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Die Gartenlaube (1881)/Heft 31

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[505]

No. 31.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)

„Wie heißest Du?“ fragte Fügen, nur um des Kindes Stimme zu hören.

„Siegmund Riedegg heiß’ ich. Und Dich kenn’ ich auch. Du bist ein Richard – hab’ Euch vorhin schwatzen hören. Kommst Du auf die Moosburg, Mann? Dann zeig’ ich Dir mein Schaukelpferd.“

„Ich komme,“ rief Fügen mit wunderlicher Inbrunst, drückte seine bärtige Wange gegen das weiche Gesichtchen des Kleinen und war im Begriff, ihn niedergleiten zu lassen, als er sein linkes Bein fest umklammert fühlte.

„Laß los! Laß mein’ Sigi los!“ rief es mit vollem Kinderzorn zu ihm auf. Das Dirnchen rüttelte so tapfer, als wollte es den Angegriffenen zu Falle bringen. Die schwarzen Augen blitzten.

„Maxi!“ mahnte Jana strafend.

„Ist das ein Unkräutchen!“ sagte die Müllerin und faltete ihr Strickzeug zusammen. „Die müßt Ihr besser ziehen, sonst kommt Das aus Rand und Band. Man merkt’s gut, daß hier wildes Blut sein Wesen treibt. Jetzt mag’s noch angehen, bald wird’s aber doch Zeit, sie anders zu halten, als wie ein Geschwister vom jungen Herrlein.“

„Ist sie denn das nicht?“ sagte Fügen, der lachend den Knaben niedergestellt hatte.

„I bewahre!“ eiferte die alte Frau. „Ein wilder Schoß ist’s, der in Wien der Gnädigen einmal vor die Thür gelegt worden ist und den sie da behalten hat und großziehen will, statt den Wurm im Findelhaus abzugeben, wohin so Was gehört. Kann mir schon vorstellen, daß unsere Jana dabei die Hand im Spiele gehabt hat – die war alleweil ein Kindernarr und weichmüthig wie Butter. Ich mein’ bald, ich hör’s, wie sie der Gnädigen vorgeredet haben mag, daß sie alle Müh’ auf sich nehmen wollte. Na, das hat sie freilich rechtschaffen gethan; man darf sagen, sie giebt auf Eins von den Kindeln so viel, wie auf’s Andere. Und Gotteslohn is schon dabei – nur verziehen sollen sie das Ding nit. Ist so wie so an Unband. Aber da schauen’s nur wieder die Jana an! Roth wie ein Puthahn wird sie allemal, wenn Eins an ihrem Ziehkind ’was auszusetzen hat. Komm daher, Maxi!“

Die Gerufene schlüpfte wie eine Eidechse unter den Händen Jana’s durch, welche eben im Begriffe war, ihr das Strohhütchen festzubinden, lief blitzschnell zur Müllerin und funkelte sie mit erwartungsvollem Blicke an.

„Dem Herrn da sollst ein Patschhändchen geben, daß er sieht, Du kannst auch brav sein.“

Flink kletterte das Kind auf den Schooß der Frau, stellte sich dort kerzengerade aufrecht und streckte Fügen ein braunes Händchen entgegen, um es hurtig zurückzuziehen, als er Miene machte, es zu fassen. Im nächsten Momente rollte sie wie ein Knäuel auf den Boden.

„Ist das eine Art!“ schalt die Alte. „Woher das Kind nur all den Unfug lernt!“

„Den weiß ich auswendig,“ rief Maxi lustig.

„Komisches Ding!“ lachte Fügen ergötzt.

Die Kleine sah ihn bitterböse an. „Bin kein Ding – Ding ist was Garstiges – bin Maxi.“

„Darf ich Sie begleiten und meinen Frieden mit diesem Kampfhähnchen machen?“ fragte Fügen, zu Jana gewendet. „Wir haben gleiche Richtung, und wenn ich Ihnen nicht lästig falle –“

Sie nickte zustimmend, verabschiedete sich von der Mutter und rief ihrem Bruder Lois, welcher seine Schnitzarbeit nicht unterbrochen hatte, einen Gruß zu. Dann schlug sie den Heimweg ein, an jeder Hand ein Kind, wie Fügen sie stets gesehen. Als sie vor ihm her den Steg überschritt, ward ihm ihr leichter Gang und die fein aufgebaute Gestalt mit dem schweren Blondhaare als Krone zur wahren Augenweide. Alles an dieser Erscheinung war musikalisch, harmonisch. So auch fand er ihre Aeußerungen, während er, von Dem und Jenem plaudernd, neben ihr des Weges schritt. Gern hätte er sein Geleite bis nach der Moosburg angetragen, doch gehorchte er dem Tactgefühle, das ihn zurückbleiben hieß, als Jana in das Postbureau eintrat, um nach etwa vorliegenden Briefen zu fragen.

Der angeregte Wunsch ließ aber dem lebhaften Manne nicht länger Ruhe, als bis zum folgenden Nachmittage. Obgleich der Himmel schwer voll Wolken hing, mochte er den Gang nach der Moosburg nicht verschieben – wer weiß, morgen strömte vielleicht einer der unsterblichen Tiroler Regen nieder, welche ein mindestens achttägiges Regiment energisch durchzuführen pflegen. Also vorwärts! Jede Berührung seines empfänglichen Naturells wirkte unmittelbar auf den ganzen Menschen, so auch diese neue Regung von Freude. Nur ein Bedenken störte ihn. Welche Bewandtniß mochte es mit der Herrin des Hauses haben, in das er einzuziehen wünschte? Er wußte von ihr nichts, als daß sie Wittwe sei. Eine noch junge Wittwe ohne Zweifel, dem zarten Alter ihres Knaben nach, ebenso gewiß aber eine melancholische, ungesellige Natur. Er suchte sich die wenigen Aeußerungen Jana’s über ihre Herrin zusammen; sie hatte gerathen, Nachmittags hinauszukommen, [506] da während der Morgenstunden die gnädige Frau beschäftigt und nicht gern gestört sei. Am Ende gar eine Schriftstellerin? Dieser Gedanke war ihm unheimlich. Gleich den meisten naiven Männern schätzte er an der Frau nur das Unmittelbare; geistreiche Frauen „von Profession“ waren ihm unsympathisch. Was lag aber im Grunde hieran? Die Person der Burgherrin kümmerte ihn wenig. Mochte sie sich beschäftigen und geberden wie sie wollte. Die anheimelnde Burg, der gute Geist, welcher jedenfalls dort waltete und den er bereits mit Augen geschaut, die interessanten Kinder zogen ihn an.

Während er den moosigen Hügel erstieg, dessen Fläche die Ruinen und das Wohnhaus trug, kehrte volles Frohgefühl bei ihm ein, und es erschien ihm als gutes Omen, daß er schon von fern die beiden Kinder auf dem Rasenplatze vor dem eisenbeschlagenen Hausthor spielen sah. Kaum erblickten sie den Gast, als sie ihm zutraulich entgegenrannten. Ein riesiger Neufundländer, der auf der Schwelle gelagert, erhob sich majestätisch und richtete die klugen Augen auf den Fremden, als wolle er prüfen, ob solches Zutrauen auch verdient sei.

Im Geleite dieser Gesellschaft betrat Fügen wohlgemuth das Haus und vertraute sich ihrer Führung zur „Mutter“, Auf die Frage nach Mama hatte nämlich Siegmund den Kopf geschüttelt und energisch sein deutsch gewohntes Wort betont. Während der Gast Treppe und Flur überschritt, sah er sich nach Jana um, als sei es selbstverständlich, daß sie ihn einführe. Doch kam sie nicht zum Vorschein, und er mußte sich mit der Meldung begnügen, welche Maxi, während Siegmund, auf den Zehen erhoben, die Thür aufklinkte, unter dessen Arm im höchsten Discant ihrer hellen Stimme in’s Zimmer hinein rief:

„Der Richard kommt!“

Sie faßte nun den Knaben am Röckchen und jagte mit ihm davon.

Die Herrin des Hauses erhob sich; sie trat Fügen entgegen. Ihre Schönheit überraschte ihn so sehr, daß er im ersten Moment vergaß, sich zu verbeugen, und als er dies alsdann nachholte, geschah es ein wenig linkisch.

In der Art vollkommen schöner Menschen liegt etwas von der Einfachheit hervorragender Geister. Sie sind so daran gewöhnt auf Andere zu wirken, daß sie selbst nie an Wirkung denken, und somit den ersten frappanten Eindruck, den sie hervorgerufen, in reines Wohlsein auflösen Schönheit erfreut Jeden, auf den Künstler übt sie aber einen besonderen Zauber; es ist gleichsam, als würde sein auf das Ideal gerichtetes Bedürfniß momentan durch dessen Spiegelbild befriedigt; Fügen’s Lebensgeister hoben sich sofort um einige Grade, und sobald dieser naive Mensch sich gehen ließ, ward er ungemein liebenswürdig, „durchsichtig“ könnte man sagen, durchsichtig bis in sein ehrliches Herz hinein.

Noch waren zwischen Gast und Hausfrau nur wenige Worte getauscht, und schon war man über alle Präliminarien des künftigen Vertrages im Reinen. Das Bedenken Frau von Riedegg’s, daß man bei der isolirten Lage der Moosburg dort, was materielle Lebensbedürfnisse betrifft, sehr beschränkt und von Zufälligkeiten abhängig sei, machte Fügen wenig Sorge. Das seinige dagegen kam etwas zögernd zum Vorschein, und der Ausdruck seines Gesichts erhielt einen Anflug von Komik, während er sagte:

„Fräulein Jana wird nicht verschwiegen haben, daß ich zu Zweien einziehen würde?“

Die rasche Fingerbewegung, womit er sich deutlich zu machen suchte, war leicht in eine Cadenz zu übersetzen.

„Ein Flügel ist hier zur Disposition,“ sagte Genoveva, „und gern überlasse ich ihn einer Meisterhand. Es ist ein gutes Instrument, das unbenutzt steht, da ich selbst nur mit dem Ohr musikalisch bin. Betrachten Sie sich die Räumlichkeiten des zweiten Stockwerkes! Wenn sie Ihnen zusagen, Einsamkeit Sie nicht abschreckt und Sie mit ländlicher Bewirthung vorlieb nehmen wollen, sollen Sie willkommen sein. Für uns Frauen wäre es ein beruhigender Gedanke, für einige Zeit auf männlichen Schutz in dieser Abgeschiedenheit rechnen zu dürfen.“

Während sie sprach, horchte Fügen mehr auf das vollklingende Organ, als auf die Worte und betrachtete dabei den schönen Kopf vor ihm so arglos und anhaltend, als sei er ein plastisches Kunstwerk. Die elastisch reinen Züge verschönerten sich noch im Sprechen, aber dennoch schien darin etwas zu leben, was deren Verwandtschaft mit den Gebilden der Antike gleichsam wieder aufhob.

Darüber verlor er sich in ein Grübeln, das ihn die Antwort vergessen ließ, und gerieth in Verwirrung, als er einem etwas erstaunten Blicke begegnete. Vergeblich besann er sich auf ein passendes Wort; er hatte das innere Gleichgewicht verloren und wünschte sich weit weg. Da ging die Thür auf und Jana trat ein. Das Unbehagen, welches den Gast so plötzlich ergriffen, verschwand auf der Stelle. Er bot der schlichten, hellen Gestalt die Hand entgegen, wie einer uralten Bekannten, die man in der Fremde wiederfindet.

„O du guter Hausgeist!“ dachte er.




8.

Wenige Tage später hatte der Musiker seine luftige Warte bezogen. Als er, von der Morgensonne geweckt, welche durch den herzförmigen Ausschnitt des Fensterladens in das nach Osten gelegene Schlafzimmer strömte, dort zum ersten Mal die Augen aufschlug, lachte er vor Behagen. Alles, worüber sein Auge hinschweifte, heimelte ihn an. Die großen bunten Blumen der Zitzvorhänge erschienen so farbig in der Sonnenbeleuchtung; die Ringe und Schlösser der alten ausgebauchten Kommoden und Schränke blitzten wie Gold. Selbst die aus Urgroßmutterzeiten stammende, aus allerlei Kattunstückchen zusammengesetzte Decke des fast viereckigen Bettes, in welchem sich der Erwachende behaglich dehnte, machte ihm Freude. Er drückte seinen buschigen Kopf in das Kissen zurück, staunte die Stukkaturen des Plafonds an und besann sich, ob es nicht wohlgethan sei, mit gleichen Füßen aus dem Bette zu springen, die Läden weit zu öffnen und all das Leuchten voll hereinströmen zu lassen – oder ob dies hindämmernde Wohlsein vorerst jeder Augenweide vorzuziehen sei. Er blinzelte mit den Augen und lachte lautlos in sich hinein, wie ein Kind, dem etwas gar Schönes gezeigt wird, wonach es nur die Hand auszustrecken brauchst. Und doch stand dieser Mann bereits auf der Neige der dreißiger Jahre, war durch manche rauhe Schule des Lebens gegangen, nicht arm an Erfahrungen und Enttäuschungen. Das aber gehört zum Wesen des Künstlers, daß lebenslang etwas vom Kinde in ihm lauscht, eine Frische, die ihn bei dem leisesten Anstoße die Augen weit öffnen, alles Neue mit Hochgenuß erfassen läßt. Solchem Sinne ist es gegeben, jedes einzelne Erlebniß, das Anderen für bloße Zufälligkeit gilt, als ganz eigens für sich erfunden und vom Schicksal zubereitet aufzufassen. Nicht selten giebt auch die Zukunft diesem Sinne Recht, und aus dem Körnchen, welches achtlos gesäet worden, keimt ein Baum hervor, dem Jahresringe anwachsen und der endlich über ein Schicksal schattet.

Richard Fügen war von Geburt ein Wiener. Melodien hatten bereits seine Wiege geschunkelt. Sein Vater, ein begabter, wenngleich kein genialer Künstler, war Orchestermitglied der kaiserlichen Oper, seine Mutter zur Zeit eine gefeierte Zerline und Funchon gewesen, hatte aber bald ihre Stimme verloren, und der brave Geigenstrich des Vaters gewann ihm auch im Laufe der Jahre keine bessere Stellung, als er schon in der Jugend errungen. Murrend und mit bitteren Klagen über erlittene Ungerechtigkeit verschwor sich Moritz Fügen hoch und theuer: sein Junge solle Kanzlist oder gar Handwecker werden, nur kein Künstler, der es lebenslang zu nichts bringen könne. Kaum hatten aber die Händchen des Knaben Kraft zu einer selbstständigen Bewegung, als sie sich schon nach der Geige ausstreckten. Es ging mit den Gelübden des Alten, wie mit allen in Liebesgrimm geschehenen Schwüren; sie schmolzen wie Schnee vor der Sonne, und so kam es denn auch, daß dem Vater das Künstlerherz in heller Freude zitterte, als er wahrnahm, daß die Träume seiner eigenen Jugend im Sohne Wirklichkeit zu werden versprachen. So viel hatten aber doch selbsterlittene Enttäuschungen vermocht, daß er darauf bestand, Richard müsse alle Schulclassen durchmachen, um nicht auf Musik als Broderwerb hingewiesen zu sein. Hörte er indessen, wie der Gymnasiast schon bei grauendem Morgen im Dachstübchen den Bogen ansetzte, um während der dem Schlafe entzogenen Stunden mit eisernem Fleiß zu üben, dann wurden dem alten Geiger die Augen feucht, ob er sich das gleich nicht merken ließ. Im Gegentheil ward der Vater von Jahr zu Jahr karger gegen den Sohn, nicht nur mit Lob, nein, mit Allem. Seit ihm die Frau bei Anlaß einer Epidemie rasch hinweg gestorben, wurde der alte Fügen fast zum Geizhals, begann Stunden zu geben und beschnitt seine Ausgaben [507] um so mehr, je mehr er erwarb. Ohne es Richard am Nothwendigen fehlen zu lassen, erhielt er ihn nach allen Richtungen hin bei strenger Diät. Der Sohn ertrug jede vom Vater geteilte Entbehrung als selbstverständlich, und war nicht wenig ergriffen, als Dieser ihm ganz unerwartet Freiheit und Mittel bot, seinen heißesten Wünschen zu folgen. Sobald Richard's Abiturientenexamen bestanden war, sandte der Alte ihn nach Rom und Paris, um Kirchen- und Opernmusik zu studiren und sich in der Compositionslehre zu vervollkommnen; er griff hierzu sogar sein kleines, wohlgehütetes Capitalvermögen an. Des Jünglings lange gebundene Flügel regten sich kräftig; wechselnde Affecte gingen durch seine Tage; seine Intelligenz fand vielfache Anregung, der Brennpunkt seines Daseins war und blieb aber die Musik.

Der Name des jungen Künstlers ward bekannt; Empfehlungen und Förderung boten sich ihm sowohl in der Fremde wie in der Heimath; sein originelles Compositionstalent fand Anerkennung und gewann ihm die Unabhängigkeit, welche seinem Naturell unentbehrlich war. Im Lauf der Jahre wurde ihm der Dirigentenstab derselben städtischen Capelle angeboten, welcher sein nun hingeschiedener Vater als Mitglied angehört hatte; er mochte sich aber nicht für lange Dauer binden und hatte vorgezogen, die weniger reichlich dotirte, aber unabhängigere Stellung als Capellmeister eines Musikvereins anzunehmen, dessen Kräfte immerhin gut waren, welcher aber nur einen Theil seiner Zeit in Beschlag nahm. Ein Sturm, der plötzlich durch die Welt brauste, hob diese Verpachtung auf, indem er den Musikerverein gleich manchen anderen, in alle Winde verwehte – das Jahr 1848.

Fügen war Idealist; arglos, leicht entzündbar, aber auch leicht abgestoßen, niemals fähig sich nach einer andern Decke zu strecken, als der seiner Individualität, würde er sich vielleicht in Leidenschaften verbraucht haben, hätte nicht die Kunst jede gefährliche Rivalität zurückgedrängt. Persönlichkeiten wirkten weniger stark auf ihn, als Ideen; was über dem Treiben gemeinen Lebens stand, riß ihn leicht hin. So kam es, daß ihn das Revolutionsjahr in seine Wirbel zog. Sein braves Herz hatte sich allzeit empört, wenn er das Elend Armer, Unterdrückter sah; feurig erfaßte er das drastische Heilmittel einer Weltverbesserung, die er im idealsten Sinne begriff und mitzugestalten ersehnte. Welch ein Schmerz aber ergriff ihn, als er den Giganten, an den er geglaubt, schon nach kurzer Zeit in schwache verzerrte Linien zerfließen sah! In den Reihen, in die er sich gesellt, wurde es schwüler und schwüler; statt männlichen Wirkens kamen zügellose Phantasien zu Worte, und der Entschluß, sich alledem wie durch einen Ruck schnell zu entziehen, erwachte in ihm als Selbsterhaltungstrieb. Menschen und Dinge waren ihm verleidet; es litt ihn nicht mehr in der Hauptstadt, wo er sich täglich mehr ernüchtert und abgestoßen fühlte.

Diese Stimmung hatte den Meister nach Tirol geführt, wo er sich im Umgang mit schlichten Leuten, ein paar Lieblingsbüchern und seinen Gedanken wieder auf seine eigenen Ziele zu besinnen versuchte. Und nun fand er sich ganz unerwartet wohlgeborgen in fremder Häuslichkeit. Fast ohne sein Zuthun war ihm das geworden, wie im Märchen Wünsche ausgesprochen und durch gute Feeen sofort erfüllt werden. Es kam ihm vor, wie ein paradiesischer Traum nach unleidlichem Alpdruck. Der stets in einem Winkel seines inneren Menschen auf der Lauer stehende Enthusiasmus bemächtigte sich seiner Stimmung, und bald wogten auch musikalische Gedanken vor ihm auf, noch unfaßbar wie ziehende Wolken, aber auch darin den Wolken gleich, daß sich Umrisse bildeten, farbige, goldbesäumte. Es ward ihm glückselig zu Muthe; Tage und Wochen glitten ihm so freudig dahin, daß er sich selbst zuweilen ein wenig närrisch vorkam, weil sich doch eigentlich gar nichts Besonderes mit ihm zugetragen hatte.

Darin freilich irrte er; denn mit Einem, der nie ein wirkliches Hausleben gekannt und nun dessen wohltuenden Hauch athmet, trägt sich wirklich Besonderes zu. Auf mutterlose Kinderjahre voll Entbehrung war sein achtloses Junggesellenleben gefolgt, das Leben eines Wandervogels, überall und nirgend daheim, selbst dort, wo sein Nest stand, weder kundig noch fähig, sich dieses Nest irgendwie weich auszufüttern. Zum ersten Mal im Leben fand er sich als Glied eines geordneten Haushaltes, in Frauenpflege, im Genuß eines Comforts, den er täglich, stündlich als unendliches Behagen empfand, wenn er ihn auch zuvor nie vermißt hatte. Kein Unberufener störte ihn bei all seinem Dichten und Trachten; nach überreichen Stunden einsamen Schaffens warteten Anregung und Ruhe zugleich auf ihn, und das Alles genoß er daheim. Wie köstlich war ihm das, wie neu und lebenswerth!

Die Tage gingen auf der Moosburg in rhythmischem Schritt, einfach und gleichmäßig. Zwei weibliche Dienstboten besorgten Haus und Feld in stiller Weise, und Jana traf dafür die Anordnungen. Tags über bekam der Gast die Hausfrau niemals, Jana nur vorübergehend zu sehen; diese war dann immer mit den Kindern oder mit Blumen beschäftigt. Von seinem Fenster aus sah er sie das im Herbstflor stehende dem Wiesenplan abgewonnene Gärtchen pflegen, auch die letzten Früchte des Jahres sammeln.

Das einfache, aber stets sorgsam bereitete Mittagsmahl wurde dem Gast auf seinem Zimmer servirt, aber das Abendbrod, überhaupt die Abendstunden, genoß er mit den Frauen. Dies hatte sich anfangs nur ab und zu, halb zufällig ergeben, ward aber bald zur stehenden Gewohnheit. Schon zur Zeit seines Einzuges begannen sich die Tage zu kürzen. Das Einbrechen der Dunkelheit bestimmte die Zeit, zu welcher Frau von Riedegg in ihrem Wohngemach, einem Eckzimmer, sicher zu treffen war und der Hausgenosse sich willkommen wußte, er mochte sich früher oder später einfinden.

Dieses Eckzimmer, zwischen dem an die Terrasse grenzenden Saal und der Kinderstube gelegen, fand er besonders warm und traulich. Es war bis zur halben Höhe getäfelt; den übrigen Theil der Wände deckten alte Gobelins, deren noch frische Farben verschiedene Jagdzüge darstellte, figurenreich und lebendig, und die Einrichtung stimmte zum Charakter dieser Wandbekleidung. Auf geschnitzten Schränken standen Gruppen von Majoliken, dazwischen schwere deutsche Krüge und schlanke Gläser aus Venedig. Jetzt, bei schon vorgerückter Jahreszeit, war der getäfelte Boden mit einem dichten Teppich belegt.

In der Nähe des riesenhaften Ofens, dessen blaßgrünen Kacheln Scenen aus dem alten Testament eingebrannt waren, stand der ovale schwere Tisch, auf welchem das Material für die Abendbeschäftigung der Frauen ausgebreitet lag. Fügen wußte nun, daß er der Schloßherrin „Unrecht gethan“, als er ihre zurückgezogenen Stunden schöngeistiger Thätigkeit gewidmet glaubte. Sie schriftstellerte nicht, nein, sie brachte diese Zeit damit hin, Fächer zu malen, welche einem Geschäftshause in der Residenz zugingen. Als Fügen einmal Jana beim Einpacken einiger dieser zierlichen Kunstwerke betraf, zeigte sie ihm dieselben. Er verstand sich wenig auf Malerei, um so besser aber auf die Natur, und war entzückt von der Grazie dieser Blüthen und Phantasiegewinde, welche nur künstlerische Begabung so erdacht und ausgeführt haben konnte.

Obgleich Frau von Riedegg in seiner Gegenwart von dieser Uebung nicht sprach, wie sie sich denn überhaupt nicht über ihr Thun und Lassen zu äußern pflegte, so that sie doch auch nicht heimlich damit. Nicht selten nahm sie statt der Nadelarbeit des Abends eine ihrer Mappen zur Hand, um unter mancherlei Skizzen eine Wahl zu treffen, und zog Fügen's Geschmack dabei zu Rate. Die Behaglichkeit, welche er im Hause genoß, erhöhte sich ihm, seit er wußte, daß er nicht der Kostgänger einer vornehmen Müßiggängerin sei. Genovevas Persönlichkeit imponirte ihm nach wie vor, die Entdeckung aber, daß sich in dieser Juno eine den Anforderungen des Lebens tapfer gegenüberstehende Frau, eine Arbeiterin, gewissermaßen eine Künstlerin verberge, brachte sie ihm innerlich näher und machte sie ihm zugleich um Vieles interessanter, wie sie denn überhaupt seine Gedanken besonders dann oft beschäftigte, wenn er sich nicht in ihrer Gegenwart befand. Ihre Verhältnisse schienen ihm klar vor Augen zu liegen. Eine junge Wittwe, bei vornehmer Gewöhnung in ihren Mitteln beschränkt, und so darauf angewiesen, ein abgelegenes Eigenthum zu bewohnen, vielleicht weil Erinnerungen es ihr lieb machten, vielleicht auch weil es bei gegenwärtigen Zeitläuften nicht verkäuflich war, oder die alten Lebensgewohnheiten sich nur so durchführen ließen – was konnte ihm einleuchtender, wahrscheinlicher erscheinen? Daß sie mit ihrem Gatten hier gewohnt hatte, daß derselbe während einer Reise plötzlich auswärts verunglückt und die so hart Betroffene dann mit Kind und Gesinde aufgebrochen war, um erst nach einigen Jahren zurückzukehren, das war ihm schon früher erzählt worden. Wie kam es trotzdem, daß er das Gefühl nicht los werden konnte, in dieser Frau ein Rätsel vor sich zu haben? Vielleicht lag das aber nur in dem Contrast, der zwischen ihrer Lage und ihrer Persönlichkeit bestand Genoveva gab sich zwar einfach, aber sie war es nicht. Ihr geistreiches Gespräch, das nicht selten zu feuriger Lebhaftigkeit [508] aufblitzte, bewies, wie viel sie von Welt und Menschen kannte, welchen weiten Horizont ihre Gedanken, selbst ihre Erfahrungen übersahen. Sie riß dann ihren Zuhörer hin und brachte in ihm selbst alles Feuer in Fluß; sein Auge hing bewundernd an dem unerforschlich schönen Gesicht, und doch fühlte er etwas wie eine unsichtbare Mauer zwischen sich und ihr. Alles, was er war, kam durch sie in Bewegung; den tiefsten Grundton seiner Seele schlug sie nicht an. Und doch hatte sie für ihn etwas Lockendes, als stünde er vor einem Waldwege, der sich in golddurchglühte Schatten verliert, wo man eindringen möchte, um zu schauen, wie es tief drinnen aussieht, ob auch da noch Sonnenfunken das Laub vergolden oder tiefes Schattendunkel vorherrscht.

Wenn Fügen an Genoveva dachte, wurde er ernst; dachte er an Jana, so lächelte er in sich hinein. Jana ward ihm zum Herzenstrost, wo und wie er sie immer sah. Der Instinct seiner Zusammengehörigkeit mit diesem harmonischen Wesen gestaltete sich ihm binnen wenigen Wochen zu einer Art Anrecht auf ihre Person. Zu diesem Gefühle in ihm mochte auch beigetragen haben, daß sie sich gleich anfangs sein „Fräulein“ verbeten und begehrt hatte, mit ihrem Taufnamen von ihm gerufen zu werden.

„Jeder nennt mich nur Jana,“ sagte sie, „ich bin und bleibe das Dorfkind, und mein Tirolerhütchen paßt für kein Fräulein.“

Das hatte ihm überaus gefallen, und seitdem trug er, wie er sich einmal scherzend äußerte, ein unsichtbares Halsband, auf dem der Name Jana stand. Der naive Vergleich war trotz seiner Kühnheit nicht ganz aus der Luft gegriffen; denn sobald der Musiker seine Zimmer verließ, folgte er Jana’s Spur. Er hatte beständig etwas mit ihr zu theilen, irgend ein Anliegen, worüber er mit ihr verhandeln mußte. Bei ihr waren fast immer die Kinder, mit denen ihn eine große Freundschaft verband und die des „Richard“ habhaft zu werden suchten, sobald sie seiner ansichtig wurden. Durften sie mit Jana hinab in’s Thal, zu nahen oder weiteren Gängen, dann entwischte zuvor gewiß eins oder das andere von ihnen und klopfte, allem Verbot zum Trotz, heimlich an seine Thür. Das hörte er immer gern, selbst wenn er mitten in der Arbeit war, und stand dann ganz unversehens mit seinem buschigen Kopfe, dessen Zustand sofort verrieth, daß er im Schaffen gestört worden, wanderlustig neben der sanft scheltenden Jana. Auf solchen Spaziergängen plauderte sich’s am besten. Das kleine Volk schwärmte voraus oder nebenher, von der Pflegerin nie einen Moment außer Augen gelassen, während Sinn und Ohr jedem Worte ihres Begleiters ebenso eifrig lauschte, als er ihre Reden hinnahm. Gerade die Mischung von Unerfahrenheit, ja Unwissenheit, mit feinstem Verständniß entzückte Fügen an ihr. Nicht umsonst hatte das kluge, von Natur gedankenvolle Mädchen seit Jahren in stetem Verkehr mit Genoveva gelebt; mit dem Instinct, welcher der weiblichen Natur so besonders eigen, hatte sie sich gerade nur das zugeeignet, was für sie paßte. Fügen meinte im Stillen, er sei nie zuvor so anziehender Mädchenhaftigkeit begegnet. Und wie hell und frei lag dieses junge Leben dem Auge offen! Ihr bis in den Grund der Seele zu schauen, schien ihm kinderleicht, und wenn plötzliches Erröthen oder Stocken verrieth, daß auch sie zuweilen etwas verschwieg, so wußte er, das galt der Herrin.

(Fortsetzung folgt.)




Um die Erde.[1]

Von Rudolf Cronau.
Erster Brief: Aus den Straßen New-Yorks.
New-York, im April 1881.

Gewiß haben Sie auf meine versprochenen Reisebriefe schon lange gewartet, aber lieber Herr Doctor, wenn man eine Wanderung um die Erde macht, so geht nicht immer Alles so glatt, wie man denkt. Man reist heutzutage so rasch und die Eindrücke drängen und thürmen sich uns so massenhaft entgegen, daß es geradezu unmöglich ist, von Allem Rechenschaft zu geben, was uns begegnet, und dann bedenken Sie: eine große Schwierigkeit liegt darin, aus der Fülle des Interessanten das Interessanteste herauszugreifen. Meine Reisebriefe werden daher von vornherein einen aphoristischen Charakter tragen, auch wird man billiger Weise von einem Wanderer, der flüchtig die Länder durchstreift, der heut eine Negerhinrichtung, eine Kunstausstellung und ein Narrenhaus, morgen Präsidenteninauguration und Klimafieber, dann wieder Carnevalssitzungen, Tabaks- und Guanofabriken durchzukosten hat, der heut von eines Kirchthurms höchster Zinne seinen Blick über das Städtegewühl schweifen läßt, morgen hingegen in’s Innerste der Erde hinabsteigt, um den Eigenthümlichkeiten irgend einer Höhle nachzuspüren – man wird von ihm die Schilderung tiefer liegender socialer Verhältnisse und politischer Zustände nicht verlangen.

Bunte Bilder sind’s, die ich Ihnen bringe, vielleicht darum interessant, weil sie mit Maleraugen gesehen wurden, welche die Dinge ja in einer eigenen Beleuchtung sehen sollen. So sei es denn – hinein in’s volle Menschenleben!

Der letzte Tag unserer Seereise war ein Feiertag, und die Erregung, die den Menschen befällt, sieht er der nahen Verwirklichung eines lang gehegten Wunsches entgegen, trieb mich aus der Enge meiner Cabine früh nach oben. Wir schwammen einsam auf weitem Meer; der Leuchtthurm von Fire Island, welcher uns in vergangener Nacht den ersten Gruß aus Neuer Welt geboten, war wieder im Spiel der Wellen versunken, oder er barg sich in der aschgrauen Dämmerung, die bleischwer im Norden und Westen herniederhing. Nur fern im Osten glimmte und glühte es, die einzelnen langgezogenen Wolkenstreifchen färbten sich mehr und mehr; bunter und bunter ward die Farbenscala des Himmels und durchlief alle Töne vom durchsichtigsten Grün bis zum tiefsten Blau, der Ocean aber wallte und wogte wie flüssiges Gold und spielte in tausend Schattierungen, durchwirkt mit allen Perlmuttertönen. Im Vorgrunde bäumten sich einzelne Riesenwogen; ihre Farben waren das tiefste Mineralblau; nur die Kämme zischten und sprühten wie geschmolzenes Metall. Unendlich wechselnd war das Schauspiel, am erhabensten, als sich das urälteste und größte Mysterium auf’s Neue vollzog und die glühende Sonnenscheibe wie eine feurige Insel dem Ocean entquoll. Und jetzt, inmitten dieser feierlichen Morgenstille, erklingt der Ruf: „Land – Land –“ den Lippen von tausend Passagieren, die schon längst den Blick starr und unverwandt gen Westen gerichtet hielten. Land! – wahrhaftig, da liegt es vor uns – lange, schwankende Contouren am Horizonte!

Amerika! Wie oft haben wir in der alten Welt staunend die Kunde von deiner Pracht und Größe vernommen! Deine undurchdringlichen Urwälder, deine endlosen Prairien und die abenteuerlichen Erlebnisse deiner ersten Ansiedler beschäftigen dort lebhaft die Phantasie des Knaben; die Thaten deiner Helden, die für die heilige Freiheit stritten und ihr zum Siege verhalfen, wecken ein Echo der Begeisterung in den Herzen der Jugend; die Schöpfungen deines Genius auf dem ruhmvollen Gebiete friedlicher Arbeit zwingen die Männer zur Bewunderung und spornen sie zur Nachahmung an. Wie von einer edlen Sage verklärt stehst du noch, eine gewaltige, märchenhafte Erscheinung, vor meiner Seele! Bald soll ich dich mit eigenen leiblichen Augen schauen, die Züge deiner vielgepriesenen Schönheit mit eigener Hand zeichnen. Wirst du das halten, was du mit lockendem Sirenengesange dem fernher Nahenden versprochen?

So dachte ich, am Bugspriet stehend und in die Ferne hinausschauend, während das Schiff in eiligem Fluge sich dem Gestade näherte.

Zwischen den Inseln Long Island und Staten-Island rasch hindurchfahrend, unterscheiden wir jetzt Hügel und Abhänge, Wald und Wiesen; anmuthige Villen grüßen uns von dem hohen Ufer. Der Reiz des Bildes steigt immer mehr; wir passiren eine Reihe

[509]

Straßenleben in New-York.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

[510] von gewaltigen Befestigungen und nähern uns allmählich in steigender Erwartung dem alle Herzen lockenden New-York.

Noch verhüllen uns die langgezogenen Hügelstreifen den Anblick der Metropole, aber von fernher tönt es wie leises Summen – es ist das Leben der Riesenstadt, der die „Oder“, das prächtige Bremer Schiff, welches uns über den Ocean hierher getragen, im Schmucke aller Flaggen entgegenzieht.

Die Einfahrt in die Bai von New-York ist unvergleichlich schön. Aus der Ferne winken uns Masten, Essen und Thurmspitzen in buntem Durcheinander. Immer mehr werden der stolzen Dreimaster und Dampfer, die in Hunderten von Exemplaren an uns vorübergleiten und uns in ihrem bunten Flaggenschmucke in kurzer Zeit die Farben und Wappen fast aller Nationen des Erdballs entgegenführen. Zwischen den dunklen Kolossen der überseeischen Dampfer hindurch winden sich wie Wasserkäfer die zahlreichen Ferryboote, mit ihren über Deck befindlichen Maschinenwerken einen grotesken Anblick gewährend.

Sicher und gewandt setzt die „Oder“ mitten durch das bunte Gewirr ihren Lauf fort, und wir dampfen an der äußersten Spitze von Manhattan-Eiland vorbei. Ein unscheinbarer bastionartiger Rundthurm fällt uns zunächst in die Augen: Castle Garden ist es, wo die Steerage-Passagiere, die Millionen von Auswanderern zum ersten Mal den Fuß auf den Boden der neuen Welt setzen. Ueber die Baumgruppen, die das ausschließlich dem Auswandererthum gewidmete Gebäude umgeben, ragt der schlanke Thurm der Trinity-Church, ferner zeigen sich uns die Paläste des Stadthauses, der Post, des Telegraphenamtes, der „New-Yorker Staats-Zeitung“ und der „Tribüne“. Zur Rechten, zu Füßen der mächtigen Säulenpfeiler der East-River-Brücke, lagern die unübersehbaren Häusermassen von Brooklyn, während zur Linken die Städte Jersey-City und Hoboken den ganzen Raum bis zum Horizonte füllen. Ringsum sind die Riesenstädte mit zahllosen Docks und Hafendämmen umgürtet, in denen die schwarzen Leiber der transatlantischen Dampfer rasten; hier wehen die Wimpel der Bremer und Hamburger, dort die der englischen und amerikanischen Nation. Gleich zwischen die Docks schieben sich die Ausläufer der großen nach Norden und Westen führenden Eisenbahnen, der Pennsylvania-, Erie- und Hudsonbahnen. Immer farbiger und lebendiger wird das Bild, immer schneller der Wechsel, bis wir endlich an dem Hafendamm des „Norddeutschen Lloyd“ in Hoboken anlegen.

Wir sind in Amerika, in New-York; der Unterschied zwischen der Welt, die sich hier uns erschließt, und der Heimath ist überraschend; jeder Schritt, jede Straßenbiegung bringt uns Neues und Anregendes.

In New-York ist Alles interessant, wenn es uns auch nicht gleich in Allem befriedigt. Die Bauart der Häuser, das tiefe Roth der Backsteine, die Chocoladenfarbe der Braunsteinpaläste, die Unzahl der bunten Annoncentafeln geben dem Ganzen einen so besonderen Anstrich, daß man nicht müde wird, durch die Straßen zu flaniren, die unablässige, fieberhafte Thätigkeit von Broad- und Wallstreet zu beobachten oder in der fünften Avenue das Leben der eleganten Welt zu mustern.

New-York ist eine Stadt, die das Auge des Malers in hohem Maße befriedigt, ist entschieden interessanter als sämmtliche andere Großstädte des Ostens zusammengenommen, deren tödtliche Gleichförmigkeit sich von der dem Capitole zu Washington nachgeahmten City Hall an bis auf die unbedeutendsten Details, bis auf Straßennamen und Zimmerschlüssel erstreckt. New-York ist eine internationale Stadt; die Masse des Fremden-Zuflusses ist zu groß, zu mächtig, als daß ein einzelnes Element die Ueberhand zu gewinnen vermöchte; wir finden in New-York die Schablone der amerikanischen Großstädte nicht so scharf und unerbittlich ausgeprägt, wenn auch die ganze Anlage auf demselben Systeme beruht. Bekanntlich sind die meisten großen Städte der neuen Welt in Form eines Schachbrettes angelegt, der zufolge alle Straßen beiläufig dieselbe Breite, dasselbe Aussehen und auch dieselben Namen haben. Bezüglich der Regelmäßigkeit läßt also eine in solchen Häuservierecken erbaute Stadt nichts zu wünschen übrig. Freie Plätze (squares) wurden dadurch geschaffen, daß man an verschiedenen Stellen Häuservierecke (blocks) wegließ und den dadurch entstandenen Raum mit Anlagen, Springbrunnen und Monumenten versah.

Eine Eigenthümlichkeit, die uns ferner in die Augen fällt, ist der Umstand, daß öffentliche Gebäude, Kirchen, Theater, Museen und sonstwie hervorragende Prachtbauten, nicht wie in Europa mit großen freien Plätzen umgeben werden, um dieselben dadurch mehr hervortreten und auf das Auge wirken zu lassen. Es ist vielmehr ausschließlich üblich, dieselben in die Straßenfronten hineinzubauen und mit anderen Gebäuden zu umgeben. Dadurch werden die hervorragendsten Bauten erdrückt von der Last der sie umgebenden Alltäglichkeit und tragen trotz alles verschwenderischen Aufwandes, trotz der herrlichsten Materialien nicht eben viel zur Verschönerung bei. Nur die Straßenperspective gewinnt dadurch; die Häuserreihe erhält eine angenehme Unterbrechung; das Straßenbild wird malerischer, interessanter, zumal eine Mannigfaltigkeit bezüglich der Formen zu Tage tritt, die staunenerregend wirkt. Zwar den künstlerischen, den architektonischen Werth der Mehrzahl amerikanischer Prachtgebäude dürfen wir nicht kritisch untersuchen. Nirgend auf der Welt sind die Stilarten biegsamer als hier, und manchmal sind drei, vier Stilformen zu einer einzigen glücklich zusammengeschweißt.

Von einem eigentlichen Promeniren in den Straßen New-Yorks ist nicht die Rede; Alles drängt und schiebt sich durch einander; willenlos sieht sich der Wanderer von dem Strome fortgerissen, um ebenso willenlos in irgend einer anderen Straße an den Strand gesetzt zu werden. Die Trottoire sind erfüllt von einer unübersehbaren Menschenmenge; durch die Fahrwege ziehen endlose Processionen von Fuhrwerken aller Art; hier sucht die prächtige Carosse eines Eisenbahnkönigs sich durch das Gewühl der schwerbeladenen Frachtwagen zu winden; dort tragen Omnibusse und Pferdebahnen ihre Passagiere in tollem Jagen zu ihren entlegenen Zielen, über unseren Köpfen aber donnern und brausen die unzähligen Züge der Elevated Eisenbahn, alle besetzt mit eiligen Menschen, die von einem Ende der Riesenstadt zum andern hasten. Tausende und aber Tausende von Telegraphendrähten ziehen sich von einer Straßenseite zur andern, entweder von haushohen, mastbaumstarken oder von kleineren, auf den flachen Dächern der Häuser angebrachten Telegraphenstangen getragen. Quer über die Straßen sind Drahtseile gespannt, an denen in den ungeheuerlichsten, auffallendsten Darstellungen die Namen von Restaurants, Geschäftshäusern und Vergnügungslocalen baumeln. Die Häuser selbst sind mit Firmentafeln und Aufschriften über und über bis in die höchsten Stockwerke bedeckt, und jede Ecke, jeder Winkel ist mit einer Annonce versehen, was dem Straßenbilde ein eigenthümlich lebhaftes und geschäftiges Aussehen verleiht.

Alles, Alles ist Geschäft – wir, die wir nichts zu thun haben, sind in diesem Leben wie verloren. Tausende eilen in der Minute an uns vorüber; Keiner hat Zeit, uns anzusehen, und nur den Parasiten des Straßenlebens bilden wir einen Zielpunkt ihrer Aufmerksamkeit; der Fruchthändler kommt mit seinen Florida-Orangen und Bananen, mit seinen Feigen, Nüssen und californischen Trauben, der Zeitungsjunge mit seinem „New-York Herald“, der schwarze Stiefelputzer, der keinen ungeputzten Stiefel in den Straßen New-Yorks leidet, mit seinem Wichskästchen. Ueberlassen wir unsere Fußbekleidung den Liebkosungen des Letzteren, so haben wir unterdeß Gelegenheit, auch das uns umgebende Publicum uns anzusehen, den Plakatenmann, der auf seinen vorn und hinten am Halse befestigten Anzeigetafeln der leidenden Menschheit Hühneraugentinctur und Frostbalsam, Brustthee und Insectenpulver empfiehlt. Kein Volk der Welt ist reclamesüchtiger, als das amerikanische; keine Zeitung der Welt, außer „New-York Herald“, kann sich rühmen, 170 bis 180 Spalten Annoncen in einer Tagesnummer ihres tischtuchgroßen Blattes zu bringen. Alles, Alles ist Reclame in Amerika, und die Mittel und Wege dieser Reclamen sind wunderbar. Haben wir hier das 50 Fuß hohe Bauwerk einer Brooklyner Möbelfabrik angestaunt, welches auf einem mächtigen, mit riesengroßen Annoncen bedeckten Postamente eine große, sich beständig drehende sternenbesäete Kugel, auf dieser wieder eine die ewige Rundreise mitmachende, alle Concurrenz zusammenschießende Kanone trägt, haben wir ferner die häuserhohen Theaterplakate oder die Kühnheit eines Gondelfabrikanten angestaunt, der in seinen Schaufenstern ein halbes Dutzend fast nackter Kerle dazu anhält, dem draußen zahlreich versammelten Publicum durch tagelange Ruderübungen die Leichtbeweglichkeit seiner Gondeln plausibel zu machen, haben wir uns weiter über die ewige Wiederkehr von Fisher’s „blue balls“ auf jedem zweiten Schornsteine geärgert – so vermögen die zahlreichen, auf’s Abenteuerlichste herausgekleideten Plakatenmänner uns kaum noch zu rühren.

[511] Ein bedeutendes Vekehrshinderniß bilden in New-York, wie in fast jeder amerikanischen Großstadt, die an und auf dem Trottoire aufgethürmten Waarenballen, Kisten und Fässer, welche die Passage für Fußgänger versperren, während man in Europa der Ansicht ist, daß eine Stadt, die sich des größten Verkehres zu erfreuen hat, in erster Linie darauf bedacht sein müsse, ihre Verkehrswege offen zu halten. Ein fernerer Uebelstand ist es, daß in New-York hinsichtlich der Straßenreinigung absolut nichts geschieht.

Der Zustand der Straßen, namentlich im unteren belebtesten Theile New-Yorks, ist, wie man allgemein klagen hört, zur Winterszeit ein wahrhaft fluchwürdiger, und wer dazu verurtheilt gewesen, das erste Quartal dieses Jahres in New-York zu verleben, der hat auch sicherlich bezüglich des Zustandes der dortigen Straßen jeden ihm zu Gebote stehenden Kraftausdruck zur Anwendung gebracht. Man kann den Bürgern New-Yorks wahrhaftig nicht nachsagen, daß sie lahme Daumen haben, wo es sich um eine allgemeine wohlthätige Einführung handelt, und so ist auch in New-York zu dem Zwecke der Straßenreinigung eine Summe ausgeworfen, die hinreichen würde, ein Vierteldutzend europäischer Großstädte in passablem Zustande zu erhalten. Dem breiten Goldstrome aber ergeht es wie so manchem Strome: er zerfließt in unzählige Nebenarme, und nur ein armselig schleichendes Bächlein erreicht seine wahre Bestimmung. Und da also das hochlöbliche Straßenreinigungsbureau demnach in Wirklichkeit nicht viel auszugeben hat, so beschränkt man sich höchstens darauf, die Gossen und Cloaken offen zu halten; das Andere, die Zerkleinerung und Auflösung der Schnee- und Kothmassen, wird den Füßen der Passanten, den Lastwagen und – dem Thauwetter überlassen. Wen mag es da wundern, daß New-York, das sich, ringsum von Wasser umgeben, unter allen Großstädten der Erde der denkbar günstigsten Lage für Sanitätszwecke erfreut, doch mit größerer Sterblichkeit behaftet ist als die meisten anderen Großstädte.

Vor mir liegt „Harper’s Weekly[WS 1]“ vom 2. April 1881. Ein doppelseitiges Bild entrollt ein schauerliches Nachtstück – an Stelle der Freiheitsstatue, die den Hafeneingang von New-York zieren soll, aber immer noch nicht fertig werden will, erhebt sich auf hohem Postamente ein gräßliches Knochengerüst, die Todtenrolle im Arm, eine umgekehrte Fackel, der die letzten Funken entfallen, hoch empor haltend. „Laßt alle Hoffnung hinter Euch, die Ihr hier eintretet,“ so lautet das fürchterliche Mahnwort des Postaments, hinter welchem in der Ferne die Lichter der Riesenstadt aus dunkler Nacht herüberglänzen. Und nur allzu wahr gezeichnet ist das schauderhafte Gespenst, welches, im Dunste und Kothe der Straßen geboren, ungesehen die Häuser der Menschen durchschleicht, um die Schuld und das Vergehen Einzelner an Tausenden zu rächen.

Hoffen wir, daß die Stadtverwaltung der schönen Metropole nunmehr in erster Linie es sich angelegen sein lasse, Mittel und Wege zu finden, um Leben und Gesundheit ihrer Bürger und vieler Tausender von Fremdlingen zu bewahren!




Nihilismus und russische Dichtung.

Studien von Wilhelm Goldbaum.
1. Ursprung und Wesen des Nihilismus.

Mit staunendem Interesse ist die Welt den schreckhaften Erscheinungen im heutigen Rußland zugewendet. Niemals und in keinem Staate wurde eine ähnliche revolutionäre Bewegung gesehen, und die historische Vergleichung, sonst so fruchtbar und anregend, erweist sich in diesem Falle als völlig unzureichend, das Werden und das Wesen des Nihilismus zu veranschaulichen, geschweige zu erklären. Eine ganze Literatur von Büchern und Flugschriften ist binnen drei Jahren über den Nihilismus entstanden. Vertheidiger und Ankläger, die Letzteren in der Mehrzahl, entwickelten ihre Gedanken über denselben bald an der Hand der Geschichte, bald im Anschlusse an die Thatsachen, welche wir selbst noch jüngst erlebt haben. Allein es ist aus vielen Gründen mißlich, die schauerlichen russischen Vorgänge mit früheren oder gleichzeitigen historischen Ereignissen oder Zuständen zu vergleichen, weil weder das römische Kaiserreich in seinem Verfalle, noch Frankreich vor der großen Revolution sich mit dem heutigen Rußland vergleichen lassen, weil ferner die Volksindividualität, mit welcher man es hier zu thun hat, ganz anders geartet ist als jede sonstige, an welcher die große Lehrmeisterin Geschichte sich bereits erprobte, weil endlich die Grenzen der nihilistischen Bewegung nur äußerst schwer zu ermitteln sind und Niemand zu sagen vermag, ob die Wurzeln des Nihilismus politischer, ob sie socialer, ob literarischer Art sind. Man hat bisher noch immer den Sinn aller Revolutionen aus dem Verhältnisse der regierenden und regierten Schichten zu einander construiren können; diese beiden Schichten lagen eine über der anderen, und es handelte sich darum, in gewaltsamer Drehung diese Lage zu verändern; was oben lag, sollte hinunter, das Untere hinauf. So in England, Frankreich, Deutschland, so auch im Alterthume, wo Aristokratie und Demokratie ganz besonders sichtlich um den Vorrang stritten.

Jedoch in dem heutigen Rußland hat die Bewegung nicht den Charakter der Auseinandersetzung zwischen den unteren und den oberen Schichten der Gesellschaft. Der Nihilist darf weder mit dem Plebejer im alten Rom, noch dem englischen Rundkopf, dem französischen Sansculotten oder dem deutschen Demokraten verglichen werden. Zum Nihilismus stehen in gleicher Weise die Mitglieder der höchsten Aristokratie wie die Söhne und Töchter des Popen, des befreiten Leibeigenen, des jüdischen Schänkwirths. Nicht die socialen Schichten ringen mit einander, sondern die Individuen erheben sich gegen die Institutionen; die Gesellschaft kämpft wider den Staat, und weil Aehnliches noch niemals gesehen worden, weil Niemand voraus zu sagen vermag, wohin es bei solchem Kampfe kommen soll, deshalb ist der Nihilismus eine so unheimliche, mysteriöse Erscheinung, die man völlig mißversteht, wenn man sie nach den bisherigen geschichtlichen Wahrnehmungen in eine bestimmte Kategorie verweist, welche vielmehr aus allen zugänglichen Gesichtspunkten, aus dem politischen, socialen, literarischen und nationalen gefaßt werden muß, wenn sie nicht in ihrem Wesen verkannt, in ihrer Tragweite, in ihren Ursachen und wahrscheinlichen Wirkungen unterschätzt werden soll.

Der Russe macht seine Revolution auf seine eigene Art, weil das Blut, das ihm in den Adern rollt, in ganz eminentem Sinne ein „gar besonderer Saft“ ist. Zu diesem Blute hat der Slave, der Normanne, der Tatar einen Tropfen hergegeben, und die Mischung, welche entstand, ist mit keiner anderen zu vergleichen. Im Russen liegt die Trägheit neben der Grausamkeit, der Fatalismus neben der Romantik, die Phantasie neben der Thatkraft, der denkbar roheste Realismus neben idealistischer Uebertreibung. Namentlich aber ist es der Nachahmungstrieb, welcher in dem Russen lebhaft entwickelt ist. Er lernt leicht, was sich Anderen absehen läßt; er besitzt ein unvergleichliches Sprachtalent, einen lüsternen Sinn für fremde Bräuche und Moden, ein Verständniß für Alles, was er zu seinem Vortheile der Fremde entlehnen kann. Wenn er nichtsdestoweniger sich geberdet, als bedürfe er keiner fremden Anregungen, so ist dies eine Prahlerei, welche ebenfalls zu den Grundzügen seines nationalen Wesens gehört. Seine großen Dichter haben nach fremden Mustern sich gebildet und nach ihnen geschaffen; seine Aristokraten sind in die französische Schule gegangen; seine Revolutionäre haben der Wissenschaft des Westens die fürchterlichen Behelfe abgeborgt, mit denen sie ihre Attentate verüben. Puschkin läßt sich auf Goethe und Lord Byron zurückführen wie der Adept auf den Meister; Petersburg ist ein nach Rußland verpflanztes Paris; den Dynamitattentaten von Moskau und im Winterpalaste diente die entsetzliche Thomas-Uhr von Bremerhaven zum Vorbilde und Muster. Ueber diese Thatsachen ist nicht hinwegzukommen, wenn man den russischen Nationalcharakter richtig beurtheilen will, und das Ergebniß, welches sie liefern, fällt nicht besonders günstig aus. Ist es nun den letzten Generationen in Rußland zum Bewußtsein gelangt, daß sie sich in dem Völkerreigen Europas so geringer Originalität zu berühmen haben, so sind sie bei der Abhülfe dieses Mangels auf den schlechtesten Weg gerathen, der sich ihnen jemals hätte darbieten können; denn statt sich an dem fremden Beispiele zu läutern, haben sie plötzlich dasselbe verpönt, um sich an dem Traume einer ureigenen nationalen Entwickelung [512] zu berauschen; die Lehrer wurden von den Schülern verlästert: der „verfaulte Westen“ wurde zum Gegenstand nationaler Verachtung gemacht, die fremde Cultur, welche seit zwei Jahrhunderten und darüber die oberen Schichten der russischen Gesellschaft gesittigt und „europäisirt“ hatte, für einen lästigen Eindringling erklärt, dessen Spuren von Grund aus getilgt werden müßten.

Das ist die nationale Wurzel des Nihilismus, welche er mit dem Panslavismus und dem sogenannten Altrussenthum gemein hat. Aus ihr entkeimt naturgemäß nicht blos die Oberflächlichkeit in Wissen und Denken, nicht blos die Selbstüberhebung, welche sich selbst genug sein zu können glaubt, sondern auch der Haß gegen die deutsche Dynastie, gegen Alles, was geordnete Entwickelung im Staate ist, gegen Kunst und Wissenschaft, welche den Menschen zur vornehmsten Lebensführung erziehen, gegen die Geschichte endlich, deren Lehren mehr auf eine erhaltende, als aus eine umstürzende Weltanschauung hinleiten. Der flaumbärtige Nihilist, die Nihilistin, welche sich von allen Banden der Sitte und des Familienlebens losgelöst hat, dünken sich stark und reif genug, nicht blos die Staatsordnung zu zerstören, sondern der gesammten Weltordnung den Krieg zu machen; sie jagen nach einem Martyrium, das keines ist; die Wollust der Rache, der Grausamkeit, der Tollkühnheit wird ihnen zur Inspiration; ein begreifliches Gefühl des Mißvergnügens wandelt sich in die Leidenschaft der Zerstörung, wobei jedes Mittel als das rechte erscheint.

Es ist indessen nur die Form der Revolution, welche sich aus der nationalen Beschaffenheit der Russen erklärt. Wie man auch ohne völkerpsychologische Tüftelei genau die unterscheidenden Merkmale zu finden vermag zwischen der Methode, welche der Engländer bei seiner großen Revolution gegen die Stuarts, und derjenigen, welche der Franzose bei der seinigen gegen die Bourbonen befolgte, so kann man auch mit Gewißheit sagen, daß nur in Rußland die nihilistische Bewegung möglich war mit diesen raffinirten Schrecken, diesen Orgien zügelloser Grausamkeit, dieser unerhörten Heimlichkeit, welche einen Bund von tausend Menschen stärker macht, als einen Staat mit einer Million von Bajonneten, dieser genialen Aneignung naturwissenschaftlicher Mittel zu mörderischen Zwecken.

Tiefer hinein in die Erkenntniß der russischen Revolution führt die historische Betrachtung.

Seit wann existiren der Name und die Sache des Nihilismus? Wie Alles wunderlich an dieser räthselhaften Erscheinung ist, so auch die Antwort auf diese Frage; denn der Name ist älter als die Sache; er findet sich schon in periodischen russischen Schriften vom Jahre 1831, und zwar nahezu in demselben Sinne, welcher ihm heute zukommt. Vom Nihilismus hat man in der Philosophie schon vorher gesprochen und als eine Form philosophischer Anschauung geht dieser Begriff schon auf das „Nil admirari“ des Horaz zurück; allein in seiner Anwendung auf das politische und sociale Leben ist der Begriff des Nihilismus von specifisch russischer Herkunft. Nur ward im Jahre 1881 ein anderes seiner Merkmale betont als heute. Der Czarenautokratie gegenüber waren bereits mancherlei Palastrevolutionen und Militärcomplote ohnmächtig geblieben. Kaiser Paul war von adeligen Hofleuten erdrosselt worden; von Alexander dem Ersten raunte man sich zu, er sei beim Baden in Taganrog gewaltsam in die Wellen hinabgetaucht worden. Czar Nikolaus hatte den Aufstand der Decembristen blutig erstickt, und die große Insurrection der Polen war unbarmherzig niedergeworfen worden. Da ergab sich denn Alles, was in Rußland der Autokratie des Czaren feindlich gegenüberstand, der Resignation. Man fand sich in das Schicksal der Sclaverei; Puschkin selbst zerbrach die Feder, mit welcher er vordem Gedichte auf die Freiheit geschrieben hatte, um fortan die Gunst des Czaren und dessen persönliche Controlle zu ertragen. Die Autokratie behielt das Heft in den Händen, und alle Versuche, sie abzuschütteln, waren vergebens. Man hoffte nichts mehr; man wollte nichts (nihil) mehr. Das war der Nihilismus von damals. Und er hatte seine Zeit etwa zwanzig Jahre lang. Da tauchte der Kritiker Belinsky zuerst in Moskau, dann in Petersburg auf, um, ein „russischer Lessing“, eine Schule von jungen Literaten um sich zu schaaren und bisher heilig gehaltene Begriffe in Kunst, Dichtung und Wissenschaft zu stürzen, sie durch neue zu ersetzen. Belinsky wies über die chinesische Mauer hinweg, mit welcher das autokratische Rußland umgeben war, nach Deutschland, dessen große Philosophen er studirt hatte. Einer von den revolutionären Sätzen, die er predigte, lockerte besonders kühn das Band der Bevormundung; Belinsky behauptete nämlich, das russische Volk habe keinen Sinn für die Religion. Von nun an war der Nihilismus als Zeichen der Resignation und Fügsamkeit überwunden; es konnte sich nur noch darum handeln, was an seine Stelle treten sollte. Ein schüchterner Versuch, sociale Umwälzungen herbeizuführen, von einem Staatsrathe Petraschewski und etwa dreißig Genossen geplant, scheiterte: die Neuerer wurden allesammt nach Sibirien „verschickt“.

Ein gleiches Schicksal oder mindestens das Loos der Verbannung in’s Ausland traf Alle, welche in Wort, Schrift oder Lebensführung einer freieren Denkweise verdächtig waren. Bakunin, Herzen, Turgenjew mußten in’s Exil, und des Czars „höchsteigene dritte Kanzelley“, die berüchtigte dritte Abtheilung, deren „hellblaue“ Gensd’armen überall in dem weiten Reiche umherspionirten, verstand nicht blos Schuldige zu finden, sondern auch Schuldige zu machen. Die Wege nach Sibiren waren gleichsam besäet von Zügen Deportirter, hinter welchen der Kantschu des Kosaken sauste, nachdem die „dritte Abtheilung“ sich ihrer ohne richterlichen Spruch und ohne Untersuchung, zumeist auf die Denunciation der „Hellblauen“ hin, bemächtigt hatte.

Dabei ging etwas dem russischen Volke verloren, was anderswo als das heiligste menschliche Besitzthum gilt: das Recht der Persönlichkeit, die Individualität. Wer im Namen des Czars eines Amtes waltete – und mochte er auch das feilste Subject sein – war der Herr; alle Uebrigen waren Sclaven. Und auch, es gab vierzehn Rangclassen des Beamtenthums, des Tschin, vierzehn Schichten, welche unbarmherzig aufsaugten, was das Volk im Schweiße seines Angesichts erwarb. Ein Appell, eine Reclamation galt nur so viel, wie ihr Urheber an Bestechung zu ihrem Nachdrucke aufzuwenden hatte. In dieser Rechtsunsicherheit seufzte die gesammte Nation: „Der Himmel ist hoch, und der Czar ist weit.“

Einem solchen Zustande konnte nur durch Ereignisse von außen her gesteuert werden, und als der Czar Nikolaus, besiegt und gedemüthigt in den Niederlagen des Krimkrieges, zusammenbrach, um den Platz auf dem Throne seinem Sohne Alexander zu räumen, schien es in der That, daß ein besserer Tag für Rußland angebrochen sei. Damals gründete Alexander Herzen in London sein berühmtes Blatt „Die Glocke“, in welchem mit unerbittlicher Schärfe alle russischen Mißstände ausgedeckt wurden.

Die Palastcreaturen, welche den neuen Czar umgaben, thaten alles Mögliche, damit dieses Blatt nicht unter die Augen ihres Herrn komme, aber alle Verbote und Confiscationen blieben fruchtlos. Der Czar fand dennoch jede neue Nummer der „Glocke“ in seinem Gemache, ohne daß Jemand zu sagen wußte, wie sie dorthin gelangt sei. Ob nun Herzen’s Mahnungen oder andere Impulse es waren, welche den Czar bestimmten, neue Bahnen einzuschlagen, gleichviel, es geschah ein Schritt von großartiger reformatorischer Bedeutung: die Befreiung der Leibeigenen. Schade nur, daß er nicht sorgsam genug vorbereitet war und daß die Bahn, auf welche er führte, nicht festgehalten wurde. Der Muschik, dieser arme, unwissende, an dumpfes Dahinleben gewöhnte Bauer, war frei; er empfing auch einiges Land. Aber man nahm ihm Steuern ab, welche zwei Drittel seines Einkommens aufzehrten, und gab ihm nicht neue ehrliche Beamte zum Schutze auf dem Pfade, auf dem er wie ein Halbblinder in die Freiheit hineintaumeln sollte, sondern die nichtswürdigen Tschinowniks von ehedem blieben in ihren Aemtern und saugten an der Habe und dem Erwerb des Volkes. Das war die eine verhängnißvolle Lücke in der Reform, aber die andere war noch empfindlicher.

Das Recht der Persönlichkeit ward nicht gesetzlich verbürgt, das System der „administrativen Verschickung“ nicht beseitigt. Zwar auf dem Papier wurden noch manche Justiz- und Verwaltungsreformen entworfen, aber das Beamtenthum blieb ungesäubert. So lange aber der Tschinownik nicht zum Menschen umgewandelt, der Bestechlichkeit, der Brutalität, der Lüderlichkeit entwöhnt war, so lange mußte jede Reform im Reiche des Czaren ein frommer Wunsch sein. Wenn zwischen Staat und Gesellschaft, welche zusammengehören wie zwei verschiedene Erscheinungsformen desselben Inhaltes, nicht ein unnatürlicher Gegensatz entstehen soll, so muß der Staat der Gesellschaft mit dem Beispiele der Pflichterfüllung und des ernsten Bewußtseins der Verantwortlichkeit voranleuchten. In Rußland bot der Staat das entgegengesetzte Bild.

Die Gesellschaft ward durch ihn und seine Vertreter corumpirt. Und so konnte es geschehen, daß fast gleichzeitig mit der [513] Aufhebung der Leibeigenschaft die ersten Spuren des Nihilismus in seiner heutigen Gestaltung zu Tage traten. Damals – etwa im Jahre 1881 – bildeten sich die ersten geheimen Gesellschaften und zwar selbstverständlich zumeist aus den Reihen der Jugend. Die „Glocke“ Herzen’s hatte nicht umsonst geläutet. Was diese Gesellschaften wollten, das war zunächst noch bescheiden genug: Beseitigung der administrativen Verschickung, Säuberung des Beamtenthums und – ein wenig Verfassung.

Man hatte nicht viel daheim gelernt, aber man hatte, was unter dem Czar Nikolaus nicht so leicht gewesen war, Pässe zu Reisen in’s Ausland erhalten; da hatte man gelernt, wessen sich die übrige Welt an politischer Reife und persönlicher Freiheit erfreuen durfte. Man hatte auch popularisirte Naturwissenschaft zwar nicht „durchaus studirt“, aber aus den Büchern eines Moleschott und Louis Büchner in sich aufgenommen, wobei eine Art von krausestem Materialismus sich der Seele bemächtigte. Da kam man sich denn daheim doppelt unselig vor, und weil der Russe zum „Weltschmerze“ nicht disponirt ist, so übersprang man diese Stufe und kam zur Verzweiflung, welche, im Gegensatze zur Resignation des alten Nihilismus, den wesentlichen Inhalt des neuen Nihilismus bildet.

Das Unglück wollte, daß in dieser Zeit der Gährung die Polen sich erhoben und von einem Murawiew, dem feigsten Henker, zertreten wurden, daß die geheime Nationalregierung von Warschau der russischen Jugend als ein Ideal von Verschwörerorganisation erschien, daß endlich der Czar, mißtrauisch gemacht und durch schlechte Rathgeber irregeführt, auf der Bahn reformatorischen Wollens und Schaffens anhielt und nach dem Despotismus des Selbstherrscherthums sich zurücksehnte, der bekanntlich in Rußland „durch den Meuchelmord gemildert wird“.

Nun hatte der Nihilismus leichte Arbeit. Von Hause aus war er etwas Unbestimmtes, ein politisches und sociales Mißvergnügen, das Bedürfniß nach persönlicher Freiheit, der Haß gegen feiles Beamtenthum gewesen; jetzt empfing er einen bestimmten Inhalt, ein Programm. Die Dynastie wurde proscribirt, die Anarchie als Sehnsuchtsideal dem Despotismus gegenübergestellt, die Vernichtung des Staates zum Berufe der Gesellschaft erklärt. Kleine Verschwörergesellschaften bildeten sich, denen von überallher Proselyten zuströmten - die Gesellschaft „Semlja i Wolja“ (Land und Freiheit) stammt schon aus jenen Tagen - und die Reihe der Attentate auf Alexander den Zweiten begann mit demjenigen Karakasow’s, um nach Jahrzehnten mit der furchtbaren Dynamittragödie am Petersburger Katharinen-Canal zu enden.

Ein Dunkel schwebt bis zum heutigen Tage über den Organisationen der nihilistischen Propaganda. Wo hat sie ihren Sitz, wo ihre Häupter? Ist jenes sogenannte Executivcomité, ein vervollkommnetes Abbild der polnischen Nationalregierung des Jahres 1863, ein fester Kern, um den sich bestimmte Kategorien von Zugehörigen gruppiren? Giebt es Statuten? Und wie stark mag die Zahl der beständigen Verschwörertruppe sein, über welche das Excecutivcomité verfügt?

Ja, auf alle diese Fragen fehlt eine verbürgte Antwort. Eine Unzahl von Personen, des Nihilismus verdächtig und geständig, ist seit zehn Jahren von allerhand Gerichten, von Schwur- und Militärgerichten, verurtheilt und dann nach Sibirien gesendet oder gehenkt worden. Immer wieder glaubte man, in einzelnen Schuldigen die Häupter der unheimlichen Revolution ergriffen und unschädlich gemacht zu haben. Aber es war wie mit den Kopfen der Hydra; einen Kopf hatte man abgeschlagen, hundert Köpfe wuchsen nach. Und dabei tauchte bald da, bald dort, bald im Süden, bald im Norden des ungeheuren Reiches, bald in den Städten, bald auf dem Lande dieses Schreckenshaupt der Revolution auf.

Vor zehn Jahren etwa begann der Nihilismus, „Blut zu lecken“. Netschajew, ein Verschworener, erschlug einen Polizisten, der sich als Spion in eine nihilistische Versammlung geschlichen hatte. Netschajew entfloh in die Schweiz, ward ausgeliefert und ist seitdem verschwunden. Das war die Krise; denn bis dahin hatte der Nihilismus sich einer Blutthat noch nicht schuldig gemacht. Dann aber ging die schreckliche Erweiterung der Mittel mit reißender Schnelligkeit von statten. Es ist ein Unterschied zwischen dem Nihilismus vor und demjenigen seit Netschajew’s Auslieferung, wie zwischen einem theoretischen Revolutionär und einem Barricadenkämpfer, zwischen dem blasirten Studenten Bazarow, den Turgenjew in dem Roman „Väter und Söhne“, und dem verrückten Neschdanow, den er anderthalb Jahrzehnte darauf in dem Roman „Neuland“ als nihllistischen Typus construirte. Es blitzt ein Pistolenschuß in Petersburg; die Nihilistin Wjera Sassulitsch hat den Polizeimeister Trepow in seinem eigenen Bureau schwer verwundet. Eine Heldin meint der russische Geschworene in ihr zu erblicken; denn er hat noch nie eine Revolutionärin an der Arbeit gesehen; er spricht sie los, und sie flüchtet in die Schweiz. Dann knallt es in Charkow, der südlichen Universitätsstadt; der Gouverneur Krapotkin, der von einem Balle heimkehrte, liegt als blutiges Opfer am Boden. Der Türkenkrieg hat das Antlitz des Nihilismus entsetzlich gewandelt, ihn vom leidenschaftlichen Widerstande gegen den Despotismus zum blutigen Angriffe auf denselben getrieben.

Wie harmlos, fast ein Spiel mit äußeren Formen, ist der Nihilismus noch in den sechsziger Jahren gewesen! Man lese nur jene berühmte Verordnung des Generalgouverneur Ogarew von Nischnei-Nowgorod, in welcher amtlich zum ersten Male die Nihilistinnen eine Rolle spielen. Da heißt es: „Es ist von mir bemerkt worden, daß auf den Straßen Nischnei-Nowgorods zuweilen Mädchen und Frauen sichtbar sind, welche sich in einem eigenthümlichen, gewöhnlich den sogenannten Nihilistinnen zugeschriebenen Anzuge zeigen, der aus einem runden Hute, abgeschnittenem Haar, blauer Brille und einer Kapuze (Baschlyk) zusammengesetzt und wegen des Mangels der Crinoline auffällig ist.“ Diese Verordnung datirt aus dem Jahre 1867. Und zehn Jahre später, nach dem Orientkriege, welcher die Revolution ablenken sollte, sie aber in Wahrheit an Mord und Blut gewöhnte – welche grauerhafte Wandlung! Jene maskirten Frauenspersonen von Nischnei-Nowgorod sind zu Hyänen geworden, nach Zürich und Genf gegangen, um unter dem Vormunde medicinischer Studien das Revolutionshandwerk zu erlernen. Wjera Sassulitsch ist eine Stümperin im Vergleiche mit Sophie Perowski, der Mitschuldigen an dem Czarenmorde vom 13. März.

Wenn zuerst die Hand der Nihilisten sich blos wider verhaßte Beamte, wider einen Trepow und Krapotkin erhoben hatte, so vergreift sie sich gar bald an dem Czar selber. Solowiew schießt auf den Monarchen, der arglos durch die Anlagen des Winterpalastes wandelt, und da der Schuß gefehlt hat, verfolgt er sein Opfer auf den schneebedeckten Wegen wie ein Wild , bis zwei Kosaken herbeieilen und die entsetzliche Jagd durch die Ergreifung des Verfolgers beenden. Bald darauf wird die Eisenbahn zwischen Moskau und Kursk unterminirt, um den Train in die Luft zu sprengen, welcher den Czar von Livadia nach Moskau bringen soll. Im Winterpalast selbst explodirt direct unter dem Speisesaale eine Dynamitladung, und nur ein glücklicher Zufall rettet den Czar. Bleicher Schrecken erfüllt ganz Rußland. Bis wohin reicht der Arm des Nihilismus? Hat er seine Werkzeuge im Kaiserpalaste selbst? Und giebt es kein Mittel, ihn zu bändigen? Ein Dictator wird bestellt in der Person des Generals Loris-Melikow. Die Polizei schläft weder Tag noch Nacht. Aber es ist wie ein Geisterspuk, der sich nicht verscheuchen läßt. Auf Loris-Melikow selbst richtet sich der Revolver des Nihilisten Mlodetzky. Revolutionäre Proclamationen schießen aus dem Boden. Eine geheime Druckerei wird entdeckt; zehn andere setzen die Arbeit fort. Der Nihilismus ist hier, da und allerorten. Und am 13. März ereilt den Czar das Verhängniß; Dynamitbomben platzen unter seinem Wagen, während er aus der Michaels-Manége heimkehrt, und zerreißen seinen Leib.

Und wie viele von den Schuldigen man auch hängt, der Nihilismus bleibt unversehrt in seiner gespensterhaften Schreckhaftigkeit. Es hat den Anschein, als ob ganz Rußland von ihm überzogen wäre, von der Hütte des Muschiks bis hinauf zu den Gemächern der kaiserlichen Schlösser, von dem Hause des Popen bis zu den Casernen. Sophie Perowski, welche auf dem Smolensker Felde in Petersburg zum Galgen geführt wurde, ist eine Gräfin, die Tochter eines Senators und ehemaligen Ministers; Isajew, der ihr Schicksal theilt, ist der Sohn eines vordem leibeigenen Bauers, Mlodetzky der Sohn eines jüdischen Uhrmachers.

Es kommt aber im Grunde wenig darauf an, die Grenzen festzustellen, innerhalb deren der Nihilismus seine Kreise zieht. Der Widerwille der Gesellschaft gegen das politische Regiment ist die Quelle der nihilistischen Bewegung; die Corruption des Beamtenthums hat jede Autorität untergraben. Anfangs hatte auch der Nihilist noch Ideale; er sprach von Freiheit, von Verfassung, von Menschenrechten. Aber man corrigirte seine Sehnsucht durch die [514] Knute; man schleppte ihn nach Sibirien, an dessen Eingang er als sicheres Opfer vom Tode begrüßt wurde. Da ward er blutdürstig wie ein wildes Thier, rachsüchtig bis zum Wahnwitz, ein Mörder, dem das eigene Leben nur noch dazu gut zu sein schien, um anderes Leben zu zerstören. Und die Verzweiflung ist ansteckend.

Der Nihilismus hat auf solche Weise in alle Schichten der Gesellschaft sich eingeschmuggelt, alle Behelfe, welche ihm Wissenschaft, Geschichte, Erfahrung gewähren konnten, sich angeeignet; er arbeitet nicht blos mit Dynamit und Revolver, unterminirt nicht blos ganze Straßen, er hat auch seine literarischen Sendlinge, welche mit raffinirter Bedachtsamkeit alle guten Instincte in der Seele des Volkes vergiften. Da wird geschmäht und verhöhnt, herabgesetzt und entwürdigt, was die Weltliteratur Großes hervorgebracht hat; ein Goethe, ein Shakespeare, ein Schiller, ein Puschkin – sie alle werden verlästert. Da wird ferner der Diebstahl als etwas Menschenwürdiges erklärt, dem Mörder eine Aureole um die Stirn gewunden. Der heutige Nihilist weiß nicht mehr, was er will; er weiß nur noch, was er nicht will. Seine Seele ist verthiert; seine Augen sind mit Blut unterlaufen. Er will nicht den Staat, nicht die Sitte, nicht die Religion, nicht einmal sich selbst. Da sich der Staat in seinen Werkzeugen ihm von der verächtlichen Seite zeigte, da sein Leben, seine Freiheit zum Spielballe in der Hand des Tschinownik wurden, da ein Kosak dem Czar mehr werth zu sein schien, als tausend nach politischem und geistigem Fortschritte lechzende Jünglinge, so verlor er den Respect vor den Institutionen, vor den Menschen, vor sich selbst.

Wo aber, fragt man, sind die besonneneren Elemente in Volk und Gesellschaft? Warum stehen sie nicht ein für die Erhaltung von Staat, Sitte, Religion?

Die besonneneren Elemente in Rußland sind nur die feigeren Elemente. Wer im Czarenstaate denken kann, ist allemal ein „unfreiwilliger Nihilist“. Der Bauer zählt nicht; denn er ist in den zwanzig Jahren seit seiner Befreiung aus der Leibeigenschaft noch nicht zum politischen Menschen herangereift. Und wenn er dereinst mitzählen wird, so fragt es sich, ob er nicht ebenfalls, in der Erinnerung dessen, was er gelitten, zum Nihilismus schwören wird. Einen bürgerlichen Mittelstand hatte Rußland nicht bis zur Alexandrinischen Reform-Aera, seitdem aber haben die wechselnden Unterrichtssysteme unter der heranwachsenden Jugend unberechenbares Unheil angestiftet.

Bald war es ein Aufklärungsminister, der die Realien, bald ein anderer, der die classischen Unterrichtsgegenstände bevorzugte, bald einer, der den Studenten alle akademischen Freiheiten einräumte, den Studentinnen alle Zügellosigkeiten nachsah, bald ein anderer, der die Knaben militärisch erziehen, die Mädchen auf den Elementarunterricht beschränken wollte. Das vierzehnclassige Beamtenthum will an dem Staate sich bereichern; es betrügt diesen ebenso wie das Volk, je nachdem dort oder hier die Gelegenheit eine günstige ist. Justiz und Verwaltung sind nur dem Namen nach, nicht thatsächlich getrennt. Der Adel, einst durch die Leibeigenschaft reich, ist verarmt oder vergeudet die Reste seines Vermögens im Auslande; er drängt sich nicht, wie anderswo, zum Staatsdienste, oder wenigstens nur, wenn seine Existenz es gebieterisch von ihm fordert. Viel haben seit zwanzig Jahren die „privilegirten“ Classen in Rußland gelernt; mitunter möchte man staunen über das Maß von wissenschaftlicher Aneignung, aber es ist immer nur die Arbeit des Autodidakten, des Sammlers auf fremdem Kornfelde. Nirgends erquickt der Anblick einer Originalität, es wäre denn, daß man dieselbe an jenen Schriftstellern rühmen wollte, welche kunstgerecht die Kritik des eigenen Volksthums und Gesellschaftswesens bis zur Selbstdenunciation treiben. Iwan Turgenjew, die leuchtende Ausnahme, gehört dieser Generation nicht an, er hat vor ihr begonnen, und steht himmelhoch über ihr, seitdem er sich im freiwilligen Exil von ihr losgelöst.

Es ist klar, daß eine aus solchen Bestandteilen zusammengesetzte Gesellschaft jeder Thatkraft ermangeln muß, wenn ihr die Aufgabe zugemuthet wird, zur Rettung des Staates mitzuwirken. Zur Moralität ist sie vom Staate nicht erzogen worden und durch eigenes Bedürfniß nicht herangereift; der Patriotismus, der ihr gelehrt wurde, wechselte seine Ziele, je nachdem Herr Katkow, der einflußreiche Redacteur der „Moskauer Zeitung“, dem „Westen“ den Krieg erklärte, die Panslavisten das Gelüste nach den Süßen Wässern reizten, der Hof in Petersburg an der Freundschaft Deutschlands Gefalle fand. Nun steht diese Gesellschaft eingekeilt zwischen den beiden gewaltigen Gegensätzen, der Dynastie und dem Nihilismus, und wenn man erwägt, daß der politische Kern des Nihilismus, losgeschält von den Unthaten und Excessen der letzten Jahre, immerhin einem allgemeinen Bedürfnisse näher liegen muß als der Despotismus mit seiner Beamtencorruption, wenn man bedenkt, daß das System der „Verschickung“ aus allen Bevölkerungsschichten in gleicher Weise lastete und die „dritte Abtheilung“ keinen Unterschied zwischen Westlern und Altrussen machte, so hat man wohl ein Recht, zu glauben, daß die ungeheure Mehrheit der Denkenden in ihrem Inneren für den Nihilismus Partei nimmt, daß die Stärke des letzteren in der Abwendung der intelligenten Bevölkerung vom Staate wurzelt. Ist dies aber der Fall, so versteht man auch, warum es im Grunde müßig ist, zu fragen, über wie viele Hände der Nihilismus verfügt. Ganz Rußland ist ein einziger Herd der Revolution. Hier flackert sie auf und dort; ein Schuß lenkt die Aufmerksamkeit auf sie; ein Mord bezeichnet ihre Spur, eine Mine ihre unausgesetzte unterirdische Arbeit. „Verstand ist stets bei Wenigen nur gewesen,“ sagt unser großer Dichter, und dies gilt auch von den Nihilisten. Die energischen unter ihnen organisiren sich; die anderen folgen nach, verheimlichen, was sie wissen und sehen, lenken die Polizei von der richtigen Fährte ab. So erbt sich das Unheil einer allen billigen Forderungen trotzenden autokratischen Regierung fort; das Mißvergnügen nimmt ungeheure Formen an; die Ohnmacht der Persönlichkeit schlägt in Verzweiflung um, und Verwirrung erfaßt die Köpfe, sodaß ihnen die frevelhafteste That als die beste erscheint.

Der Nihilismus ist das Ergebniß einer dynastischen Politik, in deren Programm niemals die Volkserziehung stand. So lange vom Westen her sittigende Einflüsse in Rußland wirksam waren, enthielt er nichts, was nicht auch anderswo zu den Merkmalen der Revolution gehört hätte. Als aber die russische Gesellschaft diese Einflüsse abzuwehren begann, empfing der Nihilismus jene specifisch russische Signatur; er verwilderte bis zu solchem Grade, daß an ihm das demüthigende Wort sich bewahrheitete: „Kratze den Russen und es kommt der Tatar zum Vorschein.“

An politischen Weisen fehlt es nicht, welche ganz genau wissen, was geschehen muß, um den Nihilismus zu bändigen und Rußland vor einer Revolutions-Katastrophe zu bewahren. „Eine Verfassung, ein Parlament!“ rufen die Einen, „Repression!“ die Anderen. Die Frage ist nur, ob die Wurzel des Uebels eine politische und mit politischen Maßregeln auszurotten ist. Der Nihilismus dünkt uns aber eine volkspädagogische Krankheit zu sein, und zwar eine solche, deren Heilung zugleich von der nationalen, von der politischen und von der socialen Seite in’s Werk gesetzt werden muß. Fünfzig Jahre und darüber zehrt diese Krankheit bereits an dem Leibe Rußlands; Puschkin und Gogol sind an ihr zu Grunde gegangen wie die Czaren Nikolaus und Alexander der Zweite. Am deutlichsten lassen sich die Zerstörungen, die sie angerichtet, an dem Verlaufe der russischen Literatur aufzeigen, in welcher sich die einzelnen Stadien getreulich widerspiegelten, und deshalb mag es uns vergönnt sein, in einigen weiteren Betrachtungen Alexander Puschkin als den literarischen Vorläufer, Nikolaus Gogol als den Propheten und Iwan Turgenjew als den Psychologen des Nihilismus dem Leser vorzuführen.




Der Ammersee.
Von Karl Stieler.

Es ist ein Zauber uralten Lebens, der über den Gauen des jene baierischen Vorlandes liegt. Schon in der Römerzeit erhoben sich hier gewaltige Castelle, welche die Straße beschirmten; noch zeigt der Boden die Spur Derjenigen, die ihn damals gepflügt, und jene stillen Gräberreihen, in denen Lust und Mühsal ihres Lebens zur Ruhe kam.

Dann wurden sie verdrängt von der jugendlichen Kraft der Germanen, und auch deren Spur haftet noch in tausendjährigen

[515] Zeichen an Mauer und Erde; bis in die Merowinger- und Karolingerzeit reicht die Geschichte jener Ortschaften zurück. Das Mittelalter beginnt, und überall begegnen uns die großen Träger seiner Cultur: gewaltige Grafengeschlechter gründen ihre Burg am See; der Mönch baut seine stille Zelle, und singend pflügt der Bauer daneben das alte immergrünende Feld. Doch über dem Waffenlärm und dem Waidruf der einen, wie über dem Glockenschall und Allelujah der anderen, schwebt noch tiefe waldgrüne Einsamkeit.

Diese Einsamkeit ist bis in die letzten Jahre dem Ammersee geblieben. Sein Gebiet ist eines der herrlichsten im baierischen Vorland; glänzend spiegelt sich die lange Bergeskette in seiner Fluth; Hochwald umkränzt die Ufer, aber eine seltsame Fügung hat es gewollt, daß er vergessen blieb von den Tausenden, die allsommerlich hinausziehen und sich jeden Winkel schöner Erde erobern. Obwohl nur etwa sechs Stunden von München entfernt, lag er doch lange Zeit weitab „vom Wege“; denn keine Bahn führt an diese stillen Gelände, und kein Dampfboot durchmaß bisher die blaue Fluth. So blieb denn dieses Fischervolk allein, und die Sonne, die am Abend hinter den Waldbergen versank, sah niemals in's Gewühl drängender Menschenmassen. Erst seit Kurzem hat das Dampfboot, das von Grafrath die Amper hinauffährt und dann den ganzen See durchschneidet, auch diese Pfade erschlossen; der Ammersee ist jetzt erst gleichsam entdeckt worden.

Hoch über uns liegt das Blau eines Junimorgens; die Buchen zeigen das erste Grün, und der Vogelsang klingt rings aus dem Gehölze. Hinter der Bahnstation wartet der kleine Dampfer, der eigens für den schmalen Lauf des Flusses gebaut ward. Das Wasser desselben, das durch seine milde Heilkraft berühmt ist, schimmert uns klar entgegen; weißer Schaum zischt um die Flanken des Schiffes, sowie sich das Steuer regt, und die Fahrt beginnt. Es ist ein wundersamer Wasserpfad - zu beiden Seiten nickt uns das schlanke hellgrüne Schilf mannshoch entgegen und neigt sich unter den drängenden Wogen; ein Wasservogel stiegt kreischend aus dem Röhricht; ein Weidenbaum senkt seine Zweige hernieder. Doch bald genug grüßt unser Auge schon die blaue Fläche und die leuchtenden Berge.

Das kleine Dorf, wo wir landen, heißt Stegen; es liegt am nördlichen Ende des Sees und durch die schattigen Bäume des Ufers hat man den herrlichsten Ausblick. Ueberall heben sich traute Dörflein aus dem Grünen, Idyllen voll Sonnenglanz und Buchenschatten, wir aber lassen den Dampfer von hinnen ziehen, und dann erst löst unser Fährmann den leichten Kahn, der uns hinausträgt auf die schweigsamen Fluthen.

So schweigsam und doch so beredt! – Um unser Schiff kreist die flüchtige Möve; aber alles, was uns umgiebt, steht so uralt eingewachsen in diesem Boden, daß Gegenwart und Vergangenheit fast in einander fließen.

Der Kirchthurm, der zur Rechten herüberwinkt, gehört dem Dorfe Eching; ein altes Edelgeschlecht im zwölften Jahrhundert trug von ihm den Namen, und in Römerzeiten war es ein Angelpunkt der Straßen, die hier das Land durchkreuzten. In den Gräbern, die man dort aufgedeckt, lagen die Leichen im Kreise, mit den Füßen gegen einander gewendet, und mancher Schmuck ward damals unter grünem Wiesengrunde an's Licht gezogen.

Noch weiter drüben, wo die Fenster eines Schlosses glänzen, hausten die „Greifen“, auch ein Edelgeschlecht, das bereits um das Jahr 1400 ausstarb. Damals hieß es wohl jubilirend:

„Von Greifenberg die Greiffen
Die kummen mit Singen und Pfeiffen –“

aber der letzte des Stammes ward in der Türkenschlacht bei Nikopolis gefangen und Sultan Bajazid ließ ihm das Haupt abschlagen – wie mochte sein Herz in letzter Stunde sich sehnen nach den grünen Geländen der Heimath! Jetzt ist der Ort ein bekanntes und wohlverdientes Stahlbad geworden, wo junge Frauen und bleiche Mägdlein ihr Heil suchen – mir aber klang im Ohre das Singen und Pfeifen der lustigen Ritterzeit, dieweil der einsame Kahn hinaustrieb.

Da schaut mit einmal eine grauverwitterte Kirche herüber, ganz im romanischen Stil; am Ufer liegen zerfallene Fischerhütten, und in der Sonne trocknen ausgespannte Netze.

„Wie heißt das Dorf hier mit seiner merkwürdigen Kirche?“ fragte ich den stillen Fährmann.

„Dös Dorf da?“ erwiderte er zögernd; „dös Dorf heißt eigentlich Unterschondorf, aber wir heißen's ‚See‘. Und die Kirchen? Gelt, da müßt' man sich schier schamen!“

Und dann erzählte er gelassen weiter, daß die Gemeinde zu dürftig gewesen, um, wie die übrigen Orte am See, ihre Kirche zu restauriren; auf diese Weise blieb das reizende romanische Bauwerk unversehrt erhalten. Es ist aus Tuffstein errichtet und mag etwa aus dem zwölften Jahrhundert stammen; weitum im ganzen Gau ist es das einzige Gebäude, das noch ganz seine einstige Gestalt bewahrte. Selbst wenn wir inmitten großer historischer Städte stehen, muthet uns solch' altes Gemäuer gar köstlich an, um wie viel mächtiger wirkt es hier – mitten im grünen Laube und in der Einsamkeit des Dorfes!

Aber auch die Fluth, nicht nur das Land, erzählt von alten Zeiten; denn wenn die Luft und das Wasser stille sind, dann zeigen sich unter dem Spiegel des Sees noch die Reste von Bauten, die aus römischen Bädern stammen; ja die Sage erhielt sich lange Zeit, die Römer hätten einst über den ganzen See eine Brücke geschlagen. Noch Westenrieder, der große Meister baierischer Volkskunde, huldigte dieser Ansicht, die allerdings dadurch einen gewissen Halt fand, daß die Felsen des Seegrundes an der vermeinten Stelle besonders nahe hervortreten.

Der Hauptort auf dem linken Ufer ist Diessen; drüben beherrscht Berg Andechs die Gegend. Aber auch in historischer Beziehung dominiren diese Orte; denn nach ihnen waren die Grafen von Diessen-Andechs genannt, eines der gewaltigsten Dynastengeschlechter aus der Zeit der salischen und staufischen Kaiser.

Von Franken bis nach Tirol und Istrien reichten ihre Güter; Schloß Amras war ihr Eigen, und Innsbruck ward von ihnen begründet; mit allen Großen des Reiches und mit allen Thronen Europas standen sie in enger Verbindung. Adelheid, die Schwiegermutter des deutschen Kaisers Conrad und des griechischen Kaisers Manuel, war eine Gräfin von Diessen, die Söhne des Hauses aber begegnen uns in allen Landen als mächtige Degen. Wir finden sie auf dem Bischofsstuhle von Bamberg und Regensburg und als Patriarchen von Aquileja, und Berthold der Vierte ward sogar Herzog von Dalmatien und Kroatien, allein noch glänzender waren, wie gesagt, die Wege der Töchter. Die eine vermählte sich mit dem König von Frankreich, die andere mit dem König von Ungarn, und wieder andere nach Burgund und Savoyen, nach Mähren und Schlesien, nach Oesterreich und in das Haus der Burggrafen von Nürnberg. So lebt noch heute in dem Kaiserstamm der Habsburger und Hohenzollern, und in den Königsfamilien von Baiern, von Bourbon und von Italien ihr Blut, ihr eigenes Haus aber brach nur allzu schnell zusammen. Fehde und Zwist zersplitterte den Besitz, der allenthalben willige Erben fand, als im Jahre 1248 der Mannsstamm erlosch.

So war denn mit jähem Verfall eines der mächtigsten und ältesten Geschlechter Deutschlands geschwunden, die Güter um den Ammersee aber fielen an das Wittelsbachische Haus und theilen nun seit mehr als sechshundert Jahren die Geschicke Baierns.

Wer jetzt in das grüne seeumspülte Oertlein kommt, merkt wenig mehr von jener stolzen Vergangenheit; nur das geistige Auge fühlt ihren stummen Zauber. Wohl aber gemahnt uns noch so manches in der Anlage und Architektur, ja fast möchten wir sagen, in der Stimmung des ganzen Ortes an das stattliche Kloster, das die Grafen von Diessen hier gegründet. Es stammt aus dem zwölften Jahrhundert und war anfangs sowohl für Männer wie für Frauen zugänglich, bis die letzteren allmählich „ausstarben“. Das Herrenstift indessen, welches die Besitzungen derselben gewann, erfreute sich allzeit mächtiger Gönner und hatte reichen Besitz an Land und Leuten, an „Wunn und Weide“, an Fischrecht und Mühlen; vor allem war ihm Kaiser Ludwig der Baier hold, der den Ort zum Bannmarkte erhob und dessen Bildniß noch jetzt an dem ehemaligen Rathhaus prangt. Schon die langgestreckten weiträumigen Mauern haben etwas historisch-klösterliches; grünes Laubwerk umgiebt uns, und weithin herrscht der Blick über die Fluren des Landes und über die Hütten der Menschen.

Obwohl die Kirche im Barokstil verunziert ist, birgt doch ihr Inneres noch manches Wahrzeichen aus großer Zeit; denn allenthalben sehen wir die Grabsteine jener gewaltigen Dynasten, die hier „schlafen in steinernen Särgen“, wie das Wort des Dichters sagt, und im Kuppelgewölbe prangen die Bilder der Heiligen, die aus ihrem Geschlechte hervorgegangen oder mit demselben verwandt

[516]

Am Ammersee.
Nach der Natur aufgenommen von Robert Aßmus.
1. Grafrath. – 2. Inning. – 3. Breitbrunn. – 4. Diessen. – 5. Römergrab bei Wartaweil. – 6. Klosterbraustübel von Andechs. – 7. Herrsching. – 8. Schließ Ried. – 9. Panorama von Stegen aus. – 10. und 11. Im Kienthal. – 12. Kloster Andechs.

[517] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [518] sind. Es ist ein Frescogemälde in fünf Gruppen; Kaiser Heinrich der Zweite und seine Gemahlin Kunigunde, König Stephan von Ungarn und die Landgräfin Elisabeth von Thüringen begegnen uns darunter.

Durch den Garten des Klosters aber rauscht mit kühlen Wellen der Weinbach und stürzt sich schäumend über hohes Felswerk; nach der Sage führte von der Kirche einst ein unterirdischer Gang nach Andechs und von dort bis an den Untersberg im Salzburgerlande.

Trotz des Verkehres, den das Dampfboot auf den See gebracht, ist Diessen übrigens noch heute ein stiller Ort, dessen Wohlstand durch die zahllosen Kriege schwer gelitten hat, in die das oberbaierische Land jahrhundertelang verwickelt war. Sein Hauptbetrieb ist die Fischerei, die am Ammersee von jeher besonders blühte; denn schon in uralter Zeit lieferten die Fischer von Diessen ihre Edelwaare auf den Markt von Augsburg, besonders wenn dort Reichstag gehalten ward. In frohen Gelagen versammelte sich ihre Zunft, so oft ein neuer Genosse darin aufgenommen wurde, oder an den alten Jahresfesten der Innung, und dann klang wohl froher Zecherlärm im Gaden unter dem wetterbraunen Völklein, das sonst so schweigsam scheint. Da der See vier Stunden lang und mehr als eine Stunde breit ist, war die „Fischwaid“ aus demselben nicht wenig ergiebig, und vor Allem gilt das sogenannte „Amaul“ (der Zander norddeutscher Gewässer) als eine Specialität des Sees.

Um das Gebiet der einzelnen Berechtigten abzugrenzen, dienten eichene Säulen mit dem entsprechenden Zeichen, oft aber war auch nur in einen mächtigen Baum am Ufer die Gestalt eines Fisches eingeschnitzt und so die Grenze bestimmt; schon im fünfzehnten Jahrhundert begegnet uns eine strenge und bis in's einzelnste gehende See-Ordnung.

Wenn wir von Diessen aus zu Lande unsern Rundgang weiterführen, kommen wir zunächst an die Martinskirche, die für das älteste Gotteshaus in Oberbaiern gilt; denn nach der Augsburger Chronik von Welser soll sie bereits im Jahre 808 erbaut worden sein. Von dort geht es nach Fischen, dem einstigen gefreiten Herrensitze, und überall sehen wir Gräberspuren, die auf die früheste Besiedlung weisen; nur ein einsames Schifferhaus begegnet uns, wo die Fähre über den See führt. „Wartaweil“ heißt der geduldig-sinnvolle Name des Ortes.

Wir ziehen weiter und haben bald die herrliche Bucht erreicht, die der See hier bildet, auf der einen Seite umschlossen von dem Dörflein Mühlfeld, auf der andern von dem stattlichen Schlosse Ried. Hinter dem Strande aber liegt, von Nußbäumen umschattet, Herrsching.

Im ganzen Seegebiet ist dieser Winkel vielleicht die vollendetste Idylle. Einsam liegt das Ufer mit seinen weißen Kieseln; kein Haus, kein Menschenlärm stört diese Ruhe – nur badende Kinder plätschern im Wasser, das weithinein flach und lichtgrün ist. Ueber den Spiegel zieht eine Möve, die mit dem Fittich das Wasser streift und wieder emporschwebt in die Lüfte; im Westen ballt sich der schwarze Gewitterhimmel und thürmt sich hoch über der langen Bergeskette, deren Gipfel schneeblank herüberschauen. Eine stumme, sommerwürzige Schwüle liegt über Land und See – in solcher Stunde steigen wir empor zu dem alten weitberühmten Kloster Andechs.

Es ist herrlich gelegen, auf der Höhe eines Bergkegels, den hochgewachsener Wald, tiefe Schluchten und rauschendes Gewässer fast dem Hochgebirge gleich machen. Wir wählen den Weg durch's Kienthal; eine einsame Mühle steht beinahe überhängend am Bache; wuchtige Felsentrümmer liegen hier und dort verstreut und nur bisweilen sehen wir hinab durch gelichtete Zweige auf den Spiegel des Sees. So geht es höher und höher empor, bis wir endlich das Freie gewinnen, und da liegt nun inmitten von Wald und Feld das stolze Kloster, oder „der heilige Berg“, wie ihn das Volk kurzweg bezeichnet.

Schon im frühesten Mittelalter erstand dort eine gewaltige Burg, die dann der Hauptsitz der Grafen von Diessen wurde, nachdem sie drüben das Chorstift gleichen Namens gegründet. Hier wurden dereinst die Schätze des heiligen Rasso geborgen, als im zehnten Jahrhundert die Ungarn in's Land fielen, doch als in Folge der Reichsacht (1208) auch diese Burg „zerbrochen“ ward, da vergruben die Mönche von Seeon, welche den Gottesdienst daselbst versahen, die Schätze und Reliquien auf dem tiefsten Grunde der Kirche. Erst zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts hat man dieselben wieder entdeckt, und die Sage will, daß ein Mäuslein die Stätte verrathen habe, wo sie ruhten. Eine Reihe von wunderthätigen Heilungen soll alsbald geschehen sein, und da Hunderttausende von Pilgern aller Länder herbeikamen, ward eine neue Kirche und ein Stift für sechs Chorherren errichtet, welches 1455 in ein Benedictinerkloster verwandelt wurde. Die Schätze, welche dort verwahrt und von den Gläubigen noch heute andächtig verehrt werden, sind zwar überwiegend religiöser Art – es sind Reliquien vom „Leiden unseres Herrn“, von Maria und den Aposteln – aber manche der kostbaren Gefäße und Gewänder haben auch hohen kunsthistorischen Werth und reichen zurück in frühe romanische Zeit.

Wir ehren die Andacht Derer, die sich daran erbauen, doch auch wer draußen durch der burgartigen Hof und durch die grünen Gelände schweift, fühlt sein Herz gehoben durch Gottes schöne Welt. Der Ausblick (vor Allem vom Thurm der Kirche) ist bezaubernd: dieses Hügelland mit seinen grünen Wellen, diese tiefschwarzen Wälder, und zwischen wogenden Saaten die kleinen Dörflein mit ihren braunen Dächern und ihrem tiefen Frieden! Wer könnte sie alle nennen, wie sie hier den See umkränzen, das schöne Breitbrunn und das uralte Inning und Erling – von der Benedictenwand über Karwendel und Wetterstein schweift unser Auge hin bis an der Säuling bei Schwangau.

Allein selbst wenn uns nach minder luftiger Labung gelüstet, sind wir hier an eine gute Stätte gerathen; denn die würdigen Jünger des heiligen Benedict, die soviel gethan für Kunst, Wissenschaft und Landescultur, sie gönnen auch dem müden Wanderer gern ein frohes Stündlein der Rast, und willig öffnet sich das Braustüblein im Erdgeschosse dem wohlerworbenen Durste. Es ist so behaglich und heiter dort; am Fenster stehen die Blumen, und Bilder aller Art schmücken die Wand; lustig singt der Vogel im Bauer und freundlich reicht uns der dienende Bruder den Steinkrug. So wird es uns denn von Herzen wohl an dieser uralten Stätte, und während wir uns auf der Holzbank strecken, geht es uns sinnend durch die Seele, wie reich das Leben ist und wie viele Wege doch zum Ziele alles Lebens führen – zum Glück! -

Man muß es nur erst verstehen lernen, was im Lande und im Herzen Derer lebt, die man heimsucht; man muß nur auch erleben können, was man sieht! Das ist die beste Frucht aller Wanderschaft.[2]







  1. Es ist uns eine besondere Freude, die längst angekündigten und mit Spannung erwarteten Schilderungen „Um die Erde“ nunmehr mit dem obigen „Ersten Briefe“ unseres seit Monaten die verschiedensten Landstriche Amerikas durchstreifenden Specialartisten eröffnen zu können. Die Sorge für künstlerische Herstellung der erst vor Kurzem in unsere Hände gelangten Cronau’schen Zeichnungen verbot uns eine frühere Veröffentlichung der farbenfrischen Texte, mit denen wir, zumal die Illustrationen ihnen den Reiz besonderer Anschaulichkeit verleihen, unseren Lesern etwas ungewöhnlich Fesselndes bieten werden. Die Redaction.
  2. Genauere Details über den „Ammersee und seine Umgehung“ bietet das vortreffliche Büchlein dieses Titels von Hauptmann Arnold, das jedem Besucher jener Gegend auf's Beste empfohlen werden darf. Verlag von G. Berza, Landsberg am Lech, 1878.



Der Kampf um die älteste deutsche Hochschule.

Eine zeitgemäße Betrachtung von Friedrich Schütz.

Düster blickt in die engen und winkeligen Straßen von Prag das schwarze Gemäuer eines Gebäudes, dessen lauschige Giebel, dessen steinerne Erker und kräftige Friese bekunden, daß die Hand eines deutschen Meisters hier gewaltet hat. Ursprünglich war das Haus Eigenthum eines Juden – Lazarus mit Namen – gewesen; dann erwarb es der deutsche Kaiser Karl der Vierte, auf daß die Lehrer der Prager Hochschule von der Last befreit würden, in ihren eigenen Wohnungen die Vorlesungen für ihre Hörer halten zu müssen. Das düstere Gebäude wurde Deutschlands erste Universität.

Das war um das Jahr 1348. Prag war in jenen Tagen Mittelpunkt des deutschen Lebens, und das Hradschiner Schloß Sitz des deutschen Kaisers, der die deutsche und böhmische Krone auf seinem Haupte vereinte.

Allenthalben in Böhmen fluthete damals deutsches Leben. Kein Chronist, der nicht bestätigen würde, daß das nationale Wesen jener Tage ein durchaus deutsches war. Als die Braut Karl’s, Bianca von Frankreich, ihre Heimath verließ und nach Böhmen reiste, lernte sie die deutsche Sprache, „denn die böhmische war völlig [519] außer Gebrauch im Lande“. Um jene Zeit wurde der Grundstein der Universität gelegt.

Man schrieb den 7. April 1348. Karl theilte dem Papste – denn der Kaiser anerkannte die kirchliche Oberhoheit und nicht ohne Recht nannte man ihn den Pfaffenkaiser – seine Pläne für die neue Hochschule mit. Nicht für Böhmen sollte sie gegründet werden, sondern für die benachbarten Nationen, in erster Reihe für das deutsche Reich; denn ihre Stiftungsurkunde trägt die Zeichen und Siegel desselben; ihre Bulle ist vom römischen Könige gefertiget, und ihr Statut, das Grundgesetz für ihre Entwickelung, hat nicht der König entworfen; deutsche Männer, die Karl aus dem Reiche berief, haben es ausgearbeitet.

Fünf Jahrhunderte sind seitdem vorübergerauscht. Wiederholt umwogte die Hochschule der wilde Kampf, den in Böhmen germanischer und slavischer Geist zu führen bestimmt erscheinen. Nicht selten glückte es aufgewiegelten Massen eines halbgebildeten Volkes, den Zerstörungskeim in die deutsche Hochschule zu werfen, niemals jedoch hatten sie damit dauernden Erfolg; denn heute verdrängt, hielt morgen der deutsche Geist wieder triumphirend seinen Einzug. So war es bis heute, wo die Czechen Anspruch auf die deutsche Schöpfung Karl’s erheben und eines ihrer „Postulate“ die Auslieferung der deutschen Universität fordert.

Das ist eines der Symptome der heftigen Kämpfe, die Oesterreich durchwühlen. Wieder streitet das slavische gegen das germanische Element, und im Widerspruch mit dem geistigen Ursprunge Oesterreichs, mit seiner Aufgabe, Träger der Cultur zu sein, fördert im Augenblicke eine slavische Regierung die den Deutschen feindlichen Pläne. Ueberall wird das slavische Streben ermuntert und gekräftigt: unter dem Schutze der Regierung wallfahrten Deputirte der österreichischen Slaven nach Rom, um dem Papste eine Huldigung Namens ihres Vaterlandes zu Füßen zu legen; in Böhmen, Steiermark, Kärnthen, Krain, Galizien sieht man die Slaven unter höherem Schutze gegen die Nachwirkung deutschen Wesens anstürmen, und fast scheint es, als sei eine Umwandelung Oesterreichs geplant, jener ähnlich, die mit roher Gewalt vor zwei Jahrhunderten die Protestanten in den deutsch-österreichischen Erbländern katholisch gemacht – als sei ein Proceß beabsichtigt, der das deutsch-ungarische Oesterreich in ein slavisches umgestalten möchte.

Wie dereinst der protestantische Geist niedergehalten worden, so unterdrückt jetzt eine gewaltthätige Faust jede Regung deutschen Geistes. Die Staatsanwälte werden zu Profosen. Kein Tag, an dem nicht ihre papierne Guillotine arbeitet und Tausende von deutschen Zeitungsblättern verstummen läßt! Den Abgeordneten, die außerhalb des Parlamentes ihre Stimme erheben, wird das Wort jäh abgeschnitten. Als jüngst siebenundachtzig deutsch-böhmische Deputirte ein Manifest an die Deutschen in Böhmen erlassen wollten, fand ein strenger Richter in dem Schriftstücke, welches conservative Elemente, auch ein geheimer Rath des Kaisers redigirt, das Verbrechen des Aufruhrs, und eine an die bulgarischen Wahlkünste mahnende Energie confiscirte das Manifest. Anlaß zu demselben hat die Prager Hochschule gegeben.

Der czechische Wunsch, eine selbstständige Universität zu erhalten, ist in der letzten Session des Reichsrathes nicht in Erfüllung gegangen. Im Abgeordnetenhause von der Mehrheit acceptirt – man beschloß zunächst die Trennung der Universität, und die völlige Czechisirung sollte folgen – scheiterte er am Herrenhause. Hier wurden besonnene Stimmen laut, welche die czechische Universität als Einleitung eines czechische Staates erklärten; Mahnungen erhoben sich, welche daran erinnerten, wie einer slavischen Hochschule in Prag die Vorbedingung einer entwickelten Literatur, der sogenannten wissenschaftlichen czechische Welt aber jede höhere Bedeutung, die Möglichkeit aller geistigen Concurrenz zur Erhöhung ihrer Leistung fehle. Im Herrenhause hat auch ein czechischer Mann der Wissenschaft, der sein Fach deutsch an der Prager Hochschule vorträgt, Sitz und Stimme, und dieser czechische Mann suchte, bevor die Debatte über die Hochschule begonnen hatte, für dieselbe Propaganda zu machen.

„Müssen Sie nicht zugeben,“ fragte man ihn, „daß Sie Namen und Bedeutung dem Umstande danken, daß Sie zu Füßen deutscher Lehrer gesessen und deutsche wissenschaftliche Bildung genossen?“

„Ja!“ lautete seine Antwort.

„Und können Sie glauben machen,“ tönte als weitere Frage, „daß es nicht ein Unding wäre, zu verlangen, ein Baum solle Schatten geben und Früchte tragen, ehe seine Wurzeln sich in die Tiefe gesenkt, daß es nicht thöricht sei, eine Hochschule zu begründen, ehe die Vorbedingungen für dieselbe gegeben sind? Als die deutschen Hochschulen eine nationale Gestaltung annahmen und Werkstätten deutschen Geistes wurden, hatten große Dichter die Sprache auf die Höhe der entwickeltsten Idiome gehoben. Und Sie, die Czechen, fordern eine Universität und müssen erst die Vocabeln erfinden, um wissenschaftliche Werke in Ihre Sprache übersetzen zu können? Ihrer Jugend, die an der slavische Hochschule ihre Studien obläge, wären die Werke der größten Denker, der größten Gelehrten verschlossen; denn unsere Philosophen Kant, Fichte, Hegel sind heute noch nicht in Ihre Sprache übersetzt. Sie fordern die Universität nur als Mittel für die Agitation. Ihre Zwecke gelten im günstigsten Falle der Absicht, Ihre kaum entwickelte Sprache auszubilden.“

Diese Worte sprach ein im Dienste Oesterreichs ergrauter Staatsmann, und das czechische Mitglied des Herrenhauses blieb ihm die Antwort schuldig. Die Prager Anhänger desselben aber haben sie bekanntlich in den letzten Tagen des Monates Juni durch die Kuchelbader Excesse gegeben, ohne daß die Regierung diesen aus den Zeitungen allbekannte schmählichen Angriffen gegen die Deutschen Einhalt gethan hätte.

Drei Tage währten die Excesse. Alles, was an deutsches Wesen in Prag gemahnte, das deutsche Haus, welches Sitz der deutschen Vereine ist, das deutsche Theater, wurde bedroht, und wer deutsch sprach in den Straße, war seines Lebens nicht sicher. Die städtischen Behörden, die czechische Koryphäen erließen scheinbar Mahnungen zur Ruhe. In Wahrheit aber bargen dieselben die Aufforderung, dem verhaßten deutschen Wesen neue Gefahren zu bereiten.

So wurde denn jenes jüngst von der Behörde mit Beschlag belegte Manifest erlassen. Die Abgeordneten des deutschen Volkes in Böhmen hatten sich unter Vorsitz ihres wackeren Führers Dr. Franz Schmeikal versammelt, weil fanatische Pöbelhaufen sie gefährden durften, unbehelligt von dem Einschreiten der Behörden, die erst dann den Deutschen Schutz zu biete wagte, als ein Zornesruf in allen deutschen Ländern Oesterreichs ertönte.

Wie die deutschen Abgeordneten erhoben auch die Studirenden der Prager Hochschule ihre Stimme. Sie erklärten, ausharren und die Universität nicht verlassen zu wollen, wie es vor fünfhundert Jahren die Deutschen gethan; sie baten, von allen Seiten möchten deutsche Hörer herbeiströmen, um ihnen Stütze im Kampfe für die Rechte der ältesten deutschen Hochschule zu sein.

In der That erfolgte, wie dieser Aufruf besagt, genau vor einem halben Jahrtausend der erste Ansturm gegen das deutsche Wesen der Prager Universität. Sie stand damals in üppiger Blüthe, und farbiges buntes Studententreiben belebte ihre Räume. Die Zahl ihrer Doctoren und Magister betrug zweihundert, die ihrer Baccalaureen fünfhundert; Studenten waren an dreißigtausend eingeschrieben, von denen kaum ein Zehntel auf die Czechen fiel Lehr- und Lernfreiheit hoben das Ansehen der Hochschule; die Studenten genossen weitgehende Vorrechte bei der Wahl ihrer Vertreter, wie ihrer Richter, und mancher Kaufman ließ sich als Hörer der Hochschule eintragen, um einen Theil dieser Privilegien zu gewinnen. Die Wissenschaft blühte.

Die Hochschule war nach Nationen eingeteilt. Die baierische umfaßte die Hörer aus Oesterreich, Schwaben, Franken, den Rheinlanden, die polnische die aus Schlesien und Polen, die sächsische die aus Meißen, Thüringen, Ober- und Niedersachsen, die böhmische endlich die Studirenden aus der Lausitz, Böhmen und Mähren. Ueberall trat das Uebergewicht der Deutschen hervor. Aber nicht lange, und das Czechenthum hob an, sich gegen das deutsche Wesen zu stemmen. Von der Kanzel herab fallen die ersten Drohworte: „Sie vergiften unsere Zunge. Diese deutschen Hunde machen ein Sclavenvolk aus uns,“ hieß es. Dann suchte der Zorn des czechische Pöbels seine Art, politische Meinung zu äußern, hat sich nicht verändert seit fünfhundert Jahren - Kühlung in einer Judenhetze. Ab und zu fielen Vermummte die Studenten oder den deutschen Rector an, und die czechischen Professoren, neidisch, mißgönnisch, erfüllt von kleinlicher Eifersucht, denuncirten ihre deutschen Collegen beim Papste als Feinde Roms,

Unterdeß war eine mächtige Wandlung der geistigen Bewegung erfolgt. In allen edler Denkenden dämmerte die Erkenntniß auf, daß Rom ein Feind der Menschheit sei, und in Prag warf [520] ein deutscher Prediger, Konrad Waldhauser, dieses zündende Wort in die Massen. Ein Czeche, Johannes Huß, übertrug es in’s Slavische. In seiner Rede zitterte eine Vorahnung der Reformation. Aber groß in allen religiösen, war Huß kleinlich, niedrig in allen nationalen Fragen; er vermochte sich nicht zur Entäußerung nationaler Einseitigkeit aufzuschwingen. Er suchte Roms Autorität zu stürzen, aber er setzte einen andern Götzen auf den Thron: den nationalen Terrorismus. Er predigte Haß gegen alles Deutsche im Lande, und an der Universität entfesselte er wilde Stürme. Vergeblich boten die Deutschen einen Ausgleich an – der Adel, das niedere Volk, der König, dieser schwächliche Wenzel, ein deutscher Kaiser, mit dem die czechische Aristokratie Fangball spielte, waren wider sie.

Neun Zehntel der Besucher der Hochschule waren Deutsche, und die Czechen verlangten die Herrschaft über dieselben; sie forderten drei Viertel aller Stimmen in den die Geschicke der Universität entscheidenden Collegien. Da eilten deutsche Professoren in die Gemächer des Königs. Umsonst! Er hatte seine Unterschrift bereits den czechischen Wortführern verpfändet, und schon waren die Deutschen als „Fremde“ erklärt, denen „kein Recht zustehe in Böhmen zu herrschen“.

Die Deutschen schworen Widerstand. Noch ein Vorschlag wurde zum Ausgleiche gemacht: die Deutschen empfahlen die Trennung der Universität, aber damals, wie heute, wollten die Czechen die Gleichberechtigung der Deutschen nicht zulassen. Sie verlangten die Alleinherrschaft.

Eines Tages, am 9. Mai 1409, rasselte das Universitätsthor und fiel knarrend nieder in’s Schloß. Bewaffnete waren eingedrungen. Dem alten Rector Henning von Baltenhagen wurden die Universitätskleinodien abgenommen, das Siegel, die Matrikel, die Schlüssel, die Bibliothek, die Cassen. Wilde Rufe ertönten, und die Schergen der königlichen Gewalt schritten ein. Nicht lange darauf wurde den Pragern ein eigenthümliches Schauspiel.

Zu Pferd, zu Wagen, zu Fuß wallten singend die Studenten vor die Thore, an ihrer Spitze die Magister Vincenz Gruner, Otto von Münsterberg und Johann Hofmann. Die Deutschen ließen die Hochschule im Stiche. Die Mehrzahl zog nach Leipzig, wo bald eine neue Stätte für das Wort der Wissenschaft erstand.

So wurde die Prager Universität czechisch. Als erstes Zeichen des Triumphes flackerten die Acten in Flammen auf, welche den deutschen Charakter der Hochschule verbrieft hatten – aber die Lehrsäle verödeten. Man riß sie ein, um die Erinnerung zu bannen, daß hier einst Tausende von Hörern den Lehren Plato’s und Aristoteles’ gelauscht hatten. Das Land wurde von den blutigen Schauern des Hussitenkrieges geschüttelt, während die Hochschule das Gespötte aller Denkenden wurde. Da war nun allerdings Rath, wie die verfallene Anstalt wieder emporzuheben sei, theuer. „Laßt die Deutschen wiederkommen!“ verlangten später selbst czechische Fanatiker. Aber Jahre mußten in’s Land gehen, ehe der germanische Geist wieder Besitz nahm von der Universität.

Deutsche Männer lehrten von den Kanzeln das Wort der Reformation, und an ihrem glühenden Eifer entzündete sich jener fürchterliche dreißig Jahre währende Krieg, der Deutschland in Nacht und Elend senkte. Die Sturmglocke der Prager Universität hatte ihn eingeläutet. In den Sälen der Aula versammelten sich zu Beginn des Jahres 1618 die deutschen Prediger, sowie der Adel des Landes unter Führung deutscher Cavaliere, um den Widerstand bis auf’s Messer zu beschließen, und die studirende Jugend assistirte. Aufrührerische Schaaren wogten zum Schlosse empor, um hier die Statthalter des Kaisers dem Tode zu weihen, aber drei Jahre später zog der Kaiser als Sieger und Rächer in die Stadt. Etwa hundert Schritte von der Universität fielen die Häupter der Führer des Aufstandes – unter ihnen mancher deutsche Lehrer der Hochschule. Nun wurden die Jesuiten Herren der Hochschule, und jede geistige Regung wurde unterdrückt, aber in Joseph dem Zweiten erstand ein Befreier, so daß der gebannte deutsche Geist wieder seine Einkehr halten konnte. Erzürnt verließen die Jesuiten die Hochschule, und in einem der Höfe der Universität loderte ein Scheiterhaufen auf – er verzehrte den Schatz einer Bibliothek von Ordensbüchern. Kein profanes Auge sollte in ihnen die Mittel kennen lernen, mit denen der flüchtige Orden Jesu die Geister der Menschen in Nacht und Nebel zu halten verstand.

Bis in unsere Tage ist sodann die Hochschule deutsch geblieben. Glänzende Namen sind in ihre Ehrenbücher eingegraben, und die hervorragendsten Kämpfer für deutsches Recht in Oesterreich, Herbst, Haßler, Braiz, gehören zu ihren Zierden. Heute, ähnlich wie vor fünf Jahrhunderten, bildet der Kampf um die Prager deutsche Hochschule nur die Einleitung zu einem Vernichtungsschlage gegen alles deutsche Wesen in Böhmen, aber diesmal gefährdet der Schlag auch das Deutschthum in ganz Oesterreich.

Wahrlich, nicht selten fehlten Mittel und Gelegenheit, in dieser langen Epoche dem Deutschthum auf österreichischem Boden zu dauerndem Siege zu verhelfen, aber wie ein Verhängniß schwebt über diesen Landen der Mangel jeglicher Erkenntniß für das, was in entscheidenden Wendepunkten Land und Volk noth thut. Seit Joseph der Zweite im Glanze männlicher Tüchtigkeit erlegen, hat der Gedanke eines geschlossenen, einheitlichen Oesterreich wohl eine Schaar getreuer, deutschfühlender Anhänger begeistert, nie aber den „ererbten Uebelstand“ eines Regierungssystems zu besiegen vermocht, das mit kleinlichen Mitteln um den Erfolg des Augenblicks streitet. So ist der Jammer des römisch-deutschen Reiches, das in Deutschland vernichtet worden, in Oesterreich zu neuem Leben erwacht. Die Theile erstarken auf Kosten des Ganzen, und gemeinsam ist ihnen schließlich nur Unglück und Niederlage. In den Kämpfen, welche die Deutschen um ihre Hochschule führen, tritt der volle Gegensatz germanischer und slavischer Welt aus die Bühne. Aber die Deutschen werden ihre ihre Waffen nicht in feiger Verzweiflung senken. Was auch immer die Zukunft bringen möge, eingedenk ihrer Pflicht werden sie Wacht halten überall in Oesterreich, wo sie eine Stätte gefunden, Wacht für den nationalen Gedanken, Wacht für die edlen Bestrebungen von Bildung und Freiheit. Nicht darum ist die deutsche Einheit erstritten worden, damit Millionen Deutscher in Oesterreich der ihnen gebührenden Stellung verlustig würden – nicht darum wurde das Bündniß zwischen Oesterreich und Deutschland eingegangen, damit Deutschlands treueste und einzige Freunde in Oesterreich einen verzweifelten Kampf um ihre nationale Existenz führen sollen. Nein! Hoch und Niedrig in Deutschland begleiten mit ihren die Sicherheit des Erfolges verbürgenden Sympathien den Kampf, welchen die deutschen Stammesgenossen in Oesterreich führen; sie gedenken der Sorge, des Kummers ihrer Brüder und theilen mit ihnen die Hoffnung, daß der umwölkte Horizont weichen und heiterem Himmel, Zeiten des Glückes wieder Raum geben werde.




Blätter und Blüthen

Was sind Narren auf Bäumen? Zur Beantwortung dieser vielfach an uns gerichteten Frage geben wir im Nachstehenden unserm langjährigen Mitarbeiter Herrn Hofgärtner H. Jäger[WS 2] das Wort. Derselbe schreibt uns: „Die sogenannten Narren oder Taschen der Pflaumen- oder Zwetschenbäume, welche in manchen Jahren statt genießbarer Früchte wachsen und die erhoffte Ernte vernichten, sind Gebilde von bis 25 bis 40 Millimeter Länge und 25 Millimeter Breite, zusammengedrückt gleichsam gepreßt, wachsartig von Ansehen, gelblich mit rostfarbigen Flecken. Ueber die Entstehung derselben giebt es verschiedene Ansichten. Früher nahm man an, daß die Taschen Zellenbildungen wären, wie Galläpfel, durch den Stich eines gewissen Insects hervorgebracht. Man meinte ferner, daß die Insectenbrut den sich ausbildenden Fruchtknoten verzehrte, sodaß nur die Fleischumhüllung, welche im normalen Verlaufe den eßbaren Theil der Frucht bildet, fortwachse, aber, weil die eigentliche Frucht (der Kern) fehlt, jene abnorme Form annehme. Gewiß ist indessen, daß in den Taschen nur ein verkümmerter Ansatz vom Kerne vorhanden ist. Neuerdings nimmt man nun aber an, daß diese Mißbildung in Folge einer Pilzart (Exoascus Pruni) entstehe, in derselben Weise wie das bekannte Mutterkorn. Wir leben nun einmal in dem Zeitalter der Pilze, in welchem die ansteckenden Krankheiten und fast alle organischen abnormen Wucherungen winzig kleinen Pilzen zugeschrieben werden. Hat man doch in neuester Zeit selbst die Entstehung der Hexenbesen aus Kirschen, Birken und Weißbuchen auf einen Pilz (Exoascus Wiesneri) zurückgeführt.

Die Streitfrage, ob die Pilze Ursache oder nur Folge der Erkrankung sind, wird wohl nie sicher entschieden werden. Andere meinen, die Pilze stellen sich erst ein, wenn das Zerstörungswerk durch die Krankheit ihnen vorgearbeitet hat. Kinder naschen gern von den Pflaumentaschen, aber es bekommt ihnen in der Regel schlecht, wenn auch der Genuß nicht tödtlich ist, wie der des Mutterkorns. Mittel zur Verhütung der Taschen giebt es nicht. Man kann jedoch die Wiederkehr erschweren, wenn man alle abgefallenen Taschen sammelt und tief in die Erde vergräbt. Es müßte dann aber von allen Baumgartenbesitzern der betreffenden Gegend geschehen.“




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Weeckly
  2. Vorlage: J. Jäger