Die Gartenlaube (1880)/Heft 51
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No. 51. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Der Alte schüttelt den Kopf über Strohmeyer's Greifswalder Projecte.
„Johannes, Johannes, wachst nicht über'm Dach hinaus! Ihr paßt sonst mehr in die Stube, und draußen erfriert Ihr. – Wer hoch steigt, kann tief fallen.“
Da lächelt das Mädchen überlegen, und die Augen des Vetters, welche den ihren begegnen, blitzen.
„Oheim, das verstehen Sie nicht,“ sagt er von oben herab und will sich schon erheben, als Rickmann, der von draußen gerufen wird, aufsteht und das Zimmer verläßt, nachdem er, ohne die geringste Empfindlichkeit zu zeigen, dem jungen Manne noch in wenig Worten die herzlichsten Wünsche für seine wichtige Reise mitgegeben und versichert hat, daß, wenn er nicht zum Bürgermeister müsse, er ihn heute Abend gewiß nicht verlassen würde.
Nun sind die Beiden wieder allein.
„Wie hast Du geschlafen, Dorette?“ fragt Johannes und rückt der Base näher.
„Gut,“ flüstert sie, „so gut, wie man nach einem tollen Abend schläft.“
Dann hebt sie das gluthübergossene Gesicht leise herausfordernd zu ihm auf: „Seit wann nennen Sie mich 'Du', Vetter? Es paßt sich nicht.“
„Es paßt sich doch, schöne Base,“ und er fängt sich eine ihrer Hände, um sie fest in den seinen zu halten. „Es paßt sich noch Vieles – Mund auf Mund paßt sich auch. Ich bin Dein Vetter und darf Dich küssen.“
„Laß mich los, Johannes! Du hast kein Recht zum Küssen – Vetter!“ und wie sie das Wort „Vetter“ unwillkürlich betont, fährt sie so heftig zusammen, daß er es an ihrer Hand fühlt.
„Aber gestern ließest Du den Kuß zu.“
„Du hast ihn Dir geraubt.“
„Dorette,“ beginnt er zärtlich, geht aber plötzlich in einen scherzenden Ton über: „Wenn ich von Greifswald wiederkomme, will ich Buße thun.“
Dann erhebt er sich schnell, um zu gehen.
„Leben Sie wohl, Johannes!“ sagt sie liebevoll.
Da packt es ihn noch einmal, als müsse er sie jetzt für immer an sich nehmen. Aber – es wäre zu sehr gegen seine natürlichen Grundsätze: wenn er zurückkommt, wird er ihr Alles sagen; sie wird ihm schon nicht „fortschwimmen“.
„Adieu, süße, schöne Base! Vergiß mich nicht!“
Darauf schütteln sie sich noch einmal die Hand und er geht.
Langsam kehrt sie sich von der Thür ab und setzt das Licht auf den Tisch. Lange starrt sie mit selig leuchtenden Augen hinein und verfolgt das Spiel der rothblauen Flamme, die sich bald glühend nach allen Seiten hin weitet, bald züngelnd schließt.
Dann zieht ein Schatten über ihre Stirn.
„Warum wohl das letzte Wort noch immer hinausgeschoben wird?“ denkt sie und setzt laut hinzu: „Als ob sich das Schicksal fürchtete, einem so viel Glück auf einmal zu geben. – Feige, neidvolle Macht!“
Und doch, wie glücklich ist sie! Als der Alte zurückkehrt, sieht er sie erwartungsvoll an, und als sie schweigt, blinzelt er schlau mit den treuherzigen Augen vor sich hin, als dächte er: „Ja, ja, das ist so das Beginnen der Jugend: für's Erste thun einem alten Manne nichts davon zu wissen.“
Indessen haben seine Worte einen eigenthümlich fragenden Klang, wie er ein Mal über das andere im Laufe des Abends sagt: „Was für ein groß' Glück macht doch Johannes!“
Dann antwortet Dorette hastig allerlei neckisches Zeug, da sie recht gut merkt, wo der Vater hinaus will. Es reizt sie, daß er zu denken scheint, es sei schon Alles im Reinen zwischen ihr und Johannes, und eben deswegen thut sie unwillkürlich, als wolle sie ihr süßes Geheimniß durch lustige Narrheiten verbergen. Merkwürdig, mit welcher List sie dieses Spiel betreibt, als sei ihr des Vaters Glaube Bürgschaft der Erfüllung! Merkwürdig auch, wie sie dann, als der Alte wieder vor ihr zur Schlafkammer geht, mit der Zuversicht leidenschaftlicher Liebe in der Rückerinnerung dieses Abends und in schmeichelnden Zukunftsträumen schwelgt! –
Eine Woche später trifft Dorette Johanne Seiler in der Stadt.
„Nun, Mädchen, wie war es gestern Abend? Du scheinst ja noch ganz gelassen,“ wird sie von der Freundin angeredet.
„Gestern Abend? Es spukt wohl bei Dir, Johanne?“
„Ist er denn nicht bei Dir gewesen?“
„Hanne, wo fehlt Dir's? Er ist ja noch gar nicht zurück. Er meinte, wenn er die Stelle bekäm', würde er dort länger aufgehalten werden. Hanne, Mädchen, wie fügt sich doch Alles günstig! Ich bin ...
[830] „Aber, Kind,“ fällt ihr Johanne in’s Wort, „hier ist er. Ich habe ihn selbst gestern gesehen.“
„Wo?“ fragt Dorette auffahrend.
„Um Gott, Doring, Du erschreckst mich ja mit Deinem Gesicht. Ich meine, es war auf dem alten Markt; er schien wunderbar eilig und sah mich kaum an, als er grüßte.“
Dorette ist ganz blaß geworden.
„Dann hat er die Stelle nicht bekommen,“ sagte sie ärgerlich. „Aber warum nicht, begreif’ ich nicht. Der Präpositus oder der Pastor von Sanct Jacobi muß ein Pinsel sein. Aber kommen hätte er doch können,“ und sie stampft zornig mit dem Fuße auf. „Das ist sein Stolz und Ehrgeiz, daß er nicht kam. Nun, mir ist es gleich – es ist mir nur für ihn leid, daß er unverrichteter Sach’ zurückkommt. Mir ist es Vaters wegen gar nicht so sehr um’s Bald-Heirathen. Und wir werden schon anderswo ankommen; denn das kannst Du nicht bestreiten, seine Person hat ’was Großes und Bestechliches, wo er nur hinkommt.“
„Ja, man sieht, daß er gescheut ist.“
„Neulich auf Euerm Ball spielte er auch die erste Violine und war doch dem Stand’ nach der Niedrigste,“ fährt Dorette hastig beredt fort. „Es ist gut, wenn ein Mann Alles sich selbst verdankt. Was, Hanne: wie arm und ungraziös machte sich die Aufführung Eurer anderen Herrlein, wenn man sie mit ihm verglich! Aber ich will eilen, daß ich nach Haus’ komme; er könnte da sein! Hanning ... nein, laß nur, adieu!“ – – –
Johannes läßt sich bei Rickmann’s nicht blicken.
„Vating, gehen Sie doch mal zu ihm!“ bittet am Abend des dritten Tages Dorette. „Ich weiß, daß er in der Stadt ist; er muß krank sein.“
„Gott woll’ uns gnädig bewahren! Warum redest Du denn nicht eher, Doring?“ ruft der Alte und macht sich zum Ausgehen bereit. Aber noch ist er nicht völlig fertig, als die Hausthür geht. Dorette ist gerade auf dem Flure. Sie erkennt Johannes sofort, obgleich es fast völlig dunkel ist.
„Guten Abend, Johannes!“ Dann ist es mehrere Secunden todtenstill; denn Johannes antwortet nicht gleich.
„Guten Abend, Dorette! Sind Sie’s, Base?“
Seine Stimme klingt unsicher und gekünstelt.
„Wir haben Sie eher erwartet,“ sagt sie beklommen.
„Eher!“ und ein wunderlich kurzes Lachen trifft das Ohr des Mädchens; dann sagt er hastig, wie obenhin: „Ich – ich hatte recht viel zu thun, wissen Sie“ – und sie merkt wohl, wie er das „Sie“ halb verschluckt – „ich bin ja auch erst eben zurückgekehrt. O, es giebt entsetzlich viel Geschäfte,“ setzt er dann noch unnatürlich laut und recht breitspurig hinzu.
Diesmal weiß Dorette nichts mehr zu erwidern; mit langsamen, abgemessenen Schritten, als verlöre sie bei jeder anderen Bewegung das Gleichgewicht, geht sie ihm in’s Zimmer voran.
„Na, Johannes, da seid Ihr ja glücklich wieder heim!“ begrüßt ihn der Alte. „Eben zog ich mir schon die Stiefeln an, um zu Euch zu gehen; wir dachten, es sei Euch was Uebles begegnet.“
„Guten Abend, Ohm.“ Und Johannes reckt sich zu seiner ganzen Höhe auf, als er dem Alten die Hand giebt. Dann setzt er sich, ohne einen Blick auf Dorette, in die erste beste Ecke nieder. Seine Augenbrauen ziehen sich seltsam zusammen, und er wechselt mehr denn einmal die Farbe.
„Nun,“ fängt er endlich langsam an, „wie ist es Ihnen die Zeit über gegangen, Ohm?“
„Uns – o, uns, wie immer,“ antwortet Rickmann und steht ganz verwirrt da; „aber Euch, Johannes! Ihr müßt nun erzählen! Ihr habt sie doch, die Stelle?“
„Ja, ich habe sie,“ antwortet die schneidende Stimme des jungen Mannes; die Worte kommen ihm nur langsam von den Lippen, „und alles lebende und todte Inventar dazu!“
„Schön, schön, um so viel besser, mein Sohn! Also eine zugerichtete Amtswohnung hat der Organist zu Sanct Jacobi? Es wundert mich nur, daß alle die Trödelei mit der Uebergabe so gar schnell gegangen ist.“
„O,“ antwortet Johannes höhnisch, „das machen der Herr Pastor und Präpositus Alles ab!“
Dorette hat sich Johannes gegenüber gesetzt; nur die Länge des Tisches und das kleine flackernde Licht, das auf ihm brennt, ist zwischen ihnen. Unsicher fällt sein Schein auf ihr Gesicht, das eine tödtliche Angst ausdrückt. Sie meint, der Wahnsinn laure hinter des Vetters abgebrochenen Worten, und ein Gemisch von Entsetzen und kaum dagewesenem Mitleid brennt aus ihren Augen, die fest auf ihn gerichtet sind.
„Aber mein Sohn,“ sagt der Thorschreiber, der sich zu den Beiden gesetzt hat; „seid Ihr denn mit Allem zufrieden?“
Johannes wendet sich, als wolle er Dorette ansehen, kehrt sich aber schnell wieder ab; dann richtet er sich etwas auf und erwidert: „Danach wird nicht gefragt, wenn man vorwärts will im Leben. Ich wollte Ihnen doch nur sagen, Ihnen – und – der Base – daß ich auch die Wittwe des weiland Organisten mit übernommen habe.“
Er rückt etwas hin und her und versucht zu lächeln, ist aber todtenbleich geworden. Der Thorschreiber merkt noch immer Nichts.
„Es kann Euch freilich lästig werden,“ meint er, „aber es wird ja wohl ein ruhig und still Frauchen sein. Eine Stube und Kammer müßt Ihr freilich hergeben.“
Da steht Johannes auf. „Oheim, so ist es nicht gemeint. Ich habe mich verpflichtet, sie zu heirathen. Man nennt das die ,Conservation der Wittwe’. Hier ist ein Schreiben – ein offenes Schreiben an den Generalsuperintendenten, der zur Zeit auf Revision ist und nächster Tage nach Stralsund kommt. Darin können Sie’s nachlesen; es ist vom Herrn Präpositus. Ich lasse es bis morgen hier.“
„Johannes, Ihr macht keine guten Witze!“ stammelte der Alte.
„Es ist kein Witz, Oheim. Nicht jede Mahlzeit wird uns appetitlich gedeckt. Ja – warum verwundern Sie sich, Oheim? Was blieb mir anders übrig? So – so – ist das Leben, Base.“
Mit einer gewaltigen Anstrengung dreht sich Johannes um und sieht zum ersten Mal an diesem Abend Doretten in’s Gesicht. Aber der Thorschreiber sieht sein Kind nicht an; er starrt auf Johannes; dann steht er auf und verläßt das Zimmer.
An der Thür ballt er die Faust. „Gott verdamme den Schurken!“ murmelt er – aber Keiner beachtet es. Johannes wollte auch, er wäre bereits draußen. Dorette ist auf den Stuhl zurückgesunken und ihre Hände krampfen sich gegen den Tisch; sie sieht Johannes nicht an; auch rührt sie sich nicht; als wäre sie im Augenblick eines rasenden Schmerzes versteinert, sitzt sie da.
„Dorette!“ ruft er endlich.
Leise zuckt es über ihr Gesicht.
„Es war – Uebereilung. Was sollte ich thun –?“
Ein stechender Blick fliegt zu ihm hinüber.
„Ich wußte nicht, daß“ ... er macht eine kleine Pause – „daß es Dir so nahe ginge!“
Da springt sie empor und steht wieder vor ihm, wie damals, da er sie zuerst sah, nur daß ihr bleiches Gesicht im Zorne aufflammt; ihre Augen messen ihn, wie an jenem Abend.
„Sie sind ein Unverschämter,“ sagt sie mit der Ruhe und Kälte der Verzweiflung. „Denken Sie vielleicht, ich hätte Sie zum Manne genommen? Ich habe mit Ihnen gespielt, wie mit den Anderen, und Sie spielten mit mir; warum auch nicht? Ich verbitte mir Ihre mitleidige Tonart. Wir haben einander nichts vorzuwerfen.“
„Dann ist ja Alles gut, Base! Gute Nacht!“
Und schon hat er den Drücker der Thür erfaßt, um zu gehen, da wird sein Arm von zwei bebenden Händen umklammert und zwei wahnsinnige Augen glühen voll tödtlichsten Hasses und tödtlichster Liebe zu ihm empor.
„Ich hatte vergessen, Ihnen zu gratuliren,“ raunt ihm Dorette zu. Da macht er Miene, ihre Hand zu fassen; er will diese Hand küssen; er will vor dem Mädchen niedersinken und um Gnade bitten; aber, als ahnte sie es, reißt sie sich plötzlich von ihm los und läßt ihn, wie im Abscheu, fahren.
„Gehen Sie!“
Die Thür fällt hinter ihm in’s Schloß.
Minuten vergehen, ehe Dorette ein Lebenszeichen von sich giebt; dann stürzt sie ächzend zu Boden und umklammert den Stuhl, auf dem er gesessen hat.
Unterdessen entfernt sich Johannes hastigen Schrittes vom Hause, aber er kehrt nicht in die Stadt zurück; er geht zum Fährthor hinaus; denn er muß Luft haben. Weiter und weiter stürmt er in die Nacht hinein, und zuletzt steht er auf derselben Brücke, auf der an einem sonnigen Frühlingsnachmittage Dorette Rickmann stand und bei sich selber sprach: „Ich möchte wissen, wie die Liebe ist.“
[831] Düstere Wolken ziehen über den Himmel; nur manchmal tritt der Mond grell hervor und gießt einen zitternden Schein über das schwarze Wasser. Johannes lehnt am Geländer und blickt in die Wogen hinab. Er möchte einen Strich unter die Vergangenheit machen, und doch läßt sie ihn nicht los.
„Es muß im Blute liegen, daß man an einem Tage so anders fühlt, als am anderen; es wird vorüber gehen.“
Und dann tauchen plötzlich wieder die Vorgänge zu Greifswald in seinem Geiste auf, als durchlebte er sie noch einmal: Wieder geht er den Rubenow-Platz auf und ab, an dem altmächtigen Universitätsgebäude und der Jacobi-Kirche vorüber und sagt sich, daß er es sein wird, dessen Orgelspiel in den nächsten Jahren berühmte und erleuchtete Magister und begeisterungsfrische Jünglinge der vornehmen Hochschule lauschen werden. Und wieder läßt er sich von dem alten Custos Marianus, der ihm weitläufig verwandt ist, vorrechnen, was die Organistenstelle an St. Jacobi bringt. Es ist viel, mehr, als er verbrauchen kann, auch wenn er bald heirathet; davon läßt sich zurücklegen zu einem Orgelcursus in Berlin oder Dresden und zu weiteren Unternehmungen.
Endlich geht er zum Herrn Pastor selbst und stellt sich ihm vor. Der originelle alte Herr empfängt ihn zuvorkommend freundlich und wird im Laufe ihrer gegenseitigen Unterhaltung immer herzlicher. Darauf läßt er ihn in Gegenwart des Herrn Präpositus und einiger alter Magister in der Kirche die Probe singen und überzeugt sich von seinen Fähigkeiten auf der Orgel. Diese ist ein selten schönes Instrument. Johannes kann sich nicht satt daran hören und fühlt sich zum ersten Mal in seinem Leben über sich selbst emporgehoben. Dann aber, als er sich nach beendetem Spiel noch einen Augenblick tief aufathmend über die Tastatur beugt, glaubt er ein dumpf getragenes Brausen zu vernehmen. Es quillt nicht aus der Orgel hervor; sie ist verhallt; es steigt aus seiner eigenen Brust herauf, und dennoch vernimmt er es wie eine Fluth fern anbrandender Töne: das Meer der Welt schlägt in allmächtigem Ruf an seine ehrgeizige Seele.
Mit dem Bewußtsein einer großen Zukunft erhebt er sich und wird von den im Schiffe seiner Harrenden theils mit gemessener Würde, theils feurig und herzlich anerkennend beglückwünscht. Auch erfährt er, daß in Zukunft an St. Jacobi die Küsterei von der Organistenstelle getrennt sein wird, und höher, denn zuvor, erhebt Johannes sein Haupt: keine kleinlichen Dienste werden also von ihm gefordert, und es wird ihm vollauf Zeit bleiben, hier den Contrapunkt und das weitere Wesen der Composition zu studiren, wozu ihm auf seinen Reisen Ruhe und Gelegenheit gefehlt haben. Mit jedem Schritt, den er auf dem Greifswalder Pflaster thut, erschließen sich ihm neue ungeahnte Vortheile.
Sobald er wieder in die Wohnung des Pastors zurückgekehrt ist, werden endgültig die gegenseitigen Bedingungen zum äußeren Abschlusse des Geschäftes erörtert. Alles ist schon bis zur Unterschrift fertig, und Johannes wüßte nicht, daß er irgend etwas in den vorgelegten Bestimmungen anders wünschen könnte. Er ist sich überhaupt nur des einen Wunsches bewußt, so bald als möglich seine Ernennung zum Organisten in Händen zu haben. Da sagt der geistliche Herr behäbig:
„Und nun noch Eines, mein lieber Organiste in spe: es betrifft die Conservation der Wittwe; sie ist eine sanfte, liebenswürdige Frau, sodaß Er in dieser Sache gar nicht so gar schlecht fährt. Sie ist mein Beichtkind von altersher, und bei dem Tode ihres seligen Eheherrn habe ich ihr zugesagt, ich wolle die Vacanz nur durch Den beseitigen, der sich nach gegebener Formel des onus conservationis schwarz auf weiß bei mir vereidigte, sie zu freien. Setze Er sich also flugs nieder und schreibe! Die Frau ist zwar etwas kränklich, aber fleißig und sparsam und bringt Ihm ein ansehnlich Vermögen und nur ein Kind, ein Mädchen von sieben Jahren zu. Will Er aber, wie mir scheint, die Katze nicht im Sack kaufen, so geh' Er hinüber und sehe sich das Frauenzimmerchen an!“
„Es wäre mir lieb,“ sagt Johannes vollständig gefühllos und verabschiedet sich vorläufig.
Als er unten die Dom-Straße betritt, tanzen die Gegenstände bunt vor seinen Augen. „Die Stelle! Die Stelle!“ Alle Fibern seines Gehirns drängen diesem einen Gedanken entgegen und halten ihn fest umklammert. Aber – kann er denn von Dorette lassen? Doch sein Herz ist wie todt und leer; nur der gewaltige Ruf der Welt dröhnt durch seine Brust, wie durch eine verödete Stätte. „Die Stelle! Die Stelle!“ Es ist sein einziger Gedanke. Sogleich kann er sie nicht fahren lassen; wenigstes hinübergehen muß er. Und er geht und findet in der Wohnung des verstorbenen Küsters und Organisten eine blasse Frau mit hektischen Flecken auf den Wangen und krankhaft glänzenden Augen. Sie hat schon von seiner Ankunft gehört und empfängt ihn ohne Weiteres als Denjenigen, welcher sie heirathen wird.
„Sie werden ein bequemes und sorgsames Wesen an mir finden. Ich habe meinem seligen Caspar das Leben auch nicht schwer gemacht,“ sagt sie. „Und das Kind ist auch gut. Das Geld steht bei der schwedischen Bank und ist Alles wohlangelegt.“
Er verhält sich starr und schweigsam und ist noch nicht im Stande, sich gleich entscheidend zu äußern. Aber je mehr er in den folgenden Stunden die Sache überlegt, desto annehmbarer scheint ihm Alles. Wohl tritt Dorette's schönes Bild noch schmeichelnd und lockend vor seine Seele, aber mit kräftigem Entschluß drängt er die gaukelnde Gestalt zurück. Die Neigung zu ihr war ein Jünglingstraum, eine rasch verwelkende Blume des heißen Sommers, an der er sich wohl kurze Zeit berauschen konnte, die ihn jetzt aber nichts weiter angeht; denn – er muß vorwärts. So geschieht es, daß er der blassen Frau die Hand zur Verlobung reicht und sie zum Zeichen der Vereinigung einen Ring, den sie aus verschlossenem Kasten holt, an seinen Finger schiebt.
„Und Sie schicken mir einen Ring, sobald es Ihnen möglich ist, von Stralsund aus,“ sagt sie, „damit ich beweisen kann, daß wir versprochen sind!“
Er sagt es zu und küßt das kleine Mädchen, das sie ihm als ihr Kind vorstellt, zum Abschied auf die Stirn. Dann geht er zum Pastor und – schreibt.
Damals kam ihm dies Alles so natürlich vor; warum jetzt nicht mehr? Was hat er denn verloren? Die Ehre? Er hat Doretten nie ein Wort gesagt, das ihn bände. Die Ruhe des Gewissens? Die Base wird sich trösten. Das Glück? Ein oft genannter Mann sein, seine Gaben verwerthen, die Mittel einer sorgenfreien Existenz besitzen – ja, das ist Glück, und doch, das Glück hat er verloren, das Glück, das Glück!
Schauerlich braust der Nachtwind über die offene Bucht; wie ein klaffendes Grab gähnt die gepeitschte Fluth zu seinen Füßen. Laut seufzend, mit unsicheren Schritten verläßt er die Brücke und kehrt zur Stadt zurück. Er will nicht durch das Fährthor die gewohnte Straße hinaufgehen, und doch zieht es ihn unwiderstehlich auf diesen Weg. Als er an des Thorschreibers Haus vorüber muß, sieht er, wie eben eine kleine Gestalt in der Thür verschwindet; das ist der alte Mann, der nicht mit ihm unter einem Dache sein wollte, und der ihn manchmal „mein Sohn“ genannt hat. Ihm ist weh zu Muth. Nun wird sie sich an der Brust des Vaters ausweinen, und er steht draußen. Fast packte ihn ein Grimm gegen den alten Mann, der das Mädchen, welches er geküßt und verlassen hat, jetzt in seinen Armen hält; denn nie ist ihm Dorette begehrenswerther erschienen, als heute Abend, wo sie so stolz vor ihm stand, ihn mit harten lügnerischen Worten von sich wies und sich dann in der ganzen Gluth ihrer jungen, empörten Liebe vor ihm bloßstellte; nie hat er sie so geliebt, wie jetzt, wo er sie für immer verloren hat. Sein Blut kocht, und zugleich schüttelt ihn der Frost; heute erst weiß er, was es heißt, ein Mädchen lieben – und drüben in Greifswald hat er seine Ehre verpfändet.
Er irrt sich aber, wenn er denkt. daß Dorette jetzt schluchzend am Herzen ihres Vaters liegt. Das ist nicht ihre Art; selbst heute nicht. Als sie den Vater kommen hörte, rafft sie sich auf von der Stelle, an welcher sie niedergesunken war. Nun verräth kein Wort, keine Thräne, was in ihr vorgeht. Trotzdem weiß es der Alte, und es schnürt ihm das Herz zusammen; er sieht es nicht an ihrem entstellten Gesicht; denn er fürchtet sich noch immer, ihr in die Augen zu schauen; er sieht es an dem wankenden Gange und den zitternden Fingern des Mädchens und an ihren puppenartigen Bewegungen. Johannes' Name wird nicht zwischen ihnen genannt; schweigend gehen sie neben einander her; nur der Alte seufzt manchmal dumpf auf.
Erst als Dorette hinausgeht, um, wie er meint, das Nöthige in der Wirthschaft zu besorgen, langt er den unseligen Brief hervor, den ihm Johannes gab: da steht es denn schwarz auf weiß, daß Johannes Strohmeyer dem königlich schwedischen Generalsuperintendenten von Greifswald, zur Zeit auf Reisen, zur gefälligen Confirmation überwiesen werde. Er habe die Probe gesungen, ein vorzügliches Orgelspiel vernehmen lassen und sei in allen Stücken [832] für gut befunden worden. Außerdem hätten seine Vernunft, seine Einsicht und sein gutes Herz aus allen Reden hervorgeleuchtet. Auch sei ihm das onus conservationis auf's Nachdrücklichste vorgestellt worden und sein darauf bezüglicher Entschluß sei an Eides Statt von ihm niedergesetzt und folge hiermit im Original bei, das er, der Präpositus, den Herrn Generalsuperintendenten ersuche, ihm ganz gefälligst direct wieder zuzustellen, auf daß er es zu den Acten thun und bei der Institution der Gemeinde vorlegen könne. Dies Alles liest Rickmann mit der fieberhaften Begier, es ganz zu fassen, aber die Buchstaben verwirren sich vor seinen Augen, und der Stil ist ihm unverständlich; er will versuchen, die Brillengläser zu putzen, aber das herabgefallene Tuch, das er dazu von der Erde aufnimmt, ist naß, wie durch's Wasser gezogen.
Er hatte es vorhin in der Erregung nicht mit sich genommen, und Jemand Anderes muß es in seiner Abwesenheit benutzt haben.
„Heiliger Gott, was hast Du mit meinem Kinde gemacht!“ stöhnt Rickmann und wischt mit dem Rockzipfel die Brille.
Aber auch durch die blankgeputzte Brille begreift er nicht mehr von Dem, was der Präpositus geschrieben hat, als vorher. Erst als ihm die folgende Beilage, welche Johannes' eigene Schriftzüge trägt, in die Hand kommt, geht ihm ein klares Licht auf, das sich aber durch zwei bittere Thränen, die schwer wie Schweißtropfen niederfallen, trübt.
„Ich, Karl Wilhelm Johannes Strohmeyer,“ heißt es in dem Schreiben, „bezeuge hierdurch, daß ich den Organistendienst hierselbst suche und mich bei meiner Ehre anheischig mache, des hiesigen Küsters und Organisten seligen Frederick's Wittwe zu ehelichen, widrigenfalls ich mich dieser Ehre für verlustig erkläre, und wenn ich gleich schon zum Dienste gelangt sein sollte, mich alles Rechts und Anspruchs daraus gänzlich bar ansehe.“
Dann folgen noch Ort und Datum, aber der Thorschreiber liest nicht weiter. Er faltet die Papiere heftig wieder zusammen und wickelt sie in einen großen Bogen. Morgen in aller Frühe wird er sie Johannes hintragen; denn er will nicht, daß Dieser noch einmal seine Schwelle betritt.
Dann wartet er, bis Dorette hereinkommt; aber er muß lange warten. Noch sitzt sie draußen auf dem Herde, zusammengekrümmt wie ein angeschossenes Thier des Waldes. Immer unregelmäßiger werden die Schläge ihres Herzens; immer verworrener und bleierner ihre Gedanken; denn sie blutet ja aus tausend Wunden. Endlich stößt sie einen Schrei aus, so wild und herzzerreißend, daß er von der Mauer widerhallt und sie, entsetzt vor sich selber, emporhebt.
Da ringt sie die Hände und schreit abermals, und es ist, als würde ihr leichter in tiefster Seele – und wenn sie nicht schaudernd an ihren Vater dächte, würde sie fort und fort schreien, bis ihr ganz leicht würde und sie todt zu Boden fiele. So aber kommt ein eiserner Wille über sie, daß sie aufsteht und hineingeht.
Reichlich ein Monat ist seit diesem Abend verflossen. Dorette ist im Hause beschäftgt; denn es ist Vormittag und der Thorschreiber muß pünktlich zu Mittag essen.
Wer Dorette Rickmann vor einem Vierteljahre sah, als die Herbstlüfte um Stralsund wehten, der wurde glauben gemacht, daß jedes Herz seine besondere Jahreszeit hat, und wer sie heute sieht, der muß meinen, daß jeder einzelne Mensch auch eine selbstständige Zeitrechnung hat; es scheint ihm nicht möglich, daß erst ein Monat verging, seit Johannes Strohmeyer zuletzt in diesem Hause war.
Dorette hat es eilig, und die Dinge gehen auch vorwärts, wenn sie arbeitet; aber was sie auch thut, alle ihre Hantirungen sehen aus, als wären sie schmerzhaft müde, als hätte sie viele, viele Nächte nicht geschlafen. War sie früher schlank, so ist sie jetzt mager. Der ewige Wechsel in dem Ausdrucke ihres Gesichtes ist verschwunden; dieses Gesicht hat nur noch einen Ausdruck – und das ist der Ausdruck bitteren Spottes.
Nein, es ist nicht wahr, daß seit jenem Abend erst ein einziger Monat in's Land ging – es ist lange, lange, unendlich lange her. Aber wenn wir sie frügen, wann es war, so würde sie sagen: „gestern Abend.“ Vielleicht, weil es eine gute alte Gewohnheit war, zu sagen: „gestern Abend“ – vielleicht auch, weil sie seitdem nichts weiter erlebt hat. Nur aus der Ferne hat sie gehört, daß Johannes Stralsund für immer verlassen hat, daß seine Confirmation hierorts vollzogen wurde und daß er nun in Greifswald auf den Ruf zur Einsetzung in's Organistenamt wartet.
Aber es hat sie kalt gelassen – das Alles sind keine Erlebnisse mehr für sie. Sie weiß, daß in der Stadt viel über Johannes und sie gesprochen wird, und deshalb hält sie sich meist zu Hause. Aber wenn sie doch unter Leute geht, ist sie bitter und unliebenswürdig. Sie hätte die Kraft, sich besser zu beherrschen, aber sie hält es nicht für der Mühe werth.
Sie liest fast gar nicht mehr; die Bücher, die ihr Johannes schenkte, liegen oben in der Truhe bei dem weißen Einsegnungs- und Ballkleide – und vor der Truhe, zertreten und zerstreut, liegen welke Rosenblätter. Ihre einzige Rettung sind das Hauswesen und die Pflege des Alten.
Jetzt ist es gleich zwölf Uhr. Dorette hebt die Speisen vom Feuer und trägt sie hinein. Da kommt auch schon ihr Vater, aber er kommt nicht allein. Er nöthigt einen weißhaarigen, alten Herrn vor sich her in's Zimmer. Mit dem greisenhaften Lächeln, das sich der Thorschreiber in den letzten Wochen angewöhnt hat, bittet er den Fremden, ihm doch die Ehre anzuthun, hier Platz zu nehmen. Dieser sieht mit kleinen, hellblickenden Augen bald auf Rickmann, bald auf Dorette.
„Er ist also der Thorschreiber Rickmann, und dies hier ist Seine Tochter?“ hebt er endlich an. während sein Blick prüfend auf Doretten haften bleibt.
„Ja, Euer Hochedeln, die sind wir.“
„Und ein Johannes Strohmeyer ist mit Ihm verwandt?“
Ein böses Lächeln tritt auf die zugespitzten Lippen des Mädchens, als wollte sie sagen: „Was nun noch?“ Aber sie hält die Musterung des alten Herrn ruhig aus; die Farbe ihres Gesichts wird noch um einen Schein blasser; sonst steht sie wie aus Erz gegossen da.
Doch ihres Vaters Lippen zittern, als er mit einem kurzen „Ja“ antwortet.
„Und Er will Einsprache erheben, daß dieser Johannes Strohmeyer, der bereits vom Herrn Generalsuperintendenten confirmirt wurde und am nächsten Sonntag in das Organistenamt, das er begehrt hat, instituirt werden soll, daß dieser Strohmeyer, sage ich, des Cantors Frederick Wittwe eheliche – wie?“
„Wer sagt das, Herr?“ fährt der Thorschreiber zornig auf. „Ich bin nicht sein Vormund; mag der Strohmeyer thun, wozu ihn der Teufel verführt! Herr du meines Lebens, auch das noch!“
„Ich verbitte mir Schmähungen über denjenigen, den ich mir zum Organisten erwählt habe!“ sagt der Fremde mit Nachdruck. „Es handelt sich hier nur –“
„Wer hat das gesagt?“ unterbricht ihn Rickmann. „Ich bitte Eure Hochehrwürden um Vergebung, aber welcher Mensch hat mich so verleumdet? Welcher? Welcher hat das gesagt?“
„Sei Er nicht so heftig, Alter!“
„Warum soll ich nicht heftig werden Herr? Weil ich ein gemeiner Mann bin, und Ihr ein geistlicher Herr?“
Der Pastor erhebt sich:
„Es handelt sich hier um weiter nichts – diese fatale Historie hat mich schon Noth und Mühe genug gekostet, bis ich mich entschlossen habe und bin selber hierher gereist an die Brutstätte des Geklätsches; darum erschwer' Er mir die Angelegenheit nicht! Hier handelt es sich um weiter nichts, als ob besagter Johannes Strohmeyer gewiß und wahrhaftig mit Seiner Tochter, der Jungfer Dorette Rickmann, versprochen war, und ob Er Einspruch thun will, daß derselbe sich anderweit vereheliche, wie mir durch einen Stralsunder Schulmeister, der auch wegen des vacanten Dienstes bei mir war, zu Ohren gekommen ist?“
Da tritt Dorette vor.
„Hochehrwürden,“ sagt sie, und ein kalter Hohn klingt durch ihre Worte, „zwischen mir und meinem Vetter, Johannes Strohmeyer, hat nie ein Verlöbniß stattgefunden. Mein Vater kann es Ihnen schwarz auf weiß geben, auf daß Sie es auch zu den Acten legen, gleich anderen Schriften, die an Eides Statt geschrieben worden sind.“
„Ja, Euer Hochehrwürden, das will ich. Das ist eine ausgesponnene Lüge, und Niemand kann sagen, daß Johannes Strohmeyer des Thorschreibers Tochter hat sitzen lassen,“ erwidert nun seinerseits der aufgebrachte Alte, dem es ganz entgangen ist, daß Dorette auf das dem Schreiben des Präpositus, beigefügte Document von Johannes' Hand angespielt und also damals doch den offenen
[833][834] Brief gelesen hat, ehe er ihn früh Morgens zu seinem Neffen trug. –
Der Pastor athmet erleichtert auf.
„So ist die Sache beigelegt,“ sagt er, „ich habe jetzt noch andere Geschäfte in der Stadt; heute Nachmittag, lieber Rickmann, komme ich wieder vor und hole mir Sein Papier ab. Adieu, meine Tochter!“
„Adieu, Hochehrwürden,“ antwortet Dorette, einen kalten Blick unter den dunklen Wimpern hervorschießend, und nimmt eine Miene an, als spräche sie auch zu dem geistlichen Herrn, wie einst zu jemand Anderem: „Wir sind Königinnen!“
„Gott befohlen, Alter! Und laß Er sich die Sache nicht so zu Herzen und in das Oberstübchen gehen! Sein Vetterssohn, der Strohmeyer, ist ein gar lieber und wackerer junger Mann.“
Die Lippen des Thorschreibers pressen sich fest auf einander, und er verbeugt sich tief, tiefer denn je, aber seine Glieder beben leise. Nachdem aber der Herr Pastor fort ist und Rickmann eine Weile stumm dagesessen hat, sagt er:
„Doring – ich muß wohl schreiben?“
„Ja, Vater. Hier ist ein weißer Bogen; die Feder thut’s auch noch, und da liegt die Brille.“
„Aber wie soll ich denn schreiben? Ja, wenn man schriebe, gleich wie man spricht; das Donnerwetter sollte sie –! Aber den Stil da bring’ ich nimmer heraus.“
„Schreiben Sie, wie Sie denken, Vater! Für die Sorte ist jeder Stil gut genug; nur sagen Sie, daß nie ein Verlöbniß zwischen mir und – ihm war.“
Und der Alte holt sich den Bogen näher heran, setzt die Brille auf und kaut an der Feder. Plötzlich aber taucht er ein und schreibt; eine dunkle Gluth steigt ihm zu Kopf, während er mühsam Folgendes zu Papier bringt:
„Ich, Unterschriebener, bezeuge hierdurch, daß solche Worte, die da sollen gesprochen sein und von Johannes Strohmeyer darum befraget worden sind, dieweil er sich mit der Wittwe als Küsterin zusammen verehelichen und den Dienst zu Sanct Jacobi in Greifswald antreten will, daß solche Worte nicht gesprochen worden sind, wir wollten darauf Einspruch thun. Es sind solche Gedanken niemals eingefallen und ist auch kein Verlöbniß gehalten worden. Das wäre ein Unverstand von uns, wenn wir solches anfangen wollten. Aber derjenigte, der diese Worte in Anderer Mund gebracht hat, von Einspruch thun, denjenigen halte ich vor des Teufels und einen Windbeutel.
Als der Alte mit diesem Zeilen fertig ist, liest er sie noch zweimal aufmerksam durch, dann ruft er Dorette, die aus der Tiefe des Zimmers herantritt. Sie nimmt den Bogen in die Hand und liest auch. Aber sie lächelt nicht, wie sie wohl früher gethan haben würde, über die ungelenke alterthümliche Schreibweise des Vaters. Als sie an die letzten Worte kommt, blitzt es seltsam in ihren erloschenen Augen auf.
„Wer ist des Teufels?“ sagt sie mehr sich selbst, als dem Vater. Dieser aber nimmt die Frage heftig auf.
„Nun,“ sagt er, „da steht es ja geschrieben!“ und zeigt auf das Papier.
„Ja wohl, Vater, da steht’s auch. Es ist gut, was Sie geschrieben haben.“
Dann wendet sich Dorette hastig ab, und Rickmann faltet sein Schreiben zusammen.
Wieder ist es Frühling. Die Gebüsche auf dem Rubenow-Platze treiben Sproß auf Sproß, und immer lichter wölbt sich der Himmel über dem ehrwürdigen Haupte des in Erz gegossenen Bürgermeisters, der von hohem Sockel aus den nach ihm benannten Platz beherrscht. Zuweilen setzt sich ein unbefangenes Vögelchen in die Falten seines Rockes, oder gar mitten in sein ernstes Antlitz und zwitschert ein Lied von Sehnsucht und Hoffnung, daß die vorüberschreitenden Magister die Stirnen tiefer in Falten legen und ein Schatten der Erinnerung verstohlen über ihre pergamentenen Gesichter zieht, während mancher junge Student am Eingange der Universität unwillkürlich innehält und sich übermüthig fragt, ob es nicht etwa gerathen sei, heute die Hypothesen des Professor So-und-so auf sich beruhen zu lassen und in den belebten Straßen oder auf den freundlichen Wällen Greifswalds ein Frühlingsprivatissimum zu hören.
Johannes Strohmeyer ist seit Monaten eingeführter Organist; und die Eingabe des Pastors, ihm wegen seines vortrefflichen Orgelspiels und seines gar erbaulichen, vollklingenden Gesanges auch den Cantorentitel binnen Jahresfrist zu verleihen, liegt bei der hohen Behörde.
Eines der alten Giebelhäuser, welche in die kleine Gasse hinabsehen, die vom Jacobi-Kirchplatze aus nach Norden zu in die sogenannte Lange Straße führt, ist mit dem Wechsel der Jahreszeit besonders hübsch aufpolirt worden – in seinem zweiten Stock hat der Organist seine Amtswohnung.
Mitte Sommer läuft das Trauerjahr um den seligen Cantor Frederick ab; seine Wittwe und Johannes Strohmeyer beabsichtigen, dann ihren neuen Hausstand zu gründen. Doch die Frau ist seit einer Woche so krank, daß sie sich hat entschließen müssen, das Bett zu hüten. Seitdem sie ihr ehemaliges Domicil verlassen hat, lebt sie bei einer in der Langen Straße verheiratheten Schwester, deren Mann der Vormund des Frederick’schen Kindes ist.
Es ist Sonntag gegen Abend. Johannes, der seine Braut sonst täglich besucht hat, ist heute noch nicht bei ihr gewesen. Er schlendert eben gerade über den belebten Rubenow-Platz, um zur Kirche zu gehen und für sich allein noch ein halbes Stündchen Orgel zu spielen: Er geht, wie gesagt, sehr langsam. Seine Gedanken ziehen sich vom Wege ab in die Ferne. Er weiß es nicht genau, aber er glaubt, sich nicht zu irren, daß es heute gerade ein Jahr her ist, daß er als Secretär des Grafen nach Stralsund kam und noch gegen Abend seinen Besuch beim Thorschreiber machte. Er erinnerte sich noch ganz deutlich jedes Umstandes bei diesem ersten Besuche. Die Finger seiner rechten Hand pressen sich fester zusammen und krümmen sich leise zur Faust; er gesteht sich wieder einmal, daß er sich verrechnet hat, als er dachte, man könne eine Dorette Rickmann so bald vergessen.
Der böhmische Besitztitel ist wieder einmal streitig geworden. Die Czechen reclamiren ihn, indem sie ihren Anspruch gewohntermaßen nicht damit begründen, daß sie sich seiner werth zu machen suchen, sondern damit, daß sie die dritthalb Millionen Deutschen in Böhmen und Mähren in Heloten des Slaventhums zu verwandeln trachten. In Wien sitzt augenblicklich ein Ministerium, welches für Deutsche und Deutschthum keine Theilnahme und keine Pietät hegt; nur deshalb kann der Unterdrückungsproceß in Böhmen so unheimlich rasch von Statten gehen; dauert derselbe in begonnenem Maße fort, so würde allerdings bald in Schule und Werkstatt, in Amt und Kaufladen die deutsche Sprache geächtet und verfehmt sein.
Rings umher, über dem Böhmerwald, über dem Erz- und Riesengebirge, leuchtet der Glanz und die Größe des neuen Deutschland, des lange ersehnten und endlich erstandenen jungen deutschen Reiches, aber einen Büchsenschuß von seiner Grenze legt ungestraft der Czeche dem Deutschen seine Faust auf den Nacken, um ihm zu zeigen, daß es ein Gebiet der Wenzelskrone giebt, wo brutale Vergewaltigung ungestraft dem deutschen Geiste Hohn sprechen darf. Die Czechen halten sich für berechtigt, auf deutschem Boden über Deutsche zu herrschen, und glauben daran mit einem Fanatismus, der nur aus geschichtlicher Unbildung herausquellen kann, und eben deshalb kennen sie keine Rücksicht. Der Deutsche in Böhmen aber ist das Opfer dieser fanatischen Nationalrohheit. Zu treu, um anderswo als in Wien sein Heil zu suchen, zu stolz, um von seinem Deutschthum auch nur ein Atom preiszugeben, steht er ausdauernd auf seinem Posten, der mehr als ein Vorposten des Deutschthums, der eine Burg des Deutschthums ist. Er könnte aller Schläge und Schleudern ledig werden, wenn er sich nach dem Beispiele der magyarisirten Deutschen zechisiren wollte, aber er wartet und [835] gewiß nicht vergebens, bis wieder einmal von einer politischen Wendung ein Druck ausgeht, vor dem alle czechischen Gewaltsamkeiten weichen. Man ist nirgends ein wehrloser und ungeschirmter Deutscher, so lange noch ein Reich besteht, welches durch den deutschen Geist groß und mächtig geworden ist.
Es giebt eine wunderhübsche Geschichte, in welcher erzählt wird, wie die Nationalitäten Oesterreichs zum lieben Gott pilgerten, um ihm ihre Wünsche vorzutragen. Die Deutschen, die Ungarn, die Italiener waren abgefertigt; da kamen nächst den Czechen die Slovaken an die Reihe.
„Und was wollt Ihr?“ fragte Gott die Slovaken.
„Allmächtiger,“ erwiderten sie, „wir möchten auch einen Goethe haben.“
Da lächelte der Vater der Welt.
„Der ist vergeben,“ lautete seine mitleidige Antwort.
Jawohl, der ist vergeben. Gewalt, Druck und Unbill können die Czechen mitsammt den Slovaken gegen die Deutschen üben, wo diese sich in der Minderheit befinden. Aber die Stelle in der Cultur und Geschichte, die Verdienste um Bildung und Gesittung, welche die Deutschen sich erworben, sind ihnen nicht mehr zu entreißen. Der Goethe ist vergeben. Als der Knabe Themistocles, weil er begeistert von dem Ruhme der Athener sprach, von dem Spartaner Ephialles mit Stockschlägen bedroht wurde, stand er stille und rief: „Schlag’ zu, aber höre!“ Und Themistocles behielt Recht.
So sollen denn auch diese Zeilen nicht etwa ein Hülfs- und Nothschrei sein, um für die gemißhandelten Deutschen in Böhmen Succurs herbeizurufen. Unsere böhmischen Brüder werden Recht behalten wie Themistocles. Nur sozusagen eine Revision der Acten soll hier vorgenommen und der czechische Anspruch auf die Alleinherrschaft in Böhmen gegen den deutschen Anspruch auf Unabhängigkeit und ungestörte Entwickelung abgewogen werden. Ob ohne Zorn und Voreingenommenheit? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wer möchte sich ganz in der Hand behalten, wenn er als Deutscher von gefährdetem und gepeinigtem Deutschthum spricht? Aber jedenfalls mit jener Sachlichkeit, welche ein deutsches Erbe ist, wie trotz Herrn Ladislaus Rieger der Stephans-Thurm in Wien ein deutsches Werk und deutsches Erbe ist. Und so sei denn auch äußerlich das Für und Wider geschieden und sichtbar gemacht wie Behauptung und Einspruch der Parteien vor Gericht.
Worauf ist der deutsche Anspruch begründet?
Als die deutschen Markomannen von der Sturmfluth der Völkerwanderung aus Böhmen hinweggespült waren, ergossen sich von den Karpathen her die slavischen Czechen über das Land. Doch sie blieben nicht lange die Herren desselben. Karl der Große unterwarf sie, und nach der Theilung des karolingischen Reiches blieben Böhmen und Mähren unter Ludwig dem Deutschen bei Deutschland. Unter den schwachen deutschen Königen der nächsten Zukunft lockerte sich dann wohl das Band der Zusammengehörigkeit, aber nur für kurze Zeit. Heinrich der Vogler stellte das Lehensverhältniß wieder her; Deutsche brachten den Czechen das Christenthum, und die Dynastie der Przemysliden stand völlig unter dem deutschen Einflusse. Der heilige Wenzel selbst, der im Lager der Sachsen am Moldau-Ufer dem deutschen Reiche Treue schwor, zog deutsche Geistliche in das Land; zu Ehren des Patrons der Sachsen, des heiligen Veit, wurde neben der Prager Herzogsburg der Veits-Dom gebaut, den Bischof Tuto von Regensburg einweihte, und der erste Bischof von Prag war ein Deutscher, der Benedictinermönch Thietmar aus Magdeburg. Wenzel wurde von den heidnischen Czechen ermordet; Otto der Große züchtigte die Mörder, und von nun an blieb, einzelne flüchtige Episoden abgerechnet, der Lehensverband zwischen Deutschland und Böhmen unangefochten; Wratislav der Zweite empfing von Kaiser Heinrich dem Vierten für seine Treue die böhmische Königskone.
So war in diesem Abschnitte der Geschichte die politische Entwickelung Böhmens geartet; die culturelle war noch ausschließlicher ein Werk der Deutschen. Die böhmischen Herzöge wählten ihre Gattinnen aus deutschen Fürstenhäusern, dem baierischen, dem der Wettiner und der Babenberger, und man „sagte und sang“ deutsch am Prager Hofe, wie ja bei Wenzel, dem Gatten der Staufin Kunigunde, der deutsche Minnesänger Reinmar von Zweier lebte. Das Prager Bisthum war dem Mainzer untergeordnet; in den Städten war das Magdeburger Stadtrecht maßgebliches Gesetz.
Und während der nächsten Epoche nahm der deutsche Geist noch siegreicher von Böhmen Besitz. Die deutschen Kaiser aus dem Hause Luxemburg schlugen in Prag ihre Residenz auf; Karl der Vierte gründete die Prager Universität und ließ von dem deutschen Baumeister Peter von Gmünd die Domkirche auf dem Hradschin, die mächtige Moldaubrücke, die berühmte Barbara-Kirche in Kuttenberg bauen. Nur der sechste Theil der Scholaren, welche an der Prager Hochschule während der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens den Wissenschaften oblagen, war czechisch, während den Rest Deutsche aus Baiern, Schwaben, Franken und Sachsen bildeten.
Dann kam die Hussitenzeit und mit ihr die erste Verfolgung der Deutschen in Böhmen. Sechszehn Jahre lang hausten die Ziska und Procop mit Feuer und Schwert in dem gottgesegneten Lande, und der religiöse Emancipationsdrang war in einen entsetzlichen politischen Terrorismus umgeschlagen. Das Deutschthum, ehedem blühend, wohlbegütert und geistig hochentwickelt, ward schier gänzlich ausgerottet, bis mit den Habsburgern wiederum ein anderes Regiment einzog. Durch mehr als hundert Jahre hatte es von nun ab den Anschein, als sollten mit der Reformation auch deutsche Betriebsamkeit, deutsche Bildung und Gesittung in Böhmen wieder aufleben; die Habsburger wehrten den Böhmen nicht, mit Luther und der Wittenberger Hochschule in unmittelbare Verbindung zu treten. Aber der Hussitismus in seiner Entartung flackerte noch fort; er hatte sich in einen glühenden Deutschenhaß umgewandelt, und als im Jahre 1611 Graf Dohna der Prager Ständeversammlung eine Botschaft des Kaisers verkünden wollte, ward ihm zugerufen: „Deutsch ist in Deutschland, in Böhmen aber Czechisch zu reden.“ Im Jahre 1615 wurde bereits von den Prager Ständen jenes Sprachenzwangssystem beschlossen, welches bestimmte: 1. Künftig und für ewige Zeiten dürfe kein Ausländer, welcher der czechischen Sprache unkundig ist, als Bürger einer Stadt aufgenommen werden. 2. Ein Ausländer, der nach Erlernung der czechischen Sprache das Bürgerrecht erlangt hat, dürfe kein öffentliches Amt bekleiden; erst seine Enkel seien als eingeborene Böhmen zu betrachten. 3. Wo ein deutscher Pfarrer oder Schullehrer vorhanden, solle nach seinem Tode ein czechischer Pfarrer oder Schullehrer angestellt werden. 4. Der Gebrauch der deutschen Sprache sei den Czechen bei Zusammenkünften untersagt; wer hiergegen wiederholt fehle, sei des Landes zu verweisen.
Fünf Jahre nach diesem Sprachengesetze kam die Vergeltung: Der hussitische Adel des Landes, im Aufruhr gegen das Haus Habsburg, flehte in Deutschland um Hülfe, holte sich den pfälzischen Kurfürsten Friedrich, um ihn zum Könige von Böhmen, zum „Winterkönige“, zu erheben. Aber der Adel mitsammt dem neuen Könige erlag in der Schlacht am Weißen Berge; die Czechen flohen nach allen Himmelsrichtungen und fanden in Deutschland eine Zuflucht. Was deutsch war in Böhmen, stand fortan unter der Hut des Habsburgischen Absolutismus und der Jesuiten.
Es befand sich dabei in nationalem Betracht nicht einmal schlecht; denn das Slaventhum trat mehr und mehr zurück. Als Marias Theresia die Zügel der Herrschaft ergriff, fand man Czechen in Böhmen nur noch unter den Bauern und hier und da auch unter den Handwerkern. Mit der Volksschule zog im Jahre 1774 die deutsche Sprache ihre letzten siegreichen Ringe, und es stand keine Schranke mehr zwischen Böhmen und Deutschland aufrecht; die Erziehung war von den untersten bis zu den höchsten Stufen deutsch; in Prag beherrschten deutsche Dichter das geistige, deutsche Künstler das artistische Leben. Joseph der Zweite, der Begründer des ersten deutschen Nationaltheaters, begünstigte selbstverständlich nach Kräften diese Entwickelung. Gluck hatte schon vorher in Prag seine Studien gemacht, und Mozart war der Liebling der Prager. Deutsche Zeitungen hatte es bereits seit dem dreißigjährigen Kriege in Böhmen gegeben, während erst im Jahre 1787 das erste czechische Zeitungsblatt entstand.
Günstiger als seit dieser Zeit hat Böhmen sich materiell und geistig niemals entwickelt: Handel, Gewerbe, Landwirthschaft nahmen in dem Lande, dem die Natur eine reiche Ausstattung mit allen möglichen Hülfsquellen verliehen hat, einen üppigen Aufschwung, und der czechische Bauer wollte lange nicht daran glauben, daß der gute Kaiser Joseph gestorben; der Adel und das betriebsame Bürgerthum waren deutsch in Sitte und Sprache, während das Czechische Bauernsprache geblieben war. Eine literarische Wechselseitigkeit, ein geistiges In- und Miteinanderleben mit Deutschland blühte auf, so recht zum Beweise, daß Böhmerwald und Fichtelgebirge, Erz- und Riesengebirge nichts seien als Bergzüge inmitten [836] des deutschen Landes, keineswegs Grenzscheiden zwischen Deutschen und Deutschen.
Wenn Schiller seinen „Wallenstein“ auf böhmischem Boden auflas, in’s Egerland ging, um daselbst seine Vorstudien zu der gewaltigen Trilogie zu machen, so zweifelte er eben keinen Augenblick, daß sowohl dieser Boden wie die Gestalt Wallenstein’s selbst durch und durch deutsch sind.
Doch dies bei Seite! Es giebt ein unwidersprechliches Zeugniß, daß um die Wende dieses Jahrhunderts in Böhmen das Czechenthum social, politisch und geistig dem Deutschthum den Platz geräumt hatte und zwar nicht zwangsweise, sondern weil es zur Erkenntniß der überlegenen Eigenschaften des deutschen Volksgeistes gelangt war. Dieses Zeugniß haben, ohne es zu wollen, jene „dreiunddreißig Originalböhmen“ abgelegt, welche bei den Ständen gegen die Germanisation in Böhmen protestirten. Und in merkwürdigem Zusammenhange mit dem Nothschrei dieser „Dreiunddreißig“ steht der etwa gleichzeitige Bericht des Oberstburggrafen von Böhmen an den Kaiser Franz, daß es unmöglich sei, Beamte aufzutreiben, welche der czechischen Sprache mächtig wären.
Wie hätte es auch anders, sein können? Rings um Böhmen herum saß von jeher uraltes Deutschthum; an den Grenzen Ober- und Niederösterreichs, Baierns und Sachsens hatte der Czeche niemals festen Fuß gefaßt. Und in Prag, dem Mittelpunkte, gab es zwar czechische Kleinbürger und Handwerker in schwerer Menge, aber das gesellschaftliche und geistige Leben wie dasjenige der Behörden wurzelte in deutschen Ueberlieferungen. Vor dem Usurpator Bonaparte flohen Stein, Scharnhorst, Gentz und Varnhagen von Ense nach Prag, und nach Bonaparte’s Niederwerfung ist nirgends auch nur der leiseste Zweifel zu bemerken, daß Böhmen als ein deutsches Land dem Bunde einzuverleiben sei. Dreißig Jahre später klingt und singt es von deutscher Lyrik in Böhmen: Moritz Hartmann, Alfred Meißner, Uffo Horn stimmen ihre Lieder an. Ein deutscher Publicist, Ignaz Kuranda, muß die Prager Heimath verlassen und gründet in Brüssel die „Grenzboten“. Karl Herloßsohn schreibt vielgelesene Romane. Die Prager Universität gelangt zu erneuter Blüthe, und Männer wie Curtius, Schleicher, Esmarch, Brinz, Herbst und Arlt machen sie zu einer Ruhmesstätte deutscher Wissenschaft. Rokitansky und Skoda, die beiden Begründer der berühmten Wiener medicinischen Schule, sind Czechen von Abstammung, aber sie sind zu den Höhen der deutschen Wissenschaft emporgeklommen und haben, da oben angelangt, den nationalen Gegensatz, der sie umbrauste, weit von sich fort gewiesen. Gleichfalls von diesem nationalen Gegensatze unberührt – wenn sie sich nicht geradezu gegen denselben auflehnten – sind die zahlreichen wohlberufenen Musiker und Musikgelehrten geblieben, welche Prag in neuerer Zeit geboren: Hanslick und Ambros, Moscheles, Dreyschock und Laub, Jenny Lutzer, Pauline Lucca.
Nicht anders als die geistige Physiognomie stellt sich die Entwickelung in der Administration des Landes und in der Ausnützung seiner materiellen Wohlfahrtsquellen dar. Die hervorragenden Industriellen sind Deutsche, wie die erfolgreichsten Landwirthe; die Lehrkräfte sind deutsch wie die Pfadfinder des böhmischen Import- und Exporthandels; Deutsche haben die Kohlen- und Holzindustrie im Westen und Nordosten, die Textilindustrie im Nordwesten und Norden des Landes geschaffen.
Da wir hier weder mit Zahlen noch mit Namen operiren dürfen, wollen wir nicht dem Lexikographen in’s Handwerk pfuschen; sonst könnten wir leicht mit der Gallerie berühmter Deutscher aus Böhmen viele Seiten füllen, denen Oppolzer, der Arzt, Günther, der Philosoph, Unger, der Jurist, und Führich, der Maler, gewiß nicht zur Unzierde gereichen würden.
Worauf nun begründet sich aber der Anspruch der Czechen auf die Alleinherrschaft in Böhmen?
Von ihrem przemyslidischen Herrscherhause ist, die mythische Libussa abgerechnet, wenig Rühmliches zu vermelden. Einer und der Andere dieser Herrscher zeichnet sich durch besondere Unmenschlichkeit aus, wie beispielsweise jener Sobieslaw der Zweite, der für einen Schild voll deutscher Nasen hundert Mark Silber ausbot.
Ueberhaupt ist es unmöglich, bis zu den Hussitenkriegen von einem czechischen Volksthum zu reden, und wie dasselbe mit der Lehre des Johannes Huß sich erfüllte, bietet es wahrlich kein anziehendes Bild. Ziska ist nach Huß gewissermaßen der erste Czeche von Weltruf, und seine Thaten sind Thaten der Rache, der unmenschlichen Grausamkeit. Nein, die czechische Reformation ist weder in ihren Zielen, noch in ihren Motiven, weder in ihren Lehren, noch in ihren Handlungen schöpferisch und befreiend. Luther hat schon Recht, daß er sich gegen den Vorwurf Eck’s in der Leipziger Disputation, als ob er an der böhmischen Sectirerei einen Antheil habe, energisch verwahrt. So lange die Czechen aus ihrem Geiste heraus die Kirche reformiren, so lange diese Hussiten, Taboriten, Calixtiner, Utraquisten und Picarden auf ihre Weise den Katholiscismus reinigen wollen, kommt nichts als blutiger Hader und Bürgerkrieg, als Mord und Brand dabei heraus. Was hätte mit einem Procop oder Ziska ein Martin Luther gemeinsam? Erst als die Czechen sich um Belehrung und Schutz zu dem deutschen Lutherthume flüchten, da keimen wenigstens einzelne gute Früchte aus dieser Verbindung hervor. Luther berichtet selbst im Jahre 1519, daß ihm aus Böhmen seine zehn Gebote und das Vaterunser, in böhmische Sprache übersetzt, zugekommen seien.
Die böhmischen Stände bieten ihm im Jahre 1522 ein Asyl an, und Luther antwortet ihnen, er wäre schon längst und gern nach Böhmen gekommen, aber er wolle den Papisten den Triumph nicht gönnen. Der böhmische Name sei bei dem deutschen Volke „nicht mehr“ verachtet, und er hoffe, es werde noch dahin kommen, daß Deutsche und Böhmen gleichmäßig zu dem Evangelium stehen. Wiederholt erscheinen Gesandtschaften der czechischen „Brüder“ bei Luther in Wittenberg; er verhandelt mit ihnen über Glaubensartikel, und da er sich über die „dunkle und barbarische Sprache der Böhmen“ beschwert, sehen sich die „Brüder“ veranlaßt, ihre Schriften für Luther ins Lateinische zu übersetzen. Die czechischen „Brüder“ sind es auch, an die Luther seine Schrift „vom Anbeten des Sacramentes“ richtete.
Es sind dies, wie gesagt, Zeichen und Keime, daß die Czechen so viel Selbsterkenntniß sich anzueignen im Begriffe sind, um einzusehen, daß von ihnen allein keine epochemachende Bewegung, keine Förderung der Welt ausgehen kann und daß es ihnen zum Heile gereicht, willig die Überlegenheit der Deutschen anzuerkennen. Aber der Deutschenhaß überwuchert bei ihnen Alles. Plötzlich reitet sie der Hochmuth, und sie erlassen im Jahre 1615 das bereits oben erwähnte Sprachenzwangsgesetz, durch welches alles Deutsche in Böhmen mit Füßen getreten wird. Die Gegenreformation mit ihrem entsetzlichen Elend ist ihre gerechte Strafe. Und dann wird es auf volle zwei Jahrhunderte von dem Czechenthum stille.
Da entdeckt im Jahre 1817 Hanka die bekanntlich gefälschte Königinhofer Handschrift, und nun wuchert plötzliche ein ganzer Wald von czechischen Lyrikern und Dramatikern, von czechischen Geschichtsschreibern und Alterthumsforschern aus dem bis dahin so spröden böhmischen Erdreiche empor. Schafarik, der Slovake, kommt nach Prag, um daselbst sein System der slavischen Alterthumskunde aufzustellen; Palacky beginnt als böhmischer Landeshistoriograph in deutscher Sprache seine Geschichte Böhmens zu schreiben, ein großartig angelegtes und mit mancherlei gründlichen Forschungsergebnissen angefülltes Werk, aber von gehässiger deutschfeindlicher Tendenz, sodaß es eine Art von Unschicklichkeit ist, daß ein solches Buch sich der deutschen Sprache bedient.
Noch hält man diese ganze Bewegung lediglich für eine literarische; der nicht einmal ein besonders günstiges Horoskop gestellt wird. Noch kann (im Jahre 1842) ein gewiegter Kenner der slavischen Literaturen, der Pole Adalbert Cybulski, der an der Breslauer Universität über das geistige Leben unter den Slaven Vorlesungen hält, ein fürchterlich wegwerfendes Urtheil über czechische Sprache und Literatur fällen. Jüngst erst sind diese Vorlesungen im Drucke erschienen, und es ist nicht ganz überflüssig, die Kritik über das czechische Geistesleben ihnen zu entnehmen. Professor Cybulski also sagt:
„Während des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ist die Literatur der Czechen im eigentlichen Sinne des Wortes zu Grunde gegangen; ihre Sprache, die neben der altslavischen die ältesten und schönsten Denkmäler besitzt, ist während der letzten zwei Jahrhunderte zu einer Bauernsprache herabgesunken. Ihre Nationalität, durch die widrigen Schicksale in ihrem Innersten angegriffen, schien dem deutschen Elemente Platz machen zu sollen, als einige patriotische Männer es unternahmen, den Geist derselben von Neuem zu beleben, die Sprache und Literatur aus ihrer Erniedrigung zu reißen und ihr den vaterländischen Boden wiederzugeben. Die Böhmen sind unter den Slaven das fleißigste Volk. Es ist unglaublich, was sie seit etwa zwanzig Jahren; bei geringen [837] Mitteln und Kräften in der neuen Richtung geleistet haben. Die slavische Sprach- und Alterthumsforschung nahm ihre geistige Thätigkeit am meisten in Anspruch. Aber diese neugeschaffene Literatur hat sich wenig zur Cultur der dem Volke zugänglichen Richtungen herbeigelassen; deswegen bleibt sie noch immer diejenige der Gelehrten; die neue Sprache ist selbst dem Volke nicht durchgängig verständlich. Das Nationalgefühl ist wohl sichtlich erwacht, aber das Volk scheint durch den langen Druck für die den Slaven angeborene Vaterlandsliebe weniger empfänglich geworden zu sein. Selbst die Phantasie, bei den meisten slavischen Völkern dem Verstande überlegen, scheint in den letzten zwei Jahrzehnten gebrochen. Uebrigens haben die Böhmen in der ganzen Geschichte ihrer Literatur wohl gelehrte und ausgezeichnete Schriftsteller, aber keinen großen Dichter aufzuweisen.
Ihre neuesten Dichter sind mehr durch die Richtung, die sie einschlagen, als durch Vollendung bemerkenswerth. Der ausgezeichnetste unter ihnen ist Kolar, evangelischer Prediger in Pest, in der Slovakei in Ungarn geboren, wie denn aus dieser Gegend die meisten heutigen Dichter der Böhmen stammen. Kolar hat über sechshundert Scenen unter dem gemeinsamen Titel ‚Slawy Dcora‘ gedichtet. Der Zweck ist, die gegenseitige Liebe und Sympathie unter den slavischen Stämmen zu wecken, wie denn Kolar der erste und vorzüglichste Anreger der Idee des Panslavismus war, welche er auch in der Broschüre ‚Die literarische Wechselseitigkeit der Slaven‘ auseinandersetzte. Diese Idee selbst zeigt den Mangel eines nationalen Bodens, auf dem sich heutzutage die böhmische Poesie entwickeln könnte. Es fehlt der Glaube, die innere Ueberzeugung von der Möglichkeit eines selbstständigen Nationallebens. Deswegen vergeudet man die Liebe an das gestimmte Slaventhum, lebt entweder in den entferntesten Zeitaltern oder in einer dunklen Zukunft. So steht es denn auch mit der Dichtkunst. … Die bedeutendsten Dichter nach Kolar, Holy und Klazel, der erste in epischer, der andere in lyrischer Gattung, kommen aus diesem Kreise nicht heraus: Es findet sich in dem, was sie geschaffen, viel Lobenswerthes, sowie auch in den Dichtungen Celakowsky’s, aber dies Alles findet Anklang nur in den Herzen der Eingeborenen; ich zweifle, ob es denselben auch im Auslande finden würde.“
So der Pole Cybulski über seine czechischen Blutsverwandten. Man erkennt sofort, was an seiner Weissagung aus dem Jahre 1842 sich erfüllt hat und worin sie fehlging. Die Welt hat sich an die czechischen Dichter nicht gewöhnt, und es ist unterdessen kein neues Gestirn unter ihnen aufgestiegen. Sie haben keinen Mickiewicz und keinen Puschkin. Aber der Panslavismus hat ihnen seine Frucht getragen, wenn nicht unmittelbar, so doch auf mancherlei Umwegen. Da sie in der That kein innerlich entwickeltes Nationalbewußtsein besitzen, so ist ihr nationaler Chauvinismus allezeit nur eine geschickt unterhaltene geistige Exaltation gewesen. Das Mittel hierzu war eben der Panslavismus, der Wand an Wand mit dem Deutschenhasse wohnt. Und da es bei solch unsauberen Instinkten auf das Mehr oder Weniger nicht ankommt, so gesellte sich dazu bei den sogenannten Altczechen der Ultramontanismus und Feudalismus, denen die Jungczechen vergebens entgegenzuarbeiten suchen.
Diese Entwickelung ist nicht zum geringsten Theile das Werk Franz Palacky’s, des „Vaters der czechischen Geschichte“, dem Ladislaus Rieger als Erbe in Deutschenhaß und czechischem Größenwahn auf die Fersen trat. Palacky wurzelte immerhin noch im Literarischen, aber Rieger, der dafür weder Verständniß noch Neigung besaß, verpflanzte die Bewegung sofort auf das politische Gebiet. Dem Parlamente in der Frankfurter Paulskirche setzte man einen Slavenkongreß in Prag entgegen, der freilich ein klägliches Schauspiel bot, da die Slaven mit einander in deutscher Sprache verhandeln mußten, die allen Theilnehmern geläufig war, während die mit den einzelnen slavischen Idiomen sich nicht so verhielt. Auf den Reichstagen von Kremsier und Wien kam dann die Idee eines großböhmischen Staates nackt und unverhohlen zu Tage, mit dem Vorbehalte, die deutschen Grenzkreise Böhmens von den übrigen zu trennen, in den slavischen Theilen aber eine „slavische Cultur“ einzurichten.
Auch davon ward es stille während der zwölf Jahre des Centralismus, während welcher in Wien die czechischen Träume keine Begünstigung fanden.
Aber als im Jahre 1861 Oesterreich sich in einen Verfassungsstaat umwandelte, der allen seinen Angehörigen das gleiche Recht einräumte, als die Deutschen sich stark genug wähnten, ihre Ueberlegenheit in Staat, Gesellschaft und Schule auch auf dem Boden des modernen Staates behaupten zu können, da erhoben sich die Deutschenhasser wilder als je. Sie riefen alle bösen Geister, die religiösen wie die feudalen Dunkelmänner, zu ihrer Hülfe auf; sie brachten mit dem Ministerpräsidenten, den ihr Stamm dem Staate Oesterreich geschenkt hatte, mit dem „Sistirungsminister“ Belcredi, den Gesammt-Staat im Jahre 1866 an den Rand des Abgrundes; sie zogen nach Moskau zum Slavencongresse, um daselbst offen ihre Sympathie für Rußland und den Panslavismus, die beiden blutigen Feinde Oesterreichs, zu verbinden; sie jubelten Napoleon dem Dritten zu, als er über Deutschland herfiel, wie ein nachträglich aufgefundener Brief Ladislaus Rieger’s an den Tuilerienmann deutlicher, als ihnen lieb war, ersehen ließ.
Und ihr Ruf nach Wiederherstellung der Wenzelskrone, schon im Jahre 1871 von befangenen Staatsmännern zur officiellen österreichischen Losung erhoben, aber nach kurzer Weile mitsammt diesen Staatsmännern gerechtermaßen verworfen – dieser wilde, bedrohliche Ruf ist heute wieder in Prag die Parole des Tages, in Wien abermals eines verhängnißvollen Experimentes Werth erachtet. Den Deutschen in Böhmen versagt das Wiener Ministerium seinen Schutz; es zwingt deutsche Beamte, auch in den rein deutschen Bezirken Böhmens ihren Aemtern zu entsagen, weil ihnen die Kenntniß der czechischen Sprache fehlt; es duldet, daß die Prager Hochschule sich entvölkert; es verdrängt die deutsche Sprache aus den Amts- und Schulstuben; es begünstigt den Hader zwischen deutschen Bürgern und deutschen Großgrundbesitzern in Böhmen.
Im Jahre 1871 standen die Czechen noch schmollend dem Wiener Centralparlamente fern; es blieb ihnen nur in dem böhmischen Landtage und in ihren Blättern Raum zur Verunglimpfung, Verdächtigung und Beleidigung der Deutschen.
Aus jener Zeit stammt das niederträchtige Inserat des czechischen Kunstmäcens Naprstek, früher: Fingerhut geheißen, in einer czechischen Zeitung deutscher Zunge: „Es wird ein Lehrling für eine Brauerei gesucht. Die Kenntniß der deutschen Sprache wird nicht verlangt, weil wir in Böhmen solche Hohlköpfe, die aus Preußen kommen, wie z. B. Professor Linker, in den österreichischen Staaten nirgends brauchen können.“ Professor Linker, Philolog an der Prager Hochschule, hatte nämlich seiner Bewunderung der Siege der Deutschen in einer lateinischen Ode Ausdruck gegeben.
Diesmal sind die Czechen im Wiener Parlamente; sie führen in demselben die Mehrheit, welche neben ihnen aus den Reaktionären aller siebenzehn Kronländer besteht; sie haben die Macht in ihren Händen, um das Deutschthum in Böhmen zu zertreten, dasjenige in dem übrigen Oesterreich zu demüthigen. Und das Ministerium in Wien läßt sie gewähren, während es im innigsten Bunde mit dem deutschen Reiche zu sein vorgiebt. Wer erklärt mir, Oerindur, diesen Zwiespalt der Natur?
Nun aber, da das Für und Wider entwickelt ist, muß es zum Spruche kommen.
Was sind die Deutschen dem Staate Oesterreich, und was begehren sie für ihre Landsleute in Böhmen?
Sie sind die Träger der Cultur, der Bildung, des staatlichen Einheitsgedankens in Oesterreich, wie es ihre Landsleute in Böhmen sind. Sie tragen die unvergleichlich größten Lasten im Staate, wie es ihre Landsleute in Böhmen thun. Von ihnen geht die Blüthe der Industrie, des Gewerbes, des Handels aus, wie sie in Böhmen ebenfalls stets von dessen deutscher Bevölkerung ausgegangen ist. Literatur und Kunst sind deutsches Besitzthum; städtische und ländliche Entfaltung empfangen von den Deutschen die nachhaltigsten Impulse. Sie haben Oesterreich in einen Verfassungsstaat umgewandelt und das gleiche Recht Aller vor dem Gesetze, den gleichen Antheil Aller am Staate je nach der Eignung verkündigt. Und nun sollen sie in Böhmen hinausgetrieben werden aus Amt und Schule, sollen, um ihr Dasein zu fristen, die czechische Sprache erlernen, die für Niemanden einen geistigen Gewinn bedeutet, sollen die Tyrannei der Czechen widerstandslos auf sich nehmen, der verbissensten Deutschenfeinde, die irgendwo im ganzen Weltrunde vorhanden sind trotz der Magyaren.
Das muthet ihnen ein angeblich deutsches Regiment zu, das Centralregiment in Wien, genannt das cisleithanische Ministerium.
Was aber sind die Czechen dem Staate Oesterreich, und was begehren sie für sich?
[838] Nicht Gleichheit, sondern unbestrittenes Uebergewicht begehren sie, und zwar nicht blos in Böhmen, das sie sich zu einem Wenzels-Königreiche ausbauen möchten, sondern auch in Oesterreich überhaupt. Sie sind Panslavisten und Schwärmer für Rußland, den natürlichsten Feind Oesterreichs. So lange sie in Böhmen die Zügel führten, war zwischen Böhmerwald und Riesengebirge eine Stätte des Bürgerkrieges, der Zerstörung mit Feuer und Schwert. Verfassungsmäßiges Recht ist ihnen keinen Pfifferling werth, wenn nicht die Verfassung ihnen, und ihren ultramontanen und feudalen Verbündeten alle Freiheit, den Anderen das Helotenthum verhängt. Sie haben kein Verdienst um Oesterreichs geistige, nur ein geringes um seine materielle Wohlfahrt und keines um die Entwickelung des politischen Fortschrittes; denn die Politik ist ihnen nichts als das Instrument ihres nationalen Eigennutzes.
Wenn Oesterreich aufhört, die Ostmark zu sein, der vielleicht in Zukunft den Russen gegenüber dieselbe Mission vorbehalten ist, wie in der Vergangenheit gegenüber den Türken, wenn es sein Beharrungsvermögen einbüßt und in lauter nationale Splitter, einen czechischen, slovenischen, polnischen, deutschen, aus einander fällt, so ist seine historische Sendung beschlossen. Und wo keine historische Sendung ist, da ist auch kein Bestand. Das geschichtliche Oesterreich ruht auf den Schultern der Deutschen; begünstigt es die Czechen und deren Alleinherrschaft in Böhmen, so schafft es wider sich selbst einen Vorposten Rußlands und des Slaventhums. Das ist so einfach, daß sich Niemand mit mangelnder Einsicht entschuldigen kann. Der böhmische Adel, der dreihundert Jahre mit den Jesuiten fraternisirte, glaubt freilich Alles, was – absurd ist; er glaubt auch daran, daß er um Roms willen und wegen seiner feudalen Vorrechte das liberale Deutschthum hassen und verfolgen müsse. So anscheinend gebildet und erkenntnißfähig diese Grafen Leo Thun, Clam-Martinitz, diese Fürsten Lobkowitz und Liechtenstein sind, sie zappeln doch an dem römischen Drahte. Und darin trifft eben Graf Thun mit Ladislaus Rieger, der Concordatsgraf mit dem Moskaupilger zusammen, daß Beide die Reaction wollen, diese alte Feindin und Unterdrückerin alles Deutschen.
„In Bereitschaft sein, ist Alles,“ sagt Hamlet. Man weiß es links und weiß es rechts, welch tiefer Sinn in diesem Worte steckt. Die böhmischen Deutschen kämpfen auf dem Boden der Verfassung tapfer und unentmuthigt; sie sind zweifellos von der Gewißheit durchdrungen, daß sie nicht umsonst Deutsche sind. Der Theil kämpft für das Ganze, und es giebt Zeiten, wo nach dem alten griechischen Philosophen der Theil mehr ist als das Ganze.
Ich wand’le durch den herbstlich öden Wald;
Hoch über mir die Krähenschwärme krächzen.
Von Westen bläst der Sturmwind feucht und kalt.
Und in den Wipfeln geht ein wimmernd Aechzen.
Es raschelt in der Eiche dürrem Laub;
Den welken Schmuck, ihn will sie noch bewahren.
Was längst des Frosts und der Verwesung Raub,
Noch läßt es nicht die Uebertreue fahren.
Halboffnen Aug’s nur ist der Tag erwacht;
Kein Sonnenstrahl will seine Wange färben. –
Natur, Natur, wie wehrst du dich mit Macht
Im letzten Lebenszucken vor dem Sterben!
Ich hör’ es, wie du leise stöhnst und weinst
Auf deinem Todtenbett von Blätterfetzen.
Schlaf ruhig ein! Erwachen wirst du einst
Zu neuer Pracht nach ew’gen Weltgesetzen.
Du hast gegrünt, geblüht und Frucht gebracht;
Du hast getrunken heiße Sonnenküsse –
Wild fegt der Wind. Ich habe still bedacht.
Wie doch so schwer sich sterben lassen müsse.
Gebetet hab’ ich, daß mir Gott einmal
Mit diesem Trost das letzte Leid versüße,
Daß ich nicht sterbe ohne Sonnenstrahl
Und ohne treuer Liebe Scheidegrüße.
Von Ferdinand Lindner.
Sturmfluth – ein wildes, unbändiges Wort, das ein ungeheures Bild in unserer Seele erregt – ein klares und vollkommenes aber wohl kaum. Wer den Ocean nicht selbst sah, wie er sich, vom Sturm belastet, dem Lande zuwälzt, dem kann keine Schilderung, auch die leidenschaftlichste nicht, ein vollständiges Bild geben, noch weniger aber das Bild einer in den Wirbeln des Meeres versinkenden Landschaft.
Was wir in Folgendem dem Leser vor Augen führen wollen, ist eine geschlossene Darstellung der Sturmfluthen überhaupt und ihre Einwirkung auf die Verhältnisse unserer Nordseeküste, und wenn wir diese Darstellung mit dem Versuche beginnen, eine Sturmfluth flüchtig zu skizziren, so bezweckt dies allein, dem Leser das sinnlich nahe zu rücken, was in der folgenden Geschichte der Sturmfluthen den gewaltigen elementaren Hintergrund bildet.
Erdfahl hat sich der Himmel umzogen; erdfahl färbt sich die See, und aus der unruhigen düstern Fläche blickt es weiß auf – kurz und schnell, bald hier, bald dort: die See zeigt die Zähne, wie das Raubthier vor dem Ansprung; kurze weiße Schaumkämme tauchen auf und versinken; höher beginnen sich die Wogen zu heben; länger dehnen sich die Schaumrücken; hohl tönend kommt es über die See herüber – der Sturm ist da.
Doch was kümmert das den Marschbewohner, der vom sichern Deiche hinaus in die Wasserwüste und hinab in die stille Landschaft blickt, deren gesegnete Gefilde, weithin gestreckt, sich in der grauen Ferne verlieren.
Aber mächtiger, wuchtiger stößt der Sturm auf Meer und Land nieder; schon rollt die See brausend über den Groden heran; nicht lange und sie bricht sich schäumend an der Bärme des Deiches – über die rückprallende Woge gießt sich rauschend und zischend die folgende und über die im Schaum zerberstende wälzt sich donnernd die nächste den Deich hinauf; höher und höher, Fuß um Fuß klimmen sie empor. Schon zuckt die erste Spritzwelle über der Kappe auf, und wie nun die Wogenhäupter anfangen, gierig über den Deich zu spähen, wie der Schaum geradaus in’s Land fegend sich schneegleich auf die braunen Moosdächer wirft und an die Lehmwände schlägt, da blickt der Marschbewohner nicht mehr ruhig, sondern beklommen späht er zwischen den tief jagenden Wolkenfetzen zu dem düstern Himmel hinan. Doch dort schreibt der Orkan nur drohende Zeichen. Er blickt in die finstern Sturmcolonnen des Oceans hinaus, aber als triebe sie ein furchtbarer höherer Wille, ein unerbittlicher Gedanke, so rastlos stürzen sie in wilder Energie heran. Der Tag versinkt ohne Abschiedsgruß in der wüsten Nacht, und mit der Nacht kommt das Ende.
Längst schon ging der Alarm durch’s Land; längst schon stehen die Posten auf Auslug und arbeiten die Männer verzweifelt hier und dort, die Kappe, den obersten Theil des Deiches, zu halten; denn wenn diese verloren, ist es auch der Deich.
Alles umsonst! Die vernichtende Woge rollt endlich heran; in Schaum und Gischt zerbröckelt die Kappe; hinterdrein stürzt der zermalmte Deich, und triumphirend donnern die Fluthen durch die Bresche; mit Gedankenschnelle sind die nächsten Höfe weggefegt wie Kartenhäuser, in Nacht und Grauen, in Sturmgeheul und dem rasenden Wirbel der Elemente beginnt der Todeskampf der Landschaft, das große Sterben, das letzte Ringen mit den Wogen.
Wenn auch die nun folgenden Scenen in ihren Einzelnheiten denjenigen binnenländischer Überschwemmungen zum Theil ähneln oder gleichen, so liegt doch in dem Bewußtsein, daß das uferlose Weltmeer sich auf den Menschen herabstürzt, eine so furchtbare [839] Größe der Hoffnungslosigkeit, wie sie den Scenen einer Flußüberschwemmung nicht im gleichen Grade eigen sein kann.
Da aber die Mehrzahl der Sturmfluthen in das Winterhalbjahr fällt, so treten zu den Schrecken der Fluth noch die eisige Kälte, die Schneeböen und manchmal sogar das Treibeis, dessen Schollen die Wogen dann wie Sturmböcke gegen die Deiche und Häuser schleudern. Nicht immer aber wächst die Sturmfluth so allmählich an, sondern oft ist sie plötzlich da, wie aus dem Ocean emporgestiegen, und die Vernichtung kommt dann um so schrecklicher über die nichts ahnende Landschaft.
Neben den entsetzlichen Scenen des Kampfes mit den Fluthen – manchmal tritt sogar das vom Sturm erreichte und angefachte Herdfeuer als vernichtender Bundesgenosse des Wassers auf, ja die Gräber speien ihre Todten aus – finden sich Fälle der wunderbarsten Errettung. Die Kinder in der Wiege fehlen auch hier nicht; dagegen sind Rettungen, wie z. B. die folgenden, merkwürdig genug: So wurde einmal ein Bürgermeister von Tönningen in einem Braubottich schwimmend an die Dithmarschen getrieben; eine alte Frau von den Meereswogen in ihrem Bette an den Strand getragen, „ohne daß die Oberdecke naß wurde“, wie die Chronik ausdrücklich bemerkt; ja ein Ehepaar mitsammt dem Hause fortgeführt und ganz gemüthlich auf einem Deiche abgesetzt.
Ein Irrthum wäre es, wollte man die Zerstörung des Landes und den Untergang zahlloser Menschen als die alleinige, grauenhafte Wirkung einer Sturmfluth ansehen; nicht weniger unheimlich ist sie in ihren Folgen für die Ueberlebenden. Nicht allein die Aussaat wird zerstört, die eingeheimste Ernte vernichtet, die Heerde ertränkt, sondern auch das Land ist, soweit die See wieder abgelaufen, durch die „salze Fluth“ auf Jahre hinaus unfruchtbar geworden, zum Theil versandet; die Brunnen sind verdorben, und aus dem Schutt und Wust steigt ein anderes Gespenst empor – die Seuche. Oft sind nach einer Sturmfluth ganze Ortschaften ausgestorben. Und doch ist das noch nicht Alles. Wenn die unermüdlichen jahrelangen Versuche, das Verlorene dem Meere durch neue Eindeichungen abzugewinnen, sich als vergeblich herausstellen oder die Hülfsmittel zur Neige gehen, dann müssen diejenigen, welche einst hier als freie Hausmänner auf stattlichen Höfen saßen, in die Fremde wandern, in Seedienst gehen oder wohl gar bei Fremden, die, mit Mitteln und Privilegien ausgestattet, Besitz von ihrer alten Heimath nehmen, sich als Knechte verdingen. –
Die Sturmfluthen, welche der naive Volksglaube zu allen Zeiten als göttliches Strafgericht über menschliche Sündhaftigkeit aufzufassen liebt, sind auch der Stoff, an welchen die sonst wenig fruchtbare Sagenbildung in den Küstengebieten anknüpft. Ja die Sage greift in die Zukunft hinüber, indem sie von untergegangenen Ortschaften erzählt, welche dann wieder auferstehen sollen – hier ahnungsvoll vielleicht mit dem geologischen Thatbestand zusammentreffend. Ebenso berichtet das Volk – freilich immer erst hinterher – von drohenden Vorzeichen, welche der Sturmfluth vorausgingen, von den landesüblichen Unheilpropheten, den Kometen, dann von Mißgeburten, wunderbaren Thieren und anderen Erscheinungen, welche die Chroniken aufzählen.
Das Bild der Sturmfluth wächst zur Riesengröße empor, wenn wir den Jahrhunderte langen Kampf auf der ganzen Linie unserer Nordseeküste zu einem historischen Ganzen zusammenfassen: dies zeigt uns den Menschen nicht mehr als das den Fluthen hülflos verfallende Pygmäengeschlecht, sondern – ein großartiger Gedanke – als den ebenbürtigen, ja oft siegreichen Gegner des Weltmeeres, und was diesen Kampf unserem Herzen noch näher rückt, ist der Umstand, daß es germanisches Blut, daß es ein Bruderstamm und der besten einer, der Friese, ist, welcher denselben Jahrhunderte lang durchgekämpft hat. „Deus mare, Batavus litora fecit!“ („Gott schuf das Meer, der Holländer die Küste!“) – dieser verwegene Spruch sagt trotz der Kühnheit des Gedankens doch nur die Wahrheit: das Auge auf den Ocean gerichtet, schuf sich der Mensch hier Land und Staat.
In den frühesten Berichten, denen des Plinius, finden wir die Küstenbewohner schon mitten in diesem Kampfe, und zwar auf ihren einzeln liegenden Wurten der ganzen Willkür des Meeres preisgegeben. Dann, nach schwachen Einzelversuchen, beginnt erst in späten Jahrhunderten der Deichbau und schafft die Grundlage zu einem höheren Gemeinwesen: Kein Land ohne Deich, kein Deich ohne Land – in diesem Satz gelangt auf’s Deutlichste der Gedanke zum Ausdruck, daß der Deich das Rückgrat alles Culturlebens bildet.
Aber mit dem Widerstande wächst der Kampf und der Verlust – hinter dem Deiche finden die Fluthen immer mehr zu zerstören, als vordem, und so wachsen die einzelnen Katastrophen zu gesteigerter Höhe – mit ihnen wächst aber auch der Kampfmuth, der Trotz, und staunend blicken wir auf die fast unglaubliche Zähigkeit der um ihre Existenz ringenden Stämme. Was der Großvater dem Meere abgewinnt, wird dem Enkel wieder entrissen, und von seinem rückwärtsgeschobenen Deiche aus blickt er auf die Gewässer, welche über den Gräbern seiner Väter, über seiner Geburtsstätte, über den Triften seiner Heimath wogen. Doch unverdrossen beginnt er von Neuem die Deiche vorzuschieben, wieder und wieder zurückgeworfen, von Neuem vordringend, bis er endlich festen Fuß gefaßt und ein blühendes Heimwesen hinter seinen Deichen geschaffen hat – um dann mit ergrautem Haare in einer einzigen Sturmnacht das Werk seines Lebens mit Kindern und Enkeln in den Fluthen versinken zu sehen, den wenigen Ueberlebenden es überlassend, da wieder zu beginnen, wo er, wo der Urgroßvater begann. Wahrlich, es gehörten Menschen von hervorragenden Eigenschaften dazu, solches zu leisten. Schon Tacitus rühmt die Tugenden gerade unserer Küstenbewohner, und so hat auch die Nordsee im Verlaufe der weiteren Geschichte viele derjenigen Stämme in’s Binnenland gesandt, welche sowohl als Staatenzerstörer, wie als Staatengründer mit Ruhm genannt werden. Ebenso prächtig wie treffend charakterisirt ein Chronist des siebenzehnten Jahrhunderts diese Küstenbewohner, indem er sagt, sie seien „stark von Leib, hoch von Geist, steif von Sinnen, ernsthaft und landbegierig“.
Wie die Geschichte dieser Menschen und ihrer Gemeinwesen, so ist aber auch die Gestaltung unserer Küste selbst eine Riesenchronik der Sturmfluthen. Jahrtausend um Jahrtausend hat das Meer dem Lande neues Land zugeführt, in jeder Stauzeit eine neue, fruchtbare Schicht ablagernd, aber es hat sich auch als furchtbarer Wucherer erwiesen, was es gab, hat es nur allzu oft mit Zinseszinsen in einer einzigen Sturmnacht zurückgenommen.
Wollten wir ein Bild der Küste entwerfen, wie sie einst war, so müßten wir den Leser theils weit hinaus in’s Watt oder in die See führen, theils an der Küste allenthalben Verlorenes ersetzen. Hier riß das Meer die Küste aus einander und schuf Inseln daraus; dort zerriß es Inseln und häufte den Ueberrest als Dünen an’s Festland; hier drang es meilenweit in’s Land ein; dort spaltete es Flußmündungen zu breiten Meerbusen aus einander; wo einst stattliche Viehheerden auf üppigen Wiesen weideten, zieht jetzt Fluth und Ebbe durch eine viel befahrene Seestraße, wo reichbevölkerte Städte und Dörfer lagen, streckt sich jetzt ödes, graues Watt – kurz, unsere ganze zerklüftete Küste bietet das Bild der Zerstörung. War doch z. B. zu Karl’s des Großen Zeit das Land der Friesen doppelt so groß wie jetzt; wird doch der Gesammtverlust der Niederlande auf 125 Quadratmeilen berechnet. So ist das jetzige Nordfriesland nur der Ueberrest glücklicher Marschlande, und wenn der mythische Südstrand wirklich existirte, konnte man einst trockenen Fußes bis eine Meile vor Helgoland gelangen. Wer vom Felsen Helgolands in die See und Dünen hinausblickt, denkt schwerlich, daß hier einst vieh- und kornreiche Ländereien, viele Kirchspiele mit Kirchen und Klöstern sich weit hinaus erstreckten; von Wilhelmshaven blickt man auf ein Gebiet, wo jetzt die „salze Fluth“ wogt, auf den Jahdebusen, wo einst blühende Ortschaften lagen, von denen jetzt nur als trauriger Rest die oberahnischen Felder wie ein grüner Grabhügel über dem Versunkenen emporragen, und so wird man, Meile um Meile an der Küste hinschreitend, allenthalben auf die Spuren der Sturmfluthen treffen – besteht doch der ganze Inselkranz nur aus Ruinen, aus den zerrissenen Ueberresten einer zusammenhängenden Dünenkette.
Bei diesen Zerstörungen sind zwei Erscheinungen aus einander zu halten – einerseits die einfache Ueberschwemmung des Landes durch die See und andererseits der wirkliche unmittelbare Substanzverlust, wenn man so sagen darf. Es wäre ganz unbegreiflich, wie Hunderte von Quadratmeilen vollständig aus der Küste herausgerissen werden könnten, wenn die Erklärung nicht in einer geologischen Erscheinung läge, die sich längs der ganzen Küste wiederholt: in den Unterwassermooren. Zur Zeit einer früheren Senkung der Küste ist die darauf befindliche Vegetation zu Torf umgebildet [840] worden, auf dem sich Sand- und Marschboden ablagerte; bei einer folgenden Hebung der Küste wurde das Ganze gleichfalls gehoben, die Sand- und Humuslast preßte aber das Torflager darunter zusammen und sank in Folge dessen unter das Niveau des Meeres. Eine tief in’s Land hereinbrechende Sturmfluth wühlte sich dann in die untenliegende Torfschicht ein, hob sie und zog so der darauf ruhenden Marschlandschaft gleichsam den Boden unter den Füßen weg. So entstanden die Meerbusen vom Jahdebusen bis zur Zuidersee. Manchmal wurden von diesen zerstörten Strecken zusammenhängende Theile durch die See fortgetragen und anderwärts auf die Küste geworfen, wie es z. B. den Eiderstedtern in der Marcellusfluth von 1300 erging, denen sich ein Torflager auf ihre Aecker legte, um das sich dann ein Proceß mit den früheren Eigenthümern des Torflandes auf Nordstrand entspann.
Wenn wir nun an die chronologische Zusammenstellung der hauptsächlichsten Sturmfluthen herantreten, machen sich zunächst einige allgemeine Gesichtspunkte geltend.
Bei einem Ueberblicke über die Reihenfolge der Sturmfluthen tritt die Thatsache hervor, daß bis zur Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts Zahl und Umfang der Katastrophen zu-, von da an abnimmt. Es wäre nun ein großer Irrthum, dies einer Veränderung der elementaren Gewalten zuzuschreiben. Die Erklärung dieser Thatsache liegt vielmehr in der früheren Unzulänglichkeit der Deiche bei zunehmender Bedeichung und Besiedelung des Landes. War es anfangs mangelhafte Organisation, Mangel der Mittel oder auch theilweise Trägheit, so kam später, wo man dem Deichbau die eingehendste Sorgfalt widmete, eine wirkliche Unkenntniß der Zulänglichkeit des Deiches hinzu, wofür uns ein recht deutliches, geradezu tragisches Beispiel von der nordfriesischen Insel Nordstrand überliefert worden ist. Nachdem Nordstrand in der Fluth von 1615 furchtbar mitgenommen worden war, baute man die Deiche fester und höher, sodaß der Deichgraf, nach Vollendung der Arbeiten, den Spaten einstieß mit dem kecken Rufe: „Trotz nun, blanke Hans!“ Und die See nahm die Herausforderung an; wenige Jahre darnach brach sie an vierundzwanzig Stellen zugleich in die Deiche ein und verwüstete die Insel so, daß nur noch geringe Ueberreste in unseren Tagen bestehen.
Eine anderweitige auffallende Thatsache ist die, daß besonders verheerende Fluthen im Laufe der Jahrhunderte an gewissen Tagen wiederkehren, sodaß diese letzteren eine düstere Bedeutung erhielten und zu Buß- und Bettagen wurden. So sind am „St. Gallus-Tag“ sieben große Fluthen verzeichnet, weshalb man in ganz Friesland den 16. October als großen Unglückstag feierte. Schlimm ist auch „Allerheiligen“, worauf der folgende Vers deutet:
„Allerhiligen Tag
Freßland wohl beklagen mag.“
Diesen Unglückstagen schließen sich noch an Weihnachten, die heiligen drei Könige, der Tag der heiligen Cäcilie, Walpurgis und einige mehr. Besonders hohe Fluthen haben sich im Gedächtniß des Volkes unter dem Namen der „Manntränke“ erhalten, insofern die Menschen „Mann an Mann“ ertranken. Der Glaube, alle vierzig Jahre breche eine große Fluth herein, steht mit der Geschichte nicht gerade im Widerspruche. Diese Wiederholung an bestimmten Tagen hängt wesentlich damit zusammen, daß bei Voll- und Neumond, besonders in Verbindung mit einem Umschlagen des Sturmes aus Südwest nach Nordwest, die verderblichsten Fluthen einzutreten pflegen.
Die früheste, in ihren Wirkungen großartigste Sturmfluth hat keines Menschen Hand verzeichnet; sie hat sich selbst ihre Geschichte in der Gestaltung der Küsten geschrieben: Sie brach das felsige Bindeglied zwischen Frankreich und England; sie schuf jene Seestraße, die wir heute den Canal nennen, und streute den Schutt der einbrechenden Mauer hundert Meilen weit in’s Land. Aber wenn auch kein Mensch uns von diesem gewaltigen Erreignisse berichtet, Menschen gab es doch schon damals; denn die Spuren ihres Daseins finden wir zwischen jenem Schutt. Eine Sage deutet – um dies nebenbei zu bemerken – auf jene Zerstörung hin, indem sie erzählt, eine englische Königin habe, um sich an einem dänischen Könige zu rächen, die Scheidewand durchgraben lassen, und so Land und Leute des Dänenkönigs vernichtet.
Die erste sichere Erwähnung einer Sturmfluth knüpft an das Erscheinen der Germanen auf der Weltbühne, an die Invasion der Cimbern und Teutonen im römischen Reiche an. Von dieser, speciell von der Wanderung jener Stämme, berichtet Strabo, sie solle durch eine große Fluth veranlaßt worden sein, doch, setzt er ungläubig hinzu, sei dies nicht anzunehmen, da ja Fluth und Ebbe eine ganz regelmäßige Erscheinung sei. Er wußte also offenbar nichts von Sturmfluthen, um so deutlicher spricht hier aber die Ueberlieferung einer solchen aus seinen Worten. Aus den späteren Zeiten besitzen wir keine oder nur ungenaue Nachricht über Sturmfluthen; erst mit dem elften Jahrhundert, das drei größere Fluthen aufweist, beginnt die unheimliche Reihe der uns mehr oder weniger genau überlieferten Katastrophe.
Das zwölfte Jahrhundert bringt namentlich in seiner ersten Hälfte eine Reihe schwerer Fluthen; so 1144, wo die See zwölf Meilen tief in’s Land drang, und 1162, die erste „Manntränke“, welche viele Tausende von Menschen und Massen von Vieh ertränkte. Gegen Ende des Jahrhunderts nimmt die Bildung der Zuidersee ihren Anfang.
Das dreizehnte Jahrhundert, ein an mächtigen Sturmfluthen besonders reiches, beginnt und endet mit furchtbaren Fluthen. 1216 kam eine solche mit schrecklicher Gewalt über die Marschen; sie raffte auf Nordstrand allein 10,000 Menschen fort, und schon am 16. November 1219 wüthete dann die Marcellusfluth, welche ihrer Vorgängerin nichts nachgiebt und wohl ebenso viel Menschen ertränkte. Jahr auf Jahr neue Fluthen. Darunter die Weihnachtsfluth von 1277, in welcher die Bildung des Dollart beginnt und dreißig Ortschaften zu Grunde gehen. Das begonnene Zerstörungswerk vollendet die zehn Jahre später, am 14. December 1287, hereinbrechende Sturmfluth, welche der Zuidersee und dem Dollart ihre heutige Gestalt gaben, wobei 80,000 Menschen ihr Leben verloren. Aber als hätte das verderbliche Jahrhundert mit der verderblichsten Fluth schließen wollen, so kam am 16. Januar 1300 die zweite Marcellusfluth, welche vier Ellen hoch über die höchsten Deiche schwoll und bei der in Schleswig allein gegen 7600 Menschen zu Grunde gingen, auf Helgoland Alles bis auf zwei Kirchen zerstört wurde.
1330 versinkt in Nordfriesland Rungholt mit sieben Kirchspielen, und andere Fluthen folgen in der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts, während zugleich der schwarze Tod Verderben über die Lande trägt. Dann bricht um die Mitternacht des 8. December 1362 die große Manntränke herein; in Nordfriesland gehen dreißig Kirchspiele, in Ostfriesland Torum mit fünfzig Ortschaften zu Grunde, und dieser Fluth folgen im Laufe des Jahrhunderts noch sechs weitere.
Das fünfzehnte Jahrhundert bringt elf größere Fluthen, namentlich die vom 1. December 1421, in welcher an der Rheinmündung der Biesbosch entstand, wobei 72 Dörfer und 100,000 Menschen untergingen, und die Fluth von 1425, bei welcher 10,000 Menschen an den Elbufern ertranken.
Das sechszehnte Jahrhundert beginnt mit der Antoniusfluth von 1511, bei welcher die Fluthen in die alte Wesermündung einbrechen und den Jahdebusen bilden, drei Dörfer vernichtend. Es folgt die Manntränke vom 2. November 1532; dann aber stehen wir vor der schrecklichsten Fluth aller Jahrhunderte – der Allerheiligenfluth von 1570, in welcher, mitten in der Nacht losbrechend und achtundvierzig Stunden wüthend, der Ocean sich über die ganze Küste von Holland bis Jütland warf; alle Deiche wurden gebrochen; nichts widerstand, gegen 400,000 Menschen ertranken, und jahrelang lagen da, wo einst blühende Marschen waren, öde Wüsteneien, weil Niemand vorhanden war, der die Deiche wieder aufrichten, das Land wieder bebauen konnte.
Es folgt das siebenzehnte Jahrhundert mit elf größeren Fluthen, vor Allem die schwere vom 11. October 1634, welche fast ganz Nordfriesland zerstörte und ihm im Wesentlichen die jetzige Gestalt verlieh; 44 Deichbrüche fanden statt; 20 Kirchspiele gingen zu Grunde; 15,000 Menschen ertranken.
Eine höchst wunderliche Fluth – man könnte sie in Vergleich mit den anderen eine gemüthliche nennen – erschien 1630 in den Wesermarschen; an einem schönen Sommertage stieg das Wasser still höher und höher, überströmte den Deich, ruinirte die Ernte und zog sich gerade so still wieder zurück.
Im achtzehnten Jahrhundert ist es hauptsächlich die schreckliche Weihnachtsfluth von 1717, welche über die gesammte Küste schweres Unheil brachte; 15,000 Menschen gingen zu Grunde. Drei andere hohe Fluthen folgten im Laufe des Säculums.
In unserem Jahrhunderte ist es namentlich die Fluth in der Nacht des 3. Februar 1825, welche noch in dem Gedächtniß aller
[841] [842] Küstenbewohner, namentlich Nordfrieslands und der Elbmarschen, lebt, da diese ganz besonders litten. Es war eine Vollmondspringfluth mit schwerem Sturm, und seit einem Jahrhundert war keine Fluth von solcher Höhe hereingebrochen. Aber trotzdem nahmen die Verluste nicht die Ausdehnung an, wie in dem vorhergehenden Jahrhundert; denn seitdem waren die Deiche doppelt so hoch und stark geworden, sodaß nun auch die Fluthen von 1845, 1850 und 1855 nicht mehr Zerstörungen von größeren Dimensionen anzurichten vermochten.
Dem Geschilderten brauchen wir kein Wort hinzuzufügen – diese furchtbare Chronik liest sich wie ein Bericht von den Schlachtfeldern eines endlosen, blutigen Krieges, und wenn wir staunend den Blick von diesem titanenhaften Ringen der Menschen mit dem Ocean abwenden, liegt es nahe, daß wir ihn besorgt auf die Zukunft richten, und die Frage tritt an uns heran: Sehen unsere Marschen nochmals solchen Katastrophen wie den geschilderten entgegen? Die Antwort hierauf kann nur eine relative sein.
Insofern die Deiche in ihrem gegenwärtigen gewaltigen Bau, und die nächste Zukunft, die nächsten Jahrhunderte in Frage kommen, kann man, soweit menschliche Erfahrung reicht, von einer ziemlich absoluten Sicherheit sprechen; eine Gefahr könnte wohl nur dann entstehen, wenn zwei ganz ungewöhnlich furchtbare Fluthen einander unmittelbar folgten, sodaß Alles, was die erste zerstört hatte, beim Andringen der zweiten noch nicht wieder hergestellt war.
Anders gestaltet sich die Lage, wenn wir über die nächsten Jahrhunderte weg in die Zukunft blicken. Der Inselkranz vor unseren Küsten unterliegt einer fortwährenden Zerstörung; gemessen mit dem Umfange, den sie in sicheren Jahrhunderten hatten, haben einzelne Inseln über die Hälfte ihrer Ausdehnung eingebüßt und in unserer, der neuesten Zeit ist z. B. Wangerooge zum verlorenen Posten geworden, den die Bewohner räumen mußten. Hand in Hand mit den Zerstörungen durch die Fluthen geht nun eine Senkung des ganzen Küstenstriches von Jahrhundert zu Jahrhundert, und wird diese nicht durch eine Hebung abgelöst, so sind die sämmtlichen Inseln ihrem Schicksal verfallen. Sind aber erst diese Wellenbrecher im Meere versunken, so ist das Vorland das nächste Angriffsobject der Fluthwellen, und ist dieses zerspült und zerstört, dann hat wohl die Stunde neuer Kämpfe für unsere Marschen geschlagen.[1]
„Und leider auch Theologie“ – läßt Goethe den Doctor Faust die Aufzählung seiner Studien schließen. Eine Zeitlang schien es, als habe die faustische Abneigung Goethe’s gegen die Mysterien der Dogmatik sich auch unserer akademische Jugend bemächtigt. Die theologischen Hörsäle wurden leerer und leerer; die Consistorien klagten über die Spärlichkeit des geistlichen Nachwuchses; Patrone und Gemeinden boten Pfarrstellen, namentlich schlecht dotirte, wie Waare aus, die keinen Käufer findet.
Ein unerwartet schneller Umschwung der Dinge hat gegenwärtig das frühere Verhältnis nahezu wieder hergestellt und den theologischen Docenten neue Zuhörer, den Heerden neue Hirten gebracht. Nach wie vor prangt in den Verzeichnissen der Vorlesungen, die an deutschen Universitäten gehalten werden, an erster Stelle die Theologia sacra, zum Zeichen, daß ihre Vertreter den Lehrern anderer Wissenschaften zum mindesten ebenbürtig erachtet werden. Nach wie vor nehmen die Geistlichen in der Gesellschaft eine in mehr als einer Beziehung hervorragende Stellung ein. Nach wie vor üben diejenigen unter ihnen, denen die Nähe der Fürstenhöfe Rang und Pfründe verleiht, einen unberechenbaren Einfluß, welcher, wie Kundige behaupten, über die Leitung kirchlicher Angelegenheiten hinaus, in die hohe und niedere Politik nicht erfolglos eingreift.
Wie mag es nun zugehen, daß trotzdem ein beträchtlicher Theil der Gebildeten, und zwar auch solcher, die für ihre Person und ihre Familie mit den kirchlichen Traditionen nicht gebrochen haben, den ehrwürdigen Gestalten im schwarzen Rocke und weißer Binde gern aus dem Wege geht, mit Vorliebe an ihnen seinen Witz übt, über ihre Leistungen geringschätzige Urtheile fällt, sie für allerlei Unheil in irdischen und himmlischen Dingen im Ernst und Scherz verantwortlich macht? Der ganze Stand als solcher ist ohne Zweifel so ehrenwerth wie irgend einer. Aber eine Eigenschaft haftet in der That vielen, um nicht zu sagen den meisten Theologen an, die wohl im Stande ist, sie auch bei vorurtheilsfreien Leuten mißliebig zu machen, eine Eigenschaft, die ihnen nachläuft, wie der Schatten dem Lichte. Das ist, um es kurz auszusprechen, ihre Rechthaberei, ihre Streitsucht.
Streitende Theologen – wer hätte sie noch nicht gesehen auf Synoden und Kirchentagen, bei Festen und Mahlzeiten, in Wartezimmern und Eisenbahncoupés? Wer hätte nicht schon ihren Schlachtruf erschallen hören in kirchlichen und politischen Zeitungen? Wer wüßte nicht, daß gerade gegenwärtig um vielumworbene Kanzeln der Hauptstadt des deutschen Reiches ein hitziger Kampf entbrannt ist, in welchem das „Hie orthodox!“ „Hie liberal!“ von rechts und links sinnverwirrend durch einander klingt? „Streitende Theologen“ hat auch der Maler des vortrefflichen Bildes, an welches unsere Bemerkungen sich anlehnen, den Beschauern der „Gartenlaube“ vorgeführt. Das ist einmal ein Bild, aus der Mitte des Lebens herausgegriffen, ungekünstelt und doch von der Kunst geboren.
Ja, seht sie euch einmal genau an, diese Köpfe, diese Figuren, dieses Mienenspiel, diese Gruppirung! Unter dem Vorsitze des Herrn Superintendenten tagt in einfacher Amtstube eine geistliche Conferenz. Aus Stadt und Land sind die „lieben Brüder“ erschienen; die Bewillkommnungen durch Händedruck und kräftigen Kuß sind gewechselt, die Grüße der daheim rüstig schaltenden Pfarrfrauen ausgetauscht, die Formalien erledigt worden. Ein wissenschaftlicher Gegenstand ist auf die Tagesordnung gesetzt; das einleitende Referat erstattet worden; die zusammenfassenden Thesen vorgelesen worden; die Debatte ist in vollem Gange. Vor allen Dingen fesseln uns die beiden Hauptgestalten der Versammlung. Halb von seinem Sitze erhoben, halb über den Tisch gebeugt, das Haupt eifrig vorgestreckt, trägt soeben ein in vorgerückten Jahren stehender Herr seine Meinung vor. Sein Auge leuchtet in stechendem Glanze; seine Züge sind gespannt; sein Kinn verräth Enegie, sein Mund schneidige Beredsamkeit. Die Linke hält das Taschentuch, den perlenden Schweiß der Erregung von der Stirn zu trocknen. Ueberaus charakteristisch ist die Geberde der rechten Hand. Beinahe rechtwinkelig gebogen ruht sie auf einem angeschlagenen Folianten; der Zeigefinger ist fest und sicher auf einen Punkt gestemmt. „Hier steht’s geschrieben; hier steht’s schwarz auf weiß; wer will das Wort anfechten, wer die Buchstaben leugnen? Hier stehts, und dabei bleibt’s!“ Ob dem Redner sein großes Vorbild, der Doctor Luther, vorschwebt, wie er auf der berühmten Zusammenkunft in Marburg, wo man über die Bedeutung der Abendmahlsfeier verhandelte, mit Kreide auf den Tisch schrieb: „Das ist mein Leib“, und allen Einwürfen und Bedenken Zwingli’s zum Trotz immer wieder auf die Kreidebuchstaben hinwies: „das ist, das ist“? Ob das Gedächtniß des großen Reformators der entarteten Kirche, dem der Wortlaut der Bibel über Alles ging und der in hartnäckigem Eigensinn die von dem nachgiebigeren Schweizer gebotene Bruderhand ausschlug, ihn in seinem Entschlusse bestärkt, von dem Buchstaben der heiligen Schrift auch nicht ein Jota abmarkten zu lassen? Ein Zwingli nun zwar scheint der Gegner des lutherischen Heißsporns nicht zu sein: dazu ist sein Kopf zu fest, seine Haltung zu überlegen. Man sieht es dem hochwürdigen Herrn an, daß er sich nicht einschüchtern läßt, daß er den Ausführungen des „geliebten Bruders und geehrten Vorredners“ seinen Zweifel und Widerspruch entgegensetzt. Mit Bedeutung erhebt er die wohlgepflegten Hände; mit salbungsvoller Rede und feiner Ironie sucht er seinen Widerpart zu widerlegen. Fanatismus ist es nicht, was auf seiner Stirn thront und von seinen Lippen fließt, sondern es ist die milde Ruhe und vornehme Abwehr eines wohlunterrichteten Mannes. Vielleicht, daß die weltliche Bildung der Zeit auch an seinem Geiste nicht spurlos vorübergegangen ist, daß er der Gedankenentwickelung eines Schleiermacher – versteht sich, mit allen Vorbehalten des rechten unverfälschten Glaubens – nicht ungern folgt, daß er sich, mehr im Stillen als ausgesprochenermaßen, zu den von Halle und Berlin aus geleiteten Vermittelungstheologen zählt. Wer wird Recht behalten im Streit? Wird die Milde über die Strenge, die Vermittelung über die Consequenz den Sieg davontragen?
Blicken wir uns doch in der übrigen hochwürdigen Gesellschaft ein wenig um, damit wir womöglich die Stimmung der Majorität erfahren, die ja auch unter den Gläubigen nicht unterschätzt zu werden pflegt! Der Herr zur Linken des Superintendenten sieht nicht so aus, als werde er sich im nächsten Augenblick in den Streit seiner Nachbarn mischen. Nachdenklich sitzt er da, die Arme gekreuzt, schweigend den Verhandlungen folgend; seine ernsten Mienen sind nur von einem flüchtigen skeptischen Lächeln erhellt. Er weiß, daß Glaubensfragen nicht durch Pastoren-Conferenzen entschieden werden; sein Arbeitsfeld ist mehr die stille Studirstube mit ihrem Augustinus und Neander als der Markt der Parteien. Die weiße Halsbinde liebt er für seine Person nicht; ein schwarzes Halstuch umschließt den etwas altmodischen Kragen, und so erscheint er schwärzer als die übrigen Herren, unter denen er sicher nicht der schwärzeste ist. – Sei uns gegrüßt, du freundlicher Greis an seiner Seite, du mit dem schneeweißen Haar, auf welchem das Sammetkäppchen da thront, wo einst vor vielen, vielen Semestern dem flotten Burschen das Cereviskäppchen saß! Wohl bekomme dir das Prischen, das du eben aus der silbernen Jubiläumsdose zur Nase führst, während du deinem Nachbar eine Bemerkung zuflüsterst, die ohne Zweifel den Sinn hat, daß „zu deiner Zeit“ der würdige Wegscheider oder der gelehrte Gesenius die fragliche Bibelstelle ganz anders ausgelegt haben, als dieses neumodische Geschlecht sie versteht. Wem zauberte dein Anblick ein Bild ländlicher Idylle nicht vor die Seele, das hundertjährige Pfarrhaus mit ragendem Giebel, von wilden Weinreben umsponnen, den Wirthschaftshof mit watschelnden Gänsen und gackernden Hühnern, den stattlichen Gemüsegarten mit traulicher Geisblattlaube und lockenden Aepfeln? Alterchen, „deine Zeit“ ist bald dahin; hinter deinem Pfarrgarten pfeift die zudringliche Eisenbahn vorbei; in deine Gemeinde bricht mit Macht der Strom der neuen Bildung ein, und nur noch in den Erzählungen der Großmütter und den Dichtungen der Poeten wandelt bald deine ehrwürdige Gestalt.
„Seid ihr bald fertig mit dem Disputiren?“ So fragt innerlich, ohne daß eines Confraters Ohr etwas von der Frage erlauschte, der behäbige [843] Dicke an der Schmalseite des Tisches. Es giebt doch noch bequeme Stühle in der Welt, an deren gepolsterter Rückwand man nicht nur sein müdes Haupt bergen kann, sondern auf deren Armlehnen auch die Ellenbogen den Stützpunkt finden, dessen die gefalteten Hände zur würdigen Fassung bedürfen. Er scheint zu beten – ob er wohl den Himmel anruft, daß er die sündige Welt bald in Bausch und Bogen bekehren möge? ob er wohl aus den Bitten des Vaterunsers insbesondere die vierte „unser täglich Brod gieb uns heute“ zum Gegenstande seiner Privatandacht macht? Das runde Bäuchlein und das feiste Unterkinn lassen darauf schließen, daß ihm am pünktlichen Eingehen seiner Sporteln ungleich mehr gelegen sei, als an dem oratorischen Erfolge seines Amtsnachbars, den er für einen unverbesserlichen Streitbold hält, und daß er bei dem nun hoffentlich bald beginnenden Conferenzessen im „Schwarzen Stern“ eine viel activere Rolle spielen werde, als bei der langweiligen Disputation über „das ist“ und „das bedeutet“.
Und nun zu dem vierblätterigen Kleeblatt, welches dem geistlichen Falstaff gegenüber gleichsam an einem Stengel sitzt – vier Diener des Evangeliums, nicht vier Evangelisten. Zwar der nach innen sitzende mit dem vierschrötigen Gesicht, dem massiven Munde und ein wenig ungeordneten Haar hat etwas, was an den Stier des Lucas erinnert; er ist ein Landpastor aus einem Guß, der mit „seinen“ Bauern um so besser fertig wird, je näher er selbst nach Anschauung und Lebensweise ihren Gewohnheiten und Bedürfnissen steht. Auch Marcus hat seinen Epigonen gefunden: der glattrasirte Herr ohne Brille mit den dräuenden Augenbrauen mahnt von weitem an den Löwen dieses Evangelisten; freilich ist er ein zahmer Löwe, der nur, wenn er mit des Basses Grundgewalt auf seiner Kanzel donnert, ängstliche Gemüther fürchten macht. Pseudo-Lucas und Pseudo-Marcus vermögen nicht ohne Schwierigkeit den Subtilitäten der Vorträge des Tages zu folgen. Aber Matthäus und Johannes haben die Rollen getauscht: jener hat diesem den Adler als unsichtbares Attribut abgetreten. Jener, der am Rande des Bildes seinen Platz hat, trägt zwar den neumodischen Lutherrock und Stehkragen, zum Zeichen, daß er ein rechter Pfarrer sei, aber damit hat er das Kind der Welt noch nicht gänzlich ausgezogen, dessen Reflexe sich ab und zu nur in seinem nicht unsympathischen Gesicht spiegeln. In müßigen Stunden greift er gern einmal wieder zu seinem Horaz, dessen Lieder er als Primaner so eifrig gelesen hat, und in den Concerten der städtischen Capelle pflegt er nicht zu fehlen. Der letzte im Kleeblatt, mit dem sorgfältig in der Mitte gescheitelten Haar, dem Taubenblick und dem süßlichen Munde, der durch das erhobene Augenglas nach dem Texte der streitigen Bibelstelle schielt, ist ein „gar lieber“ Mann, der Vertraute aller Geheimräthinnen, der Hausfreund in den Familien verabschiedeter Militärs. Innere und äußere Mission, conservativer Club und Gefängnißverein, Sonntagsschule und Magdalenen-Asyl – das alles trägt er in eifrigem Herzen und geschäftigen Händen. Man erzählt sich, daß ihm die demnächst zur Vacanz kommende, mit über 10,000 Mark dotirte Patronatsstelle des Barons von Iftelfingen, dem seine Gattin, eine geborene von Iftelfingen-Diftelfingen, weitläufig verwandt ist, nicht entgehen könne.
Sind wir zu Ende? Noch nicht! Ueber der Lehne des Armstuhls, in welchem der wohlbeleibte Herr Platz genommen hat, wird der obere Theil eines markirten Antlitzes sichtbar: ein Paar intelligente Augen überfliegen beobachtend die Scene. Wer mag der junge Mann sein, der sich in so bescheidener Reserve hält? Ein unlängst von der Universität Heidelberg heimgekehrter Candidat, seit einigen Monaten als Hülfsprediger einer größeren städtischen Gemeinde angestellt.
Der Eindruck, den er heute, wo er zum ersten Male an der amtlichen Conferenz Theil nimmt, empfangen hat, ist kein sehr ermuthigender. Wie viel Stumpfheit und Geistlosigkeit hat er bei seinen zukünftigen Standesgenossen gefunden! Was soll der Streit über Silben und Buchstaben in einem Kreise, der auf Sinn und Geist der heiligen Schriften hingewiesen ist und andere hinzuweisen hat? Soll denn der Hader über den Wortlaut der Glaubenssätze und Bekenntnisse wie eine Plage sich von Geschlecht zu Geschlecht schleppen? Soll auch er, der Jüngling mit dem idealen Geistesfluge und dem aufrichtig frommen Herzen, wider seinen Willen hineingezogen werden in die Leidenschaft der Parteien, in die Intriguen des Cliquenwesens? Möge er nie den Rückblick auf seine Studien mit dem wehmüthigen Geständniß schließen müssen, welches in seinem Munde wie die Klage über ein verfehltes Leben klingen würde: „und leider auch Theologie“!
Und wenn nun die Reden verstummt sind, die Folianten zugeklappt und die Sitzung aufgehoben, welches wird der Erfolg des Streites sein? Wird der eine den anderen überzeugt haben? Wird die Wissenschaft einen Gewinn einheimsen? Werden die Gemeinden einen Segen davon verspüren und eine Hebung ihrer religiösen und sittlichen Zustände davontragen? Wir glauben keines von alledem. Denn leider ist es denjenigen, die sich in theologischen Streitigkeiten gefallen, in der Regel nicht um wissenschaftliche Beweisführung und Belehrung, sondern um Hinüberziehen zum eigenen Glaubensstandpunkt, also um Bekehrung zu thun. Dazu kommt, daß die Art, in der solche Fehden geführt werden, sich durchaus nicht immer in den Grenzen der sachlichen Gegensätze und der persönlichen Würde hält. Wenn Philosophen, Juristen oder Mediciner streiten, so lassen sie einander, der wissenschaftlichen Differenzen ungeachtet, gewöhnlich die Ehre eines leidenschaftlosen, ihrem Bildungsgrade angemessenen Tones widerfahren. Wenn Theologen streiten, so gerathen sie oft hart an einander; der Kampf wird auf das Gebiet des Persönlichen hinüber gespielt und nimmt den Charakter der Gereiztheit und Gehässigkeit an. Jeder geberdet sich, als ob der Andere die Heiligthümer des Glaubens angetastet, die Grundlage der Kirche unterwühlt, den Bestand des Evangeliums in Frage gestellt, den Namen des Höchsten gemißbraucht habe, und als sei nun er selbst berufen, dem verirrten Schafe – nicht etwa mit Liebe und Geduld nachzugehen, um es der Heerde wieder zuzuführen, sondern ihm „wehe!“ nachzurufen, damit die treugebliebenen Schäflein glauben sollen, das verscheuchte sei ein räudiges gewesen. Ist es doch bereits dahin gekommen, daß Parteiversammlungen von Kirchenmännern ihren Verhandlungen oft dadurch die einzige Würze geben, daß sie über die Vertreter abweichender Richtungen ein Verdammungsurtheil nach dem andern fällen. In ähnlicher unverantwortlicher Weise haben die lutherischen Orthodoxen des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts durch ihre Silbenstechereien und Wortklaubereien das Volk um die Früchte der großen, preiswürdigen Befreiungsthat des deutschen Geistes betrogen. Und Viele von Denjenigen, die sich heute nach Luther’s Namen nennen, haben von ihm nichts weiter als den Starrsinn und die unbeugsame Hartköpfigkeit seines Wesens geerbt, die ihm als sein Theil menschlicher Unvollkommenheit anhaftete, aber kein Atom der Riesengröße seines Geistes, der den Plunder der Baalspfaffen des Mittelalters in Trümmer schlug.
Man täusche sich doch nicht: die künstliche Erregung gewisser exclusiv kirchlicher Kreise für lutherische Rechtgläubigkeit ist Strohfeuer von unheiligen Händen entzündet, früher oder später von widrigen Windstößen ausgelöscht. Aber unsere Gemeinden kümmern sich im großen Ganzen herzlich wenig um diese spitzfindigen Difteleien der Zionswächter über dogmatische Formulirungen ihres Christenglaubens; nicht Steine wollen sie, sondern Brod, lebendiges Brod, Nahrung des Geistes, Labsal des Herzens aus den unerschöpflichen Vorräthen des Evangeliums, dessen Ideal das Reich der Wahrheit, der Liebe, aber auch vor allem der Freiheit ist.
Explosion eines Diamanten. Vor einem halben Jahrhundert veröffentlichte der englische Physiker Brewster eine Abhandlung, in welcher er zeigte, daß Edelsteine der verschiedensten Art nicht selten mikroskopische oder auch dem bloßen Auge erkennbare Höhlungen enthalten, die mit einer in der Wärme sehr ausdehnbaren Flüssigkeit gefüllt sind. Er machte deshalb darauf aufmerksam, daß es nicht ohne Gefahr sei, Edelsteine zu tragen; denn wenn sich solche Höhlungen zufällig in der Nähe der Oberfläche befänden, so würde die Wärme der Haut unter Umständen hinreichen, „sie mit beunruhigender und selbst gefahrvoller Explosion zu zersprengen. Es ist mir nie ein solcher Zufall bekannt geworden,“ schloß Brewster seine Abhandlung; „hat er sich ereignet, oder sollte er sich künftig ereignen und träfe, um seinen natürlichen, merkwürdigen Charakter zu erhöhen, irgend ein unglückliches[WS 1] Ereigniß zufällig damit zusammen, so werden die in dem Vorhergehenden beschriebenen Erscheinungen hinreichen, ihn des Wunderbaren zu entkleiden.“ In einer vor einigen Monaten abgehaltenen Sitzung der Akademie der Wissenschaften von Philadelphia theilte Professor Leidy ein neueres Beispiel der von Brewster vorausgesehenen Edelstein-Explosionen mit und zeigte den explodirten Stein, einen in Gold gefaßten Diamanten von sieben Millimeter Durchmesser vor, der in einem Manschettenknopf von Achat steckte. Derselbe war ihm von einem Juwelier Namens Kretzmar mit der Mittheilung überbracht worden, daß der frühere Eigenthümer desselben eines Tages die Hand an seine Stirn gelegt habe, und daß dabei der Diamant so gewaltsam explodirt sei, daß er ein Fragment in die Hand und ein anderes in die Stirn getrieben habe. Eine nähere Besichtigung zeigte an der beschädigten Oberfläche eine kleine Höhlung, in welcher ein undurchsichtiges Stückchen Kohle in der Krystallmasse lag. Dieser Fall scheint die kürzlich in der „Gartenlaube“ ausgesprochene Meinung, daß der Diamant auch in der Natur unter hohem Dampfdruck entstanden sei, zu bestätigen. Wir wollen bei dieser Gelegenheit bemerken, daß der Verfertiger der „künstlichen Diamanten“, J. B. Hannay in Boston, der Londoner königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in einer Julisitzung genauere Mittheilungen über die von ihm angewendete Methode gemacht hat, und daß dieselbe darin bestanden hat, in einer starken zugeschweißten Eisenröhre eine Mischung von Paraffinöl, nebst zehn Procent Knochenöl mit einem Alkalimetall zum Glühen zu erhitzen. Der Entdecker ist übrigens mit seinen bisherigen Ergebnissen unzufrieden und will demnächst eine neue Reihe von Experimenten beginnen.
Das Denkmal von Folkestone. Fast drei Jahre sind dahingegangen, seit die Schreckensbotschaft von dem Untergange eines unserer größten und schönsten Panzerschiffe mit seinem kostbaren Inhalt an maritimem Material und seinem noch unendlich kostbareren an Menschenleben uns erreichte, seit der „Große Kurfürst“ in den Wellen versank. Was damals bei der ersten Kunde davon alle Herzen in tiefem Wehgefühl und Schmerz ergriff, und nachmals, in fast leidenschaftlichem Für und Wider sich Bahn brechend, noch so lange in ihnen nachzitterte, das findet jetzt auf dem stillen kleinen Marinekirchhof zu Folkestone seinen endlichen Abschluß. Das Vaterland errichtet dort seinen ehrenvoll in ihr nasses Grab gesunkenen Söhnen, die Marine ihren unvergessenen Cameraden ein Denkmal, das noch späten Geschlechtern im fernen Lande erzählen soll, wie deutsche Männer in ihrem Beruf zu sterben wußten.
In Folgen einer vorn Marineminister Stosch ausgegangenen Anregung wurde unter den Mannschaften und Officieren der Marine eine allgemeine Sammlung veranstaltet und der Erlös derselben zur Errichtung des in unserer Illustration dargestellten Denkmals verwendet. Dasselbe ist von Professor E. Luerssen (nicht zu verwechseln mit seinem Bruder, dem Bildhauer A. Luerssen) ausgeführt worden.
Auf grauen Granitstufen erhebt sich ein Obelisk aus weißem Sandstein, dessen Spitze zum Theil mit der Flagge der kaiserlich deutschen [844] Marine bedeckt ist, und welcher auf der vorderen Wand auf einem Anker den Reichsadler und in diesem den preußischen Adler, weiter unten dagegen die Widmung trägt.
An dem Sockel des Denkmals bemerkt man ferner auf der vorderen Wand desselben einen kleinen Schild mit einem Eichenkranze und zwei über ihm liegenden Palmenblättern, während die Ecken aus Ornamenten, welche Löwenköpfe darstellen, gebildet werden. In die übrigen drei Wände des Obelisken hat der Meißel des Künstlers die Namen der 269 Verunglückten, noch im Tode nach den Chargen geordnet und mit dem Capitain-Lieutenant Ludwig an der Spitze, eingehauen.
Ferne sei es von uns, jene vorerwähnten und, Gottlob, überwundenen Zeiten erbitterten Kampfes über Ursache und Wirkung, Schuld oder Nichtschuld, hier noch einmal heraufzuschwören! Angesichts der friedlichen Ruhestätte jenseits des Meeres könnte Nichts unangemessener sein.
Auch nicht der Verdienste der Lebenden sei hier gedacht. Nur derer ist es heute unsere Pflicht zu gedenken, die für irdisches Lob nicht mehr erreichbar sind, und einen Kranz dankbarer Erinnerung an den Stufen des Denkmals niederzulegen, das den „Dahingeschiedenen“ geweiht ist.
Musterhaft war die Disciplin an Bord des sinkenden Schiffes, wahrhaft heroisch das Ausharren eines Jeden auf seinem Posten.
Die kriegsgerichtliche Untersuchung hat ergeben, daß alle Befehle ebenso ruhig und sicher ertheilt, wie sie schnell und pünktlich ausgeführt worden sind.
Das Aufschließen der Arrestantenzellen, das Räumen des Lazareths, das Herablassen der noch erreichbaren Boote, Alles ist mit einer Präcision vor sich gegangen, als habe es sich nicht um Leben und Tod für jeden Einzelnen, sondern etwa nur um Ausführung eines schwierigen, höchste Eile heischenden Manövers gehandelt. Viele haben gerade bei diesen Dienstleistungen ihr Ende gefunden. Zwiefache Ehre ihrem Angedenken! Auch fremde Augenzeugen, zumal englische, bekunden mündlich und schriftlich, daß die Ruhe und Ordnung am Deck des „Großen Kurfürst“ bis zum Ende eine über alles Lob erhabene gewesen sei. Keine kopflose Verwirrung, kein Ueberstürzen nach den rettenden Booten, keine lauten Ausbrüche unmännlicher Verzweiflung hätten sich bemerkbar gemacht. Selbst da, als schon der Befehl gegeben war, alle hemmenden Kleidungsstücke abzuwerfen und die einzig noch mögliche Rettung im Schwimmen zu suchen, habe man deutlich die befehlenden Stimmen des bis zuletzt pflichtgetreu ausharrenden und nachher so wunderbar erhaltenen Commandanten und der unerschrockenen Officiere gehört, und selbst da sei ihren Zurufen noch Folge geleistet worden.
So sind sie dahingesunken in das Element, das sie geliebt und dem sie vertraut. Viele, nach harten Kämpfen um’s Dasein, von herbeieilenden englischen Booten oder von denen des „König Wilhelm“ gerettet, Andere in den wenigen glücklich „zu Wasser“ gekommenen des „Kurfürst“ geborgen, noch mehr aber zu Grunde gegangen und dann als Leichen an’s Land geschwemmt, oder hinausgetrieben in die unendliche See, sie Alle haben die schwerste Aufgabe mannhaft gelöst. Gefaßt und gottergeben sind sie einem schrecklichen Tode entgegengegangen, ohne die vorherige Erregung eines Kampfes für theure, heilige Güter, ohne die erhebende Hoffnung eines endlich winkenden Sieges, ja selbst ohne den letzten Trost eines für ihr wackeres Sterben ihrer harrenden bekränzten Heldengrabes.
Kann es aber auch nicht der Lorbeer des Siegers sein, den wir auf die Stätte niederlegen, die ihrem Gedächtniß geweiht ist, seine Palme ist es sicher. So schlaft denn sanft, ihr wackeren Söhne deutscher Erde, wo auch euer Gebein den letzten Ruheplatz gefunden haben möge! Das Denkmal zu Folkestone aber hebe sich im fremden Lande empor, als ein leuchtendes Wahrzeichen des um seine Kinder trauernden, dankbaren Vaterlandes!
Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal dieses Jahrgangs. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.
In unserem Verlag erschien soeben:
- ↑ Ueber die zum Schutz unserer Nordsee-Inseln bekanntlich regierungsseits vorgenommenen Maßregeln werden wir bald einen Aufsatz aus der Feder eines Fachmannes bringen.D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: ungückliches