Die Gartenlaube (1880)/Heft 50
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No. 50. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Dorette hielt sich nicht lange in der Stube auf; sie hatte draußen zu thun. Aber während sie noch Allerlei ordnete, bemerkte sie, daß der Vetter jetzt lauter und schneller redete, als vorher, ehe sie anwesend war, und als sie dann hinaustrat, fing sie von ihm einen pfeilschnellen Seitenblick auf, der ihr folgte.
Strohmeyer wendet sich darauf etwas zerstreut dem Alten zu. Dorette Rickmann hat ihm einen eigenthümlichen Eindruck gemacht, und dieser Eindruck verschärft sich im Laufe des Abends. Sie hat etwas, als sähe sie auf ihre Umgebung herab, auch wenn sie freundlich und hingebend ist, auch wenn sie still dasitzt und mit großen Augen lauscht, oder ihn nach Allerlei fragt, von dem er voraussetzte, daß sie es wisse. Sie fragt wie obenhin, und doch mit einer Miene, die nicht duldet, daß man nur eine Secunde mit der Antwort zögert; ein rasches Feuer leuchtet dabei aus ihren Blicken. Sie läßt sich belehren und hat doch das Ansehen, als theile sie eine Gnade aus.
Alles dies reizt den selbstbewußten jungen Mann; es stachelt ihn an zu interessanten Erzählungen. Doch er spricht mit einem Lächeln, als stehe er auf vornehmer Höhe und sähe auf Das herab, was er erzählt; er führt Dinge und Erlebnisse vor, wie ein Reiter sein Pferd vorführt, der selbst auf ihm bewundert sein will, aber eben deshalb lenkt er sein Roß gemächlich und mit kräftiger Hand; selbst wenn er galoppirt, hat es den Anschein, als erhitzten sich weder Thier noch Reiter. Und Johannes Strohmeyer galoppirt oft und gern: er schildert mit glühenden Farben, aber mit ruhiger Stimme, groß und wuchtig, wenn auch wenig liebenswürdig.
So erzählt er von der Riesenstadt, in der er drei Jahre gelebt hat: von ihren Prachtstraßen, den Boulevards, von dem Louvre-Palast und seinen Schätzen, von den Umgebungen dieser wunderbaren Stadt, von dem glänzenden Elend, das sie birgt, von dem schwachen König und der schönen jungen Königin, die aus Oesterreich nach Paris verpflanzt wurde und, wie ein lachendes Kind über Gräbern, auf dem Ruine des Landes tanzt. Er erzählt auch von den großen Gelehrten und Dichtern Frankreichs; er wird Doretten die Dramen von Racine und Corneille bringen und Voltaire’s Mahomed ihr vorlesen; denn er hat gehört, daß sie bei einem französischen Sprachmeister Unterricht erhalten hat. So erzählt er ihr von dem Verhältniß Voltaire’s zu dem großen Preußenkönig, der eben jetzt in Sanssouci zum Sterben krank sein soll.
„Der soll sterben?“ ruft Dorette. „Der große Mann!“ Und nach einer Pause fährt sie fort: „Ich hab’ ein Bild von ihm beim alten Kammermusicus Müller gesehen. Ein gewaltiger Mensch! Einer zum Anbeten und Fürchten!“
„Wahrhaftig, Base Dorette, Sie können sich auch fürchten?“
„Warum nicht? Halten Sie mich für einen Engel oder für einen Teufel?“ fragt sie ernsthaft und mit sonderbarer Hast.
Johannes lächelt eigen und sieht sie an, als habe er ein Recht, es länger als Andere zu thun, ohne daß jedoch etwas Leidenschaftliches aus seinen Blicken spräche.
„Und dürfte ich wissen, warum Sie sich vor ihm gefürchtet hätten? Kennen Sie viel von seinem Leben?“
„Manches, aber Sie mögen sich nur das Bild ansehen, Vetter! Vielleicht bücken auch Sie sich vor dem scharfen Licht, das aus des Königs Augen blitzt, sind Sie gleich ein eingebildeter Mann.“
„Bin ich das? Woher wissen Sie das?“
„Sind Sie es etwa nicht? Denken Sie, die Seeluft ist mir nachtheilig auf’s Gesicht gefallen?“
„Doring, Doring!“ redet der Thorschreiber dazwischen, „wie redet das Mädchen wieder gottlos und ungalant! – Erzählt uns lieber, Johannes, wie Ihr’s beim gnädigen Herrn Grafen gehabt habt, und überhaupt von Euerem eigenen Leben.“
„Ja, Oheim, aber zunächst möchte ich noch von der Base Einiges mehr über die kalten, geistreichen Augen des alten Fritzen erfahren. – Was für eine Farbe haben seine Augen?“
„Hellblaue.“
Und kaum hat sie es gesagt, so fällt ihr die Handarbeit vom Schooße, und sie bückt sich darnach, aber Johannes hält sie schon in Händen und reicht sie ihr herauf; sie beugt sich nieder, um sie ihm abzunehmen, und sieht dabei in zwei schlau leuchtende hellblaue Augen, daß sie unwillkürlich erschrickt.
Dann erzählt Johannes von der Güte des Grafen, der ihn wie einen Sohn gehalten hat, ihn Bücher aus seiner Bibliothek lesen ließ, ihn oft an berühmte Orte führte und ihm außer den Dienststunden volle Freiheit gab.
Jetzt wird er den Grafen zurück auf die Insel begleiten und gleichzeitig seine Eltern in Ruschwitz besuchen, dann aber, wie der alte Inspector schon erzählt hat, in Stralsund bleiben.
Als der Vetter fort ist, fragt der alte Rickmann seine Tochter, wie ihr denn Johannes gefalle.
„Es wird sehr unterhaltsam sein, wenn er oft kommt,“ meint sie; „gut ist er nicht.“ [814] „O Doring, wie kannst Du so bös' Urtheil sprechen, wenn Du Jemanden zum ersten Male im Leben siehst?“
„Bös'? Es ist nicht Jedermannes Sache, gut zu sein!“
Der Alte geht kopfschüttelnd in die Kammer zur Ruhe.
„Gute Nacht, Vater – ich komme auch,“ hat Dorette gesagt, aber sie kommt noch lange nicht. Der Thorschreiber schläft schon eine gute Weile, als sie noch nähend am Tische sitzt. Plötzlich wirft sie die Arbeit eilig zusammen und stößt das Fenster, an dem sie sitzt, weit auf. Gedankenvoll lehnt sie sich über die Brüstung, und wie der scharfe Nachtwind ihr in das heiße Gesicht schlägt, fühlt sie sich unheimlich wohl und behaglich. Ihre Augen dringen hinauf an den gestirnten Himmel, als suchten sie die Lösung eines Räthsels; sie möchte die Arme ausbreiten und an's Meer stürzen. Sie denkt darüber nach, daß Johannes Strohmeyer versprochen hat, nun öfter zu ihnen zu kommen und nebenbei fragt sie, ob er sich wohl, wie Putzbach, in sie verlieben wird. Und wie, wenn auch sie – ? Da kommt es ihr nochmals in den Sinn, daß er nicht gut ist, und sie merkt plötzlich, wie es unangenehm kalt vom Meere heraufweht. Sie zieht sich zurück und schließt das Fenster, aber ehe sie die Lampe löscht und im Finstern zu Bette schleicht, schlägt sie die Hände vor das Gesicht und zieht wieder die Brauen so finster zusammen, wie am Nachmittage auf der Brücke. Aber sie sagt nicht, wie dort:
„Ich möchte wissen, wie die Liebe ist.“
Ueberhaupt denkt sie schon nicht mehr an die Liebe, aber ihr Herz schlägt laut und heftig.
„O, ich wollte reisen! Die Welt sehen! Etwas erleben!“ flüstert sie leidenschaftlich vor sich hin – und sie möchte emporfliegen über die alten Häuser der alten Stadt, in der sie lebt.
Und der Frühling von 1786 geht hin, und der Sommer kommt, gegen dessen Ende der große Preußenkönig wirklich stirbt.
Auch der Sommer schwindet, und der Herbst ist da, der frische klare Herbst, der neue Thatkraft in die Seelen bläst.
Die Zeit der Hoffnung, die Zeit träumerischen Genusses ist vorüber; nur die ewige Sehnsucht bleibt, und weil sie allein das Feld behauptet, wächst sie zum Riesen: In jedem Kranichschrei, der hoch in den Lüften ertönt, in jeder Sturmnacht, welche um die Steinmauern braust, hinter denen die Menschen wohnen, hören diese ihre Stimme. Aber es ist keine weiche Stimme voll süßer Thorheit und voll Schwärmerei – es ist eine Stimme gewaltigen Klanges, die wohl zu ernster Arbeit und zu kräftigem Ausharren paßt, aber jedes Herz hat seine besondere Jahreszeit: Dorette Rickmann sieht in diesen Herbstmonaten mit jedem Tage glücklicher aus: Hoffnung, Sehnsucht, vollkommenster Genuß gießen ihren weichen Schönheitsschimmer über ihre beweglichen Züge. Alles Gute und Große, dessen ihre Natur fähig ist, scheint sich entfalten zu wollen. Sie treibt seltener ihren losen Spott mit Putzbach und seinen Gefährten, und wenn es die Anderen thun, lächelt sie nur mit einem gewissen mitleidigen Wohlwollen; denn es scheint ihr ein dürftiges Vergnügen zu sein, sich über den armen Gesellen lustig zu machen.
Sie benutzt jede Gelegenheit, den Menschen Freude zu machen, wenn sie es gleich in jener wunderlich gleichgültigen Manier thut, welche ihre Freundlichkeit nicht als Güte des Herzens, sondern als bloße Laune erscheinen läßt, und sie kehrt ihrem Vater gegenüber nicht mehr so oft, wie früher, in unvorsichtigen Worten ihre geistige Ueberlegenheit heraus.
Ihr ganzes Leben hat unmerklich einen anderen Gehalt gewonnen; sie hat mit heimlichem Eifer ihre Kenntnisse vermehrt; jede Minute, welche ihr das Hauswesen ließ, hat sie in eiserner Beharrlichkeit zu benutzen gewußt. Sie ist nicht mehr bloße Zuhörerin, wenn Johannes Strohmeyer ihr von der Welt spricht; sie streitet – sie widerlegt ihn.
So lebt sie hin; der Herbst ist ihr nicht Herbst; sie fürchtet keinen Winter. Jeder Tag, der kommt, vergeht ihr wie eine Secunde des Glücks. Sie ist zufrieden, daß ihr Schicksal noch nicht laut ausgesprochen ist. Sie ist sich bewußt, daß der köstlichste Moment des Lebens eben nur ein Moment ist, einer, der nicht wiederkehren kann. Mag die letzte Entscheidung immerhin vor ihren bald haschenden, bald zaudernden Händen entfliehen, einmal wird sie kommen: vielleicht heut, vielleicht morgen, vielleicht in dieser Stunde noch! Es ist keine quälende Ungewißheit; es ist ein süßes, geheimnißvolles Wesen, das sie erfüllt und umgiebt.
Einmal, als sie gerade in solche Stimmung versunken ist, tritt Putzbach zu ihr in's Stübchen. Er sieht noch steifer und feierlicher als gewöhnlich aus und blickt sich halb ängstlich, halb feindselig im Zimmer um, als hätte seine Phantasie jede Ecke mit einem Vetter aus Paris angefüllt, als wären die Zwischenräume rings mit schwedischen Officieren bevölkert.
„Endlich habe ich das Glück, Sie allein zu treffen, Mamsell Rickmann,“ beginnt er mit einer Miene, die seine Worte Lügen straft; denn diese Miene sieht wenig nach Glück aus.
Auf Dorette's Gesicht kämpfen Mitleid und unangenehme Ueberraschung mit einander. Sie antwortet nicht gleich, sondern nöthigt ihn nur mit ungeduldiger Geberde zum Sitzen und beginnt zu spinnen. Eine Weile starrt Putzbach auf die sich rascher und rascher drehende Kunkel, als gäbe es an derselben allerlei welt- und herzbewegende Räthsel zu lösen. Dorette sucht in gewandter Weise über das Peinliche des Augenblicks hinwegzukommen und fragt nach diesem und jenem. Er aber ist nicht im Stande, darauf einzugehen, und weiß endlich keinen anderen Ausweg, als mit der Thür in's Haus zu fallen.
„Sie wissen, Mamsell Rickmann, warum ich gekommen bin,“ sagt er, die Augen krampfhaft fest auf einen Nagel des Fußbodens heftend. Dorette wird zum ersten Mal in ihrem Leben Putzbach gegenüber roth.
„Nein,“ antwortet sie schnell, „aber Sie sind in letzter Zeit ziemlich oft gekommen.“
„Ja, zu oft – ich fühle es – ich habe mich geirrt. Ihre Freundlichkeit – ich bin Ihnen zu oft gekommen. Sie hörten lieber Pariser Hofgeschichten, Mamsell, als das Werben eines redlichen Stralsunder Bürgers. Glänzender mögen sie freilich sein, aber –“
„Freilich hörte ich sie lieber!“ antwortet Dorette und hält ein mit dem Treten des Rades. „Alles ist mir lieber, als Ihr galantes Wesen, Herr. Das hätten Sie längst begreifen sollen. Ich laß mir keine schönen Dinge mehr von Ihnen sagen. Sie langweilen mich! Sie quälen mich!“
„Quäle ich Sie?“ fragt Putzbach mit zitternder Stimme, während Dorette wieder zu spinnen beginnt. Dann ruft er, einen neuen Aufschwung nehmend, plötzlich begeistert aus: „Ich will es nicht mehr thun – und Ihnen keine schönen Dinge mehr sagen; ich bin – lassen Sie mich ausreden, Mamsell! – ich bin auch heute nicht zu diesem Zwecke gekommen – hier, so wahr ich hier vor Ihnen sitze, biete ich Ihnen meine Hand.“
Seine Augen leuchten; er wird kirschroth und streckt bittend die dargebotene Hand aus.
„Und so wahr ich hier vor Ihnen sitze, sage ich Ihnen, daß, wer mir als Liebhaber nicht willkommen ist, es auch als Eheherr nicht ist,“ ruft das empörte Mädchen, während ihr Spinnrad plötzlich von Neuem stockt und der Flachsfaden zwischen ihren beweglichen Fingern zerreißt. „Mag es bei anderen Mädchen anders sein; dies sind meine Gedanken über das Heirathen.“
„Mamsell Dora, seien Sie vernünftig! Schlagen Sie nicht aus Laune eine Partie aus – eine Partie, wie ich sie – wie ich sie, Gott sei Dank, im Stande bin, Ihnen zu bieten. Ja, wie sie vielleicht kein Zweiter in ganz Stralsund bieten kann. Davon wird Ihnen jeder verständige Mann Bescheid abgeben.“
Da erhebt sich Dorette zornig. Und in diesem ehrlichen Zorne erscheint sie dem redlichen Bürger, der erschrocken und einfältig vor ihr zurückweicht, zugleich neu und großartig.
„Genug von diesem Geschäft!“ sagt sie, „Sie verstehen mich nicht, und das ist das beste Zeichen, daß wir nicht für einander bestimmt sind. Für Sie sind andere Frauenzimmer da!“
„Und für Sie andere Männer?“ ruft Putzbach mißtrauisch und endlich doch in tiefster Seele beleidigt aus.
Dorette sieht ihn voll an. „Ja,“ sagt sie mit Nachdruck, und eine heiße, frohlockende Gluth bricht aus ihren Augen. Aber als sie es gesagt hat, schließen sich ihre Lippen so fest und ihre Gestalt nimmt einen so hoheitsvollen Ausdruck an, daß er nicht wagt, weiter zu fragen. Dorette ist so strahlend schön wie nie zuvor.
„Und dies ist Ihr Ernst, Dora? Sie wollen nicht meine Hausfrau werden?“ fragt er nach langer Pause noch einmal.
„Nein,“ sagt sie sanfter, als gewöhnlich; „es ist mir leid, daß Sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten. Ich hab' Ihnen wahrhaftig in keinerlei Stücken Hoffnung gemacht.“ [815] „Nein,“ erwidert er, sich schnell erhebend, um seine Zerknirschung durch eine bürgerlich stolze Haltung zu bemänteln.
Während er in diesem Bestreben noch nach ein paar passenden Abschiedsworten sucht, erscheint Johanne Seiler, für beide Theile eine befreiende Unterbrechung, in der Thür. Aber draußen auf dem Flure, wohin ihm Dorette halb gedankenlos das Geleite giebt, wendet sich Putzbach noch einmal um. Die Abschiedsworte, welche er vorher vergeblich suchte, drängen sich ihm jetzt auf die Lippen, und in bewegtem Tone sagt er:
„Ich wünsche, meine liebe Mamsell Rickmann, daß Sie glücklich mit dem Andern werden.“
„Er faßt sich wie ein Mann und wie ein Bürger,“ würde ihm Dorette noch vor einem Jahre höhnisch nachgemurmelt haben – jetzt zuckt sie nur hastig die Achseln.
Als sie zu Johanne zurückkommt, ist sie sehr aufgeregt.
„Du brauchst mir gar nichts zu sagen; ich weiß Alles, Dorette,“ meint die Bürgermeisters-Tochter.
„So weißt Du es?“ flüstert Dorette leidenschaftlich.
„Nun, Kind, man brauchte eben nicht absonderlich hellsichtig zu sein, um zu definiren, daß hier ein Freier abgeblitzt war.“
Dorette senkt den Kopf, und, die Stirn mit beiden Händen beschattend, fragt sie leise seufzend: „Und – das Andere?“
„Weiß ich lange,“ ist die Antwort. „Oh, madame, lui dit-il, me mettez-vous au rang des aveugles ou des sots?“
„Laß Deine Mama und die schlechten Späße! Ich hätt’ Dir’s längst gesagt, Hanne, aber wozu auch? O –!“ und Dorette lehnt eine Secunde mit geschlossenen Augen gegen die Wand.
„Dorette?“
„Ja, was denn? Hanne, Du weißt ja doch, wie es ist!“
„Glaubst Du denn, daß er gut ist?“
„Nein!“ ruft Dorette mit einer Heftigkeit, daß die Andere erschrickt. „Was kümmert es mich, ob er gut ist oder nicht, wenn wir uns lieben?!“
„Seine Augen sind kalt,“ fährt Johanne unerbittlich fort.
„Aber sie schneiden in die Seele, wie ein zweischneidig Schwert,“ antwortet Dorette feierlich. „Und sie können auch glühen, sag’ ich Dir, und sie müssen auch glühen, und sie sollen’s noch oft thun.“ Dann fährt sie fort, und ihre düster flammenden Augen erweitern sich und leuchten prophetisch: „Wir werden über alle Begriffe glücklich werden. Und nun weißt Du es. Frag’ mich nie danach, und sag’ keinem Menschen was davon! Spiele nicht die Eingeweihte – ich hasse das. Es muß sein, als wüßtest Du nichts; auch wenn wir allein sind.“
Indessen brauchte sich Johanne Seiler keinen Zwang anzuthun: die Mädchen sind in der folgenden Zeit kein Mal zusammen, daß nicht Dorette schon nach den ersten fünf Minuten „seinen“ Namen genannt hätte. Nach und nach fängt sie jetzt doch an, ungeduldig zu werden; sie kann Johanne oft unter wilden, glückseligen Thränen umarmen und alle Zärtlichkeit, die eigentlich ihm gilt, über die Freundin ergießen. Es kommen Secunden, in denen sie zweifelt. „Johanne,“ sagt sie einmal, „er will hoch hinaus; er wird sich nicht binden. Warum widersprichst Du nicht? Lüg’ mir doch!“
Aber solche Secunden gehen schneller, als sie gekommen sind: kann es einen Mann geben, der Dorette Rickmann ausschlägt, wenn sie ihn liebt?
Und Anfang December feiert Dorette zwei herrliche Tage; sie stehen fest in ihrer Seele, wie eine große Sonne, die in alle Ewigkeit strahlt, ob auch Nacht und Wolken über sie hingehen.
Im Stadthaus ist ein vom Bürgermeister veranstalteter Ball. Die Familie Seiler hat versprochen, Dorette mitzunehmen, und Johannes wird natürlich auch dort sein.
Dorette ist früh aufgestanden, ehe noch die Decembersonne in ihre Kammer scheint. Schwebenden Ganges, als hätte das Glück Flügel für sie ausgespannt, steigt sie die alte Bodentreppe hinauf, um aus der Truhe ihr weißes Einsegnungskleid hervor zu holen, das sie beim Morgenfeuer aufbügeln will.
Als sie oben den Deckel öffnet und das blendende Gewand sieht, hebt sich ihre Brust und ein langes, entzücktes Lächeln zittert auf ihren Lippen.
„Johannes! Johannes!“ ruft sie vor sich hin.
Es ist das erste Mal, daß sie ihre Liebe, in diesen Namen zusammengefaßt, laut vor sich selber bekennt. Ein Schauer faßt sie, und plötzlich schwingt sie in jähem Wechsel des Empfindens das behutsam dem Kasten entnommene Kleid übermüthig über ihr Haupt empor und eilt mit erhobenem Arme die Treppe hinab. Während dann das heiße Eisen über den feinen Stoff gleitet, denkt sie an den vergangenen Abend: Das Stadtthor war schon verschlossen und der Alte, ihr Vater, seit Feierabend hinübergegangen zum Nachbar. Da klopfte es an die Thür, und auf ihr „Herein!“ trat Johannes Strohmeyer in’s Zimmer.
Seine Augen blitzten auf, als er sie allein, über ein Buch gebückt, in der Stube sitzen sah. Er nahm ohne Weiteres ihr gegenüber am Tische Platz, nachdem er ihr die Hand zum „guten Abend!“ herübergereicht hatte. Sie sprachen von dem Buch, das sie las, von dem Balle auf dem Rathhause und zuletzt von den Stunden, die Johannes im Orgelspiel nimmt. Dorette erinnert sich noch des ganzen Vorgangs von gestern: Im Laufe des Gesprächs hatte sich der Vetter erhoben, um zwischen den Wänden des kleinen Gemaches auf und ab zu gehen. Als er aber auf das Orgelspiel zu reden kam, stand er plötzlich still.
Indem sich Dorette die Scene vergegenwärtigt, hält sie inne in ihrer Arbeit und starrt auf die Wand: dort stand er ja gestern mit erhitztem Gesicht, die dicken, blonden Haare zurückgestrichen, die Blicke seltsam funkelnd. Sie sieht ihn lebhaft vor sich, wie er den einen Arm, der am Körper ruht, gegen die Wand lehnt und den anderen kühn emporreckt, um absichtslos in der Erregung des Augenblicks auf das Thürsims über seinem Haupte zu greifen. Gleich einer Heldengestalt aus der nordischen Göttersage steht er in der Erinnerung des bewundernden Mädchens da: dieses seltsame Gemisch von Schlauheit und Größe, von Feuer und Kälte in den Zügen! Und in der ganzen Erscheinung jene Schönheit, deren Wesen die Kraft ist!
Dorette aber weiß wenig von den alten Göttersagen, stellt auch sonst keine Vergleiche an; wie gestern geht sie vollständig im Momente unter, als wäre es auch heute leibhaftige Wirklichkeit, was sie vor sich sieht.
Und wie gestern hört sie, daß er sagt, er werde nicht lange mehr beim alten Holztüm Unterricht nehmen; es sei weggeworfenes Geld; er wisse schon jetzt mehr, als der Lehrmeister; mit jedem Tage werde es ihm klarer, daß sein eigentliches Feld die Musik sei; wenn er nur die Mittel hätte, würde er gleich wieder zurückgehen, von wo er im Frühjahr hergekommen wäre, um sie dort zu erlernen; so müsse er freilich klein anfangen und sich selber bilden, aber – und von den folgenden Worten ist ihr jedes einzelne im Gedächtniß geblieben: ,Wer klein anfängt, braucht nicht gleichermaßen klein aufzuhören. Der Mann muß in die Welt. Ein Mann, der an der Heimath kleben bleibt, ist ein Löwe im Käfig. Ich habe Blut geleckt, Base, und muß wieder hinaus. Nach Paris brauche ich nicht wieder; das meine ich nicht, aber ich muß in große Kreise. Ich will in ein Amt, das der Mühe werth ist, verwaltet zu werden. Sehen Sie, Base Dora, Andere verstehen mich nicht; man braucht nicht zu wälschen, um in fremden Zungen zu reden, und wenn ich so etwas zu unsern Stralsunder Spießbürgern sage, bedünkt mich’s, daß ich vor Taubgeborenen eine Bach’sche Fuge mit aufgezogenen Registern spiele. Aber Sie verstehen mich, Doring!’
Ja, sie versteht ihn; sie würde ihn verstanden haben, wenn er sie auch nicht so durchbohrend dabei angesehen hätte. Nie ist er ihr so schön erschienen, als in den Augenblicken, da er so sprach, denn es ist das erste Mal, daß er mit so innerer Ergriffenheit gesprochen hat. Es war ein wunderbarer Klang, den das Wort „Welt“ in seinem Munde hatte, aber, obgleich er sie erbeben machte, hat er einen Wiederhall in ihrer Brust gefunden. Und was ihr seine Reden auch zu denken geben mögen: Eines steht doch fest – und das sind seine letzten Worte, und die kann kein nagender Gedanke ihr zerschneiden und kein jäher Zweifel ihr zerreißen.
„Aber Sie verstehen mich, Doring!“ sagt sie jetzt halblaut.
Dann nimmt sie hastig wieder das Bügeleisen zur Hand.
„Was für Blumen soll ich in’s Haar nehmen?“ fragt sie; und so jagt ein Einfall den anderen.
Was ist das? Ruft man nicht ihren Namen vor der Hausthür? – Natürlich ist es Unsinn, aber sie glaubt gewiß, daß es des Vetters Stimme war.
Noch steht sie horchend mit erhobenem Kopf, als sie von Neuem [816] zusammenschrickt; denn jetzt klopft es an das Fenster, und sie sieht in der Dämmerung des Morgens die Umrisse einer hohen Gestalt, welche dicht an die Scheiben herangetreten ist. Es ist doch Johannes; eilig ergreift sie die kleine Lampe und geht hinaus auf den Flur, das Haus für den Geliebten zu öffnen. Lachend, mit vorgebeugtem Haupte tritt Johannes durch die niedrige Thür.
„Sie wollen wohl nach Paris, Vetter, und einen Gruß für Ihren Alten bei uns zurücklassen? Oder ist Ihnen das Nachtwandeln angekommen?“ fragt sie hastig und leichthin.
„Keins von den Beiden, Base! Der Einfall machte mir nur Spaß, Sie früh Morgens mal recht hausmütterlich herumwirthschaften zu sehen.“
Das Blut schießt ihr verrätherisch in's Gesicht, und er hört, wie sie hastig athmet.
„Sie haben sich in Frankreich die galanten Redensarten recht angewöhnt,“ sagt sie und blickt ihn trotzig, verführerisch an.
„Und Sie sind wieder mal nicht ehrlich, Dora!“ flüstert es zurück, und er schüttelt sie leise am Arm.
„Lassen Sie mich und kommen Sie mit in die Stube! – Sehen Sie: da liegt meine 'hausmütterliche Beschäftigung'. Das Kleid zieh' ich heut Abend zum Ball an. Weiß ist meine Couleur.“
„Schönen Mädchen steht Alles,“ antwortet er.
„Brrr!“ erwidert sie mit graciöser Keckheit. „Und setzen Sie sich dort – ich muß weiter bügeln.“
Und sie stellt sich so, daß er fortwährend ihre ganze Gestalt in's Auge fassen kann, aber über ihrem Thun liegt eine unruhige Beweglichkeit, so gewandt sie auch Alles macht.
Plötzlich tritt er hart an sie heran, bückt sich, stemmt sich mit verschränkten Armen an die Kante des Bügelbrettes und blickt mit einer Miene fast leidenschaftlicher Bewunderung zu ihr auf. Er merkt, wie ihre Hand, die auf dem Griffe des Eisens ruht, zusammenzuckt.
„Warum ich eigentlich kam,“ sagt er, „ist, daß ich fragen wollte, wann ich Sie auf den Abend zu Seiler's holen soll, Base? Ich muß heute ohnedem beim Bürgermeister aufwarten und werde sagen, daß für Ihre Begleitung gesorgt ist; ich darf doch?“ und immer noch blickt er unverwandt in ihr Gesicht.
Ihre Augen glänzen siegreich zu ihm hinüber.
„Kommen Sie! Heute Abend, gegen acht Uhr bin ich fertig,“ stürzt es beinahe unbewußt von ihren Lippen.
„Es ist das erste Mal, Base, daß ich mit Ihnen tanze. Wenn wir mit einem Mädchen tanzen, ist sie unsere Gefangene.“
„Aber wenn wir ‚halt!‘ sagen, müssen Sie uns freigeben,“ antwortet sie gepreßt und versucht gleich darauf recht laut und harmlos zu lachen. „Wir sind Ballköniginnen, Vetter, und Sie haben Unterthanengehorsam zu leisten.“
„Ich will Sie nicht böse machen; sonst würde ich Ihnen aus der Weltgeschichte zeigen, wie schwach Königinnen sind.“
„Auch Maria Theresia?“ fragt sie stolz.
„Nein, die nicht – die große Feindin Ihres großen Fritzen nicht – des einzigen Mannes, den Sie fürchten und anbeten – nicht wahr? Sie haben mich halb geschlagen. Aber was für eine Krone setzen Sie heute Abend auf, Base?“
„Ich weiß nicht; man braucht auch keine Krone, um sich in Respect zu setzen, wenn man von Natur schon Königin ist. Ich hole mir heut Nachmittag ein paar frische Blumen vom Gärtner herein.“
„Ich will hingehn und sie für Sie aussuchen. Es machte mir Spaß – soll ich nicht?“
In diesem Augenblick hört man drinnen in der Kammer den Alten poltern.
„Gegen sieben bin ich mit den Blumen hier. Ist's früh genug?“
„Ja.“
„Adieu, Bäschen! Freuen Sie sich auf heute Abend?“
„Unsinn! warum würd' ich sonst hingehen? Guten Morgen, Johannes!“ ... dann hält sie plötzlich, wie erschrocken, inne.
„Adieu! – Guten Morgen, Dora!“ und er zieht die kleine heiße Hand, welche sie ihm reicht, einen Augenblick schmeichelnd durch seinen Arm, eilt dann aber jählings hinaus und läßt das verwirrte Mädchen allein im Zimmer.
Und Nachmittags um fünf, als es schon anfängt, finster zu werden, sieht man Johannes Strohmeyer raschen Schrittes durch's Thor hinaus zum großen Kunstgarten gehen. Er denkt an Dorette und lächelt, und seine Augen blicken mit unruhiger Lebhaftigkeit vor sich hin. Er fragt nicht, ob sie ihn liebt: natürlich liebt sie ihn – das hat sein durchdringender Blick schon entdeckt, als kaum die ersten Blumen des Sommers blühten.
Und vielleicht wäre seine eigene Liebe jetzt noch leidenschaftlicher, wenn er sein Glück länger zu erkämpfen gehabt hätte. Trotz ihrer schnellen Hingabe aber wird ihm Dorette mit jedem Tage unentbehrlicher und übt eine seltsame Gewalt auf ihn aus. In allen Dingen, die er unternimmt, ist ihm an ihrem Urtheil gelegen, und manchen Abend, den er in angeregter Männergesellschaft verbringen könnte, opfert er, um nur wieder im kleinen Thorschreiberstübchen der Base gegenüber zu sitzen.
So leben sie neben einander hin, und es versteht sich von selbst, daß er sie heirathen wird – wenn er erst so weit ist.
Als er beim Gärtner drei leuchtende, dunkelrothe Rosen für Dorette abschneiden läßt, sieht er sehr befriedigt aus und läßt die Finger spielend über ihre sammetnen Blätter gleiten. Ebenso, ganz ebenso wird das schöne, stolze Mädchen mit sich spielen lassen, wenn er sie erst für sich gebrochen haben wird.
Es ist nur wenige Minuten über sieben Uhr, als er mit den Rosen beim Thorschreiber eintritt. Dorette kommt ihm entgegen und nimmt sie ihm strahlenden Gesichtes ab; das weiße Tanzkleid hat sie schon angelegt und beeilt sich nun, die Blumen als letzten Schmuck in's Haar zu stecken. Aber drei Rosen scheinen ihr zu viel als Kopfputz; sie löst die eine wieder ab und steckt sie vorne an die Brust. Als sie so geschmückt in die Mitte des kleinen Gemaches tritt, glühen ihr Wangen und Lippen so tief vor fieberhaft seliger Erwartung, daß der alte Rickmann in seiner kindlichen Einfalt ausruft: „Nun sag' mir mal Einer, wo die Rosen schöner blühen, auf Doring's Frisur, oder in ihrem Gesicht!“
Dann stellt er sich vor sie hin und sieht sie mit stiller Freude an. Ab und zu nickt er auch wohl vor sich nieder und blickt dann wieder bedeutungsvoll zur Seite, wo Johannes Strohmeyer steht. Freilich – ih freilich doch, dies ist noch ein anderes Paar, als die blühende Dorette und der reiche Herr Putzbach, den die äußere Schönheit nie gedrückt hat.
Anfangs hat es ihm nicht recht in den Sinn gewollt, daß sein junges Kind mit dem weitläuftigen Vetter heute Abend so allein durch die Straßen gehen wollte. Aber jetzt hat er sich ganz darüber beruhigt; es wird ja Alles anders in der Welt; Moden und Sitten und alle altväterischer Gebräuche werden verändert, und seine Dorette muß ja am besten wissen, was sie thun oder lassen kann. So geht er denn ganz in Bewunderung auf.
„Doring, was werden die Leute denken, wenn Du hereinkommst?“ kann er sich schließlich nicht enthalten zu sagen.
„Nichts, Vater! Sind nicht alle so vernarrt in mich, wie Sie. Und Sie hätten, weiß Gott, am wenigsten Grund dazu,“ spricht sie hastig und unachtsam weiter, während sie Mantel und Kapuze über den Arm nimmt. „Eines schönen Tages schwimme ich Ihnen doch davon, und Sie haben als Gluckhenne das Zusehen vom Ufer.“
„Unsinn das – wo wolltest Du denn hinschwimmen?“
„Die Welt ist weit. Wenn ich mich z. B. heute Abend mit einem vornehmen schwedischen Officier verlobte, schwämm' ich Ihnen gewiß gleich davon.“
„Leichtfertiges Zeug, Doring, und davor ist dem alten Thorschreiber gar nicht bange.“
Und wieder sieht er Johannes Strohmeyer mit einem unbeschreiblich tiefen Blicke väterlichster Freundlichkeit an.
„Aber ich fürchte,“ setzt er launig hinzu, „Du schwimmst mir so schon alle Tage davon – und ich Alter seh' Dir dumm nach und weiß viel, wo Du hinsteuerst.“
„Lassen Sie, Vating!“ sagt sie schnell und erröthet.
Der Alte aber lächelt sehr glücklich, wie immer, wenn ihn die Tochter einmal mit dem herzlichen vorpommerschen „ing“ anredet.
Indessen sieht Johannes, der näher getreten ist, fast mit einem Anfluge von Eifersucht auf den Thorschreiber.
„Aber nun habe ich auch lange genug vor Euch auf dem Präsentirteller gestanden,“ ruft Dorette plötzlich und geht, sich leicht von einer Seite zur anderen wiegend, einige Schritte vorwärts. „Vetter, haben Sie auch den Begel nicht vergessen? Das ist ein alter Stralsunder Tanz; den muß Jeder weg haben: wir wollen die Probe machen.“
Doch schon nach wenigen Secunden meint sie: „Bewahre Gott, es ist lächerlich, hier in dem Loch zu tanzen. Ich will mich langsam aufkappen; dann wird's Zeit sein, zu gehen.“
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[818] Und kaum hat die Glocke auf Sanct Nikolai acht geschlagen, da schließt sich auch des Thorschreibers kleine Hausthür hinter dem davoneilenden Paare.
„Base, Sie laufen aber wie der Seewind. Frieren Sie? Kommen Sie – ich nehme Sie mit unter meinen Mantel.“
„Danke, meiner hält vielleicht wärmer, als Ihrer,“ und sie richtet sich wieder so stolz neben ihm auf, wie an dem ersten Abend, da er sie sah. – Sie hat es lange nicht mehr gethan, aber es beunruhigt ihn nicht; es macht ihm höchstens Vergnügen. Er weiß jetzt besser, als damals, was dergleichen zu bedeuten hat.
Dann gehen sie weiter durch die engen, spärlich erleuchteten Straßen, Arm in Arm, in gleichem Schritt. Und nun folgt ein Abend mit herrlichen, glücklichen Stunden für Dorette Rickmann und auch für ihn, wenn er gleich nicht, wie sie, wähnt, das Licht des Himmels und nicht das eines irdischen Saales umfluthe sie Beide, so oft sie mit einander durch die Reihen fliegen.
Es ist das erste Mal, daß ihr Johannes öffentlich den Hof macht, und durch sein Beispiel angefeuert, zeichnen sich auch die anderen jungen Männer in Aufmerksamkeiten gegen Dorette noch mehr aus, als es sonst schon ihre Gewohnheit ist; denn unter den vielen Dingen, die ansteckend sind, steht voran das Hofmachen.
Unter ihren Verehrern befindet sich heute Abend auch wirklich ein junger Officier. Es ist, beiläufig gesagt, derselbe, dessen Aufmerksamkeit sie schon vor einem halben Jahre im Kaffeegarten auf sich zog. Was würde Putzbach bei diesem Anblick empfinden, hätte er es nicht verschmäht, zum Tanze auf’s Stadthaus zu kommen; wenn sich der Officier Doretten nähert, um sie zum Reigen zu holen, oder wenn sie ihn gnädig entläßt, lächelt sie allemal auf besondere Weise.
„Was lächeln Sie wieder so, Base?“ fragt einmal auch Johannes, der sie nicht aus den Augen verloren hat.
„Ich dacht’ an’s Fortschwimmen,“ antwortet sie mit leise zuckender Lippe. Da umschlingt sie Johannes und führt sie in rauschendem Tanze davon.
„Base Doring, Sie sind meine Gefangene!“ raunt er ihr zu, daß sie seinen Athem an ihrer Wange spürt.
O Dorette Rickmann, wie kann ein Herz so viel Glück tragen?! Tanzend trägt es sich noch am besten, meinst du; da fühlt man die goldene Last nicht; da fliegt man in den Armen des Geliebten wie ein Vogel der Morgensonne entgegen.
Aber dann ist endlich der Tanz vorüber. Man sagt sich „gute Nacht“, versichert, wie sehr man sich ergötzt hat, hüllt sich in seine warmen Sachen und steigt mit seinem Ritter und den betreffenden Müttern, Muhmen oder Basen die Treppe hinab.
Johannes und Dorette sind außer Seiler’s, welche noch oben zu thun haben, die letzten der Davongehenden. Als sie unten auf die Straße treten, sieht das Mädchen noch einmal zu den Fenstern des Saales, den sie eben verlassen haben, auf.
„Sie löschen schon die Lichter,“ sagt sie. „Armes Geschäft! Ich möcht’ diese herrlichen Lichter nicht ausblasen.“
„Wenn sie immer brennten, würden sie nicht so herrlich sein. Unser Gemüth gefällt sich am Wechsel.“
„Was kauf’ ich mir für den Wechsel, wenn der Augenblick schön ist?“
„Ich finde auch diesen Augenblick schön. Komm’, Base, gieb mir Deinen Arm fester, Du gleitest sonst.“
„Vorwärts!“ flüstert sie, „es ist Niemand, Johannes; es ist nur der Nachtwächter, der hinter uns geht. – Nein, hier links müssen wir gehen.“
Die Straßen, durch die sie schreiten, sind finster und einsam. Der Himmel ist schwer bewölkt; kaum zwei oder drei Sterne schimmern ab und zu hindurch. Er hält ihren Arm mit sicherem Druck in dem seinen, und Dorette hat Lust, die Augen zu schließen, damit es noch dunkler um sie her werde. Der kalte Decemberwind fährt ihr manchmal mit leisem Frösteln durch die Glieder, aber sie athmet ihn aus voller Brust ein. Wie im Traume geht es vorwärts; ab und zu klingt es noch wie ein ferner schmetternder Nachhall der Tanzweisen durch ihr Ohr. Und daneben steigt eine andere Musik gleich leisen, eintönigen Weihnachtsmelodien in ihrer Seele auf und strömt hinaus in die Nacht – das ist das „Du“ von den Lippen ihres Führers. Dieses Du erfüllt ihr die ungestüme Brust mit seligem, nie gekanntem Frieden, daß ihr Herz wunschlos und feierlich still wird. Sie hört es fort und fort, als wäre sie verzaubert und könnte nun in alle Ewigkeit nichts weiter hören und denken.
Immer näher rückt indessen das Ende ihres Weges. Da befällt das Mädchen eine furchtbare Angst, daß sie dem Vetter weinend an die Brust sinken möchte. Es ist ihr, als sollte sie stillstehn, damit die Nacht und das verrauschende Glück auch still stünden. Aber sie gehen mit einander vorwärts, und nach wenigen Minuten stehen sie vor des Thorschreibers Thür.
Johannes schließt die Hausthür auf.
„Gute Nacht, Dorette! Schlaf gut aus! Wo bist Du denn? Ha, hier!“ und er legt seinen Arm auf ihre Schulter.
Es ist, als stände ihr Herz einen Moment still; sie wagt nicht sich zu rühren und starrt schweigend durch’s Dunkel: er wird sie schon loslassen. Da brennt ein heißer Kuß auf ihre Wange. Sie hat ein Gefühl, als falle sie taumelnd zu Boden; der Athem will ihr vergehen, und doch steht sie noch aufrecht und hört die leisen Laute: „Gute Nacht, schöne kleine Base!“
Und dann hört sie weiter, wie der Schlüssel sich kreischend umdreht, wie sie ihn herauszieht, die Thür öffnet und sie drinnen wieder zuschließt. Scheu huscht sie über den Flur, löst ihre schönen Kleider mit zitternden Händen, wirft sie von sich, und nachdem sie eine Weile halb bewußtlos am Bette geknieet hat, versinkt sie tief aufathmend in die schützenden Kissen.
Der Tag nach dem ersten Kusse ist ein wunderlicher Tag. Dorette fängt tausend Sachen an und legt tausend Sachen wieder hin, und doch fühlt sich ihre ganze Person seltsam geweiht: wie sie geht und wie sie steht, ihr ist, als wäre sie größer geworden, als müsse sie sich bücken, um die wohlbekannten Gegenstände um sich herum zu erreichen.
Wohl erwartet sie mit fieberhafter Ungeduld den Abend; denn nun will sie auch mehr: nun will sie auch hören, daß er sie liebt, daß er ohne sie nicht leben kann; nun will sie den brennenden Kuß auch brennend zurückgeben. Aber sie meint, daß es noch nicht geschehen wird, daß seine Zeit noch nicht gekommen ist, und sie sagt lächelnd zu sich selbst, daß der beruhigende Klang ihr voll auf Ohr und Seele fällt: „Er ist Dir ja sicher, Dorette!“
Endlich kommt der Abend, die gewöhnliche Zeit von Johannes’ Besuchen, aber schon als Johannes eintritt, sieht sie, daß es etwas Besonderes giebt; sonst würde er nach dem, was gestern geschehen ist, nicht so ungestüm, nicht mit so eiliger Geschäftigkeit, die seinem Wesen fremd ist, zu ihr kommen; denn zu ihr kommt er ja, wenn auch der Thorschreiber im Zimmer ist.
„Guten Abend, Dora! Gott zum Gruß, Oheim! Ich habe eine Nachricht,“ beginnt er und wendet sich ausschließlich an die Base. Eine Nachricht für sie und die überbringt er so? Dorette wundert sich und starrt ihn fragend an.
„Ja, eine Nachricht!“ bestätigt er, indem er auf sie zutritt und ihr erregt die Hand schüttelt. „Ich habe gar keine Zeit – muß noch heute Abend Alles fertig machen ...“
„Ja, mein Sohn, aber setzt Euch doch!“ bittet der alte Rickmann, der gern Alles gemüthlich bespricht. „Ihr tragt mir ja sonst die Ruh’ zur Stube hinaus, Johannes Strohmeyer.“
„Sitzend oder stehend, Vater Thorschreiber, wie Sie wollen!“ erwidert Johannes und schiebt sich einen Stuhl herbei. „Ich reise morgen früh mit erster Gelegenheit nach Greifswald.“
„Sieh, sieh, was giebt’s denn so schleunig in der hochwürdigen Stadt?“
„Viel, Oheim, viel! Mir ist die Organistenstelle an Sanct Jacobi offerirt,“ und Strohmeyer’s wohlklingende Mannesstimme erbebt unter der Wucht dieser Worte. „Der Herr Graf haben mich beim Herrn Präpositus, seinem Freunde und ehemaligen Stubengesellen, empfohlen und dieser will mir das Organistenamt vermitteln. Nun hat man mich eilig citirt, auf daß ich mich dem Pastor an Sanct Jacobi vorstelle.“
Der alte Thorschreiber hat bei dieser Kunde still die Hände gefaltet, und seine voll scheuer Ehrfurcht zu Strohmeyer aufblickenden Augen glänzen feucht.
„Gott segne Euch Euer gutes Brod, Johannes!“
Johannes aber beachtet die Worte kaum; denn er blickt auf Dorette, die schon secundenlang mit niedergeschlagenen Augen dasitzt. Doch wie sie jetzt die Blicke des Vetters auf sich ruhen fühlt, sieht sie hastig auf.
„Ich gratulire Ihnen, Johannes!“ stammelt sie, und ihr muthiger Blick richtet sich voll heißer Liebe auf ihn.
„Ja, es ist ein guter Anfang,“ antwortet er. „Die Stelle ist wie für mich geschaffen. Die Greifswalder Herren halten etwas [819] auf machtvolles Orgelspiel. Greifswald – da ist Leben und Bewegung – da gilt, was man ist, und nicht, wo man herkommt. Wer sich in Greifswald einen Namen macht, verlöscht nicht wie ein Talglicht, wenn seine Zeit um ist. – Auf die Greifswalder Leute hat man ein Auge. Von dort aus ist weiter zu kommen. Unzählige werden sich um diesen Posten bemühen, und mir fliegt er in den Mund. Base, ich habe Glück.“
Dorette nickt, und ihre kleinen zitternden Finger spielen in innerer Erregung auf der Tischplatte. Vor einer Minute durchstach es sie, wie ein glühender Schmerz. „Die Stelle ist ihm lieber, als Du!“ flüsterte ihr eifersüchtiges Herz. Aber nein – nun ist es vorüber und sie geht mit ganzer Begeisterung seiner Freude auf.
Von Fr. Helbig.
Mit dem Eintritte in’s siebenzehnte Jahrhundert begegnen wir neuen Wandlungen. Der spanische Einfluß mit seiner starren Hofetikette und seiner fanatischen Bigotterie war durch den Abfall der Niederlande und durch das wachsende Umsichgreifen der neuen, einen wesentlich deutschen Charakter tragenden evangelischen Lehre gebrochen worden. Und wie sich in der Kunst besonders durch den großen Niederländer Maler Paul Rubens eine freiere Richtung zeigte, so trat sie auch in der Kleidung zu Tage. Dieselbe wurde wieder ungezwungener, malerischer, plastischer. Zunächst fiel die große Mühlsteinkrause weg, und an ihre Stelle trat ein vom Rande des Mieders aufsteigender breiter Kragen, der in der ersten Zeit nach hinten zu sich erhöhte und den Kopf wie ein Pfauenrad oder ausgebreiteter Fächer umrahmte. Das Haar wurde kurz getragen und à la Polkakopf in viele künstliche Löckchen geflochten, während es auf der Stirn eine sogenannte Rolle bildeten die noch kurz zuvor als das Abzeichen ritterlicher Herren galt, wie wir z. B. auf den Bildern Ulrich’s von Hutten und Götze’s von Berlichingen sehen. Auch ihr war es vorbehalten, in der Neuzeit ihre Auferstehung zu feiern. Man befand sich wieder in einer Zeitperiode, wo das männliche Element in der Mode dominirte. So trugen die Frauen auf dem hinten in ein Nest geflochtenen Haare hohe kegelartige Filzhüte mit wallender Feder oder kurzem Schleier. Auch das vorn geöffnete Oberkleid gewann Aehnlichkeit mit dem männlichen Rocke. Die Hüftenwülste und Stahlreifen waren gefallen und das Kleid konnte wieder der natürlichen Linie des Körpers folgen. In der Männlichen Tracht prägte sich der Charakter der Epoche besonders aus in dem ersten Erscheinen des – Stiefels!
In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges legte sich der halb aufrecht stehende Frauenkragen ganz nieder und ging, mit Spitzen ausgezackt, in seiner Breite noch über die Schultern hinaus, auch hier ein treues Seitenstück zu dem Kragen der Männer bildend, wie wir ihn aus den Kriegergestalten eines Gustav Adolf und Wallenstein kennen. Bei würdigen Pastoren- und Professorenfrauen bedeckte er Schultern und Hals bis unter das Kinn, sodaß das lockige Haupt wie auf einer weiten Schneefläche lag, wogegen die Dame der Welt vor einer herzhaften Decolletirung nicht zurückschreckte, die jetzt überhaupt das Vorrecht höfischer Kreise zu werden beginnt. Dagegen hatten sich die Puffärmel noch aus der frühern in diese Periode hinübergerettet, ja sie fanden hier in einem noch größeren Maßstabe ihre Anwendung, indem die Aermel aus einer ganzen Reihe solcher ballonartigen Aufbauschungen bestanden, die von der Schulter nach der Hand zu sich immer mehr verjüngten. An der Seite aufgeschlitzt ließen sie die weißen Unterärmel zum Vorschein treten.
Hatte die Tracht der Männer des Dreißigjährigen Krieges selbst auch im Gelehrtenkleide, wo der pelzverbrämte Talar die Stelle des kürzen Soldatenrocks und der Schuh den Stiefel vertrat, etwas Resolutes und mannhaft Derbes, ja herausfordernd Kriegerisches, so verfiel sie nach dem Dreißigjährigen Kriege wieder dem Naturgesetze der Entartung, indem sie dabei in das entgegengesetzte Extrem gerieth. Sie wurde geziert, gekünstelt, fast geckenhaft. Es war der französische Einfluß, der ihr diesen Charakter aufprägte und der von jetzt ab wie in der Politik, so auch auf dem Gebiete der Mode der herrschende wurde. Die deutsche Mode hat sich ihm nie wieder ganz zu entziehen vermocht, nicht einmal dann, als die politische Ueberhebung des herrschsüchtigen Nachbarvolkes durch das gute deutsche Schwert wiederholte Züchtigung erlitt. Die Mode ist eben eine Großmacht für sich.
Wir bemerken an den Herren aus dem Zeitalter Ludwig’s des Vierzehnten einen seltsamen Luxus von Troddeln, Schleifen und Spitzen an den Armen, den Knieen und selbst auf den hohen Stöckelschuhe, die schon längst den Schnabelschuh verdrängt hatten. Die Tracht hatte etwas Weiches, Weibisches, tänzelnd Geziertes. An dem Minnehofe des großen Ludwig war ja dem Elemente des Weiblichen eine Macht verliehen, wie einst in dem Zeitalter der Troubadoure; nur trug diese zweite Auflage des weiland provençalischen Liebesreichs jetzt das Gewand der Farce. Aber auch in Deutschland waren aus den Helden des Dreißigjährigen Krieges, die sich wild und wacker befehdet hatten, altweiberliche Pedanten geworden, die sich auf dem Reichstage zu Regensburg darüber zankten, ob den kurfürstlichen Gesandten des Reichs allem oder auch den altfürstlichen rothbeschlagene oder beiden zusammen nur grünbeschlagene Stühle geziemten, und was dergleichen große Kleinigkeiten mehr waren; während andererseits am Hofe Königs August des Starken der französische Cultus des Ewigweiblichen in deutscher Auflage erschien.
So finden wir auch bei den Frauen eine zierlich-tändelnde Ausschmückung der Kleider mit Rosetten, Troddeln, Schleifen und Zacken auf den Schultern, am Busen, an den Aermelbauschen und zum seitlichen Aufraffen des im Schooße offenen Oberkleides. Die ganze Figur trägt den Charakter des Aufgeblähten und Gespreizten, und das Haar fällt wieder in langen Ringellocken auf die entblößten Schultern. Das eigentliche Leitmotiv der Tracht bildete aber auf männlicher Seite die Perrücke, auf weiblicher die Schnürbrust. Von der letzteren sagt bezeichnend Jacob von Falke: „Sie war ästhetisch gefährlich; sie schnitt allen Fluß der Körperlinien ab, setzte Hüfte und Taille außer allem Verhältniß, die eine vergrößernd, die andere verkleinernd, und verdarb auf Jahrhunderte hinaus das Verständniß für Schönheit.“
Die Perrücke entstammte der im Dreißigjährigen Kriege hervortretenden Vorliebe für das Tragen langen Haares, und sie trat zuerst als eine lange, lockige Allongeperrücke auf. Als weibliches Pendant hierzu erfanden die Hofdamen Ludwig’s des Vierzehnten, der sich anfangs kühl zur Perrücke verhielt, dann aber, als die Natur sein edles Haupt im Stiche ließ, ihr eifrigster Förderer wurde, ein wunderliches Gestell aus Draht, Spitzen und Bändern, das sie auf das aufgelockte Haar befestigten, die sogenannte Fontange, so benannt nach der Marquise von Fontange, welcher während der Jagd der Wind die Frisur zerstoßen und zerzaust hatte, was sie veranlaßte, dieselbe nun künstlich zu befestigen.
Während die Damen erst das bauschige Oberkleid unter der Taille auf beiden Seiten zurückschoben und am Unterkleide mit Schleifen befestigten, traten diese Seitenflügel mit der Zeit zurück, bauschten sich aus dem Rücken hoch auf und fielen zugleich als lange schmale Schleppen zu Boden, ein Motiv, das sich auch die jüngste Zeit wieder zurecht gelegt hat. Vornehme Damen ließen sich diese Schleppe auf der Promenade durch phantastisch gekleidete Zwerge oder Mohrenknaben nachtragen. Unsere Damen kennen [820] freilich solche Kleiderschonung nicht, und wie leicht würde sie ihnen gemacht durch das Institut unserer „Dienstmänner“!
Wir treten nunmehr in die Periode des Rococo ein, Hatten unter Ludwig dem Vierzehnten die Zeit und die Tracht den Charakter des Aufgeblähten, Aufgebauschten und Bombastischen angenommen, so fiel in der Regierungsepoche Ludwig’s des Fünfzehnten Alles in’s Kleinliche und Gedrechselte. Es sind reizende Nippfiguren, diese Damen à la rococo, aber sie sind unnatürlich im höchsten Grade. Puder und Schminke bewirkten, daß in einiger Entfernung die ganze Damenwelt wie von einem Alter erschien; denn auch das Haar von achtzehn Jahren erhielt die Bleiche des Alters und das Gesicht von fünfzig Jahren die Frische der Jugend. Der Geist war nichts, die Figur Alles. Die Schminke unterstützten noch die Schönheitspflästerchen, aus schwarzem Taffet geschnittene Fleckchen in Form von Sonne, Mond, Sternen und Thieren. Ursprünglich dienten sie dem Zwecke, kleine Fehler des Teints zu bedecken, aber bald
behaupteten sie ihre Stellung für sich und glichen in der That zudringlichen Fliegen (daher ihr Name: mouches!), die ein Bild verunzieren. Man nannte sie scherzweise Postillons d’Amour, und der darin ausgesprochene war vielleicht noch der vernünftigste Zweck, dem sie dienten. Man brachte sie dabei in ein förmliches System und nannte die auf der Stirn klebende Mouche die majestätische, die, welche auf den Wangen saß, die galante, die auf den Lippen die kokette. Andere dienten zur Markirung des Lächelns in der Lachfalte, dem Grübchen, des Schmollens im Mundwinkel, des Zwinkerns im Winkel des Auges. Da sie der öfteren Erneuerung bedurften, so trugen die Damen eine Anzahl derselben immer in kleinen Kapseln bei sich.
Die Fontange ist verschwunden; dafür sind die Haare in gepuderten Ringellocken hoch aufgebunden. Die Taille mit der noch erhaltenen Schneppe ist noch weit enger und dafür der Rock um so umfangreicher geworden; denn es hat jetzt der Reifrock zum zweiten Male seinen Einzug in die Arena der Moden gehalten. Wie um sich für seine langjährige Mißachtung zu entschädigen, blies er sich jetzt noch weit mehr auf als zur Zeit des Glocken- und Tonnensystems. Er machte es den Herren jener Zeit im höchsten Grade schwierig, den Damen über einen ihrer beiden Seitenflügel hinweg die Hand zu küssen – und sie liebten das Handküssen ganz besonders, die galanten Herren des Rococo, mit ihren kleinen, zierlich gedrechselten Schnurrbärten. Mindestens war die Dame zur Erreichung dieses löblichen Zweckes genöthigt, den Oberleib weit nach hinten zu biegen, um über die truthahnartigen seitlichen Ausspreizungen hinaus zu kommen. Eine solche Reifrock-Dame bot für zwei hinter ihr herschreitende Herren vollständige Deckung. Da eine Annäherung von der Seite nicht möglich und von vorn nicht recht schicklich war, so wurde die Unterhaltung auf den Bällen und Gesellschaften vom Rücken her gepflogen.
In allen Fragen der Seßhaftigkeit galt eine solche Reifrockträgerin für zwei Personen. Da sahen sich selbst ehrwürdige Pastoren als galante Ehemänner genöthigt, eine Supplik an das hohe Consistorium zu richten, daß ihren ehrbaren Ehehälften „unter sothanen Umständen statt des bisherigen einen jetzt zwei Kirchensitze zugebilligt würden“. Dabei war der Reifrock selbst ein höchst launischer Geselle, der den Wechsel und die Veränderung liebte. Anfänglich erschien er in der Form einer Halbkugel, welche auf dem Fußgestell der hohen Stöckelschuhe wie ein gasgefüllter Ballon hin- und herbalancirte. Um das gefährdete Gleichgewicht zu erhalten, bediente sich seine Trägerin meist eines Stockes. Später nahm der Rock die bereits angedeutete ovalere Form an, indem er sich mehr nach den Seiten ausbreitete, hinten und vorn sich schmälerte, auch zur besseren Sicherung bis auf den Boden reichte. Nun konnte seine Besitzerin wenigstens von der Seite her durch eine nicht zu schmale Thür gelangen. Der Reifrock verschwand gegen Ende des Jahrhunderts wieder ziemlich. Zugleich war jene und die ihr kurz voraufgehende Zeit die Epoche der Unterröcke. Die Damen des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts trugen ihrer zehn bis zwölf im Winter und sechs bis sieben im Sommer und noch dazu aus den schwersten Stoffen, aus Sammet, aus Gold- und Silberstoff oder aus Atlas.
Aus der verlotterten Regierungsepoche Ludwig’s des Fünfzehnten wollen wir nur einer Extravaganz gedenken, der wahrhaft kolossalen Haarfrisuren, die sich auf den Köpfen der Damen aufbauten. Sie bewegten sich in den verschiedenartigsten Formen und Structuren. Besonders beliebt waren die des Igels oder Stachelschweins (à la hérisson. Eine andere (à la mappe monde) stellte die ganze Erdkugel dar, auf welcher die Grenzen der Länder durch farbige Bänder markirt waren; eine dritte (à la zodiaque) enthielt den Mond und die zwölf Bilder des Thierkreises. Bei der Frisur à la Pomone trug die Dame eine aus Taffet gefaltete Fruchtschüssel auf dem Kopfe mit Weintrauben, Birnen, Aepfeln u. dergl. Auch ganze Schiffsmodelle, Blumenkörbe, ja sogar nachgemachte Denkmäler, letztere als Huldigung berühmter Männer, balancirten die Damen mit der Gewandtheit eines italienischen Gypsfigurenhändlers auf den Köpfen. Die Frauen führten auch jetzt wieder das Regiment. Die Männer bückten und beugten sich vor ihnen; höflich und galant, trugen sie stets den Hut in der Hand und französische Galanterien im Munde. Ihre Embleme waren der Zopf und der Haarbeutel. In diesen Haarbeuteln trugen die guten Väter oft tagelang das Briefchen bei sich herum, das der Galan des verliebten Töchterchens durch den Friseur am Morgen hatte hineinstecken lassen. Abends nach dem Schlafengehen holte es das unschuldige Kind heraus und legte dafür die Antwort hinein, die der frisirende Figaro am anderen Morgen richtig an seine Adresse brachte.
Aus der sentimentalen Stimmung heraus, welche der Goethe’sche Roman „Werther’s Leiden“ und seine vielfachen Nachfolger in Deutschland verbreiteten, entstand die sogenannte Werther-Tracht: grüner Frack mit gelber Weste, Jabot und Hut mit hohem [821] Deckel; das lockige Haar hinter einem Haarbeutel, dazu Kniehosen, Strümpfe und ausgeschnittene Schuhe, das war die äußere Folie jener innerlich schmachtenden Jünglinge, zu denen sich dann die entsprechende Jungfrau gesellte in schmalem, hochgegürtetem Kleide, kurzen bauschigen Aermeln und desto längeren Hand- oder eigentlich Armschuhen, ein großes Busentuch züchtig um Schultern, Brust und Nacken, den Kopf bedeckt mit einer Schlafhaube oder einem Hut von Stroh oder Seide, den Strickbeutel am Arme, einen Rosmarinstengel in der Hand und einen Mops auf dem Schooße.
In Folge der Gegensätze, in welchen sich die Periode der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts bewegte, wo Pedanterie, Freigeisterei und schwärmerische Sentimentalität hart neben einander hergingen, mußte sich auch die Mode in verschiedenen Extremen bewegen. Und so finden wir im Gegensatze zu der oben geschilderten die Tracht à la sauvage aus den ersten Jahren der französischen Revolution, welche auf männlicher und weiblicher Seite das Unglaublichste leistete – dort als Incroyable, hier als Merveilleuse. Mit
der Einführung der Republik hielten es die französischen Damen für angezeigt, das antike Costüm einzuführen. Sie trugen ärmellose weite Tuniken dicht unter dem Busen gegürtet, trugen Ringe nicht blos an den Fingern, sondern auch an den Zehen ihrer blos mit Sandalen bekleideten Füße.
Auch unter dem Kaiserreiche wurde das antike Motiv noch beibehalten, aber in einer dem Klima und der Zeit entsprechenderen Weise verwerthet. In Deutschland finden wir im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts das Damencostüm auf derselben Grundlage zu einer erschreckend philiströsen Composition gewandelt. Die Taille ist beinahe bis unter die Achsel hinaufgerathen; das kurze Kleid fällt in einer Linie und mit der engsten Spannung von da bis zum Saume herab und vertritt das alte Sackmotiv (elftes und zwölftes Jahrhundert) in ausgeprägtester Form. Es ist, als ob die Frauen jener unglücklichen Periode um das Elend des fremden Fesseln liegenden Vaterlandes auch äußerlich in Sack und Asche hätten trauern wollen. Um aber die ästhetische Carricatur zu vervollständigen, trat dazu noch ein großer Hut, der sich auf dem Hinterkopfe wie ein Thurm erhob und das Vorderhaupt mit einem riesigen Schirm umkleidete.
Schon Ende des ersten Jahrzehntes erhielt der enge Rock wieder eine Erweiterung, die auch ein Herabrücken der Taille zur naturgemäßen Folge hatte. Auch wurden bei den Damen breite Spitzenkragen und aufgebauschte Aermel wieder modern.
Die verlängerte Taille führte die Schnürbrust nun zum dritten Male in Scene. Sie begünstigte wieder eine größere Erweiterung des Rockes und eine Entwickelung der Falte. So finden wir das Costüm in den vierziger Jahren auf einem in gewisser Hinsicht ästhetischen Standpunkte angekommen, bis die in’s Maßlose wachsende Zahl der Unterkleider diese zuletzt unerträglich macht und zur Befreiung von dieser Last Anfangs der vierziger Jahre wieder der Reifrock zur Hülfe gerufen wird. Obwohl schon alt und verbraucht, wurde er jetzt erst und zwar mit dem Wasser der Seine getauft als Crinoline. Die Herrschaft dieser Crinoline, die an äußerem Umfang ihren alten Vorgängerinnen nichts nachgab, war bekanntlich eine ziemlich lange. Als sie aus den oberen Kreisen schon längst verbannt war, führte sie in den untern Regionen noch ein langes glückliches Dasein fort als bevorzugter Liebling der sonntägig geputzten Köchin und des die Stadt besuchenden Landmädchens.
Indessen hat auch der Hut eine wahre Proteusnatur entwickelt. Der hochaufragende Schirm senkte sich zunächst nach vorn, sodaß das holdselige Antlitz seiner Trägerin wie aus einer mit Seide und Gaze gefütterten Ofenröhre herausschaute. Diese Röhre verjüngt sich, das Gesicht wird wieder frei, die Peripherie des Hutes geräth in die mannigfachsten Schwankungen, bis sie in immer steigender Verjüngung mehr und mehr nach dem Hinterhaupte zu sich verliert, schließlich von ihm nichts mehr übrig bleibt als eine blasse Idee und er somit dem runden Hute den Platz ebnet.
Nach Beseitigung des Reifrockes griff die Mode wieder zu den kurzen und engen Kleidern. Der rasche Wechsel ihrer Motive, die indeß nur eine Erneuerung längst dagewesener bedeutet, macht sie zum Abbilde unserer raschlebigen Zeit. Sie hat aber auch die Fühlung mit dem historischen Untergrunde fast ganz verloren; an die Stelle ihrer natürlichen ist eine künstlich gemachte Entwickelung getreten, und damit hört eigentlich ihre Geschichte ganz auf.
In all diesem Chaos von Launen, Vorurtheilen und Capricen ist – der Welt zum Trost – doch Eines immer dasselbe geblieben, und zwar trotz alles Wechsels seiner Hülle, trotz des Bannes von Schnürbrust und Panzertaille. Und dieses Eine, groß in seinem Glauben, in seinem Hoffen, in seiner Treue, ist das Herz der deutschen Frau, welches die sinkende Welt rettet und verjüngt.
Den Deutsch-Oestreichern zur Säcularfeier von Josefs Thronbesteigung gewidmet
von Johannes Scherr.
(Schluß.)
Unerquicklich also, sahen wir, war die Mitregentschaft Josefs, aber unersprießlich war sie trotz allen ihr bereiteten Hindernissen doch nicht. Die Reihe der während ihrer Dauer angehobenen und durchgeführten Reformen beweist das klärlich. Der in dem Sohn arbeitende neuzeitliche Gedanke war kräftig genug, der widerstrebenden, widerwilligen, häufig gegen Josef verhetzten Mutter eine Einräumung nach der andern abzuringen, und so [822] konnte denn die Entmittelalterlichung Oestreichs ernstlich beginnen. Der Staatsrath, die oberste Centralbehörde der Monarchie, erhielt i. J. 1774 eine auf Josefs Vorschlägen beruhende neue Organisation, welche denselben befähigte, die reformatorischen Ideen des Kaisers hinsichtlich der Verwaltung, des Justizwesens und der Staatsfinanzen wenigstens theilweise der Verwirklichung entgegenzuführen. Man begann denn doch den Odem des Jahrhunderts der Aufklärung auch in Oestreich zu spüren. Schon i. J. 1767 war das „Verbrechen der Ketzerei“ aus dem Strafkodex gestrichen worden. Am Schlusse von 1775 wurde die „peinliche Frage“, die „Tortur“, die Folterung abgeschafft und Maria Theresia's Mitregent ließ in seinem hochfliegenden Optimismus sogar schon das Problem einer theilweisen oder ganzen Beseitigung der Todesstrafe in Berathung nehmen. Auch in das tiefe kirchliche Dunkel fielen einige Lichtstrahlen hinein. Im Jahre 1768 wurde die Besteuerung des ungeheuer großen geistlichen Besitzes durchgesetzt; im folgenden Jahre erfuhr das überwuchernde Bruderschaftswesen eine Beschränkung, ebenso die allzu häufige Veranstaltung von Processionen. Wieder ein Jahr später ergingen Verfügungen, welche die Leistung geistlicher Ordensgelübde vor erreichtem 24. Lebensjahre verboten, das Strafrecht der Ordensoberen beschnitten, die scheusäligen Klosterkerker beseitigten, die Erwerbungen der „todten Hand“ einschränkten und die geistliche Erbschleicherei erschwerten. Vom Jahre 1773 an arbeitete Josef an der Durchsetzung des großen Grundsatzes religiöser Duldsamkeit, allein von der Räthlichkeit und Nützlichkeit der Toleranz vermochte er seine Mutter und Mitregentin nicht zu überzeugen. Dagegen gewann er derselben, obzwar nur nach langem und schwerem Ringen, die Einwilligung zur Aufhebung der von ihr so hochverehrten „Gesellschaft Jesu“ ab, also die Zustimmung zu jener großen von den katholischen Höfen getroffenen Maßregel, welche kulturgeschichtlich den Höhepunkt bezeichnet, bis zu welchem innerhalb des Bereiches der katholischen Kirche die Aufklärung und die Thatkraft des „erleuchteten Despotismus“ hinan zu gelangen vermochten. Der Jesuitenorden war seit dem Koncil von Trient der eigentliche Träger der mittelalterlichen Idee gewesen, der Staat müßte der Kirche untergeordnet sein. Die Entwickelung der modernen Kultur hatte aber diese Idee zu einer unerträglichen Ungeheuerlichkeit gemacht. Sie mußte abgeworfen werden, wenn die europäische Gesellschaft nicht stillstehen und versumpfen wollte. Dieser Einsicht verschloß man sich zuletzt selbst im Vatikan nicht mehr und am 11. Juli von 1773 erließ Papst Klemens der Vierzehnte (Ganganelli) die berühmte Bulle „Dominus ac redemptor noster“, kraft welcher die Gesellschaft Jesu im Umfange der ganzen Christenheit aufgehoben wurde. Der Jesuitismus war damit und dadurch freilich nicht beseitigt; aber es kennzeichnet die entsetzliche Erschöpfung, Ermattung und Verdumpfung, in welche die Völker durch die ungeheueren Anstrengungen und Leiden der Revolutions- und Napoleonszeit geworfen wurden, daß einundvierzig Jahre nach jenem Julitag von 1773 ein anderer Papst, Pius der Siebente, kraft seiner am 7. August von 1814 erlassenen Bulle „Sollicitudo omnium“ den Jesuitenorden wieder herstellen, ja sogar diese Herstellung für einen nahezu einstimmigen Wunsch der Christenheit ausgeben konnte und durfte … Weiter sind zwei Reformen zu betonen, welche noch während der Mitregentschaft Josefs angebahnt worden sind: die Verbesserung des gesammten Schul- und Unterrichtswesens auf allen Stufen und die Erleichterung der Bauerschaft von dem qualvollen Druck des Feudalsystems. Von gänzlicher Erlösung von diesem furchtbaren „System wohlerworbener Rechte“ konnte noch keine Rede sein, aber schon die „Erleichterung“ mußte als eine unermessliche Wohlthat angesehen werden zu einer Zeit, wo ein Mitglied des östreichischen Staatsrathes bei Gelegenheit der Robotregelung im östreichischen Schlesien auszurufen sich gedrungen fühlte: „Mit Staunen, ja mit wahrem Grausen und peinlicher Rührung ersieht man das äußerste Elend, in welchem der arme Unterthan durch die Bedrückung vonseiten seiner Grundherren schmachtet.“ Josef, welcher gar wohl wußte, daß eine kräftige Bauersame die einzige zuverlässige Grundlage eines gedeihlichen Staatswesens sei, darf der Bauernfreund genannt werden, und er mühte sich redlich ab, auch der Bauernbefreier zu sein. Daher die Wuth des Hasses, von welcher weltliche und geistliche Feudalherren gegen den Kaiser glühten.
Maria Theresia starb am 29. November 1780. Ihre letzten Lebensjahre waren noch beunruhigt worden durch den freilich nicht sehr ernsthaft geführten sogenannten baierischen Erbfolgekrieg, welchen Josefs ungestümes Verlangen nach dem Besitze von Baiern und Friedrichs argwöhnische Wachsamkeit herbeigeführt hatten. Die Kaiserin ermannte sich noch einmal zur souveränen Handhabung ihrer Macht und Gewalt und schloß über den Kopf ihres grollenden Sohnes hinweg im Mai von 1779 zu Teschen den nach diesem Orte benamseten Frieden mit ihrem alten Feinde, dem Preußenkönig. Diese seltene Frau hat bis zu ihrem Todestag alle ihre Pflichten nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt und ist mit heldischer Fassung gestorben. Als sie die letzte Einschlummerung herannahen fühlte, sagte sie zu ihren Frauen: „Laßt mich nicht schlafen; denn ich will den Tod kommen sehen und ihm so fest, als ich vermag, in die Augen blicken.“ Als die Botschaft von ihrem Hinscheiden nach Potsdam gelangte, sagte Friedrich: „Die Kaiserin ist nicht mehr, eine neue Ordnung der Dinge beginnt.“ Dann ließ der König in seinem Kabinett eine Büste Josefs aufstellen und bemerkte: „Das ist ein junger Mann[1]), auf welchen man ein Augenmerk haben muß. Hat Kopf, könnte viel ausrichten. Schade nur, daß er immer den zweiten Schritt thut, bevor er den ersten gethan hat.“ Ein meisterliches Urtheil und, leider, auch ein prophetisches Wort!
Josef war jetzt Selbstherrscher und eilte, der Welt zu zeigen, daß und wie er es wäre. Von der wiener Hofburg ging alsbald ein Reformsturm aus, welcher vieles, geradezu vieles Beste von dem, was die Franzosen etliche Jahre später mittels einer blutigen Revolution erringen mußten, den Völkerschaften Oestreichs als kaiserliches Geschenk darbot. Warum wurde dieses herrliche Geschenk nur mit Mißmuth hingenommen, nur mit Undank erwidert? Weil man die Völker zur Vernunft und Freiheit gerade so wenig zwingen kann, wie die Menschen zur Liebe. Sodann, weil doch eigentlich niemand in Oestreich auf ein solches Reformwerk recht vorbereitet war und demnach dem kaiserlichen Reformer, der im Grunde mehr ein Revolutionär zu nennen war, ein Mittel und Werkzeug nach dem andern versagte und ihm schließlich auch die eigene Kraft viel zu vorzeitig ausging. Endlich, weil er in Tagen schaffen wollte, wozu es Jahre, in Jahren, wozu es Jahrzehnte gebraucht hätte, in einem Jahrzehnt, wozu ein Jahrhundert erforderlich gewesen wäre.
Das Programm, womit der Kaiser seine Allein- und Selbstregierung eröffnete: „Ein Reich, das ich regiere, muß nach meinen Grundsätzen beherrscht, Vorurtheil, Fanatismus, Parteilichkeit, Sklaverei des Geistes unterdrückt und jeder meiner Unterthanen in den Genuß seiner angeborenen Freiheit gesetzt werden“ – dieses Programm hat er treulich eingehalten und an die Verwirklichung desselben hat er ruhelos mit Herz und Hirn und Hand gearbeitet, ja dafür nicht nur sein persönliches Glück und Behagen, sondern auch sein Leben selbst hinzugeben kein Bedenken getragen. Aber den Despoten, und wenn auch den „erleuchteten“ Despoten konnte weder Josefs Programm – „mein Reich muß nach meinen Grundsätzen beherrscht werden“ – noch dessen Ausführung verleugnen. Einer der edelsten Dichter unseres Jahrhunderts, Anastasius Grün, hat am Fuße von des Kaisers Erzbild gesungen:
„Ein Despot bist du gewesen! Doch ein solcher wie der Tag,
Dessen Sonne Nacht und Nebel neben sich nicht dulden mag.
Ein Despot bist du gewesen! Doch fürwahr ein solcher bloß
Wie der Lenz, der Schnee und Kälte treibt zur Flucht
erbarmungslos –“
und gewiß ist das ebenso wahr als schon gesagt. Allein mit schönklingenden Versen treibt man nicht die weltgeschichtliche Thatsache zur Flucht, daß der dem erleuchteten Despotismus anhaftende, sogar in seinem besten Wollen und Vollbringen anhaftende Fluch auch an Josef sich erfülle. Dieser Fluch aber war das Allesbesserwissenwollen, die dünkelhafte Mißachtung des historisch Gewordenen und Gegebenen, das zudringliche Hineinregieren in alles und jedes, das abstrakte Generalisieren und Schablonisiren, die gewaltsame Gleichmacherei. Gewiß, es bedurfte, um Oestreich aus seiner so langen geistigen, materiellen und socialen Versumpfung herauszureißen und auf die Vorschrittsbahn zu stellen, einer eisernen Hand, ja, sagen wir es nur geradeheraus, einer eisernen Despotenhand. Aber diese Eisenhand hätte mit einem Sammethandschuh bekleidet sein sollen. Das war Josefs Hand nicht. Es hieße überhaupt Schönfärberei treiben, so man
[823] verschweigen wollte, daß Josef zur Zeit, wo er zur Alleinregierung kam, keineswegs mehr der naivjugendliche Schwärmer von früher mit ungetrübtem Seelenspiegel war. Was er als Mitregent seiner Mutter hatte durchmachen, verbergen, verbeißen müssen, war ihm zu einer Schule der Verbitterung geworden. Mißtrauen und Argwohn hatten sich in ihm festgesetzt und verleiteten ihn häufig, das einzelnen Personen oder den Menschen im allgemeinen schuldzugeben, was nur die Schuld der Verhältnisse war. Daher seine oft so verletzend schneidende Sprache und sein maßloses Draus- und Dreinfahren. Er wußte wohl zu handeln, aber er verstand nicht, zu motiviren, vorzubereiten und annehmlich zu machen. Weil er selbst zielbewußt war, wähnte er, alle Leute müßten die guten Ziele, denen er sie entgegentreiben wollte, ebenso deutlich erkennen.
Und doch, trotz alledem und allediesem, war Josef für Oestreich der große Lichtbringer und Luftschaffer. Mochten selbst die besten seiner Entwürfe an der Ueberstürzung in der Aus- und Durchführung von vornherein teilweise scheitern, büßten auch die größten seiner Maßnahmen durch die Mangelhaftigkeit der Inscenesetzung, sowie durch die Beschränktheit und das Uebelwollen der damit beauftragten Beamtenschaft nicht selten gerade die wohlthätigste Seite ihrer Wirksamkeit ein, so bleibt doch ganz unbestreitbar wahr, daß, wie ich anderwärts gesagt und nachgewiesen[2]), des Kaisers reformatorische Unternehmungen und Veranstaltungen: – die Brechung des Geisteszwanges mittels des „Censuredikts“ von 1781, die bürgerliche Gleichstellung der Protestanten mit den Katholiken mittels des preiswürdigen „Toleranzedikts“ von 1781, die Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft, die Ablösbarkeit der Robot, die Herbeiziehung aller Staatsangehörigen zur Mitträgerschaft der Staatslasten („Steueredikt“ von 1789), die Reform der Civilgesetzgebung und der Strafrechtspflege („Civilgesetzbuch“ von 1786 und „Kriminalgesetzbuch“ von 1787), die Aufhebung von mehr als 700 Klöstern, die Förderung der Volksbildung durch Schuleinrichtungen, die Gründung und Ausstattung höherer Lehranstalten und humaner Heilstätten aller Art – zu den edelsten Kulturthaten nicht nur des 18. Jahrhunderts, sondern aller Jahrhunderte gezählt werden dürfen und müssen. Es ist durch diese Josefsthaten in den klafterdicken altöstreichischen Zwinger, aufgemauert aus Volksdummheit, Junkerselbstsucht und Pfaffenhochmuth, denn doch eine Bresche gelegt worden, so klaffend, daß sie nie wieder ganz vermauert werden konnte, wie sehr man sich auch nach Josefs Hingang die Wiedervermauerung angelegen sein ließ.
Man muß den vorjosefinischen Geisterzwang in Oestreich kennen, man muß wissen, daß ein Zeitgenoß des Kaisers, Sonnenfels, zu der Frage und Anklage sich berechtigt fühlte: „War es ein Wunder, wenn es da so lange Nacht blieb, wo man aus Plan und Absicht den Tag ausschloß?“ um zu verstehen, daß und inwieweit Josefs Censuredikt von 1781 ein wahrhaft hochsinniger Akt der Befreiung gewesen ist. Es war für dazumal ein im besten Sinne freisinniges Gesetz, wie schon der Paragraph 3 desselben darthun kann[3]). Die schöpferische Wirkung zeigte sich alsbald. In Wissenschaft, Kunst und Literatur regte es sich denkend und schaffend. Ein Geisterfrühling brach an, wie solchen Oestreich zuvor noch nie gesehen, und es war nicht die Schuld des hochherzigen Befreiers, daß nach seinem Verschwinden die Blüthen dieses Frühlings, bevor sie zu Früchten reifen konnten, durch den eisigen Wirbelwind einer brutalen Rückwärtserei von den Zweigen gerissen wurden. Josefs Duldsamkeit erstreckte sich bekanntlich, wie auf die nichtkatholischen Christen, so auch auf die Juden und die Freimaurer. Sein Judenpatent von 1782 markirt eine sehr wichtige Station auf dem Wege zur Judenemancipation. Die Freimaurerei sah Josef nur für eine gesellig gestaltete Auszweigung der aufklärerischen und humanitären Tendenzen des Jahrhunderts an, wobei er nicht anstand, das Ceremoniell der Brüderschaft als „Gaukelei“ zu bezeichnen. Mittels Kabinettsschreibens vom December 1785 stellte er die Freimaurer unter den Schutz des Staates.
Die Klösteraufhebungen haben das wildeste Bonzengegrunze gegen den Kaiser hervorgerufen, obzwar die aktenmäßig festgestellte Verrottung dieser Faulstätten die kaiserliche Maßregel vollständig rechtfertigte, ja nothwendig machte. Denn, wohlverstanden, Josef, welcher ja bis an sein Lebensende in allem Wesentlichen ein gläubiger Katholik war und blieb, unterschied scharf zwischen Klöstern und Klöstern. Kraft seiner Resolution vom 29. November 1781 verwarf er nur „diejenigen Orden, welche dem Nächsten ganz und gar unnütz sind und darum auch nicht gottgefällig sein können, also diejenigen Orden, welche keine Jugend erziehen, keine Schule halten, keine Kranken pflegen, sondern, sowohl männliche als weibliche, bloß vitam contemplativam führen“, d. h. kurzweg deutsch gesagt, faulenzen, wobei noch zu bemerken, daß diese Faulenzerei natürlich nur auf Kosten der gläubigen Dummheit des Volkes vegetiren konnte. Selbstverständlich hat das 19. Jahrhundert Kaiser Josefs „Sacrilegium“ wieder vollauf „gutgemacht“. Oestreich ist ja heutzutage wieder so glücklich, sich ein Klösterreich nennen zu dürfen.
Der Grundgedanke von Josefs Reichsregiment war die Staatseinheit. Wollte er diese – und warum sollte er sie denn nicht wollen? – so konnte er sie nur auf der Basis deutscher Bildung und Sprache planen und anstreben. Allerdings war der Kulturgrad der Deutsch-Oestreicher von dazumal nur ein sehr mäßiger; aber wo war denn – so wir von den östreichischen Niederlanden und der Lombardei absehen – in den östreichischen Ländern zu jener Zeit, wo war in diesem Gemengsel von Bevölkerungen, welche man damals noch nicht „interessante“ nannte, sondern als halb oder auch ganz barbarische kannte, überhaupt eine andere Kultur zu finden als die deutsche? Man hat nachmals den josefinischen Staatseinheitsgedanken aufgegeben und hat an die Stelle einer folgerichtigen Weiterverwirklichung desselben „autonomistische“ Experimente gesetzt. Es dürfte jedoch fragwürdig sein, ob es dann, wann diese Experimente zu ihren Zielen gelangt sind, noch ein Oestreich geben werde.
Die größte Verfehlung des Kaisers in Führung der auswärtigen Politik ist bereits berührt worden. Bei der ungeheuren Schwierigkeit des von ihm kühn unternommenen inneren Reformwerkes, welches ein viel längeres Leben als das seinige vollauf ausgefüllt haben würde, hätte er sich doppelt hüten sollen, in die Rolle eines Eroberers und Ländererwerbers sich hineinzuträumen. Er war kein Feldherr und er war kein Diplomat, was er doch beides im hohen, im höchsten Maße hätte sein müssen, um es mit denen aufnehmen zu können, mit welchen er es bei den Versuchen, seine Träume zu verwirklichen, zu thun hatte, mit Friedrich von Preußen und Katharina von Russland. Vielleicht darf man, die Sachen nicht politisch, sondern menschlich angesehen, auch sagen, daß Josef zu gut gewesen sei, um mit jenem gekrönten Aufklärer höchster Potenz und mit dieser gekrönten Aufklärungsheuchlerin tiefster Abgefeimtheit wettlaufen zu können. Friedrich und Katharina behandelten die Menschen, wie diese es verdienten und behandelt sein wollten, d. h. sie verblendeten, verbrauchten und verachteten dieselben, und hatten darum Glück und Erfolg, wurden bestaunt und bewundert. Josef glaubte an die Menschen, liebte und behandelte sie so, als wären sie sammt und sonders so idealistisch gestimmt, so wohlmeinend, redlich und pflichttreu und aufopfernd wie er selber, und darum mißlang ihm schließlich alles und wurde er verkannt, verketzert und gehaßt. Eine Politik, die etwas ausrichten, etwas Dauerndes schaffen will, darf sich niemals die Denkfaulheit des unteren und die Selbstsucht des oberen Pöbels zugleich zu Feindinnen machen.
Josef hielt die Menschen und die Völker für viel besser, als sie waren, sind und sein können. Sie gaben ihm schmerzlich zu fühlen, daß und wie sehr er sich getäuscht. Der Abend seines Daseins war voll von Bitternissen. Er mußte Abfall und Empörung ernten, wo er Völkerglück gesäet zu haben glauben durfte. Er sah sich von Feindseligkeit, Drohung und Aufruhr überall umdräut, sah sich gezwungen, die eigene Hand zerstörerisch an den von ihm unternommenen Reichsbau zu legen. Eine seiner Lieblingsschöpfungen nach der andern mußte er stocken, zerbröckeln, zusammenstürzen sehen. Sein Sterbebett stand inmitten der Trümmer seines Werkes. Aber bis zur letzten Stunde hat der gewissenhafte „Staatsverwalter“, wie er sich selber zu nennen liebte, seine Schuldigkeit gethan: noch in der letzten Nacht seines Lebens hat er bis um 10 Uhr mit seinen Sekretären Regierungsgeschäfte erledigt. Sieben Stunden später, im Frühmorgen des 20. Februars von 1790, ist der schwergeprüfte Mann gestorben. Unverstand, Niedertracht und Bosheit hatten die Nachricht von seiner tödtlichen [824] Erkrankung mit unverhohlener Freude aufgenommen. Die ganze Rotte der Dunkelmänner jubelte auf, als es bekannt geworden, daß der Zustand des Kaisers hoffnungslos, und setzte die Spottverse in Umlauf: „Der Bauern Gott – Der Bürger Noth – Des Adels Spott – Liegt auf den Tod.“ Unverstand, Bosheit und Niedertracht verfolgten mit ihren Schmähungen und Verwünschungen den Kaiser-Befreier noch bis in seine Gruft bei den Kapuzinern hinein. Der bekannte Volksdank hat sich also auch bei dieser Gelegenheit in gewohnter Weise sehen und vernehmen lassen. Gerecht ist man dem unglücklichen Kaiser erst geworden, als er nichts mehr davon hatte, was ganz in der Ordnung, d. h. unserer bekannten „sittlichen Weltordnung“ gemäß war.
Eine der letzten Aeußerungen Josefs ist gewesen: „Ich glaube meine Pflicht als Mensch und Regent erfüllt zu haben.“ Durfte er so sprechen? Weltrichterin Geschichte, welche nicht Erfolg und Nichterfolg, sondern Verdienst und Verschuldung in gerechter Wage wägt, hat längst diese Frage bejaht, von ganzer Seele bejaht.
Noch mehr. Es war nicht nur eine pietätvolle Handlung später Reue und Sühne, als die Wiener am 15. März von 1848 dem Kaiser Josef die deutsche Fahne in den Erzarm seines Standbildes legten, sondern es war das auch eine Offenbarung von Zukunftsinstinkt. Früher oder später wird man auf die josefinische Tradition zurückkommen und den josefinischen Gedanken der Reichseinheit wieder aufnehmen müssen, wenn es noch ein Oestreich geben soll.
Welche Wege aber immer die Geschicke suchen, finden und wandeln werden, dies ist gewiß und bleibt bestehen: Niemals wird Kaiser Josef vergessen sein –
„So lange schlägt ein deutsches Herz.“
Draußen treibt der eiskalte Nordwind gespenstige Schneewirbel durch die Straßen und tiefer und tiefer hüllt er die Fluren und Felder in die weiße Wintertracht ein; – verschwunden ist für lange Monate das frische Grün von den Wiesen, verschwunden der Hochzeitsschmuck der Pflanzen, die farbenreichen Blumen. Da erfaßt die Bewohner des rauhen Nordens die Sehnsucht nach dem sonnigen Frühling; da schmücken wir unsere Zimmer mit den ewiggrünenden Kindern der südlichen Flora, freuen uns, wenn der zahme Kanarienvogel, über dem künstlichen Dickicht der Blattpflanzen, auf einer Zwergpalme sitzend, seinen schmetternden Gesang ertönen läßt, und sehen lächelnd den lüsternen Jagdversuchen des jungen Kätzchens zu. Spiegelt sich doch alsdann in unserem Zimmer, wenn auch nur unvollkommen, das bunte Treiben der lebenden Natur, welche draußen durch das unabänderliche Schicksal zum langen Winterschlaf verurtheilt wurde. Es ist ein tiefer Zug in dem Seelenleben der nordischen Völker, die Sehnsucht nach den blühenden Gefilden des Südens oder der Wiederkehr des Sommers, welche auch unsere Frauen dazu bewegt, mit zarten Händen sorgfältig den winterlichen Zimmergarten zu pflegen. Gern wollen wir sie in dieser verschönernden häuslichen Thätigkeit unterstützen und sie mit Bild und Wort auf einen bis jetzt wenig beachteten Schmuck aufmerksam machen, der unseren Wohnräumen einen besonderen friedlichen Reiz gewährt.
Noch vor zwanzig Jahren galten Palmen für theuere Seltenheiten; gegenwärtig sind sie Zimmer- und Marktpflanzen geworden, und gewisse Arten, welche sonst Hunderte von Thalern kosteten, sind jetzt für fünf bis zehn Mark zu haben, viele allgemein verbreitete noch billiger. Von den bekannten Arten verdienen diejenigen im Zimmer gezogen zu werden, welche schon jung den Wuchs des mächtigen Baumes im Kleinen vollkommen zeigen. Die Fächerpalmen mit ihren fächerartigen „Wedeln“ eignen sich zu diesem Zwecke viel besser, als die Fiederpalmen, welche nach ihren langen federartig gestalteten Blättern also benannt werden.
So zeigt beispielsweise die schöne neuholländische Fächerpalme Corypha (oder Livistona) australis sich schon von ein bis eineinhalb Fuß Höhe als Miniaturbild jener riesigen Bäume, welche wir in Palmengärten und Palmenhäusern bis zu einer Höhe von siebenzig Fuß und einem Umfange der Blätterkrone von hundertzwanzig Fuß sehen, während zehn Fuß hohe Dattelpalmen mehr einem Schilfgewächse als einer Palme gleichen.
Da der Zweck der Zimmerpalmen nur erreicht wird, wenn sie so lange wie möglich vom Wachsthume zurückgehalten werden, weil eine gegentheilige, mehr naturgemäße Behandlung die Pflanzen bald zu einer für die Wohnräume unmöglichen Größe führen würde, so muß die Behandlung im Zimmer eine ganz andere sein, als die in den Palmenhäusern. Die Grundlage derselben beschränkt sich auf zweierlei: verhältnißmäßig kleine Töpfe und seltenes Verpflanzen. Diese Beschränkung hat aber zur nothwendigen Folge, daß nahrhafte Erde und reichlich Wasser gegeben wird. Ein Verpflanzen der Bäume darf erst dann stattfinden, wenn die Palmen augenscheinlich nicht Nahrung genug mehr haben, oft austrocknen, und die neuen Blätter kleiner werden.
Will man aber kleine, noch unansehnliche Palmen schnell zu einer entsprechenden Größe bringen, so kann man in einem Sommer zwei- bis dreimal verpflanzen, sobald die Wurzeln den Topfrand erreicht haben. Hervorzuheben ist noch, daß alle Palmen viel Wasser verlangen, welches immer erwärmt, wenigstens aber abgestanden und überschlagen gegeben werden muß. Um die richtige Menge zu treffen, gieße man stets in den Untersetzer. Wird das Wasser aufgesogen, so braucht es die Pflanze, bleibt es aber stehen, so muß es nach einer Stunde abgegossen werden, von welcher Regel man nur bei heißem Wetter abweichen darf.
Neben den Palmen sind auch seit einer Reihe von Jahren Blumenampeln in die Mode gekommen, und sie bilden in der That einen reizenden Zimmer- und Salonschmuck. In manchen Häusern haben sie bereits die häufig nur zum Scheine angebrachten Lichtampeln, Kron- und Wandleuchter größtentheils verdrängt, oder man hat sie mit diesen zur Ausfüllung leerer Räume dienenden Gegenständen geschmackvoll verbunden. Da aber die Blumen darin nicht lange halten, so füllt man häufig Ampeln mit getrockneten und gefärbten Blumen oder mit Pflanzen von Blech, Glas, Porcellan oder mit Immortellen, Gräsern und Moos, welche, neu prächtig im Ansehen bald die Farbe des Staubes und des Todes zeigen.
Die Ursache der Erscheinung, daß wir so oft künstliche Blumen den natürlichen Pflanzen vorziehen, liegt wohl in der unzweckmäßigen Einrichtung der Blumengefäße. Unter zehn Ampeln sind gewiß neun fast unbrauchbar, oder so, daß die Pflanzen darin nur kurze Zeit leben können. Die Fabrikanten solcher Gefäße sollten daher diese erst brauchbarer, vor Allem nicht zu klein und flach anfertigen lassen, was sicher ihren Absatz vermehren würde. Gute und schöne Muster giebt es bereits genug, aber sie finden keine Nachahmung, und das Haschen nach neuen Formen läßt die erprobten, guten vergessen.
Außerdem muß aber unter den beliebten Zimmerpflanzen eine sorgfältige Auswahl getroffen werden, wenn man wirklichen Erfolg mit ihrer Cultur in den Ampeln erzielen will; sie müssen vor Allem die Eigenschaft haben, daß sie, von unten gesehen, einen guten Eindruck machen, also überhängen; zweitens, daß ihre Wurzeln in einem flachen Gefäße genug Nahrung finden, und drittens, daß sie den ihnen angewiesenen Standort ertragen. Von den Ampelnpflanzen verlangt man nämlich, daß sie auch fern vom Lichte in der Mitte oder an den dunklen Wänden eines Zimmers fortkommen. Häufig wird auch eine Art Unvergänglichkeit, ein langes Aushalten derselben Pflanze in einem Gefäße gewünscht, dies ist aber mehr, als die vergänglichen Blumen leisten können. Sie müssen zuweilen durch andere ersetzt werden, damit sie sich erholen, und zu diesem Zwecke sollte man immer Vorrathstöpfe im Zimmer oder Glashause cultiviren.
Von den ziemlich zahlreichen, diesem Zwecke entsprechenden Pflanzen sind besonders hervorzuheben: Sedum spathulatum, welches ein Jahr lang an einer dunklen Stelle hängen kann, überdies den ganzen Winter blüht und hohe und niedrige Temperatur verträgt; Polypodium appendiculatum; die feinblätterige Selaginella hortensis und Immergrün, Vinca minor und Vinca major, hauptsächlich für größere Ampeln.
Unter den holzartigen Pflanzen ist die Fuchsia schon vielfach zu Ampeln verwendet worden, es sind aber nur Sorten mit abwärts wachsenden Zweigen verwendbar. Einige Gärtner ziehen solche Fuchsien in Ampeln heran und hängen sie bis zum Verkauf verkehrt auf, sodaß die Zweige nach oben wachsen.
[825] Geübte Gärtner wissen sehr kunstvoll große Ampeln mit verschiedenen Pflanzen herzustellen, wie man dies z. B. im Wiesbadener Curhause sieht, es wird aber dem Dilettanten nur mit Mühe gelingen, Aehnliches zu erreichen. Wir wollen jedoch angeben, wie man am leichtesten zu solchen Ampeln kommt, die nur groß hergestellt werden können. Hier das Verfahren: Das Gestell besteht aus Draht, in Form einer plattgedrückten Kugel
oder auch Halbkugel, unten durch Ornamente, verziert. In die Mitte kommt ein durchlöchertes, napfförmiges Zinkgefäß, welches in einem wasserdichten Blechgefäße zur Aufnahme des abfließenden Gießwassers steht. Ein kleiner Hahn gestattet das Ablassen dieses Wassers nach unten. Dieses Blechgesäß wird mit verschiedenen Blumen bepflanzt, der Raum zwischen demselben und dem Drahtgeflecht dagegen mit Moos gefüllt und zur Aufnahme von hängenden Pflanzen, als Tradescantien, Selaginellen, Immergrün (Vinca) etc., benutzt. Bringt man in der Mitte des Blechgefäßes eine Art Trichter an, so können in denselben stets wechselnde abgeschnittene Blumen angebracht werden, sodaß die Ampel immer prächtig aussieht.
Hiermit beschließen wir unseren kurzen Hinweis auf die Cultur der Palmen und Ampelpflanzen, da uns leider der Raum nicht gestattet, auf diesen Gegenstand genauer einzugehen. Leser, welche dafür ein besonderes Interesse haben, verweisen wir auf das vortreffliche Buch von H. Jäger, „Zimmer- und Hausgärtnerei“, in welchem sie genügende Belehrung und ein vollständiges Verzeichniß der empfehlenswerthen Zimmerpflanzen finden werden. Unsere Aufgabe war nur, auf diesen Gegenstand, welcher einen billigen und geschmackvollen Schmuck unserer Wohnräume bildet, die allgemeine Aufmerksamkeit zu lenken, und wir glauben, hiermit das vorgesteckte Ziel erreicht zu haben.
[826]
Literaturbriefe an eine Dame.
Die deutschen Lyriker, verehrte Freundin, aus allen ihren Verschanzungen getrieben, haben sich unter den Schutz des Christbaums geflüchtet; das Christkind ist ihr letzter guter Genius, aber es verlangt von seinen Schützlingen Eleganz und Glanz der äußern Erscheinung, und so ist es denn eine schmucke Schaar von Gedichten, spielend in allen Farben von Unschuldweiß und Himmelblau bis zum brennenden Roth und dem traurigen Schwarz, alle aber funkelnd von Gold, welche unter den goldenen Aepfeln und silbernen Nüssen und den frommen Wachskerzen des Weihnachtsbaumes zur Schau ausliegen wird.
Sie kommen in allen Farben, allen Trachten; die Muse der einen ist mit dem Turban, die der andern mit dem Ritterhelm geschmückt: Sie haben die Wahl, verehrte Freundin.
Unter dem Turban grüßt Sie zuerst ein bekanntes Gesicht: das ist ja die Muse Mirza-Schaffy's, und Sie zögern nicht, sich ihr, der so anmuthig plaudernden, zuzuwenden. In der That, Friedrich Bodenstedt hat eine Sammlung westöstlicher Lyrik herausgegeben; wir werden eingeladen, auf dem Divan eines persischen Poeten Platz zu nehmen: der Dichter des Mirza-Schaffy hat die „Lieder und Sprüche des Omar Chajjam unserer Literatur angeeignet. Das war ein Stern- und Herzenskundiger, der im elften Jahrhundert nach Christus lebte und die orientalischen Forscher, sowie neue poetische Uebersetzer bereits mehrfach beschäftigt hat; Bodenstedt meint, daß viele der Verse des Omar Chajjam, die nicht in localen Beziehungen wurzeln, ebenbürtig verdeutscht und unbefangenen Hörern ohne Nennung des Namens vorgetragen, eher für unentdeckte Goethe’sche Verse würden genommen werden, als für diejenigen eines alten Persers, der achthundert Jahre vor uns lebte. Unser Perser unterscheidet sich von seinem Landgenossen Hafis und auch von dem neuen Weisheitslehrer in Tiflis durch eine etwas ernstere Miene; er ist mehr Philosoph als Verkünder einer heitern Lebensweisheit; er singt auch von „Lenz und Liebe“, doch es steht ihm nicht sonderlich zu Gesicht; er hat hierüber etwas alltägliche Gedanken; besser behagt er sich schon beim Pokale; er feiert bisweilen den Trunk mit Begeisterung und ertheilt weise Rathschläge, z. B. nur zu trinken in Gesellschaft kluger Köpfe und schöner reizvoller Geschöpfe. Doch ganz in seinem Elemente ist der Denker, wenn er sich tiefsinnig über Schein und Wesen, über die Gottheit, über menschliches Schicksal, über Welt und Leben ausspricht. Er schlägt oft Töne herben Zweifels an; nicht blos das Wissen der Menschen erscheint ihm gering, auch ihr Loos dünkt ihm beklagenswerth.
„Wo ist der Gewinn unsres Kommens und Scheidens?
Was bleibt von der Bürde unsres Hoffens und Leidens?“
Und dann sagt er wieder:
„Darf ich Dir sagen mit leisem Munde,
Als was ich den Menschen betrachte im Grunde?
Als ein elendes Geschöpf, das geknetet aus Staub lebt,
Und so lange es lebt, nur dem Kummer zum Raub lebt.“
Tapfer setzt sich der Dichter zur Wehr gegen seine Gegner; er rühmt sich seiner Lebenslust, seines freien Sinns. Sie werden sich, verehrte Freundin, gewiß an dieser Perlenschnur orientalischer Weisheit erfreuen, wenn Sie Strophe auf Strophe vorübergleiten lassen. Die Gedanken haben oft ein originelles Gepräge; die Phantasie giebt dem Poeten stets neue Bilder an die Hand, alles ist scharf, bestimmt, ohne Ueberschwenglichkeit, ohne ermüdende Wiederholungen. Die gefällige Muse Bodenstedt’s vermeidet bei der Uebertragung alles Schwerfällige und credenzt auch Tiefsinniges mit freundlicher Anmuth.
Und nun vom Turban zum Ritterhelm! Mit diesem geschmückt tritt Julius Wolff’s „Tannhäuser“ vor uns hin. Das ist ein Dichter, der sich rasch durch seine volksthümlichen Gedichte: „Der Rattenfänger von Hameln“, „Der wilde Jäger“ and andere, besonders durch die reizenden Lieder, die er in seine poetischen Texte verwebte, einen Namen gemacht hat. In seiner neuen, höchst umfangreichen Dichtung nimmt er einen höheren Anlauf: er selbst nennt sie einen Minnesang, und ihr großes Thema ist die Liebe in ihren immer wechselnden Gestalten. Dieser „Tannhäuser“ ist ein Liebesritter und die Dichtung die Chronik seiner Abenteuer, von der ersten schüchternen Jugendliebe, vom Rausch eines deutschen Minnehofes und der etwas kecken Nachahmung provençalischer Sitten bis zum Aufenthalt bei der Venus im Hörselberg. Wolff macht von dem Recht kühner Erfindung und der Verschmelzung der Sagen vollen Gebrauch: sein „Tannhäuser“ ist Niemand anders als Heinrich von Ofterdingen und zugleich der Verfasser des Nibelungenliedes. Darüber mag eine eingehende Kritik sich näher aussprechen; der Dichter brauchte zum Abschluß irgend eine entscheidende That seines Helden, und so war ihm die veraltete Meinung willkommen, welche den sagenhaften Ofterdingen zum Verfasser dieses großen Nationalepos machte.
Auch diese Dichtung, die sich bisweilen in alterthümelnden Formen gefällt, enthält einen Schatz von Liedern in allen Tonarten: einzelne naiv und jovial, wie das Spottlied auf den Kellermeister, andere sinnig und schwunghaft, die Mehrzahl Gesänge der Liebe, sanfter Schwärmerei, glühender Hingebung. Besonders schön sind die Gesänge des Sängerkrieges auf der Wartburg. Und so schlägt auch die Schilderung selbst, deren melodische Form zwischen gereimten Jamben und reimlosen Trochäen wechselt, die verschiedensten Töne an, von denen der naiv muntere dem Dichter besonders zu Gesicht steht. Es fehlt auch nicht an üppigen Bildern, besonders an dem Liebeshof; der Dichter selbst sagt in dem einleitenden Minnegruß:
„Und malt’ ich auch zu glühend seine Minne,
So denkt: was wäre Kunst wohl ohne Sinne?“
Es versteht sich überdies von selbst, daß der Hörselberg kein Vesta-Tempel ist; auch hat der Minnesang das Recht, ein Bild der Minnezeit und ihrer oft sehr freien Sitten zu entrollen.
Meine kritischen Bedenken, verehrte Freundin, treffen mehr den allzubreiten Erguß der Schilderung, die biographische Chronik, die eines „ganzen Lebens Bild“ entrollt und so die dichterische Prägnanz allzusehr vermissen läßt. Die gleichzeitigen geschichtlichen Ereignisse, an denen, wie an dem Kreuzzug und den innern Kämpfen in Deutschland, sich der Held betheiligt, werden oft mit der Trockenheit einer Reimchronik erzählt und führen uns durch poetisch öde Steppen. Und gerade durch diesen historischen Rahmen, dadurch, daß der Held, thätig und leidend, in die Mitte der Ereignisse gestellt wird, die sich im glaubwürdigen und natürlichen Zusammenhang vor uns entwickeln, werden wir dem sagenhaften Duft und Dämmer so entfremdet, daß das Wunder des Hörselberges und die ganze eigentliche Tannhäusermythe uns nicht in der rechte Stimmung finden und wir diesen so spät in die Dichtung verwebten Unbegreiflichkeiten mit berechtigtem Zweifel gegenübertreten. Der Dichter ist eben vorher zu ausführlich gewesen, und diese Breite thut auch oft der Prägnanz des dichterischen Ausdrucks Eintrag, die an andern Stellen zu voller Schönheit aufblüht.
Zu den schönsten Stellen rechnen wir die Wechselrede zwischen Heinrich von Ofterdingen und Wolfram von Eschenbach, in welcher die Poesie der Lebensfreude und diejenige des brütenden Tiefsinns in ihrem Gegensatz einen begeisterten Ausdruck finden. Dem nach den Räthseln des Daseins fragenden Wolfram erwidert Tannhäuser, daß er nicht in Gottes Heimlichkeiten dringen wolle:
„An allem haft’ ich, was die Erde
Schmückt und umkränzet lebensvoll,
Und frage nicht, woher das Werde
Am ersten aller Tage scholl.
Hier mit gewachs’nen Wurzeln stehen
Die Blumen, wo die Quelle springt;
Hier mit geschwinden Schritten gehen
Die Menschen, wo der Vogel singt.
Hier trägt mich hochgemuth zum Streite
Mein Roß, hier winkt mir Dank und Lohn,
Hier klirrt und klingt mir an der Seite
Des Schwertes Wucht, der Harfe Ton.
Ich freue mich der goldnen Siegel,
Die auf das dunkle Blau gedrückt,
Wie ihres Glanzes holder Spiegel
In schönen Augen mich entzückt.
Und jedes freundliche Begegnen,
Womit das Glück die Stunde ziert,
Und jede Freude will ich segnen,
Die mir ein Erdentag gebiert.
[827]
Hier wo die Bäume Schatten geben,
Und nicht auf luft’gen Wolkensteig,
Ruft mich die Kunst, grüßt mich das Leben
Und grünet in der Sinne Zweig.“
Naiv und humoristisch sind die Schilderungen aus dem „Stift zu Adamunt“; der Minnehof zu Avellenz und das Minnegericht athmen den leichtfertigen Ton französischer Sitte. Auf Burg Seben werden uns die Bilder deutscher Häuslichkeit vorgeführt, in den Lagunen ein Liebesabenteuer im italienischen Stil. Der Sängerkrieg auf der Wartburg, die Liebe zu Irmgard, die Begegnung zwischen dem Tannhäuser und dem Papste sind die Glanzpunkte des zweiten Theils der Dichtung. Sie werden sich an denselben sehr erfreuen, aber gewiß auch, gleich mir, bisweilen an dem manierirt altdeutschen Ton und einzelnen gänzlich unverständlichen Wendungen Anstoß nehmen.
Haben Sie einmal, verehrte Freundin, etwas von A. Fitger’s Trauerspiel „Die Hexe“ gehört? Das Stück ist über viele Bühnen mit Beifall gegangen; es verräth ohne Frage ein markiges Talent, dem nur eine gewisse herausfordernde Renommage der Freigeisterei, wie besonders in der Hauptsituation, in welcher die Heldin die Bibel zerreißt, nicht gut zu Gesichte steht. Dieser dramatische Dichter hat jetzt auch eine Sammlung lyrischer Gedichte herausgegeben: „Winternächte“. Schon der Titel derselben macht einen etwas frostigen Eindruck, und manche sind in der That von einer frierenden Gemüthsstimmung eingegeben; es herrscht in ihnen das Zähneklappern des menschlichen Elends, eine Vorliebe für die Darstellung von Existenzen, die gleichsam im Wintersturm des Lebens verweht sind. Dies tritt besonders in den „Idyllen“ hervor, in denen wir vergebens das arkadische Glück der Beschränkung suchen würden. Der schmutzige, im Schnapsgenuß untergegangene Organist, der noch einmal die Orgel meisterhaft spielt, die achtzigjährige zerlumpte Hanna Mullfuß, die, von den Straßenjungen verhöhnt, sich in’s Wasser stürzt, der verlachte Erfinder des perpetuum mobile mit den Straßenscenen, von denen der Dichter sagt:
„Schon damals wurmte der Hohn mich,
Den ein zerschellt Ideal wieherndem Pöbel entlockt –“
die alte und die junge Megäre, welche Lumpen auf der Straße sammeln, während diese von jener mit allerlei Flitter aufgeputzt wird: welche seltsamen Lebensbilder, die wie zum Hohn sich mit dem Namen der Idylle, einer den ländlichen Frieden und das behagliche Glück athmenden Dichtgattung schmücken!
Doch Arthur Fitger besitzt das Talent kräftiger Darstellung, das sich gerade dort am meisten bewährt, wo er spröde Stoffe wählt; denn er weiß auch ihnen eine poetische Leuchtkraft zu geben. Seine Dichtweise ist nicht glatt, nicht einschmeichelnd; sie ist schroff und herb, aber ihr Colorit ist markig und der Ausdruck der Gedanken oft von einer dem Gedächtniß sich einprägenden Schlagkraft.
Er liebt das Volksthümliche, wie die „Lieder vom Maurergesellen“ beweisen, und besonders die große Erzählung: „Der Meisterdieb“, die Behandlung einer alten Sage, in welcher die Kunst des genialen Diebstahls verherrlicht wird. Die Umdichtung der Sage erscheint uns aber etwas gekünstelt. Der Dieb stiehlt als das schönste Kleinod die Tochter des Königs und zuletzt den König selbst; das heißt doch die alte Ueberlieferung allzu sehr übertrumpfen.
Es geht ein eigenthümlich düsterer Zug durch diese Gedichte; schwunghaft verherrlicht der Dichter in einem Hymnus den Tod; in einer Ballade erscheint er als der dunkle Kämpe, der des zweifelnden Jünglings Fragen beantwortet, nachdem er ihn im Kampfe besiegt. Und wie den Tod, verherrlicht der Dichter die Vergessenheit:
„Du des Vergessens holde Blume,
Du schmückst, o Mohn, das Schlachtgefild,
Ein schön’rer Preis dem Heldenthume,
Als Marmelstein und Bronzebild.“
Es findet sich in den Balladen manche glückliche Pointe, in den anderen Gedichten manches originelle Bild, doch es schwebt über allem eine so aschfarbige Beleuchtung, daß auch bei dem Leser meistens eine triste Stimmung hervorgerufen wird: der Mangel an Lebensfreudigkeit, an jeder frischen Farbe wirkt ermüdend. Die Skepsis ist nicht immer edel gehalten; sie verirrt sich oft zu einem höhnischen Lachen. Manches Gedicht ist indeß tiefsinnig, manche Wendung wiederum drollig. So werden Sie, verehrte Freundin, aus den „Satanischen Fragmenten“ erfahren, wer eigentlich des Teufels Großvater gewesen ist, ein bisher unbekannter Herr, da immer nur von des Teufels Großmutter die Rede zu sein pflegt.
Einen großartigen Helden der Skepsis hat sich Gustav Kastropp in seiner umfassenden Dichtung „Kain“ gewählt, den Helden des Byron’schen dramatischen Mysteriums, den aber der neuere Dichter in einem großen epischen Gemälde behandelt hat. Die biblische Ueberlieferung ist von ihm wesentlich erweitert worden: zunächst erscheint eine Lieblingsheldin der neueren Dichter, die von Hermann Lingg, Adolf Böttger und Andern besungene Lilith, deren Taufschein nicht im alten Testament, sondern im Talmud zu suchen ist, welche als eine vorsündfluthliche „Valandinne“ in irgend einem vorzeitlichen Hörselberg den Helden in Liebesbanden hält. Nach der anderen Seite hin erstreckt sich die Dichtung bis zur Sündfluth; denn dem Brudermörder ist der Tod versagt; er irrt wie Ahasver umher, bis ihm die aufsteigenden Wasser den ersehnten Untergang bringen. Auch der Abfall Lucifer’s und der biblische Titanenkampf der höllischen Gewalten gegen den Himmel ist mit in die Dichtung verwebt.
Den eigentlichen Mittelpunkt der Handlung bildet die Liebe der beiden Brüder Kain und Abel zu Ada; sie wird auch die Veranlassung des Brudermordes, der in dem Byron’schen Mysterium wohl tiefer durch den geistigen Gegensatz und hier, wie Goethe sagt, „auf das Köstlichste“ motivirt ist.
Sie sehen, verehrte Freundin, die Dichtung hat große gedankliche Dimensionen, phantasievolle Erfindung, in der Darstellung einen ernsten und würdigen Ton; sie enthält schöne Naturschilderungen und viele liebliche Bilder, wenn auch das Dämonische nicht mit Byron’scher Tiefe erfaßt ist, wenn auch überhaupt das Idyllische das geistig Bedeutende überwiegt und hier und dort eine etwas modern bürgerliche Moral gepredigt wird.
Zum Schlusse meines Briefes weise ich Sie auf einen Dichter hin, der Ihnen ja durch die „Gartenlaube“ längst bekannt und lieb geworden ist. Die „Gedichte“ von Ernst Ziel sind in neuer sehr vermehrter Auflage erschienen; es sind Ergüsse eines ernsten, edeln und schwunghaften Dichtergeistes, der sich nicht in den bequemen Geleisen der Alltagslyrik bewegt, sondern vorzugsweise die schwierigeren Formen der höheren Dichtung wählt und beherrscht. So weiß er sinnvolle Reflexionen in das verschlungene Strophengewand der Canzonen ohne Gewaltsamkeit zu kleiden; mit rhythmischem Tactgefühl sind seine freien Strophen gebildet, wie in den hymnenartigen „Phantasien aus einer Großstadt“; andere Gedichte wie „Die Götterdämmerung“ erinnern an die Schiller’sche Dichtweise; Platen’schen Schwung athmen die trochäischen Achtfüßler „In der Metropole“. Alle diese größeren Gedichte sind gedankenvoll, voll sittlicher Weihe und Würde, während in den Familiengedichten sich ein warmes Gefühl mit Innigkeit ausspricht und in den „Bildern und Gestalten“ sowie den Balladen anmuthende Anschaulichkeit herrscht.
Sie sehen, verehrte Freundin, das deutsche Publicum darf sich über den Mangel an guten Gedichten und Dichtungen nicht beklagen, wenn sich nur nicht die Gedichte und Dichtungen oft über den Mangel an Publicum zu beklagen hätten. Auch die bekanntesten Romandichter haben diesmal dem Weihnachtstische ihren Tribut gezollt; darüber plaudere ich mit Ihnen das nächste Mal. Außerdem sammeln sich unter dem Christbaume die verschiedenartigsten literarischen Gaben, Prachtwerke wie „Spanien“, „Hellas und Rom“, geschmackvolle Aneignungen fremder Dichter, wie die von Leopold Katscher herausgegebenen „Ausgewählten Werke“ des beliebten dänischen Märchendichters Andersen, auch Vieles, was der Feder von Frauen entstammt, wie das vierte, die Classiker behandelnde Bändchen der geschmackvollen und interessanten „Musikalischen Charakterköpfe“ von La Mara und die mit Kenntniß und Geschick ausgeführten „Frauengestalten der griechischen Sage und Dichtung“ von Lina Schneider; doch ich will Sie nicht mit der Fülle der literarischen Production ermüden. Vieles, was der Tag bringt und feiert, ist ja so vergänglich, wie das Wogenspiel Ihrer Ostsee, verehrte Freundin, das sich so lärmend verkündigt und von dem nicht einmal die hochspritzenden Schaumkronen übrig bleiben, nicht einmal die verlöschenden Spuren im Sande.
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Hochzeit bei den Kalmücken. (Mit Abbildung, S. 817) In den weiten Steppen zu beiden Seiten der Wolgamündung weiden ruhelose
Nomaden, die, ein echter Zweig der Mongolen, zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts vom Westen des chinesischen Reiches ausschwärmend, theils bis zu diesem Stromgebiet vordrangen – die Kalmücken. Eine Hochzeit ist das größte Fest dieser Völkerschaft. Die Eltern des herangewachsenen Sohnes wählen für diesen eine Lebensgefährtin.
Der Vater des Heirathslustigen zieht hierauf mit Geschenken, besonders mit Wein, einem Schafe und einem Block des beliebten Ziegelthees, nach der Kibitka (Filzzelte) des Mädchens. Ein Papierpacket, einen Lederstreifen und ein Stück Fischleim, die Wahrzeichen der vollzogenen Verlobung enthaltend, wird dem künftigen Schwiegervater übergeben und von diesem vor dem Hausgötzen niedergelegt. Das Mädchen darf nicht vor dem vollendeten sechszehnten Jahr in die Ehe treten.
Am Hochzeitstage erscheint der junge Mann mit seinen Verwandten und Freunden in festlichem Aufzuge, Alle zu Pferde, vor der Kibitka seines Schwiegervaters. Im Zelte sind die Hochzeitsgaben und die Ausstattung der Braut ausgelegt.
Indessen muß der Bräutigam sich von den bewaffneten Freundinnen der Erkorenen den Eintritt durch Geschenke erkaufen. Im Zelte bemächtigt er sich der festlich geschmückten Geliebten, trägt sie hinaus, hebt sie auf das Pferd, und fort geht der Zug unter Musik und Lustbarkeiten aller Art, wie unser heutiges Bild sie zeigt, über die Steppen nach seinem Wohnsitze. Dort ist die Kibitka für das junge Paar errichtet, und dort erst wird die Trauungsceremonie vollzogen. Vor dem Eingange ist ein Teppich und auf diesem eine neue weiße Filzdecke ausgebreitet. Der junge Mann hebt sein Mädchen vom Pferde und trägt es in seinen Armen nach der Decke; so treten Beide vor den Priester, der auf einem Altar die Hausidole und eine Hammelkeule, als ein Zeichen künftigen Ueberflusses, bereit hält. Nach den üblichen Gebeten wickelt der Priester die Hammelkeule in den Schleier der Braut und läßt sie vom Mädchen mit der rechten, vom Manne mit der linken Hand festhalten.
In dieser Situation macht nun das junge Paar drei tiefe Verbeugungen, dabei sprechend: ich beuge mich zum ersten Male vor meinem Herrgott, der mir Vater und Mutter ist; ich beuge mich zum zweiten Male vor der Sonne, der Leuchte des Tages, und vor dem Monde, der mir die Nacht erhellt, und zum Dritten: wir schwören uns zu lieben und zu achten und Freud und Leid mit einander zu theilen. Darauf berührt der Priester die Häupter der also Verbundenen mit dem ersten Hausgötzen und beendet die Trauung durch abermalige Gebete.
Das junge Paar betritt nun seine Kibitka, setzt sich auf das Bett und empfängt die Glückwünsche der Hochzeitsgäste. Vor dem Beginn der mehrtägigen Festlichkeiten wird die Hammelkeule von dem Priester zerlegt und zum Verspeisen unter die Anwesenden vertheilt, der Knochen aber als ein Segenbringer für die zukünftige Familie aufbewahrt.
- ↑ Der „junge Mann“ war übrigens 39 Jahre alt. Der alte Fritz bemaß eben Josefs Alter nach seinem eigenen.
- ↑ Blücher; seine Zeit und sein Leben, 2. Aufl. I, 57.
- ↑ „Kritiken, wenn es nur keine Schmähschriften sind, sie mögen nun treffen, wen sie wollen, vom Landesfürsten bis zum untersten, sollen, besonders wenn der Verfasser seinen Namen dazu drucken läßt und sich also für die Wahrheit der Sache dadurch als Bürgen darstellt, nicht verboten werden, da es jedem Wahrheitsliebenden eine Freude sein muß, wenn ihm solche auf diesem Wege zukommt.“