter vielleicht mehr als die anderer Pflanzen zur Ernährung des Ganzen beitragen und weil die meisten derselben eine Zeit vollständiger Ruhe nöthig haben, in welcher die Aufnahme von Nahrung unmöglich ist. Andere dagegen müssen jährlich verpflanzt werden und, sind es Blüthenpflanzen, am besten bald nach der Blüthe, oder im Frühjahr, wenn diese spät im Sommer eintritt.

Die meiste Vorsicht erfordert das Begießen der Zimmerpflanzen: frisch versetzte Gewächse darf man nach dem ersten Angießen nicht zu oft begießen; die feinen Wurzeln sollen sich nach und nach mit der Erde verbinden, und die Luft muß stets auf die Erde einwirken, nur bei der Auflösung der Nahrungsstoffe mit helfen zu können: wollte man gleich zu stark gießen, so würde auch die lockerste Erde fest werden und die Pflanze müßte unfehlbar schon aus dem Grunde absterben, weil sie nicht eher die Fähigkeit besitzt, Feuchtigkeit und die von ihr aufgelöste Nahrung aufzunehmen, als bis neue Wurzeln sich gebildet haben. Deshalb sollen auch im Keller, bei schwacher Beleuchtung und niedriger Temperatur, überwinterte Pflanzen nur selten, solche ohne Blätter gar nicht begossen werden.

Auch bei angewachsenen und älteren Pflanzen erfordert das Gießen immer einige Vorsicht; man gießt gewöhnlich zu oft oder zu wenig und verliert dadurch manche Pflanze. Am sichersten geht man, wenn man nicht eher gießt, als bis die Oberfläche des Wurzelballens trocken geworden ist, was im Winter weniger oft der Fall sein wird, als im Sommer, oder richtiger zur Zeit des stärksten Wachsthums.

Für den Winter empfiehlt es sich, die Erde nach der Mitte des Topfes oder Kübels, um den Stamm herum ein wenig zu erhöhen, um das Innere mehr trocken, das Aeußere mit den aufsaugenden Faserwurzeln mehr feucht zu halten, welche Erhöhung aber im Frühjahre wieder auszugleichen ist.

Bei Wurzelballen, die niemals austrocknen, ist der Wasserabzug verstopft; man nehme dann die Pflanze aus dem Topfe, reinige das Abzugsloch und bedecke es mit einem, besser mit mehreren Scherben; gewöhnlich wird jetzt ein regelrechtes Verpflanzen, das heißt die Erneuerung der versauerten Erde gute Dienste leisten. Eine Hauptbedingung für das Gedeihen der Pflanzen ist die Anwendung von „überschlagenem“ Wasser von derselben Temperatur wie die des Raumes, in welchem die Pflanze steht.

Gaslicht ist den Pflanzen sehr schädlich; dagegen befördert elektrisches Licht das Wachsthum und das Gedeihen der Pflanzen, wenn es durch farbloses (weißes) Glas gebrochen wird. Uebrigens ist der Bedarf an Licht nicht bei allen Pflanzen gleich; leider aber stützten sich unsere Pflanzenzüchter bei der Beurtheilung dieses wichtigen Moments bisher nur auf ihre eigene Erfahrung oder auf die Ueberlieferungen von Anderen, denn wohl erzählen uns neuere Pfadfinder in dem Gebiete der Pflanzenkunde, daß einzelne Arten in brennender Sonnenhitze wachsen und blühen, aber sie sagen uns selten, welche Pflanzen überhaupt sie in schattiger oder sonniger Lage gefunden haben. Aber die Pflanze selbst sagt uns ganz deutlich, ob sie im Schatten oder unter dem Einflusse des Sonnenlichts gezogen sein will, nur muß man das Mikroskop zu Hülfe nehmen, um ihre Sprache zu verstehen: man muß ihr Blatt untersuchen!

Wenn nämlich, wie Professor Dr. Wittmack durch einen im Vereine zur Beförderung des Gartenbaus in Berlin am 29. März 1883 gehaltenen Vortrag ausführte, unter der Oberhaut zwei Reihen langgestreckter und senkrecht gestellter sogenannter Palissadenzellen sich befinden, dann ist ihre Trägerin eine Pflanze, welche an Sonnenlicht gewöhnt ist, denn die Chlorophyllkörner dieser Zellen befinden sich in Reihen längs der Seitenwände, lassen also den Raum in der Mitte frei und werden von dem hier durchgehenden Sonnenlichte wenig berührt; erst unter diesen Palissadenzellen befinden sich weitere Schichten länglicher oder rundlicher Zellen mit den in ihnen gleichmäßig vertheilten Chlorophyllkörnern, die von dem hier bereits abgeschwächten Sonnenlichte nicht mehr leiden können. Befindet sich aber unter der Oberhaut nur eine Schicht Palissadenzellen, so verlangt die Pflanze mehr Schatten als Licht, und wenn die Palissadenzellen ganz fehlen, wenn die rundlichen Zellen mit ihren gleichmäßig vertheilten Chlorophyllkörnern schon unter der Oberhaut sich vorfinden, dann

gehört das Blatt einer ausgesprochenen Schattenpflanze an.
O. Hüttig.     

Blätter und Blüthen.

Eduard Lasker †. Der Land- und Reichstagskämpfer, der seit 1865 zu den am häufigsten genannten Parlamentsrednern und Volksmännern Preußens und Deutschlands gehört, ist in der Nacht vom 4. zum 5. Januar in New-York gestorben. Unseren Lesern haben wir ihn bildlich im Jahr 1873 (S. 132) vorgestellt und in demselben Jahrgange (S. 550) schilderte dann Siegfried in dem Artikel „Von einem Vielgenannten“ ausführlich das Leben und Wirken dieses Mannes. Seitdem sind zehn Jahre noch schwerer Kämpfe und bitterer Erfahrungen auf dem politischen Felde für Lasker dahingegangen, und auch er hat erleben müssen, was selten Einem erspart wird, der als entschiedener Parteimann die politische Arena [51] betritt. Dazu entwickelte sich bei ihm ein schweres körperliches Leiden, indessen hegte er die Hoffnung, auf einer Reise durch die Vereinigten Staaten von manchem Weh des Leibes und der Seele zu genesen, um mit erfrischten Kräften die Wirkungsbahn wieder betreten zu können, unter deren Größen sein Name in der ersten Reihe glänzt. Dieses Glück sollte ihm nicht zu Theil werden: wenig über 54 Jahre alt, hat er sein arbeitsreiches Leben geschlossen, und nur sein Leichnam wird der vaterländischen Erde zurückgegeben werden. Der Geschichte aber wird es eine Aufgabe für spätere Jahre werden, sein Bild so rein darzustellen, als es nach überwundenen Kämpfen der ruhigeren Hand der Zurückschauenden möglich ist. Der Ruf eines selbstlosen Charakters und idealer Gesinnung wird dem rastlosen Kämpfer für die Einheit und Größe des Vaterlandes von Freund und Feind zuerkannt werden und der Kranz eines treuen deutschen Mannes stets sein Grab schmücken.


Hochwürden, Herr Pfarrer. (Abbildung Seite 51.) Der Anblick eines Glücklichen ist eine Wohlthat für jeden neidfreien Menschen, denn nur diese sind des Gefühls einer solchen Wohlthat fähig.

Steht da Seine Hochwürden, der Herr Pfarrer, am Fenster seiner bescheidenen Wohnung und schaut über den kleinen Blumengarten hinüber in die Dorfgasse. Welches Bild hat er wohl da draußen vor Augen, das ihn so anzieht und erfreut? Oder ist ganz heimlich in ihm eine Erinnerung aufgestiegen, die ihn so selig anlächelt, daß sein Antlitz wie ein Spiegelbild dieser Seligkeit erscheint? – Ja, es ist ein beglückendes Lachen, durch welches dieses alte gute Gesicht so veredelt und selbst so anziehend wirkt, daß wir so gern das Auge auf ihm ruhen lassen. Uns beschleicht dabei das Gefühl jenes weihnachtseligen Kindes, welches zur Mutter spricht: „Mutterle, da drinnen in meiner Brust lacht ’was! Sag’ mir nur, wer lacht denn da drinnen?“

Hochwürden, Herr Pfarrer.
Originalzeichnung von E. Grützner.

Das Herz, und zwar ein recht gutes, zufriedenes, glückliches Herz ist es, das aus diesen Augen und über diesen Lippen einen fast schelmischen Jubel verräth. Gewiß hat die alte Botenfrau heute, der Feiertage wegen, dem Herrn Pfarrer den Lohn fast doppelt angerechnet – er hat’s wohl gemerkt. Und jetzt steht sie dort und zählt das Geld und zählt wieder und guckt nun mit dem weitgeöffneten Munde des Erstaunens zum Herrn Pfarrer herauf. Er hat ihr noch einmal so viel, als sie verlangte, gegeben – und das ist so ein Fall, wo er genau so lacht, wie wir es hier sehen.


Der Pifferaro auf Reisen. (Mit Illustration auf S. 45.) In Rom kennt ihn Jeder, den braunen Gesellen in seiner malerischen Tracht, mit dem spitzen Hute, weiten, groben Kragenmantel und den mit Bändern befestigten Sandalen. Denn in der ewigen Stadt ist er keine seltene Erscheinung. Besonders vor Weihnachten verlassen die Pifferari (Pfeifer) schaarenweise ihre heimathlichen Dörfer im Gebirge und ziehen nach Rom, um dort in den Straßen ihre kreischende, monotone Dudelsackmusik ertönen zu lassen, und mit dem bescheidenen Honorare, welches ihnen meist in Kupfermünzen von den Vorübergehenden gereicht oder aus den Fenstern zugeworfen wird, wieder in die Heimath zurückzukehren. Einzelne unternehmendere Köpfe unter ihnen ziehen aber auch weiter und gelangen zu Fuß, in kurzen Etappen, durch Mittel- und Oberitalien, über die Alpen nach Frankreich oder Deutschland, ihre geringen Lebensbedürfnisse unterwegs in Städten und Dörfern mit dem Dudelsack verdienend. Zur Verstärkung des Effects nimmt wohl dann und wann Einer ein paar selbstgefertigte Marionettenfiguren mit, die er bei den Klängen seines Instruments tanzen läßt. Das Genrebild K. Grob’s, nach welchem unsere Illustration gefertigt ist, zeigt einen solchen „Pifferaro auf Reisen“, welcher durch seine Musik und mehr noch durch die Sprünge, welche er seine Marionetten in dem Bauernhause eines deutschen Alpendorfes machen läßt, bei Alt und Jung, besonders aber bei der Jugend, ein überaus dankbares, zum Theil enthusiastisches Publicum findet. Wir wünschen dem jungen Burschen, auf dessen Rückkehr in irgend einem einsamen Felsenneste der Abruzzen vielleicht eine zahlreiche, bitterarme Familie wartet, glückliche Reise und gute Geschäfte. K.     


Dampferfahrten. Im Mai des Jahres 1819 durchschnitt der erste Dampfer den Ocean. Es war der kleine Dampfer „Savannah“, der von Savannah nach Liverpool die Ueberfahrt in 22 Tagen und im November desselben Jahres in 25 Tagen zurücklegte. Die Welt staunte über die schnelle Fahrt, und es war mit diesem Ereignisse der transatlantischen Dampfschifffahrt die Bahn gebrochen.

Von damals bis heute lassen sich regelmäßige Perioden in der Erhöhung der Geschwindigkeit der Dampfer, sowie in deren Vergrößerung und verbesserter Einrichtung und Ausstattung unterscheiden. Die erste Periode der langsamsten Fahrten endete in der Mitte der fünfziger Jahre. Bis dahin hielt man sich an den Vergleich mit den Segelschiffen und war sehr zufrieden, auf den alten Räderdampfern die transatlantische Reise in 15 bis 18 Tagen zu vollenden. Erst als die Rivalität zwischen den Dampfschifffahrtsgesellschaften, den Steamerlinien, begann, trat eine Aenderung in dieser Sachlage ein. Man bewunderte die schnellen Fahrten der Collinslinie, welche 13, dann nur 12 Tage beanspruchten und durch welche die Cunardlinie ausgestochen wurde. Mit neu gebauten Dampfern gelang es darauf der Cunardlinie, ihre regelmäßigen Fahrten in 11 Tagen zu vollenden. Das Alles geschah mit Räder-Dampfern, die nicht viel Ladung faßten und bei deren Einrichtung nur auf Kajütenpassagiere Rücksicht genommen war. Die Masse der Auswanderer konnte damals nur auf Segelschiffen Platz finden.

Englische und amerikanische Schiffsbauer wetteiferten von da an in der Verbesserung der Dampfer zur Erzielung größerer Geschwindigkeit und mit Rücksicht auf vermehrte Leichtigkeit wurden in Amerika die ersten eisernen Dampfer gebaut. – Eine ganze Reihe von Jahren hindurch galt eine zehntägige Ueberfahrt als eine genügend rasche Reise. Dann aber bildeten sich neue Dampfergesellschaften für Passagier- und Frachtbeförderung, welche die alten Dampferlinien in rascheren Fahrten überboten, sodaß bis zum Jahre 1875 achttägige Ueberfahrten gewöhnlich wurden. Im Jahre 1876 wurde von dem zur White Star Line gehörigen großen Dampfer „Britannic“ in sechs auf einander folgenden Fahrten eine mittlere Geschwindigkeit von 7 Tagen 20 Stunden und 56 Minuten erreicht, was als ein neuer bedeutsamer Fortschritt galt, welcher im September 1881 von dem zur Williams-Gnion Line gehörigen prächtigen Dampfer „Arizona“ durch die nur 7 Tage 8 Stunden 32 Minuten dauernden Fahrten zu aller Welt Verwunderung noch überboten wurde. Einen Monat später vollendete dieses schöne Schiff sogar die Reise in 7 Tagen 7 Stunden und 48 Minuten, was man als eine neue Errungenschaft ansah. Man brachte es aber noch weiter, denn ein Jahr darauf brauchte der zu derselben Linie gehörige Dampfer „Alaska“ nur 6 Tage 18 Stunden 37 Minuten und später gar nur 5 Tage 23 Stunden 46 Minuten, wobei durchschnittlich 447 Knoten, das ist Seemeilen, von denen 4 auf die deutsche Meile gehen, in 24 Stunden zurückgelegt wurden. Als noch schnellerer Dampfer trat [52] dann der „Aragon“ in derselben Linie auf; derselbe ist 158 Meter lang und 16 Meter breit; der Dampf wirkt in seinen Maschinen mit 13,000 Pferdekräften, sodaß seine Betriebskraft um 2000 Pferdekräfte größer ist, als die der „Alaska“.

Nach solchen Resultaten darf man sich nicht wundern, wenn man eine fünftägige Ueberfahrt schließlich auch noch für möglich hält, wobei die Erhöhung der Geschwindigkeit nur durch noch stärkere Maschinen und vergrößerte Schiffsdimensionen, sowie durch vermehrten Kohlenverbrauch, ja nur durch Kohlenverwüstung zu erreichen ist.

Zu den schnellsten Fahrzeugen gehören auch die zum Theetransport von China nach England dienenden Dampfer, indem die betreffenden Firmen sich auf dem Theemarkte den Rang abzulaufen suchen. Der letzte Sieger – „Stirling Castle“ – legte die Tour von rund 12,000 Seemeilen in 29 Tagen 22 Stunden 15 Minuten zurück, wobei noch 2 Tage durch Aufenthalt von der Fahrt abzurechnen sind. Der bis dahin schnellste Dampfer war damit um 10 Stunden geschlagen. Schw. 


„Herzliche Bitte“. Unter dieser Aufschrift wird uns von guter Hand ein Brief übersandt, dessen Inhalt wir unsern Lesern doch wohl mittheilen müssen. Er lautet so: „Ein Krieger aus einem Dorfe des Regierungsbezirks Düsseldorf, der die Feldzüge von 1864, 1866 und den französischen Krieg mitmachte und in mehreren Schlachten tapfer mitkämpfte, ist an den Folgen eines Brustleidens, welches er sich bei der Belagerung von Metz zugezogen hat, in der letzten Christnacht verstorben. Die zurückgebliebene aus Frau und neun Kindern bestehende Familie lebt in den ärmlichsten Verhältnissen, denn der älteste, erst 17 Jahre alte Sohn besitzt noch nicht die Kraft, seine Angehörigen genügend zu ernähren. Auch hat die Krankheit des Vaters besonders in den letzten Jahren viel Geld verschlungen, sodaß bereits die einzige Kuh geopfert werden mußte.“ – – Das ist der Brief. Die betreffende Adresse ist der Redaction der „Gartenlaube“ – und zwar „voll Hoffnung und Vertrauen“ – mitgetheilt worden.



Hauswirthschaftliches.


Ein selbstthätiger Schnurhalter. Vor Kurzem erhielten wir ein ziemlich umfangreiches Manuskript, welches den Titel trug: „Offener Brief an eine deutsche Hausfrau“ und mit folgenden Worten begann: „Gar häufig, verehrte Freundin, habe ich in den letzten Monaten Ihrer gedacht. Lebendig traten mir immer wieder der Schreck und Verdruß vor Augen, welche Ihnen durch das Herabstürzen eines Fensterrouleaus bereitet wurden. Zeigte der Schaden sich doch unersetzlich, da die zerschmetterten kostbaren Vasen und Blumentöpfe theuere Andenken waren – … Zum Glücke blieben die Kinder unverletzt.“

Fig. 1.   Fig. 2.

In diesem Tone behandelte der menschenfreundliche Verfasser recht ausführlich das Thema von den „kleinen Nadelstichen der allbekannten Rouleauxfatalitäten“, unter denen die Hausfrauen leiden, und pries schließlich im schwungvollen Lobliede die Vorzüge eines Schnurhalters, von dessen „Existenz er durch die Nummer 230 A des Central-Handels-Registers für das deutsche Reich“ unterrichtet wurde. Wenn auch der Beitrag des Herrn für die „Gartenlaube“ nicht geeignet war, so war doch der Kern des ganzen „offenen Briefes“ recht gesund und der erwähnte Schnurhalter in der That für’s Haus sehr empfehlenswerth, denn wir alle kennen sie aus Erfahrung, die „kleinen Nadelstiche der Rouleauxfatalitäten“. Die Anwendung dieses Schnurhalters läßt sich durch die nebenstehenden Abbildungen leicht erklären.

Wir bemerken da zunächst ein äußeres Gehäuse, und in diesem die eigentlich arbeitenden Theile, zwei in einander gesteckte, hülsenartige, leicht drehbar angeordnete Hebel, welche in herabhängender Lage (siehe Fig. 1) ein offenes bewegliches Maul bilden, in welchem die Schnur völlig frei auf- und niederspielt. Leitet man, nachdem das Rouleau die gewünschte Stellung erreicht hat, die Schnur etwas vom Gehäuse ab, sodaß das Maul sich schließt, und läßt sie dann los, so bringt der Zug der oberen Last dasselbe sofort in die in Fig. 2 wiedergegebene Stellung, und die Schnur wird nur durch den Druck der Hebel mit absoluter Sicherheit festgehalten.

Diese Wirkung des selbstthätigen Schnurhalters ist wirklich überraschend, da ein einziger Handgriff genügt, um ein Rouleau, eine Jalousie oder dergl. m. nach Belieben zu stellen. Das primitive Umwickeln oder das modernere Festschrauben der Schnur – sie sind also ein überwundener Standpunkt. Der billige Apparat, der von dem Patentinhaber D. W. Ernsting in Bremen, Wachtstraße 17, zu beziehen ist, kann in entsprechender Größe in allen den Fällen angewandt werden, wo an Schnuren, runden oder flachen Lederriemen, Ketten, Gurten, Seilen etc. hängende Lasten dauernd oder zeitweilig in beliebiger Höhe festgehalten werden sollen, seien es im Hause (außer Rouleaux und Jalousien) leichtere Gegenstände, z. B. Ventilationsklappen, Oberlichte, Vogelbauer, Deckenlampen, seien es an Bauten, auf Schiffen etc. schwere Lasten.


Universal-Bücher-Träger. Auch die liebe Schuljugend hat ihre Gewohnheiten und Vorurtheile, die sich ebenso hartnäckig erhalten, wie die Gebräuche der Alten, und trotz der belehrenden Ermahnung der Eltern und Lehrer nicht auszurotten sind. So bricht in gewissem Schulalter bei Männlein und Fräulein eine revolutionäre Stimmung hervor, die sich gegen – den Schulranzen richtet.

Bis jetzt galt der strenge Befehl als das einzige, aber nicht immer erfolgreiche Mittel, diese Auflehnung zu dämpfen; aber in der neuesten Zeit hat sich doch ein erfinderischer Kopf gefunden, der in versöhnendem Sinne den alten Streit schlichten möchte. Daß er dabei als „ehrlicher Makler“ auch auf seinen Gewinn bedacht ist, können wir ihm nicht verargen, denn er ist Geschäftsmann von Beruf. J. Wolff in Stettin (Schulzenstraße), so lautet seine volle Adresse, hat den hier abgebildeten Universalbücherträger construirt, der aus zwei Deckeln in der Größe gewöhnlicher Schreibhefte besteht. Der eine derselben ist an vier Seiten mit Schutzklappen versehen, welche die Bücher verdecken und vor Regen schützen sollen. Ein Lederriemen umgiebt beide Deckel und schnallt die Bücher sowie Federkasten und Frühstücktasche in einfachster Weise fest.

Dieser Bücherträger ist in der That sehr praktisch, und hoffentlich wird die Schuljugend die auf den Bücherschutz abzielende Neuerung mit Freuden aufnehmen.



Allerlei Kurzweil.


Auflösung des Rösselsprungs in Nr. 2:

Halt rein den Mund
Zu jeder Stund!
Unnützes Wort,
Schnell ist es fort;
Zu Ändern geht’s
Geschäftig stets,
Facht Zank und Streit,
Sät Gram und Neid;
Niemandem frommt’s!
Dann wieder kommt’s
Zu dir zurück;
Mit Feindestück
Fällt es dich an,
Als schlechten Mann
Macht es dich kund.
Halt rein den Mund!
 Johannes Trojan.


Auflösung der Schachaufgabe Nr. 1:

Weiß: 0 Schwarz:
1. L f 5 – f 6 0 D a 5 – e 3 †
2. T c 4 – d 4 † † 0 K d 5 u. T
3. S d 6 – f 5 matt.

Varianten.

a) 1. ..., c 5 – c 4, D a 6 (b 5), a 3 u. S; 2. S f 5 etc.
b) 1. ...; D d 2, e 1; 2. T e 4 aufged. † etc.
c) 1. ...; D a 4:, b 4 2. T : D aufged. † etc.
d) 1. ..., K : S; 2. S c 4 † etc.


Auflösung des Buchstaben-Räthsels in Nr. 2: „Quecksilber, Quacksalber.“


Auflösung des Homonym in Nr. 2: „Händel.“



Kleiner Briefkasten.

Frau M. G. in O. Einen der Leipziger Kinder-Poliklinik zugedachten Beitrag werden Sie am besten an den Cassirer des „Vereins zur Erhaltung der Kinder-Poliklinik und zur Förderung der Kinder Hygiene“, Herrn O. Staudinger in Leipzig, adressiren. Die unter Fürst’s Leitung stehende, verdiente Anstalt hat übrigens, dem neuesten 29. Jahresberichte zufolge, im Jahre 1883 nicht weniger als 1955 kranke Kinder Armer unentgeltlich ärztlich behandelt – eine respectable Leistung, da die meisten Kinder Arzneien, Stärkungs- und Nährmittel erhielten und nur milde Beiträge von Kinderfreunden dies ermöglichten.

Ein Landwirth. Sie haben Recht. Das Frettchen kommt bei uns wild nicht vor. Es wird nur in Käfigen gezüchtet und zur Kaninchenjagd verwendet. Beim Beginn der Jagd verstopft man die Nebenröhren und umstellt den Bau mit Garnen. Sobald das Frettchen in den Bau eingefahren ist, ergreifen die Kaninchen die wildeste Flucht und fangen sich in den Netzen. Sehr zuverlässig ist die Jagd nicht, da das Frettchen von Natur faul und schläfrig ist und oft in der Kaninchenröhre einschläft.

Vielen Fragern sind wir leider gezwungen die Antwort zu ertheilen, daß wir die Namen der Löser unserer Räthsel und Spielaufgaben nicht veröffentlichen können. Bei der großen Verbreitung unseres Blattes und der zu unserer Freude so regen Correspondenz zwischen der Redaction und den geehrten Abonnenten würden diese Namensregister, wie wir schon jetzt sehen, ganze Spalten füllen. Außerdem würden die von Leipzig fernwohnenden oder gar transatlantischen Leser unseres Blattes gegen die nächsten Abonnenten zu sehr benachtheiligt werden. Derartige Namenslisten können nur Blätter veröffentlichen, deren Verbreitung gering oder rein local ist und die außerdem nicht so ökonomisch mit dem Raume wirthschaften müssen, wie die „Gartenlaube“, die allwöchentlich die verschiedenartigsten geistigen Bedürfnisse von Hunderttausenden zu befriedigen bestrebt ist.

Ein Lehrer in H. Wir müssen Sie um genaue Angabe Ihrer Adresse bitten, da wir bei dem großartigen Umfange unserer Korrespondenz unmöglich alle Anfragen unserer Abonnenten im Briefkasten beantworten können.


Inhalt: [ Verzeichnis der Beiträge und Illustrationen in No. 3/1884 ]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Ein junges Lamm.
  2. Nein. („na“ wird im Dialekte mit dem gleichen Nasenlaute gesprochen, wie die französische Präposition dans.)
  3. Löckchen; auch Schmeichelname im Sinne von: Schätzchen, Herzchen.
  4. Ein kleines, furchtsames, bemitleidenswerthes Wesen.
  5. Verlegen, schüchtern.
  6. Ein aus Weiden geflochtener Korb.
  7. Ein ungeheurer Schinken.
  8. Ein aus schwarzer Wolle gewirktes Wams.
  9. Doch wohl, dennoch, trotzdem.
  10. Manchmal.
  11. Sehnst Du Dich.