Die Gartenlaube (1879)/Heft 25
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No. 25. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
Ein kaltes Lächeln zuckte um Mercedes’ Mund. Sie war offenbar nicht gewohnt, einen ihrer Aussprüche zu verleugnen, mochte er auch noch so rücksichtslos sein. Hatte Felix nicht gesagt, der Mann da oben habe die Schilling’schen Familiengüter mit der ungeliebten „langen Cousine“ zurückgeheirathet? – Nun wohl, es geschah ihm ganz recht, zu erfahren, daß er dadurch bei Anderen den Glauben an seine makellos ideale Richtung verwirkt habe. Ihre Augen begegneten mitleidlos, ja, mit grausamer Genugthuung, fest dem empörten Blick, der sie fixirte. Aber plötzlich stieg ein jähes Roth in ihr Gesicht, und die stolze Frau nahm eiligst das lang nachschleppende Gewand auf, um das Arbeitszimmer zu verlassen, das sie ohne die Aufforderung des Besitzers betreten hatte, vorher aber mußte sie sich schlechterdings zu einigen entschuldigenden Worten bequemen.
Er stieg die Wendeltreppe herab, und sie deutete, ihm um wenige Schritte entgegentretend, nach dem Glashause.
„Pirat hat Unheil angerichtet,“ sagte sie mit einer leicht grüßenden Neigung des Kopfes. „Ich hörte den Lärm in der Allee, und die Besorgniß, daß Ihr Eigenthum beschädigt werden könnte, hat mich hierher getrieben.“
„Es bedarf durchaus keiner Entschuldigung für Ihre Anwesenheit im Atelier, gnädige Frau,“ versetzte er kalt. „Es steht jederzeit offen für Besucher aus der Stadt, wie aus der Ferne. Ein Atelier ist ja weder Familienzimmer, noch Boudoir,“ setzte er kühl und flüchtig lächelnd hinzu. Damit ging er an ihr vorüber, wie er gewohnt war, an Fremden hinzugehen, die seine weltberühmten Bilder zu sehen kamen.
Er trat in das Glashaus, hob den triefenden Drachenbaum aus dem Bassin und stellte ihn, wie auch die umgeworfenen Topfpflanzen, an Ort und Stelle. Mit finstergerunzelten Brauen sah er sich um. Aus allen Ecken sprangen Wasserstrahlen, einzelne steil in die Luft steigend, um drunten in das eigene, unter Blattpflanzen versteckte, kleine Bassin zurückzustieben – andere dagegen schossen in dünnen, silbernen Bogen hoch aus dem Pflanzenwald empor und sammelten sich im großen Mittelbassin. Das sah köstlich aus, Baron Schilling aber ging umher, und eine Wassersäule nach der andern erlosch unter seiner Hand.
„Ich begreife den Gärtner nicht – er verwahrt sich doch sonst entschieden gegen die übergroße Feuchtigkeit, der Pflanzen wegen,“ sagte er unmuthig.
„Ach, cher Baron, das bin ich gewesen,“ rief Lucile, die ihm gefolgt war. „Die Entdeckung war unbezahlbar für mich. Hui, wie die Fontainen alle aufzischten! Der Athem verging mir ordentlich vor wonnigem Schrecken. Dann habe ich mich da auf die rothgepolsterte Bank hingestreckt, habe abgefallene Orangenblüthen gekaut und in die Palmenkronen geguckt, auch dazwischen ein wenig im Atelier gekramt – nun, wissen Sie, wie es eben ein toller, naseweiser Kindskopf treibt, wenn er einmal auf ein paar köstliche Minuten der Zuchtruthe glücklich entlaufen ist.... Apropos, was hat denn die Unglückliche verbrochen, der Sie die Augen zugeklebt haben?“ unterbrach sie sich plötzlich und lief in das Atelier zurück. Sie kehrte einen der mit Leinwand bespannten Rahmen um, deren verschiedene an den Wänden lehnten.
„Die Unglückliche“ war ein Studienkopf, ein Frauenantlitz unter einem lockigen Gewoge bräunlich untermalter Haare, denen später wohl goldige Lichter aufgesetzt werden sollten. Die Züge dagegen waren bereits sorgfältig ausgeführt, aber ein breiter dunkler Streifen lief quer über die Augen, sodaß nur die obere Hälfte der sammetweißen Stirn und drunter die feinen Nasenflügel, der sanftgeschwungene Mund in dem lieblichen Oval, wie unter einer Halbmaske sichtbar wurden. Der Streifen lief vandalisch plump bis in das Haar hinein – es sah aus, als habe der Maler mißmuthig den ersten, besten Pinsel ergriffen, um mit einem einzigen breiten Zuge die Augen zu zerstören.
„Die arme Geblendete macht mich ganz fabelhaft neugierig, müssen Sie wissen,“ sagte die kleine Frau. „Sind Sie selbst so unmenschlich gewesen, cher Baron? Und warum, wenn man fragen darf?“
„Weil ich mich überzeugt habe, daß diese Augen nicht in ein Madonnengesicht gehören,“ versetzte er rasch herüberkommend. Ein dunkler Blick streifte zürnend „den tollen, naseweisen Kindskopf“, der ihm so indiscret nachspürte. Er nahm das Bild aus ihrer Hand und schob es hinter einen der Schränke.
Lucile drehte sich auf dem Absatz um und lächelte verschmitzt – Baron Schilling hatte Herzensgeheimnisse.... Ihr Blick suchte Mercedes, die nach seiner kühlen Antwort vorhin schweigend und mit stolzer Gelassenheit wieder hinter die Staffelei getreten war – sie hatte sich nicht durch das Glashaus entfernen wollen, so lange er sich drüben aufhielt, und einen anderen Ausgang nach dem Garten kannte sie nicht. Dann hatte sie das kleine Intermezzo mit dem verunstalteten Bilde unwillkürlich an den Boden gefesselt. Lucile zeigte hinüber nach ihr.
„Sie kann sich nicht losreißen,“ sagte sie zu Baron Schilling. „Ich glaub’s – das ist so eine Blutscene, wie sie im Secessionskrieg [410] genug an sie selbst herangetreten sind – brr! –“ sie schüttelte sich. „Ich habe, Gott sei Dank, von all der scheußlichen Mordbrennerei nicht viel gesehen,“ fuhr sie fort, und in einen nahestehenden Lehnstuhl sinkend, grub sie die Füße in das Bärenfell, das sich auf der Steinmosaik des Fußbodens hinbreitete. „Als es gefährlich wurde, da brachte Felix mich und die Kinder nach Florida, auf die ganz entlegene Besitzung Zamora, die Mercedes gehört. Ganz Südcarolina war verwüstet, Charleston gefallen und Columbia niedergebrannt, und ich habe das Alles nicht eher erfahren, als bis eines Tages Mercedes kam, um mich darauf vorzubereiten, daß man gleich nach ihr – meinen armen Felix bringen werde.“
Sie hielt inne – ihr kleines Gesicht wurde ganz blaß, und die Lippen zuckten. Die Erinnerung an den schmerzlichen Schrecken jener Stunden überkam sie plötzlich, aber sie huschte ebenso rasch und scheu darüber hin, wie der leichtbeschwingte Vogel über einen Abgrund. „Mercedes sah aus wie eine Zigeunerin, so sonnenverbrannt und verwahrlost im Anzug,“ fuhr sie fort, unter einem aufkeimenden Lächeln die Thränen von den Wimpern wischend. „Felix sagte, sie hätte seinen weiten und schwierigen Transport wie ein Mann durchgesetzt – ja, sie ist eben von anderem Schrot und Korn, als ich. Den Sarraß am Gürtel und den Revolver in der Hand, Nachts durch den Busch schleichen, um die Stellung des Feindes auszukundschaften, oder, in den Soldatenmantel gewickelt, am Lagerfeuer zu bivouakiren, das wäre nun einmal nicht meine Sache – ich danke schön. Aber es muß wohl so im Blut der Spanierinnen liegen, daß sie überall gern das Mädchen von Saragossa spielen, ihrer Schönheit zum Schaden.... Als Desdemona, wie Mama mit ihren schönen Armen, könnte Mercedes Ihnen niemals sitzen, cher Baron“ – jetzt glitzerte das Sprühteufelchen der Bosheit wieder aus ihren Augen – „sie hat einen furchtbaren Säbelhieb bekommen; die Narbe ringelt sich wie eine blutrothe Schlange über ihren rechten Oberarm hin.“
Die hohe, schlanke Frau stand dort an der Staffelei – und um den bronzeschimmernden Arm, der, leicht bedeckt vom Aermel, lässig an der Seite niederhing, schlang sich verborgen das blutige Zeichen, das der Krieg seinen Kämpfern aufdrückt.
Baron Schilling trat, wie von einem raschen Impuls getrieben neben sie. Sie wandte ihm halb die Augen zu, seltsam flimmernd, wie traumverwirrt, als kehrten sie eben zurück von brennenden Städten und zerstampften leichenbedeckten Reisfeldern. „Aber nicht so – nicht so! Nicht ohne Vertheidigung bis zum letzten Herzschlag – wer möchte sich so lammgeduldig abschlachten lassen?“ protestirte sie, auf die Gestalt der Hugenottin deutend, und so unmittelbar an Lucile’s Bemerkung bezüglich der Blutscene anknüpfend, daß man sah, sie sei der ganzen übrigen verrätherischen Plauderei, welche dort vom Lehnstuhl vernehmlich herübergeklungen war, vollkommen entrückt gewesen.
„Ich wollte eine Frau darstellen, die für das Ideale stirbt,“ sagte Baron Schilling ruhig.
Sie fuhr mit einem wildflammenden Blicke herum. „Und wir?!“
„Sie haben nur für Ihre Herrenrechte gekämpft –“
„Nicht für den Sieg des Geistes, der Bildung über die rohe Masse? Nicht für den heiligen Boden der schönen, gesegneten Heimath?“ – Sie wandte ihm in stolzer Entrüstung den Rücken. – „Was weiß man in Deutschland!“ setzte sie achselzuckend und bitter hinzu; ihr Blick irrte ziellos droben durch den Raum, während sie mit bebenden Fingern all ihrem Gürtelbande pflückte. „Man tanzt blindlings mit vor dem Götzen ‚Humanität’, den der Norden heuchlerisch aufgestellt hat; man glaubt an die scheinheilige Maske, die sich der glühende Neid vorgebunden, um die Macht des Südens zu brechen, ihm die leitende Rolle im Staatswesen zu entreißen, seine edlen, stolzen Geschlechter zu Bettlern zu machen – o heilige deutsche Verblendung! – Man läßt die weißen Brüder zermalmen und liebkost die schwarze Race –“
„Wenn man die Stricke barmherzig zerschneidet, die einen Geknebelten am Boden niederhalten, so ist das noch lange keine Liebkosung. Diese dunkelhäutigen Menschen –“
„,Menschen?!“ unterbrach sie ihn achselzuckend, mit leisem Hohnlächeln und einer unnachahmlichen Geberde voll tödtlicher Verachtung über die Schulter blickend.
Wie ein Seraph stand sie da in ihrem weißen Gewande – und in diesem schmiegsamen Leibe wohnte das schnödeste Vorurtheil, eine harte Seele, die eisengepanzert durch die Welt ging, der zarten äußeren Frauenschöne, die ihr verliehen, zum Trotze.
„Jetzt begreife ich, daß Sie zurückschaudern vor der deutschen Luft, die sich gegenwärtig aufmacht, stagnirendes Unrecht aus seinen dunklen Ecken zu fegen,“ sagte er, unwillig in ihre Augen blickend.
„Ach ja – ich las schon davon. Und sie thut das mit gewohnter deutscher Gründlichkeit – daran ist nicht zu zweifeln,“ versetzte sie, satirisch beipflichtend. „Was sie dabei an gutem, angestammtem Rechte mit hinwegfegt, das kommt ja nicht in Betracht bei den Reformen, die unsere Weltverbesserer in Scene setzen.“ Diese verhaltene Stimme bebte vor Erregung, und wohl gerade deshalb brach die stolzverschlossene Frau das Thema ab. „Glauben Sie ernstlich, daß wir dort drüben das vorgesteckte Ziel schließlich erreichen werden?“ fragte sie, nach der Richtung des Klostergutes zeigend, scheinbar kühl und gelassen.
„Ich will es glauben, weil ich das Vertrauen auf schönes weibliches Empfinden im Frauenherzen nicht verlieren möchte,“ antwortete er mit einer Art zornigen Lächelns. „Aber ich wünsche sehnlich, daß die Entscheidung in weitester Ferne liege –“
Sie hatte schon nach seinen ersten Worten den Fuß auf die Schwelle der Glasthür gesetzt, um zu gehen; jetzt wandte sie den Kopf noch einmal zurück.
„Und weshalb?“ fragte sie.
„Das sollten Sie nicht fragen, die Sie stündlich sehen müssen, daß mit den Kindern ein unaussprechliches Glück in mein Leben eingezogen ist.... Ich verliere meine Lieblinge, sobald die Großmutter versöhnt ist, und wer möchte ohne Schmerz Liebe aufgeben, die das Dasein neu beleuchtet? Die Kinder hängen an mir“ – er hielt inne – „oder gönnen Sie auch das dem deutschen Manne nicht?“ fragte er, schwankend zwischen ironisirendem Scherz und zweifelndem Ernst – er hatte gesehen, wie sich ihr Blick unter den zusammengezogenen Brauen verdunkelte.
„Bah, wie mögen Sie nur so reden Baron!“ rief Lucile herüber. „Nicht gönnen! Lächerlich! Ist denn Dame Mercedes nicht eben im Begriff, meine armen Kinder ohne Gnade und Barmherzigkeit in die scheußliche Mördergrube da drüben zu werfen?“
Donna Mercedes ignorirte diese Bemerkung vollständig.
„Ich habe mir gegen den letzten Wunsch und Willen meines Bruders nie eine Einwendung erlaubt,“ wandte sie sich an Baron Schilling. „Aber es wäre eine Lüge, wollte ich sagen, ich hätte nicht vom ersten Wort seiner Instruction an den geheimen Wunsch gehabt, die alte Frau auf dem Klostergut möchte in ihrer grausamen Härte verharren und die Enkel zurückweisen. Denn dann treten die Rechte in Kraft, die Felix mir testamentarisch übertragen hat, und ich darf auch sagen. ‚Sie sind mein – meine Kinder!“
Sie drückte die schmächtige Hand unwillkürlich auf die Brust und war so für einen flüchtigen Augenblick von allen Frauengestalten, die das Atelier in seelenvoller Darstellung belebten, wohl die hinreißendste im Ausdruck der tiefen, aber auch eifersüchtigen Zärtlichkeit, die Anderen ihr Idol nicht gönnt.
„Dieses stillschweigende Abwarten widerstrebt mir; es ist eine Marter für mich,“ fuhr sie fort. „Es bedarf oft meiner ganzen Willensstärke, daß ich die Kinder nicht plötzlich nehme und mit ihnen der Großmutter gegenüber trete, um der qualvollen Ungewißheit ein Ende zu machen, die Entscheidung eigenmächtig herbeizuführen“ – sie hielt inne auf die lebhaft abwehrende Handbewegung hin, mit der er sie unterbrach. „Es geschieht nicht,“ setzte sie, den schönen Kopf schüttelnd, in sinkendem Tone hinzu. „Aber einen Anfang wenigstens möchte ich sehen – einen ersten Schritt zum Ziele –“
„So wollen Sie mir vorläufig einen Einblick in Felix’ Familienpapiere gestatten; ich fürchte, wir werden sie brauchen,“ fiel er ein.
„Sie stehen sofort zu Ihrer Verfügung.“
Mit einem auffordernden Handwinken trat sie rasch durch das Glashaus hinaus in den Garten.
Lucile sprang auf und folgte ihr. Sie hing sich an Baron Schilling’s Arm, während sie durch die Platanenallee dem Säulenhalle zuschritten.
[411] „Puh, dort steht er schon wieder am Zaun, der Samiel, das nichtswürdige Onkelexemplar, das damals so impertinent aus seiner Stubenthür herüberlachte,“ raunte sie. „Der Zaun ist hoch; man sieht kaum die Habichtsnase und den borstigen Haarschopf auf der Stirn, aber ich habe wahre Falkenaugen und ein gutes Gedächtniß; das Gesicht steht in meiner Seele, als sei es hineinphotographirt – ich habe ihn auf den ersten Blick wiedererkannt. Denken Sie an mich, Baron – der alte Fuchs hat Lunte gerochen; er guckt mir viel zu viel über den Zaun. Da – weg ist er! So verschwindet er immer, wenn man fest hinübersieht.“
Donna Mercedes hatte sich in dem Salon mit den holzgeschnitzten Wänden wohnlich eingerichtet. Nahe dem einen Fenster, die Wand entlang, die an das Klosterhaus stieß, stand der prächtige Steinway-Flügel, den sie mitgebracht, und in der andern Fensternische hatte sie einen großen Schreibtisch placirt. Er war mit elegantem Schreibgeräth, Bücherstößen und verschiedenen Schatullen voll besetzt.
Von einem der unteren Regale, aus einer dunklen Ecke, nahm die junge Dame ein Rococokästchen von Edelmetall in köstlich getriebener Arbeit; sie schloß es auf und breitete seinen Inhalt, verschiedene Papiere, auf die Tischplatte.
„Hier sind sämmtliche Papiere,“ die Felix aus Deutschland mitgebracht hat,“ sagte sie, „und hier das Schriftstück, das seine Trauung mit Lucile in Columbia bezeugt; das sind die Taufscheine seiner Kinder – diese drei Documente“ – unterbrach sie sich – „würden nicht wieder zu erlangen sein, wenn sie verloren gingen, denn die Kirchenbücher in Columbia sind mit verbrannt. Das ist –“
„Der Todtenschein des armen Felix,“ ergänzte Baron Schilling mit fallender Stimme, da sie verstummte. Aber auch er schwieg plötzlich und sah sich um. „Ah! spuken die Mäuse auch am hellen Tage?“ rief er, noch auf das Knirschen horchend, das bereits verhallt war.
„Ja – die Mäuse!“ wiederholte Lucile gedehnt und ausdrucksvoll spöttisch und machte sich schleunigst aus dem Staube.
Inzwischen hatte José den allzu dienstfertigen Pirat scheltend in seinen Schlafraum, eine Kammer hinter dem Atelier, eingeschlossen. Er war dann seines verschüchterten Kaninchens unter Thränen und Mühen wieder habhaft geworden und trug es nun auf dem Arme, athemlos vor gespannter Beobachtung, denn das Thierchen fraß ihm zutraulich die Grashalme aus der Hand.
Der Kleine, über dessen blonden Scheitel noch vor Wochen die tropische Sonne geleuchtet hatte, spielte wie ein echtes Germanenkind am liebsten unter den Teichlinden. Er liebte das bienendurchsummte Wipfeldach, den kleinen Wasserspiegel mit seinen glitzernden Furchen, welche die mückenhaschenden Karpfen zogen, den ihn umschließenden Rasenring, auf den die Enten watschelnd und schnatternd heraufstiegen, um segelmüde den metallisch schillernden Leib in das weiche Gras zu ducken. Und in diesen feuchtkühlen, lockenden Schatten trug er auch jetzt seinen kleinen Spielcameraden, nachdem er den sonnenheißen Garten kreuz und quer durchwandert. Er setzte das Thierchen behutsam in das Gras und kauerte sich daneben. Mit sanften Händen streichelte er das seidenweiche Fell: er sah entzückt in die seltsamen rothglühenden Augen und beobachtete aufmerksam das Spiel der Ohren, bis ihn plötzlich ein kreischendes Lachen aufscheuchte.
Drüben im Klostergarten, auf einem dicht am Zaun stehenden hohen Birnbaum saß Mosje Veit. Er schlenkerte die langen Beine in der Luft, und die weißen Zahnreihen des weiten, lachenden Mundes blinkten wie die eines kleinen Raubthieres.
„Ach, der dumme Kerl! Der Einfaltspinsel! Er denkt wunder was er hat! ’S ist ja ein ganz gewöhnliches Karnickel; weißt Du denn das nicht?“ schrie er herüber.
„Ein Karnickel?“ wiederholte das verblüffte Kind, das neue Wort mit fremdartigem Accent betonend, und sah zweifelhaft bald das Kaninchen, bald den fremden Knaben an, den es noch nie gesehen und der sich hoch oben auf dem weit hinausragenden Ast so sicher geberdete, als säße er auf einem Stuhl. Und jetzt lief dieser wunderbare Junge mit affenartiger Geschwindigkeit auf allen Vieren den Ast entlang und glitt am Stamme nieder. Einen Augenblick war er vollständig verschwunden; man hörte nur ein Rauschen und Knicken im Gezweig; dann kam der haarstarrende Knabenkopf unten durch den Zaun, und gleich darauf stand Veit auf seinen dünnen Beinen und lief nach dem Teich.
Sein Erscheinen hatte auch hier dieselbe Wirkung wie im Klosterhof – das Kaninchen flüchtete in die Boscage, und einige Enten, die behaglich im Grase gelegen, fuhren schnatternd empor und stürzten sich kopfüber in das Wasser.
„Laß es doch laufen, Du dummer Junge!“ rief er und vertrat José, der das kleine Thier wieder einzufangen suchte, den Weg. Und der Kleine blieb gehorsam stehen und sah in scheuer Bewunderung zu dem kecken Burschen empor, der, vielleicht nur um ein Jahr älter als er, ihn fast um Kopfeslänge überragte.
José hatte bis dahin nie einen Spielgefährten gehabt, und nun stand da plötzlich einer vor ihm, der wundervoll klettern konnte, der mir nichts dir nichts durch stachlige Zäune kroch und die imponirende Thatsache wußte, daß das Kaninchen eigentlich nur ein Karnickel sei.
„Die kennen mich,“ sagte Veit, nach den fliehenden Enten zeigend. „Paß auf, wenn ich ihnen Eines auf den Pelz brenne!“ Und mit behender Geschicklichkeit warf er Kiesel um Kiesel hinüber und machte die erschrockenen Thiere der Reihe nach untertauchen. Sie peitschten mit ihren Flügeln das hochaufspritzende Wasser und schrieen mit vorgestreckten Hälsen um die Wette, und dazwischen lachte Veit wie toll und patschte sich vor Wonne mit seinen dürren, sonnenverbrannten Händen die Kniee.
Der kleine José verwandte kein Auge von ihm. Der frechkluge Blick der tiefliegenden, schmalgeschlitzten Funkelangen, die Sicherheit und Gewandtheit in jeder Bewegung dieses langen Jungen, seine rohen Manieren, die er den Knechten des Klostergutes abgelernt, übten eine dämonisch anziehende Wirkung auf das Kind.
„So, die haben genug für heute!“ sagte Veit und ließ mit einem leisen Pfiff den letzten Stein über das Wasser sausen. „Jetzt kömmst Du mit! Ich will Dir meine Lapins zeigen. Da wirst Du gucken. Die sind freilich anders, als Dein schauderhaftes Stallkarnickel.“
José sah scheu nach der Stelle im Zaun, aus welcher Veit gekommen war. Undurchdringliches Blattwerk breitete sich dort aus – man bemerkte nicht die kleinste Lücke. „Ich kann nicht durch,“ meinte er verzagt.
„Dummes Zeug! Kann ich doch durchkriechen. Ich habe mir das Loch selbst durch den Zaun gemacht und bin alle Tage drüben in Eurem Garten – Ihr wißt’s nur nicht.... Komm’ nur mit – es geht ganz gut.“
Er sprang hinüber, schob die Blätter aus einander und war im nächsten Augenblick verschwunden. Und José kroch ihm nach. Sein kleines Herz pochte heftig in einem Gemisch von Angst und geheimnißvoller Wonne; die Dornen zerrten schmerzhaft an seinen Locken und für das blaue Cachemirhöschen war die stachlige Passage sehr bedenklich, aber es ging tapfer weiter in dem grünen Tunnel, der schräg durch den Zaun lief und drüben vor einem Zwiebelbeet mündete.
Das war nun eine ganz andere Welt, jenseits des struppigen Zaunes. Da gab es keine schlängelnden Kieswege, keinen Teich, keine Allee mit eleganten, gußeisernen Möbeln. Wie lange, geradlinige Dominosteine reihten sich die Gemüsebeete an einander, nur einmal von dem schmalen, mit Buchsbaum eingefaßten Mittelweg durchschnitten. – Für herumtollende Kinderfüße gab es hier keinen Platz, selbst auf dem Stücke Grasboden nicht, das sich weit hinten nach der Straßenmauer zu an die Beetreihen anschloß, dort breiteten sich, festgepflöckt, lange, lange Streifen bleichender Leinewand hin, ein Laufbrunnen rauschte und um seinen Steintrog stand ein ganzes Regiment Gießkannen. Das sah Alles so ernsthaft aus – drum kroch Mosje Veit immer durch den Zaun. Es war nur Etwas da für Kinderaugen – die schönen Beerensträucher hinter den Buchsbaumguirlanden des Hauptweges. Die grünen, dickköpfigen Früchte der Stachelbeere zogen schwer die Zweige zu Boden, und die schaukelnden Johannisbeertrauben nahmen schon Farbe an und leuchteten schön hellroth in der Sonne.
Veit hob seine Reitpeitsche auf, die er vorhin unter dem Birnbaume zurückgelassen, und hieb im Vorüberlaufen so derb in die Sträucher, daß ein förmlicher Blätter- und Beerenregen zwischen die Selleriestauden und Salatköpfe niederfiel „Man kann sie [412] immer noch nicht essen,“ sagte er mit einem tückischen Blicke auf die kleinen, harten Früchte, die seine Geduld auf eine so lange Probe stellten. Er steuerte auf die Mittelthür des Hintergebäudes los, die gerade auf den Hauptweg mündete. Sie war grau verwittert, hing schief in den Angeln und sah wenig einladend aus, daß es aber so stockfinster hinter ihr sein würde, hatte der kleine José doch nicht gedacht. Er klammerte sich mit beiden Händen ängstlich an Veit’s Sammetkittel, als die Thür hinter ihnen zufiel.
„Ich glaube gar, Du fürchtest Dich, Du Lump! Willst Du wohl Deine Hände wegthun?“ schalt der lange Junge und schlug auf die kleinen Finger, die ihn festhielten. „Das ist unser Holzstall, und da habe ich meine Lapins.“
Man hörte Pferdegestampf und die Brummstimmen der Kühe dumpf herüber, und der heiße Dunst des Kuhstalles schlug durch irgend eine offene Luke herein. Allmählich wurde es auch heller – der Tagesschein dämmerte vom Garten her durch kleine, mit Eisenstäben verwahrte Fensterlöcher, vor denen dichtes Weinblättergespinnst lag, und dieses ungewisse Licht beschien auch die Lapins in ihrem Bretterverschlag, über welchen hinweg eine Treppe in die oberen Räume lief.
Dieses steile, dunkle Holztreppchen ging es im Sturmschritt hinan, nachdem Veit’s grausame Hände die unglücklichen Kaninchen an den Ohren herbeigezerrt und verschiedene Mal durch die Luft geschlenkert hatten – und José lief mit auf Tritt und Schritt. Das zarte Kind, das von seiner ersten Lebensstunde an behütet worden war wie ein Prinzenleben, es kletterte in diesen weitläufigen verlassenen Hintergebäuden über halsbrechende Treppen und Leitern, über freischwebende Balken und lief arglos an den dunkelgähnenden Schlünden hin, durch welche die Getreidebündel auf die Tenne hinabgeworfen wurden – immer ohne einen Laut des Widerspruches dem unruhig vorwärts hastenden großen Burschen wie seinem Leitstern auf den Fersen folgend und eifrig bemüht, ebenso herzhaft zu tappen und aufzustampfen, wie er – genau so kräftig klang es freilich nicht – der hatte aber auch „wundervolle“ kleine Hufeisen auf seinen Absätzen.
Ach, wie schön war es doch, daß man auch einmal so ein rechter Junge sein konnte! Jack und Deborah waren nicht da mit ihrem ewigen Bitten und Warnen, und man durfte sich auf den fremden Treppen und Gängen austoben, ohne der Mama oder Minna den Besatz von der Schleppe zu treten, was allemal einen Heidenlärm gab. Und wie süß das kaum eingefahrene, frische Heu duftete, in das man bis über die Kniee weich einsank – und was war das für ein wonniger Schrecken, wenn plötzlich aus einer ganz entlegenen Ecke eine aufgejagte Henne ängstlich gackernd und schreiend emporfuhr und halb fliegend, halb rennend das Weite suchte, ihr verschlepptes Nest mit blanken, weißen Eiern zurücklassend!... In jedem Sonnenstrahle, der als langes, scharf abgekantetes Goldband durch die Dachluken fiel, wimmelten Myriaden von Stäubchen geräuschlos lebendig – man hörte das Rucksen der Tauben in nächster Nähe auf dem Dache und konnte durch einzelne verschobene Ziegel hinabsehen in den großen, gepflasterten Hinterhof mit seinen Truthühnern, den dumm einhertrottenden Kälbern und dem großen, einsamen Baume in der Ecke, in welchem die vielen aus- und einfliegenden kleinen Vögel brüten mochten. Und oben unter dem Dach des zweistöckigen Seitengebäudes, das an das Klostergut selbst stieß, pfauchte plötzlich auch eine schöne, buntgefleckte Katze aus einer halboffenen Kammerthür – sie schien die Knaben angreifen zu wollen, vor Veit’s hochgeschwungener Reitpeitsche aber ergriff sie sofort die Flucht und kletterte angstvoll am Sparrwerk empor.
„Ei was – die Miez hat junge Katzen,“ schrie Veit und rannte in die Kammer hinein. Auf dem Boden eines alten, halb aus den Fugen gegangenen Bastkorbes hockten in der That drei noch sehr junge Kätzchen. „Werd’s gleich dem Papa sagen; Fritz muß sie heute noch ersäufen – das giebt allemal einen Hauptspaß,“ jubelte er.
José kauerte sich auf die Dielen und sah mit großen, strahlenden Augen in den Korb – er hörte gar nicht, was der Andere sagte. Drei so allerliebste, geschmeidige Thierchen, weichgebettet auf allerlei buntem Lappenzeug, in einem Korbe beisammen, das war ja noch hübscher als das Zaunkönignest, das ihm Onkel Arnold neulich in einem großen Weißdornbusch gezeigt hatte. Mit scheuem Finger strich er zärtlich über die weichen Fellchen.
Diese mädchenhafte Sanftheit reizte und ärgerte den großen Jungen.
„Du bist doch noch schrecklich dumm,“ schalt er. „Macht doch der Einfaltspinsel ein Wesens mit dem Viehzeug, wie die Tante Therese mit ihren jungen Truthühnern!“
Die einmüthige Erhebung der Nation im Jahre 1870 und die Errungenschaften des Krieges durch ein großartiges Denkmal aller Zeit vor Augen zu führen, ist wohl nichts Minderes, als eine nationale Pflicht. In Tausenden von Gemeinden rüstete man sich, je nach Kraft und Mitteln, der großen Zeit Wahrzeichen aufzurichten, und es war natürlich, daß diese tiefgehende Pietät auch einen nationalen Gesammtausdruck finden mußte.
Der Minister Graf zu Eulenburg war es, der diesem in der Luft liegenden Gedanken zuerst Form und Ausdruck gab. Er berief im Herbst 1871 eine Anzahl von Vertrauensmännern aus allen Parteien nach Wiesbaden, trug ihnen die Angelegenheit vor und fand einmüthige Sympathien dafür, sodaß man unverweilt beschloß, dem Gedanken die That folgen zu lassen.
Zunächst bildete sich ein großes Comité, meist aus Koryphäen des Reichstages, welches die Nation um Aufbringung der auf 250,000 Thaler festgesetzten Bausumme mit dem glücklichsten Erfolg anrief. Durch Festlichkeiten in Vereinen und durch Einzelgaben war der Betrag, der für das große beabsichtigte Werk gewiß auch ein bescheidener zu nennen ist, sehr bald gedeckt.
Der geschäftsführende Ausschuß unter dem Vorsitz des Grafen zu Eulenburg und unter der geschäftlichen Leitung des Regierungsrathes Sartorius zu Wiesbaden erließ ein Preisausschreiben, welches den erfreulichsten Erfolg hatte. Die eingegangenen 26 architektonischen und 11 plastischen Entwürfe zeigten, daß in deutschen Landen so mancher Berufene war, aber nur Wenige konnten die Auserwählten sein. Prämiirt wurden die Entwürfe der Architekten A. Pieper und H. Eggert und der des Bildhauers Johannes Schilling.
Sämmtliche drei Entwürfe gingen jedoch über die veranschlagte Bausumme voraussichtlich weit hinaus. Die nun erfolgende beschränkte Concurrenz hatte abermals einen hohen intellectuellen Erfolg, der jedoch ohne praktische Nachwirkung blieb, weil sich die Schöpferkraft der prämiirten drei Meister noch immer nicht in die gegebenen Schranken hatte finden können; Genius und Geld haben sich eben zu allen Zeiten übel mit einander vertragen.
Man betraute nun den siegreichen Vertreter der plastischen Kunst allein mit einem dritten Entwurf. In sehr kurzer Zeit konnte Professor Schilling diesen dem Comité vorlegen, und wenn sich das Volkswort „Aller guten Dinge sind drei“ je einmal bestätigte, so war es hier der Fall. Der Entwurf war der einfachste, der billigste, doch zweifellos dabei der imposanteste. Nach seiner Genehmigung führte die „Gartenlaube“ den Entwurf des hochaufstrebenden Riesendenkmals im Jahrgang 1874 (Seite 533) dem deutschen Volke zum ersten Male vor Augen, und alle Kundgebungen darüber sprachen nur von Wohlgefallen.
Jetzt ist der Meister im vollen Werke begriffen, und gewiß ist es an der Zeit, daß wir ihn einmal bei der Arbeit aufsuchen. Deutschland hat wohl auch ein gewisses Anrecht, etwas Näheres über den Mann selbst zu hören, in dessen Hände es die künstlerische Versinnlichung der Wiedergeburt seines nationalen Hausrechtes legte. Leider fließen die Nachrichten über sein Leben nur spärlich – ihm ist das Werk Alles und die Person Nebensache.
Schilling wurde am 23. Juni in Mittweida, unfern dem romantischen Zschopaufluß, geboren, doch blieb die rührige sächsische Mittelstadt ohne Einfluß auf ihn, da sein Vater mit dem zweijährigen Knaben dauernd nach Dresden übersiedelte. Früh schon regte sich ein lebhafter Schaffensdrang in ihm, der durch die Kunstschätze in der Stadt, die man mit Recht das nordische
[413][414] Florenz nennt, reiche Nahrung und Anregung fand; 1842 nahm ihn die Kunstakademie unter ihre Schüler auf, und zwei Jahre später trat er in das Atelier des großen Rietschel ein, an dessen genialen Schöpfungen er fünf Jahre lang mitwirken und Geist und Sinne erheben und durchbilden durfte. Hierauf finden wir ihn zwei Jahre bei Prof. Drake in Berlin und einige Zeit bei Prof. Hähnel in Dresden. Zwei Medaillons (Jupiter und Venus) trugen dem sechsundzwanzigjährigen jungen Künstler ein Reisestipendium nach Italien ein.
Wie unser Dichterkönig auf seiner Römerfahrt die Classicität der Griechen und Lateiner in sich umbildete, in sich germanisirte, so verschmolz auch Schilling die formelle Hoheit der Antike mit seiner germanischen Tiefe. Seine Gebilde zeigen zumeist eine glückliche Vereinigung dieser großen Culturwurzeln; sie sind schön in den Formen, maßvoll im Charakterausdruck und dazu deutsch vertieft, verinnerlicht, vergeistigt.
Im Jahre 1858 errichtete der überaus thätige Künstler sein eigenes Atelier in Dresden und gründete sich einen glücklichen Hausstand. Die reichen Hoffnungen, die man schon frühzeitig auf sein Talent gesetzt, fanden ihre erste schlagende Bestätigung in der Schöpfung jener populär gewordenen vier Gruppen, welche die Freitreppe der Brühl’schen Terrasse zu Dresden schmücken und Morgen, Mittag, Abend und Nacht darstellen. Auf der Kunstausstellung zu Wien 1869 trugen sie ihm den ersten Preis ein.
Siegreiche Concurrenzen, Ernennungen und Auszeichnungen von Staatswegen und von gelehrten Corporationen folgten nun rasch aufeinander. Von seinen Schöpfungen seien nur das Rietschel-Denkmal in Dresden, das Kaiser Max-Denkmal in Triest, das Schiller-Denkmal in Wien und das ergreifende Kriegerdenkmal in Hamburg genannt.
1874 wurden zwischen dem Comité für das Niederwalddenkmal und dem Meister die Contracte abgeschlossen, und seit dieser Zeit schafft er mit etwa zwanzig Jüngern ununterbrochen an dem Riesenwerke.
Sein Atelier, an der Eliasstraße gelegen, hält der Meister – eine stattliche, breitschultrige Figur von ausgeprägtestem germanischem Typus – für Jeden offen, der sich für seine Schöpfungen interessirt, und so trifft man denn die aneinandergereihten Baulichkeiten, deren sich mehr und mehr erweiternder Umfang schon von der wachsenden Bedeutung seines Meißels erzählt, selten ohne Besucher.
Gleich beim Eintritt in das Atelier treffen wir auf die liebliche Figur der Mosel, die den Arm vorstreckt, um vom alten Rhein das Wachthorn und den Wachtdienst zu übernehmen. Das geographische Resultat des Krieges konnte wohl kaum zarter angedeutet werden. Ohne jeglichen Triumph giebt hier der Meister seinem Volke nur eine permanente Mahnung, die Augen offen zu halten.
Im Nebenraum modelliren mehrere Jünger an dem großen Relief, welches das Postament des Denkmals zieren soll. Dasselbe stellt bekanntlich in 133 lebensgroßen Figuren, von denen die reichere Hälfte portraitgetreu werden soll, den Ausmarsch des deutsche Heeres dar. Im Mittelpunkte dieses Reliefs, das ein großartiges Denkmal für sich bildet, hält der Kaiser zu Pferde; sein Auge schaut wie fragend in die ungewisse Ferne, als wolle es die Schleier der Zukunft durchdringen, und doch blickt es zugleich klar und ruhig, wie im Vertrauen auf das angetastete heilige Recht. Die ganze Haltung der Figur zeigt überhaupt viel wohlthuende Ruhe für den bewegten Moment. Dem Kaiser zur Seite sollen die deutschen Fürsten gruppirt werden, die ihre Heeresmacht mit ausgesendet haben und zum Theil selbst mit ausgezogen sind, ihr Leben einzusetzen.
Der Künstler ist von dem Gedanken ausgegangen, in diesem Relief das Lied „Die Wacht am Rhein“, das auch in Granit am Denkmal eingegraben werden soll, lebendig darzustellen. Dem Ausdruck dieser Idee dienen auch die Kolossalfiguren an den Ecken des Postaments, der „Krieg“ und der „Friede“; sie sollen die Worte: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ und „Lieb Vaterland, magst ruhig sein!“ verkörpern, während der Fries selbst die Wehrkraft Deutschlands in ihrer Gipfelung darstellt. Vor dem Kaiser steht der eherne Kanzler mit der papiernen Herausforderung Napoleon’s in der Hand, und neben ihm senkt Moltke sein durchgeistigtes Antlitz auf seine Kriegspläne nieder.
Zu einer sich anschließenden Gruppe vereinigen sich die Heerführer Prinz Friedrich Karl und Kronprinz Albert. Etwas weiter nach rechts steht der Großherzog von Mecklenburg, und mehr isolirt General Vogel von Falckenstein – sämmlich prächtige, fein durchdachte Gestalten. Auf der entgegensetzten Seite begrüßt der deutsche Kronprinz die baierischen Generäle von der Tann und von Hartmann, und neben ihnen nimmt die charaktervolle, energische Gestalt des Generals von Werder, des Löwen von Belfort, das Auge gefangen. Den Vordergrund schließen rechts und links vordringende Colonnen mit ihrem Kriegsgeräth ab. An diese Hauptgruppen reihen sich die Gruppen aller Corpsführer und Divisionsgenerale mit ihren Stabschefs an, die sämmlich portraitgetreu werden sollen.
Alle Hast, alle phrasenhafte Begeisterung ist von dem Relief ausgeschlossen, in keiner Bewegung wird bramarbasirt, aber in jedem Zuge, in jedem Gliede liegt eine ernste Geschäftigkeit, ein Aufgehen in der Pflicht, ein ruhiges Zusammengreifen und Einsetzen aller Kraft für die Lebensinteressen der Nation. Mit Freuden gewahrt man, daß der Meister es vermocht, ohne wehende Fahnen, ohne gezogene Schwerter und sonstige billige Mittel seinem kriegerischen Tableau so viel, so reiches Leben zu geben, eine so große Wirkung zu erreichen. Das sind keine im Voraus siegestrunkene Schaaren; das sind Männer, die alle Lebenskraft der Pflicht hingeben, aber die Entscheidung einer höheren Macht überlassen, die, nach Cromwell, auf Gott vertrauen – aber dabei ihr Pulver trocken halten.
Die Thonmodelle des Reliefs, das eminente Arbeit verursacht, sind etwa zu einem Dritttheil fertig.
Einen Saal für sich beansprucht die Figur des Krieges (S. Abbildung Seite 421), in welcher der Meister alle kriegerische Leidenschaft – dieselbe auf neutrales Gebiet verlegend – verkörperte. Gewaltig stößt der riesenhafte Jüngling in’s Horn, um zur Erhebung aufzufordern, und leidenschaftlich umklammert er das gesenkte Schwert; jede Muskel ist gespannt, jede Fiber erregt – er ist der Krieg an sich. Seine Gegenfigur, der Friede, ist in der Ausführung begriffen.
In einem eigens dazu errichteten Gebäude (S. Abbildung Seite 420) erhebt sich die zehn Meter hohe Germania, die Hauptfigur des Denkmals. Kopfschüttelnd nähert man sich dem Kolosse und findet sich erst allmählich in seine Riesenverhältnisse, deren Auffassung bis vor Kurzem noch durch allerhand Tauwerk und Baugerüste erschwert war.
Die Idee, eine Nation in einer Frauengestalt zu verkörpern, ist durch allzu häufige Benutzung ein wenig vulgär geworden. Namentlich sind die vielen Germanien mit dem „vorgestreckten Leib“ und der unhistorischen, megärenhaften Exaltirtheit geeignet, Einem die an sich berechtigte Idee zu verleiden. Schilling’s Germania aber zeigt, was echt künstlerische Intuition aus dem landläufigsten Gedanken machen kann, wie sie ihn auf’s Neue zu geistiger Hoheit und Herrlichkeit zu erheben vermag, wie sie ihn auferstehen läßt in jungfräulicher Wiedergeburt.
Milde, Hoheit, Kraft und Ruhe spricht aus Haltung und Zügen dieser Germania. Sie ist ganz das königliche Weib, das ohne jeglichen Hohn die Angreifer niedergeworfen hat, und das nun als Wahrzeichen der höchsten Errungenschaft die Kaiserkrone emporhebt.
Vom Scheitel der Germania bis herab zum Grundstein des Postaments ist nicht der leiseste Anklang von Chauvinismus, von dem auch Deutschland nicht freigeblieben war, keine Spur von beleidigendem Triumph, von Demüthigung des Gegners, der uns zu demüthigen dachte; dieses Denkmal ist ein monumentales Geschichtswerk der lautersten Wahrheit, in der schonendsten Sprache geschrieben; es ist die besonnenste Constatirung einer nationalen Riesenthat in Stein und Erz.
Noch ist ein Theil der Kosten ungedeckt – die ausgeworfene Summe mußte überschritten werden, da landschaftliche Gründe die Vergrößerung des Denkmals bis auf eine Gesammthöhe von 34 Meter forderten – aber im Vertrauen auf die Opferkraft des deutschen Volks, die sich bei der Wilhelmsspende erst wieder bewährt, schaffen Comité, Künstler, Bauleute und Erzgießer unbesorgt weiter, und sie werden sich nicht täuschen, ist ja die fehlende Summe von 350,000 Mark für ein Volk von 42 Millionen eine relativ geringe. Kriegervereine, höhere Schulanstalten und [415] Gesangvereine sind ja auch schon in Thätigkeit, die Kosten für den Erzguß des großen Reliefs und der beiden Figuren „Krieg“ und „Friede“ aufzubringen.
Möchte doch das nationale Werk durch reichliche Spenden für dasselbe aus allen deutschen Gauen thunlichst schnell gefördert und es so ermöglicht werden, daß unser hochbetagter Kaiser, dessen Lebenskraft im Vorjahre so schwere Proben bestanden, das Riesendenkmal inmitten der deutschen Fürsten, seiner Paladine und Heerführer noch selbst enthüllen könne. Herr Regierungsrath Sartorius in Wiesbaden nimmt die Spenden in Empfang. Den Meister aber können wir nicht besser ehren, als dadurch, daß wir zu eigner Wohlfahrt seine erzgewordenen Gedanken lebendig in uns erhalten für alle Zeit.
Die neue Taktik Lassalle’s offenbarte sich zuerst in einer großen Rede, mit welcher er im Herbste 1863 die zweite Epoche seiner Agitation eröffnete; als er ihren Entwurf noch in Ostende niederschrieb, sagte er zu seinen Vertrauten: „Was ich da schreibe, schreibe ich nur für ein paar Leute in Berlin.“ Diese Rede handelte über die Parteifeste der liberalen Opposition in der Conflictszeit, über die Presse der Fortschrittspartei, endlich über den Frankfurter Abgeordnetentag von 1863, der sich mit dem österreichischen Bundesreformplane beschäftigt und ihn nicht völlig zurückgewiesen hatte. Nach allen diesen Richtungen eröffnete Lassalle ein heftiges Kreuzfeuer von Angriffen; von links her stürmte er gegen die Schanzen des festen Lagers, welches von rechts der preußische Ministerpräsident von Bismarck zu erobern suchte; eine Fülle des bittersten Hohnes schüttete der revolutionäre Agitator über das preußische Abgeordnetenhaus, welches standhaft das verfassungsmäßige Recht des Landes vertheidigte.
Der Sinn dieser Taktik lag auf der Hand. Lassalle erkannte die Unmöglichkeit, durch eigene Kraft in dem deutsche Arbeiterstande eine nachhaltige Bewegung zu erwecken; so versuchte er in dem Kampfe zwischen der Krone und dem Parlamente eine Einmischung, welche den mächtigeren Theil, indem sie ihn unterstützte, dadurch für den Fall des Sieges zu Gegenleistungen für den unerwarteten Bundesgenossen verpflichten sollte. Es war eine harte Ungerechtigkeit, Lassalle deshalb einen Ueberläufer zur Reaction zu nennen. Er opferte nicht seine Ueberzeugungen, um dem preußischen Ministerpräsidenten zum Siege zu verhelfen, sondern er wollte ihm zum Siege verhelfen, um ihn seinen eigenen Ueberzeugungen dienstbar zu machen. Die tiefe Unwahrhaftigkeit dieses abenteuerlich-phantastischen Planes lag vielmehr darin, daß Lassalle, um ihn durchzuführen, seinen Einfluß auf die Volksmassen in schwindelhaftester Weise übertreiben und sich in ein Netz von Lügen verstricken mußte, das gleichmäßig aus den verwerflichsten Kniffen des Diplomaten- wie des Demagogenthums gewoben war.
Freilich, so weit es überhaupt möglich war, durch diese verwickelten Schlingen mit freiem Fuße zu schreiten, hat er es vermocht; in jener Herbstrede von 1863 verstand er meisterhaft, noch seinen Ueberzeugungen vollkommen treu zu bleiben und schon der preußischen Regierung weit die Hand entgegenzustrecken, sich gleich gerüstet zu zeigen, ob nun der Blitz der deutschen Revolution, wie er sich ausdrückte, „aus diesem oder jenem Wege“ herniederfuhr. Indem er das ewige Poculiren und Toastiren mitten in einer schweren Krisis des Vaterlandes verhöhnte, geißelte er nur ein Treiben, das seiner energischen Thatkraft in tiefster Seele zuwider war; indem er eine erbarmungslose Kritik an der deutschen Presse übte, vergalt er nur Gleiches mit Gleichem, und indem er endlich die anfänglich schwankende Haltung der Fortschrittspartei gegenüber den bundesstaatlichen Reformkünsteleien der österreichischen Regierung als eine Art Verrath am Vaterlande schilderte, verfocht er den deutschen Beruf des preußische Staates, wie er ihn schon 1859 in seiner Broschüre über den italienischen Krieg verfochten hatte. In allen diesen Fragen stand er auf gleichem Boden mit dem preußischen Ministerpräsidenten, wenngleich diese Berührung nur die sprüchwörtliche Berührung der Gegensätze war.
Auf der Rückreise von Ostende nach Berlin hielt Lassalle die mehrgedachte Rede in großen Massenversammlungen am Rhein, an dessen Ufern er einzig und allein einen wenigstens halbwegs nennenswerten Anhang hatte, in Barmen, Düsseldorf, Solingen. Um den verhältnißmäßig immer noch kleinen Kern seiner Parteigänger sammelte sich schnell die heiß- und leichtblütige Bevölkerung jener Gegenden, in welcher die große Industrie schon 1848 sociale Uebelstände hervorgerufen hatte, in welcher die berauschenden Erinnerungen des tollen Jahres niemals völlig verklungen waren. Glänzend bewährte sich wiederum die Fähigkeit des großen Demagogen, die Massen willenlos dem Winke seiner Wimper zu unterwerfen sobald er ihnen selbst Aug’ in Auge gegenüber stand. In Solingen, wo der allgemeine deutsche Arbeiterverein nur 92 Mitglieder zählte, hingen einige Tausende von Arbeitern athemlos an seinen Lippen; als einige Gegner eine Störung verursachte, wurden sie blitzschnell entfernt, nicht ohne blutige Gewalttätigkeit. Darauf hin löste der Bürgermeister die Versammlung auf, und Lassalle richtete jenes bekannte Beschwerdetelegramm an den preußischen Ministerpräsidenten, das damals wie ein fahler Blitz über seine geheimen Pläne zuckte, von seine Gegnern triumphirend ausgebeutet, von seinen Anhängern mit fassungslosem Staunen betrachtet wurde.
Für Lassalle selbst war die Depesche nach seinem Wiedereintreffen in Berlin vermuthlich der Anknüpfungspunkt zu mehrfachen persönlichen Zusammenkünften mit Herrn von Bismarck. Lange hat über diesen Unterredungen ein mehr oder minder undurchdringlicher Schleier gelegen; erst in der vorjährigen Herbstsession des Reichstages hat ihn bekanntlich der Reichskanzler selbst gehoben. Die Worte, in denen er es that, sind für beide Theile und namentlich für die Kennzeichnung des gegenseitigen Verhältnisses zu bezeichnend, als daß sie hier nicht nach ihrem wesentlichen Inhalt wiedergegeben werden sollten.
Fürst Bismarck sagt: „Unsere Beziehung konnte gar nicht die Natur einer politischen Verhandlung haben. Was hätte mir Lassalle bieten und geben können? Er hatte nichts hinter sich. In allen politische Verhandlungen ist das do ut des (ich gebe, damit Du giebst) eine Sache, die im Hintergrunde steht, auch wenn man anstandshalber einstweilen nicht davon spricht. Wenn man sich aber sagen muß: was kannst Du armer Teufel geben? – er hatte nichts, was er mir als Minister hätte geben können. Was er hatte, war etwas, was mich als Privatmann außerordentlich anzog; er war einer der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen, mit denen ich je verkehrt habe, ein Mann, der ehrgeizig im großen Stile war, durchaus nicht Republikaner; er hatte eine sehr ausgeprägte nationale und monarchische Gesinnung; seine Idee, der er zustrebte, war das deutsche Kaiserthum, und darin hatten wir einen Berührungspunkt.“ Bekanntlich ist diese Charakteristik viel angefochten worden, und sie läßt sich auch erheblich anfechten, wenn man nur ihre äußere Schule betrachtet; erfaßt man ihre tieferen Sinn, so taucht sie das Wesen des Agitators in grelles Licht. Beispielsweise läßt sich der Behauptung, daß Lassalle durchaus kein Republikaner gewesen sei, eine lange Reihe öffentlicher Aeußerungen von ihm entgegenstellen, in denen er pathetisch betheuert, von Kindesbeinen an denke er republikanisch, aber wer seine vertrauliche Briefe auch nur flüchtig durchblättert hat, wird überzeugt sein, daß vielleicht niemals ein moderner Mensch so wenig von einer demokratischen Ader hatte, wie dieser sozialistische Agitator.
Während so der preußische Ministerpräsident auf den erste Blick den großen Rechenfehler in Lassalle’s Plänen erkannte und durchaus keine Neigung zu einem Bündniß mit „wilden Völkerschaften“ bezeigte, scheint Lassalle durch seine grenzenlose Eitelkeit völlig über den Eindruck getäuscht worden zu sein, den er in diese Unterredungen machte, scheint er für politisches Entgegenkommen gehalten zu haben, was nur persönliches Interesse war.
[416] Authentische Aeußerungen, welche er in Schrift oder Wort über diesen Verkehr gemacht hätte, sind allerdings bisher nicht bekannt geworden, aber aus seinem ganzen Verhalten läßt sich erkennen, daß sein Denken und Sinnen sich hinfort nur um die Politik Bismarck’s drehte, namentlich seitdem der Tod des Königs von Dänemark die schleswig-holsteinische Bewegung in Fluß brachte, in welcher auch er von jeher den Hebel zur deutschen Einheit erkannt hatte. Sein Plan, den allgemeinen deutschen Arbeiterverein für die Einverleibung der Elbherzogthümer in den preußischen Staat sich aussprechen zu lassen, wurde nur durch seinen unerwarteten Tod vereitelt; bis in die letzten Tage seines Lebens sorgte er mit fast ängstlicher Peinlichkeit dafür, daß alle seine Reden und Schriften in die Hände des preußischen Ministerpräsidenten gelangten.
Die Einbildungen Lassalle’s in dieser Beziehung waren um so verwunderlicher, als ihn ein unaufhörlicher Pfeilregen von polizeilichen und staatsanwaltlichen Verfolgungen billig über das Maß von Wohlwollen hätte belehren können, mit welchem sein keckes Treiben in maßgebende Regionen betrachtet wurde. Etwa ein halbes Dutzend schwerer Criminalprocesse, bei deren einem es sich sogar um eine mehrjährige Zuchthausstrafe handelte, hatte er im Winter von 1863 auf 1864 zu bewältigen; daneben lief eine lange Reihe kleinerer Widerwärtigkeiten, die an sich eben nicht bedeutend waren, aber doch die kostbare Zeit des Agitators stark beanspruchten; auch an gelegentlichen Verhaftungen fehlte es nicht. Namentlich als Lassalle unter dem prahlerischen Feldgeschrei: „Mit Berlin wird die Bewegung unwiderstehlich“ die Hauptstadt „erobern“ wollte, setzte sich die Polizei energisch diesem Beginnen entgegen; trotz aller Mühen konnte er an seinem eigenen Wohnsitze seine Anhänger kaum nach Dutzenden zählen.
Eines etwas größere Erfolges durfte er sich allmählich in de Provinzen rühmen; wenn auch weit entfernt nicht einer freiwilligen und massenhaften Erhebung des Arbeiterstandes, so doch in Folge seiner gewaltige Kraftanstrengungen eines langsamen Wachsthums des Vereins. Seine rheinische Agitationsreise hatte etwa 500 neue Mitglieder geworben; nach und nach siedelte sich der Verein in 52 Städten an, aber wie viel mehr letzterer nur ein flackerndes Strohfeuer, als die nachhaltige Gluth politischer Leidenschaft zu entfachen wußte, beweist am schlagendsten die Thatsache, daß er in fast der Hälfte jener Orte noch zu Lebzeiten Lassalle’s wieder einging. Trotz aller großen Worte vermochte die Bewegung niemals ihre künstliche Mache zu verleugnen, niemals das volle Leben eines ursprünglichen Organismus zu entfalten. Wirr liefen die Anschauungen, Gedanken, Gefühle in den einzelnen Gemeinden durcheinander; ein ewiger Zank herrschte vor, und er war um so unsterblicher, als Niemand recht wußte, was denn nun eigentlich geschehen und werden solle; die Häuptlinge zweiten und dritten Ranges verketzerten und verklagten sich gegenseitig; einzig noch die sclavische Anbetung des genialen Führers hielt die bunt gemischten Schaaren beisammen.
Und auch sie fing zuletzt an zu wanken. Der zweite Beamte des Vereins, Herr Vahlteich als Vereinssecretär, empörte sich gegen den Präsidenten, der den Unruhestifter zwar aus der Mitgliedschaft entfernte, aber bei diesem Anlasse bekannte, von Ekel über die innere Zwistigkeiten nahezu überwältigt zu sein.
Das hinderte ihn natürlich nicht, öffentlich den „geschlossenen Geist strengster Einheit und Disziplin“ zu preisen, der den Verein zu einer „ganz neuen Erscheinung in der Geschichte“ mache. Mit gleicher Mißachtung der Wahrheit pflegte er über die Höhe der Mitgliederzahl sich auszulassen; aus seinen vertrauten Briefen ist dagegen wohl erkennbar, wie scharf er die Achillesferse des Vereins erkannte. Er wurde nicht müde zu schreiben: „Wir können nur durch große Massen marschiren. Wenn wir nicht spätestens nach Ablauf eines Jahres große Zahlen auflegen können, sind wir ganz ohnmächtig.“ Er hat niemals große Zahlen auflegen können; bei seinem Tode mochte er drei- bis viertausend Anhänger zählen, eine Ziffer von lächerlicher Geringfügigkeit gegenüber den Hunderttausenden, mit denen er in seinen begehrlichen Träumen rechnete.
Die geringe Unterstützung der Arbeiter selbst machte die Werbung gebildeter Anhänger für Lassalle nach wie vor zu einem „Ziel, auf’s Innigste zu wünschen“. Aber auch hier kämpfte er wesentlich einen vergeblichen Kampf. Die theoretische Halbheit seiner Agitation trennte ihn gleich anfangs von Engels und Marx; vollends seitdem er seine neue Taktik begonnen hatte, folgten diese eingefleischten Revolutionäre von ihrem englischen Exile aus seinen Wegen nur mit misstrauischen Blicken; wo er selbst die alten Genossen erwähnt, hört man aus seinen Worten das böse Gewissen reden. Von seinen Freunden in Deutschland theilten Bucher und Rodbertus seine Ansicht über die falschen Wege, welche die Fortschrittspartei auf dem Gebiete der Arbeiterfrage eingeschlagen hatte, aber nicht minder entschieden verwarfen sie sein Vorgehen, und vergebens bemühte er sich, sie mit sich fortzureißen. Auch der alte Ziegler sagte sich schweren Herzens von dem bewunderten Freunde los. Herwegh blieb ihm zwar treu, aber er that nichts für ihn, als daß er das Bundeslied des Vereins dichtete. Wenig sangbar, wurde dieses Gedicht noch dazu von Hans von Bülow in den dunklen und schweren Weisen der Zukunftsmusik componirt, sodaß es niemals populär war und fast ganz unbekannt geblieben ist. Deshalb mögen hier wenigstens die Anfangs- und Schlußstrophen einen Platz finden:
Bet’ und arbeit’! ruft die Welt,
Bete kurz! denn Zeit ist Geld.
An die Thüre pocht die Noth –
Bete kurz! denn Zeit ist Brod.
und du ackerst und du säst,
Und du nietest und du nähst,
Und du hämmerst und du spinnst –
Sag’, o Volk, was Du gewinnst?
– – – – – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – – –
Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.
Deiner Dränger Schaar erblaßt,
Wenn du, müde deiner Last,
In die Ecke lehnst den Pflug,
Wenn du rufst: Es ist genug!
Brecht das Doppeljoch entzwei!
Brecht die Noth der Sclaverei!
Brecht die Sclaverei der Noth!
Brod ist Freiheit, Freiheit Brod!
Wenn darnach Lassalle viel alte Freunde aus den gebildeten Schichten durch seine Agitation verlor, so gewann sie ihm wenig neue aus de gleichen Kreisen. Einiges junge Volk schloß sich ihm flüchtig an, ein Advocat, ein oder zwei Aerzte, ein Buchhändler, ein Candidat, auch ein baierischer Exlieutenant, aber von politischem Werthe waren diese vergänglichen und meist nur durch persönliche Bewunderung geschlossenen Verbindungen nicht. Nur aus zwei seiner Anhänger durfte er mit einiger Genugthuung als auf Demagoge blicken, die seiner agitatorische Kraft nicht völlig unwürdig waren, aus Liebknecht und Schweitzer, aber sein Unstern wollte, daß auch sie ihm keine werthvollen Stützen wurde. Schweitzer war ein begabter und thatkräftiger Mann, aber bekannt als Wüstling, der nur zu reichlich alle Genüsse des menschlichen Lebens erschöpft hatte: so betrachtete ihn gerade die besseren Mitglieder des Vereins mit unverhohlenem Widerwillen, und Lassalle mußte sein ganzes Ansehen einsetzen, um seine Aufnahme überhaupt bewerkstelligen zu können. Liebknecht wieder war persönlich ein unantastbarer Charakter, aber politisch ein fanatischer Republikaner aus der Schule von Engels und Marx; er gewann zu Lassalle und Lassalle wieder zu ihm kein rechtes Vertrauen.
Bei solcher Bewandtniß der Dinge mußte Lassalle die geistigen Kosten seiner Agitation so gut wie ganz allein bestreiten, und er hat diese Aufgabe in geradezu einziger Weise gelöst. Vor dem anderthalb Dutzend mehr oder minder umfangreicher Schriften, die er in anderthalb Jahren mitten in den ungeheuren Anstrengungen und Aufregungen seiner Agitation geschrieben hat, kann ein unbefangener Urtheiler nur mit staunender Bewunderung stehen. In unserer nationalen Literatur haben diese glühenden Ergüsse einer Beredsamkeit, welche aus den schwersten und verworrensten Fragen der Wissenschaft blitzende Waffen auch für die ungefüge Faust der unwissenden Masse zu schmieden weiß, kaum ein Vor- oder auch nur ein Nachbild. In ihrem großartigen Wurfe stehen sie einzig da, ein Denkmal, nicht aus reinem und volltönendem Erze, vielmehr in wunderbarer Mischung aus Gold und Schlacken gegossen, aber strahlend von dem bestrickenden Glanze einer gewaltigen Geisteskraft. Wer diese Schriften liest, wird oft von aufrichtigem Abscheu ergriffen werden angesichts der wüthenden Schmähungen, mit denen sie verdiente Männer, wie beispielsweise einen Schulze-Delitzsch, überschütten, aber durch diese trüben Sümpfe windet sich der Gedankenpfad dann wieder in so kühnem Schwunge zu [417] den lichten Höhen der Wissenschaft empor, daß der Widerwille immer wieder in der Seele des Lesers erlischt vor athemloser Spannung. Trotz alledem und alledem weht ein Hauch unsterblichen Schaffens durch diese Blätter; ein nicht geringer Theil ihres Inhalts ist schon heute ein bleibender Gewinn der Socialwissenschaft geworden.
Im Frühjahre von 1864 konnte Lassalle auf einen Winter zurückblicken, den er ganz und von seiner Sache gewidmet hatte; mit größerem Rechte, als im Vorjahre, durfte er seiner Reiselust nachgeben. In den rheinischen Gemeinden gedachte er zunächst das Stiftungsfest des Vereins zu feiern, die Triumphe des vergangenen Herbstes zu erneuern, eine neue Heerschau über die erlesene Garde seiner Anhänger zu halten. Und als er nun in Düsseldorf, Ronsdorf, Wermelskirchen erschien, da war es, als wollte ein barmherziges Schicksal ihm wenigstens einen tiefen Trunk aus dem Taumelkelche gönnen, nach dem seine Lippen in den aufreibenden Sorgen des Winters fast verdurstet waren.
Er war gekommen, abgespannt, übermüdet, auch körperlich krank; seine Aerzte gaben ihm nur noch eine kurze Lebensfrist. Todesgedanken quälten ihn; als er die Arbeiter in Düsseldorf um sich versammelte, sagte er von düsterer Ahnung: „Im nächsten Jahre werdet Ihr diesen Saal schwarz ausschlagen,“ und gleich melancholisch schloß die Rede, welche er auf dieser Rundreise in den einzelnen Gemeinden hielt, mit den Worten „Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor!“ (Möge ein Rächer aus unsern Gebeinen erstehen!) Aber als nun zu dem eigentlichen Stiftungsfeste in Ronsdorf die Arbeiter der Umgegend in dichten Schaaren herbeiströmten, als sich Tausende und aber Tausende um ihn drängten mit jubelndem Zurufe, ihn unter Blumen erstickten und ihn priesen als ihren Heiland und Retter, da schnellte seine Seele mächtig empor aus der Tiefe der Verzagniß, und wieder leuchtenden Auges blickte er in die dunklen Schatten der Zukunft. „So,“ rief er triumphirend aus, „sehe es aus bei der Stiftung neuer Religionen,“ und als die Arbeiter ihn besangen:
„Wir grüßen Dich, Herr Präsident,
In unserm Deutsch-Verein,
Denn Dir gebührt die Ehre
Zu unserm Groß-Verein;
Und wenn wir nun gesieget,
Dann wollen wir uns freu’n,
Du bist uns hoch erkoren
In diesem Deutsch-Verein!“
da rühmt er freudig dies Lied „in seiner tiefen Innigkeit und Naivetät“ und brachte es glücklich fertig zu schreiben „Wer sich auf alten Volksgesang versteht, wird nicht wenig überrascht sein, seine unversiechliche Spur in vollster Schönheit hier wiederzufinden.“
Der Tag in Ronsdorf war der letzte Sonnenblick, welcher das verlorene Leben des Agitators streifte. Von nun an kam unaufhaltsam die Dämmerung: sie spann ihn tiefer und tiefer in ihre grauen Nebel, bis endlich der letzte Schimmer der glänzenden Gestalt in der finstern Wirrniß eines unwürdigen Abenteuers erlosch. Vom Mai bis Juli war Lassalle auf seinen Sommerfahrten noch mannigfach thätig für seinen Verein; sein letzter Brief an den Secretär datirt vom 28. Juli 1864, dem Tage, an welchem ihn Helene von Dönniges auf Rigi-Kaltbad aufgesucht hatte. Von da ab lebte Lassalle nur noch in der Liebesintrigue mit dieser Dame; die besorgten Anfragen des Secretärs blieben unbeantwortet; nicht mit dem Schatten eines Gedankens hat er mehr an das gedacht, was er die große Aufgabe seines Lebens nannte. Am 31. August starb er dann jenes blutigen Todes, der so sehr jeder echten Tragik entbehrt, wie ihrer vielleicht noch niemals das gewaltsame und selbstverschuldete Ende eines bedeutenden Menschen entbehrt hat.
Ein widerlicher Versuch, den Leichnam Lassalle’s für agitatorische Zwecke zu benutzen, scheiterte glücklicher Weise an dem Widerstande der Polizei. Dieselbe nahm den Sarg zu Köln in Beschlag, als die Gräfin Hatzfeldt ihn auf einem Rheindampfer nach Düsseldorf führen wollte, um daselbst eine große Todtenfeier der rheinischen Gemeinden zu veranstalten. Die Leiche wurde nach Breslau gebracht, der Vaterstadt Lassalle’s, dort unter polizeilicher Begleitung in einem Planwagen auf den jüdischen Kirchhof geführt und ohne jede Feierlichkeit beigesetzt. So seltsam erfüllte sich der Traum Lassalle’s, am Schlusse seiner demagogischen Laufbahn auf dem Wagen des Triumphators einzuziehen in die freiheits- und siegestrunkene Hauptstadt eines großen Volks!
Im socialdemokratischen Lager erscholl wilde Klage um den Tod des Führers; man feierte sein Andenken in den widerlichsten Formen des Götzendienstes. Stiller, aber tiefer und wahrer trauerten Alle, welche im Auf- und Niedergang dieses Leben verfolgt hatten, das mit allen reichsten Gaben begnadet war, um als ein erster Stern am Himmel der Menschheit zu glänzen, aber das durch eigene Schuld sich selbst gebannt hatte in jenes Zwischenreich geschichtlicher Größen, deren Namen im Gedächtnisse der Nachwelt nur dauern unter dem Fluche des Dichterwortes:
„Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt,
Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“
Die „Vivisection“ vor dem Richterstuhl der Gegenwart.[1]
Ein Wort zur Vermittelung.
Von Prof. C. Ludwig.
Das deutsche Publicum wird seit einiger Zeit von einer Agitation heimgesucht, welche mit den drastischsten Mitteln sich an schwachnervige und sentimentale Gemüther, namentlich der Frauen wendet, vor Allem aber an die Frömmigkeit appellirt, um durch den Druck der öffentlichen Meinung das gänzliche Verbot der sogenannten Vivisection, des wissenschaftlichen Experimentes am lebenden Thieren zu erzielen. Diese ganze Bewegung hat ihren Ursprung in England, und die Triebfedern derselben dienen wissentlich oder unwissentlich den Zwecken, welche die englischen Urheber im Auge haben. Um daher ein sicheres Urtheil in der Frage zu gewinnen, muß man sich zunächst Ursprung und Verlauf der Bewegung jenseits des Canals vergegenwärtigen.
Zum vollen Verständniß dieser Bewegung halte man sich gegenwärtig, daß alle ärztlichen Lehranstalten in England nur Privatinstitute sind. Der Staat ernennt keine Professoren; er ordnet nicht den Lehrplan und giebt zur Unterhaltung des Unterrichts keine Mittel; mit dem Staate kommen die medicinischen Facultäten nur in Berührung, wenn sie gegen die allgemein gültigen Gesetze verstoßen. Da dieser Fall eingetreten zu sein schien, als sich in öffentlichen Blättern die Anklage erhob, es werde in den medicinischen Laboratorien unter dem Vorwande der Wissenschaft gegen die Thiere auf das Grausamste vorgegangen, so verhängte im Jahre 1876 das Parlament wie billig eine Untersuchung. Aus einer strengen und sachgemäßen Prüfung der Thatsachen ergab sich jedoch alsbald, daß die gegen die medicinischen Schulen geschleuderten Vorwürfe durchaus ungerechtfertigt gewesen, und es traten nicht blos alle hervorragenden Aerzte, es traten auch alle anderen Naturforscher, ja sogar die Mitglieder des Thierschutzvereins, welche von dem Gebrauche Kenntniß genommen, der in England von der Vivisection gemacht worden, für die Ausübung der letzteren ein. Obwohl unter diesen Umständen keine Veranlassung zu einem Eingriff in den bisherigen Zustand vorlag, so erließ doch das [418] Parlament zur Beruhigung der Gewissen ein Gesetz, welches die Ausübung der Vivisection unter die besondere Aufsicht des Ministeriums des Innern stellte, ähnlich der, wie sie in allen continentalen Instituten seit lange geübt wird.
Nachdem hierdurch allen berechtigten Anfordernden der Thierfreunde an die ärztliche Wissenschaft genügt war, stand zu erwarten, daß sich von nun an die Agitation gegen die Vivisection beruhigen werde; statt dessen gewann sie einen erhöhten Aufschwung. In heftigen Worten erklärten die Gegner der Vivisection, der Staat habe seine wahre Aufgabe verkannt, nicht zu überwachen, sondern auszurotten sei der Gebrauch der Thiere zur Vivisection, und was die Gesetzgebung versäumt, das müsse auf dem Wege der Selbsthülfe erreicht werden. Zu diesem Ende gründete die Partei einen Verein, dessen weit ausschauende Aufgabe sich schon durch seinen Namen „Internationale Association zur totalen Unterdrückung der Vivisection“ ankündigte. Da an seiner Spitze Bischöfe und Lords, Herren und Damen der vornehmen Gesellschaft standen, welche über Reichthum und Einfluß geboten, so gebrach es der Assoziation nicht an dienstfertigen Kräften; zahlreiche Flugblätter, voll von falschen Anklagen gegen die Fruchtlosigkeit der grausamen Experimente mit Thieren, voll von Angriffen gegen die Gelehrten, welche dieselben ausüben, wurden im Volke verbreitet; an allen Ankündigungstafeln, in den Coupés der Eisenbahnen erschienen die jüngst auch bei uns herumgebotenen Bilder; anatomische Präparationen, wie sie nur an der Leiche ausführbar sind, werden zu Ergebnissen der Vivisection gestempelt, und um die zerfleischten Thiere sind Professoren und Studenten, junge und alte Galgengesichter, gestellt, welche sich an der Qual ihrer Opfer weiden. Nicht genug damit, auch in den Kirchen wurden die Gemüther des Volkes erhitzt, von vielen Kanzeln Englands herab ertönten Verwünschungen gegen die Wissenschaft und ihre Vertreter. Man drohte den Lehranstalten und Hospitälern mit der Entziehung der bisher gewährten Unterstützung, wenn sich die an ihnen beschäftigten Professoren und Aerzte der Vivisection nicht enthielten, und bei der Abhängigkeit, in der sich die Krankenhäuser und die mit ihnen verbundenen Facultäten der Medizin von der Unterstützung durch milde Gaben befinden, mußte die Wissenschaft der hülfsbedürftigen Armuth das Opfer bringen.
Damit war für England das vorgebliche Ziel der Association erreicht; wäre das Mitleid mit dem Thiere die Ursache der Anstrengung gewesen, so wäre nur etwa noch die Agitation im Auslande ihr als Ziel verblieben. Was kann noch immer die Gegner der Vivisection veranlassen, in Flugblättern und Annoncen gegen die einzeln namhaft gemachten Professoren der Physiologie, welche seit Jahren keine Vivisection geübt, den Haß und die Verachtung der Menge zu erwecken? Wenn es von vornherein befremdlich war, daß aus den Schichten derjenigen Gesellschaft, welche rücksichtslos nach den Genüssen dieser Welt jagt, welche sich durch die raffinirteste Pflege des Sports, der Hetzjagden und des grausamen Fischangelns auszeichnet, solch ein Angriff auf den Stand hervorging, der selbstlos gegen das Elend kämpft, so wurde jetzt offenbar, daß die Vivisection nur den Vorwand abgegeben. Nicht aus dem Bedürfnisse des Herzens, sondern aus dem Schooße der Hierarchie erhob sich der Sturm. Wie voreinst die Päpste in Copernicus und seinem Jünger Galilei die Zerstörer des traditionellen Himmels gefürchtet, so wähnt jetzt die englische Geistlichkeit, die Physiologie könne ihr die Seelen entfremden.
Vor einer Wissenschaft, welche die Brücke zwischen Physik und Philosophie schlägt, welche die Sinne, jene Außenwerke des Geistes, erfolgreich in den Kreis ihrer Forschung gezogen, wird mancher Begriff verschwinden, der einer blinden Wortgläubigkeit für den Kern der Religion gilt, aber niemals wird eine Religion, die in Wahrheit diesen Namen verdient, durch die Einsicht in den natürlichen Verlauf der Dinge verkümmert. In der freien Bewegung der Geister, welche sich seit den Tagen der Reformation in Deutschland entfaltete, ist es längst erwiesen, daß zwischen dem Glauben an eine sittliche Ordnung der Welt und der genannten Erkenntniß der irdischen Dinge kein feindlicher Gegensatz herrscht. Jene englische Agitation ist ein neues trauriges Zeugniß, wie hartnäckig sich die Feinde der freien Forschung dieser Wahrheit verschließen.
So viel über die Motive der englischen Agitation gegen die „Vivisection“!
Indem wir uns nun zu dem Wesen der letzteren selbst wenden, bemerken wir zunächst, daß von vornherein das unpassende Wort „Vivisection“, mit welchem man eine wissenschaftliche Operation belegte, die Schuld daran tragen dürfte, daß jeder Uneingeweihte zu der Meinung kam, der Versuch am lebenden Thier gleiche der anatomischen Section, welche in ungemessenen Schnitten Höhle um Höhle, Glied um Glied der Leiche zerlegt. Keine Annahme ist irriger als diese; mit ganz anderen Empfindungen, als an die gefühllosen Cadaver, tritt der Forscher an das lebende Thier, dessen Leiden er weit mehr als jeder Andere zu würdigen versteht; nach sorgfältigem Erwägen dessen, was nothwendig und was überflüssig ist, und getragen von der genauesten Kenntniß des anatomischen Baues, beschränkt er die Verletzung auf das unumgängliche Maß; mit Vorsicht umgeht er die empfindlichen Theile des Körpers, und so oft es nur irgend thunlich, hat er vor seiner Operation das Thier durch Narcotica betäubt. Zu dieser durch menschliches Empfinden gebotenen Vorsicht gesellen sich die Forderungen der Wissenschaft, da für diese der Versuch einen um so größeren Werth gewinnt, je mehr sich der Zustand des Geschöpfes, an welchem eine Vivisection geübt wird, der vollen Gesundheit nähert. In unserer Kunst – denn als eine solche ist sie zu bezeichnen – gilt es als ein Fortschritt, wenn es gelingt, das Maß der Verletzung zu verringern, und als ein Triumph, wenn man zur Aufklärung der geheimnißvollen Vorgänge des Lebens an die Stelle der Vivisection ein Verfahren zu setzen vermag, das sie entbehrlich macht.
Daß dieses Letztere in reichlichem Umfange geschieht, daß die Wissenschaft unserer Tage sehr oft das lebende Thier umgeht, wo es früher unentbehrlich erschien, weiß jeder Fachmann. Das Mikroskop, die organische Chemie, die Fortschritte der Physik bieten so vielfache Hülfe, es hat die Kunst, die herausgenommenen Organe des getödteten Thieres durch künstliche Mittel zu beleben, so große Fortschritte gemacht, daß gegenwärtig die Vivisection einen, wenn auch unentbehrlichen, aber doch nur geringen Theil der Verfahrungsarten ausmacht, durch welche die Einsicht in das Leben und seine Bedingungen gewonnen wird.
Daß die Physiologie und die experimentelle Pathologie von einem einseitigen Gebrauche der Vivisection weit entfernt sind, davon überzeugt den unseren Wissenschaften ferner Stehenden schon die Vergleichung der Verzeichnisse der akademischen Vorlesungen von heute mit denen von vor dreißig Jahren. Wie dürftig nimmt sich das Ehemals gegen das Jetzt aus! Und derselbe wissenschaftliche Streit, welcher den Gegnern der Physiologie zum Beweise dienen soll, daß ihre einzige Frucht in nutzlosem Gezänke bestehe, sollte vielmehr als Zeugniß angesehen werden, um wie viel mehr die Vertreter dieser Wissenschaft sich vom rohen Drauf- und Dreinexperimentiren entfernt haben und wie lebhaft sie bemüht sind, aus dem unumgänglichen Experiment den möglichsten wissenschaftlichen Nutzen zu ziehen.
Daß in der That aus der Vivisection reichlicher wissenschaftlicher Nutzen geflossen und daß derselbe in eminentem Grade der Menschheit zugleich praktisch zu Gute gekommen ist, dies zu erweisen ist leicht genug. Ja, wollte man alle die Dienste aufzählen, welche der Versuch am lebenden Thier der Heilkunde geleistet, so würde man eine Geschichte der medizinischen Wissenschaft zu verfassen haben, denn es ist in dieser kein Fortschritt geschehen, an dem die Vivisection nicht mehr oder weniger betheiligt gewesen; statt dessen mag es hier genügen, in kurzen Umrissen einige ihrer großen Hülfsleistungen für die Heilung des kranken und das Gedeihen des gesunden Menschen anzuführen.
1) Ohne die Vivisection wäre es niemals gelungen, von dem Blutstrom und den Kräften, die ihn treiben, eine Kenntniß zu erlangen, wie sie zur Beherrschung derselben dem Arzte nothwendig ist. Was dieser Erwerb für die leidende Menschheit bedeutet, geht daraus hervor, daß erst er die sichere und schmerzlose Stillung großer Blutung ermöglicht hat; denn vor seiner Entdeckung konnte nur durch ein glühendes Eisen, das in die Wunde gesenkt wurde, die Blutung aus den Schlagadern gestillt werden. Welche Schmerzen hatte der zu überstehen, der auf diese Weise von dem sicheren Tode gerettet wurde, und wie Viele mußten ohne Rettung auf dem Schlachtfelde oder nach plötzlichen Verwundungen verbluten! Wie Wenigen auch, denen nur eine größere chirurgische Operation Heilung zu bringen vermochte, konnte die ersehnte Hülfe zu Theil werden!
[419] Obschon dieser eine Erfolg genügte, um die Entdeckung des Blutstroms für unschätzbar zu erklären, so haben sich doch an sie andere und weit größere angereiht, seitdem die fortschreitende Wissenschaft tiefer und tiefer in die Eigenthümlichkeiten des lebendigen Blutlaufs eingedrungen. Wenn gegenwärtig zahlreiche Herzkrankheiten erkannt und geheilt, gefahrdrohende Entzündungen gehoben werden, wenn heute das Blut, statt daß man es in unnützem Aderlaß stromweise vergießt, nach Kräften gespart und hierdurch dem kranken Körper die Kraft zur Ueberwindung des Siechthums gesichert wird, so verdankt dies die menschliche Gesellschaft nur der durch die Vivisection gewonnenen Erkenntniß.
2) So lange der Arzt die Einsicht in den Organismus nur aus der Zergliederung der Leiche gewann, mußte er, getäuscht von dem äußeren Anschein, zwei ihren Leistungen nach so grundverschiedene Gebilde, wie die Nerven und Sehnen, mit einander verwechseln. Erst der Versuch am lebenden Thier bewies ihm, daß die Sehne ein träger Strang, der Nerv aber zu der Erfüllung der Aufgaben befähigt sei, denen nach der Ueberzeugung unserer Vorfahren nur beseelte Wesen gewachsen waren. Die unablässige Arbeit der Physiologen hat endlich auch die Nerven als mechanische Apparate erwiesen, und noch mehr, sie hat uns gezeigt, daß, statt einer einzigen, zahlreiche Gattungen von Nerven bestehen, welche, dem trüglichen Augenschein zuwider, ihrem inneren Wesen nach durchaus verschieden sind. Wie wäre es möglich gewesen, an todten Nerven zu erfahren, daß dieser empfinde, jener aus den Drüsen den Speichel oder Thränen hervorlocke, und ein anderer nach den Befehlen unseres Willens die Glieder bewege, den Blutstrom hemme und beschleunige, und wie könnte ohne die Hülfe des lebendigen Thieres der Einblick in die wundervolle Mechanik der Nerven gelingen? Nur durch den Versuch konnten wir erfahren, daß sich die Nerven von einem zum andern Orte unseres Körpers erstrecken, daß sie sich im Gehirne und im Rückenmarke kunstvoll verflechten und alle Werkzeuge unseres Körpers zu gemeinsamer Arbeit verknüpfen. Naturgemäß erwuchs aus der Kenntniß dieses Baues und seiner Verrichtungen in der Hand des denkenden Arztes die Einsicht in das Wesen einer unabsehbaren Schaar von schweren Erkrankungen, und durch sie gelang die Linderung zahlloser Schmerzen. So lange man nicht wußte, daß die Nerven des Herzens und der Athmung nach anderen Gesetzen wirken, als die, welche unserer Seele den Schmerz zutragen, wäre es ein Verbrechen gewesen, auf die Anwendung von Mitteln zu denken, welche die Empfindung lähmen. Daß wir jetzt kein Bedenken tragen, durch diese Lähmung den unerträglichen Schmerz zu stillen, ist allein die Frucht der Vivisection. Aber ihre Erfolge reichen noch weit hierüber hinaus; man denke nur an die erquickende Kraft der Elektricität – dieser neue, um nicht zu sagen neueste Zweig der Heilkunst wurzelt allein in dem physiologischen Experiment.
3) Wer vor vierzig Jahren seine Studien begann, der fragte seine Lehrer vergebens, aus welchen Stoffen die Nahrung bestehen müsse, um den Menschen gesund zu erhalten, und man wagte nicht einmal die Frage, weshalb die Nahrung dem Körper Kräfte verleihe. Daß bei einem solchen Stande der Wissenschaft die Einsicht in die Verdauung und in die Bildung des Blutes fehlen mußte, bedarf keiner Erwähnung. Wäre es untersagt gewesen, den Aufschlüssen, welche uns die Chemie geschenkt, den Versuch am lebenden Thiere zu gesellen, so würde das Dunkel niemals gewichen sein, und zahlreiche Erfolge, deren sich die ärztliche Kunst rühmen darf, wären nie errungen worden. Die Mutter, welche ihr sieches Kind unter einer vernünftigen Regelung der Diät aufblühen sieht, und der Hypochonder, welchem der physiologisch geschulte Arzt mit der geregelten Verdauung die Lebenslust zurückgegeben, sind dem Experimente zum Danke verpflichtet.
4) Einer groben Fahrlässigkeit würde sich gegenwärtig der Arzt schuldig machen, welcher die Temperatur des Kranken, in dessen Adern das Fieber wüthet, nicht bis auf das Zehntel eines Grades messen würde. Daß kein Vorwurf dem zu machen war, welcher vor zwanzig Jahre den Gebrauch des Thermometers am Krankenbett verschmähte, leuchtet ein, wenn man erfährt, seit wie kurzer Zeit man erst weiß, daß bei einer Wärme des Blutes, die nahe über 42° Celsius liegt, das Leben augenblicklich erlischt. Die Aufdeckung des merkwürdige Gesetzes, daß die Erhöhung der normalen Körperwärme um wenige Grade schon für sich allein den Tod bringe, konnte selbstverständlich nur am lebenden Thiere gefunden werden. Seitdem man in den physiologischen Laboratorien die allmähliche Steigerung der Körperwärme bewirkte und ihre Folgen erkannte, hat die Heilkunde durch kühne Anwendung der Kälte Tausende von Kranken gerettet, die vormals dem hitzigen Fieber zum sichern Opfer fielen.
5) Längst war es durch die einfachste Beobachtung bekannt, daß Pflanzen und Thiere im Menschen keimen, wachsen und seine Gesundheit erschüttern. Doch der ganze Umfang, in dem dies geschah, daß auch kleinste, mit den besten Mikroskopen kaum erkennbare Schmarotzer sich das Fleisch und das Blut zum Aufenthalte erwählen, daß sie auf jeder Wunde nisten, daß sie Gifte und damit Qualen in uns führen, die an Grausamkeit alle übertreffen, welche jemals der Haß und die Bosheit erdacht, das lehrte erst die Vivisection. Als eine gütige Fügung muß es dem menschlichen Bewußtsein erscheinen, daß mit der Erkenntniß, welche Leiden die höchste Organisation zu Gunsten der niedrigsten erdulden muß, auch die Hülfe gegen sie entdeckt ward. Durch den Gebrauch des Carbols, welches die Parasiten tödtet, die sich in der Wunde niederlassen, gelang die Heilung größter Verletzungen so schmerzlos und in so kurzer Zeit, daß von nun an auch der vorsichtigste Operateur zu einem Gebrauche des heilenden Messers schritt, vor dem sonst auch der tollkühnste zurückschreckte. In die Seele des Kranken, der verzweifelnd in die nächste Zukunft sah, ist Ruhe und Zuversicht eingekehrt, denn warum sollte er die Operation fürchten, seitdem ihn das Chloroform vor dem Schmerze schützt, die antiseptische Behandlung das zehrende Wundfieber fernhält und die klaffende Wunde in wenigen Tage zuschließt?
Diese Thatsachen dürften genügen, um den Werth des Experimentes am lebenden Thiere darzuthun und die heutige Physiologie gegen die Anschuldigungen zu vertheidigen, die ihr gemacht werden. Wären wir der Vergehen schuldig, deren uns die Gegner anzuklagen nicht ermüden, längst wäre uns von den vorgesetzten Stellen aus Einhalt gethan, denn das Gesetz bedroht jetzt schon Denjenigen, „der in Aergerniß erregender Weise Thiere boshaft quält oder roh mißhandelt“, mit Geldstrafe und Gefängniß, und nicht in der Stille, nein vor den Augen Vieler vollführen wir unsere Werke. Und wie es uns selber alle Gründe des Gemüthes und des Verstandes nahe legen, jeden Makel zu verhüten und zu tilgen, der sich an den Name unserer Kunst heften könnte, so ist wirklich Niemand mehr, als wir bestrebt, auf alle gerechten Klagen zu hören und allen Ausschreitungen entgegenzutreten, welche unter dem Deckmantel ärztlicher Bestrebung an dem Thiere geübt werden; in diesem Sinne stimmen wir unsern Gegnern aus voller Ueberzeugung bei. Nur unter Aufsicht der vom Staate ernannten Vertreter der Wissenschaft soll das Experiment am lebenden Thiere geübt, und die strengsten Strafen sollen über denjenigen verhängt werden, der diese Experimente vornimmt, ohne seinen Beruf dazu nachweisen zu können. Aber wenn die Anschuldigungen frivoler Ausübung des Experiments sich gegen längst Verstorbene richten, wenn sie zudem den Stempel der Unwahrheit an der Stirn tragen, mit einem Worte, wenn sie den Angriffen gleichen, welche sich in den gegenwärtig verbreiteten Schriften befinden, so werden wir die Verfasser, je nach ihren Motiven, beklagen oder verdammen müssen, der Sache aber, die wir vertreten, wird hoffentlich eine in ihren Voraussetzungen und Zielpunkten so hinfällige Agitation, wie es die in Rede stehende ist, nicht schaden.
Ob auch der englische Klerus die Bücher, welche auf seine Bestellung geschrieben, bis in die kleinsten Schulen verbreitet, seine Verbindungen sich bis in die höchsten Kreise erstrecken – seine Mühe ist vergebens. An dem weltgeschichtlichen Berufe des deutschen Geistes, die Forderungen des Gemüths mit denen des Verstandes in Einklang zu bringen, sind größere Agitationen als die heutige gegen die Physiologie gescheitert, und man kann nur das Aergerniß beklagen, das mancher warmen Empfindung durch die Verpflanzung des Angriffs nach Deutschland bereitet wurde und noch bereitet wird.
[420]Clotilde.
Novelle von L. Herbst.
(Fortsetzung.)
„Sie werden mir bald Recht geben,“ fuhr Frau von Dunker unerschütterlich fort. „Sehen Sie, gnädige Frau, der Herr von Brauneck hat Sie seiner Zeit sicherlich vergöttert, eine so schöne junge Frau. Unglückliche Verhältnisse, unverschuldete Verluste rissen ihn von Ihrer Seite – Armuth ist ein schlechtes Liebesband … Wenn Sie sagen, daß Sie Herrn von Brauneck einmal liebten, so werden Sie nicht wünschen, daß er sein Leben fortan in dürftigen Verhältnissen verbringt, daß er im Schweiße seines Angesichts sein Brod essen soll.
Bei seinem edeln Sinn für Eleganz und Reichthum“ – sie strich dabei leicht mit der Hand ihr schweres seidenes Kleid und die Spitzen ihres Sammetmantels – „bei seinen vornehmen Bedürfnissen kann er nur in großen Verhältnissen glücklich sein. Wer wird das besser begreifen, als Sie? Und so muß es Ihnen ja eine Herzenserleichterung sein, wenn Sie wissen, daß er das Alles an meiner Hand finden wird.“
„Erlauben Sie mir eine Frage!“ fiel Clotilde, diesen Redefluß hemmend, ein. „Weiß mein Mann – weiß Herr von Brauneck, daß Sie gekommen sind, mir dies zu sagen?“
„I, Gott bewahre; wohin denken Sie! Das sind Frauenangelegenheiten, von denen die Männer am besten nichts wissen.“
„Und Sie haben sonst noch eine Mittheilung für mich?“
„Ich komme jetzt auf den Kern unserer Unterredung, gnädige Frau. – Sie wissen, zu einem Bündnisse Herrn von Brauneck’s mit mir bedarf es zunächst noch einer gewissen Formalität, die durch Ihren guten Willen sehr erleichtert würde. Ich hoffe, daß meine offene Darstellung Sie zu einem Antrage auf Scheidung geneigter machen wird. Nicht wahr, gnädige Frau, ich irre mich nicht?“ fragte sie mit ihrem gewinnendsten Lächeln.
Clotilde hatte sich erhoben und stand groß und stolz vor der Fremden.
„Es thut mir leid,“ sagte sie mit klarer, fester Stimme, „Ihnen sagen zu müssen, daß unsere Ansichten über die Liebe, wie über das Band der Ehe weit aus einander gehen. … Meine Liebe zu meinem Gatten ist todt, wie ich für ihn. Ich bin zu einer Scheidung bereit, die er ohne Säumen betreiben mag. Aber nichts in der Welt wird mich dazu bewegen, den ersten Schritt zu thun. – Das ist mein letztes Wort.“
Sie schwieg und sah die Fremde mit einem so vornehmen Blick aus den großen dunklen Augen an, daß diese sich erhob und ohne ein Wort der Entgegnung ihren Abschied nahm.
Als Clotilde sich allein sah, sank sie schluchzend in den Stuhl.
„O, welch ein Tag! Welch ein Tag!“ flüsterte sie und preßte die Hände in einander. „Um dieses Weibes willen bin ich verworfen! Und ich habe ihn so treu geliebt! O, wäre ich todt!“
Von Tag zu Tag erwartete Clotilde die Ankunft einer Schrift. Im Wachen, wie im Traume schwebte ihr ein großes, langes Actenblatt vor, das sie mit ihrem Herzblut unterschreiben müsse. Doch es blieb aus, einen Tag wie den andern. Darüber vergingen Monate.
Ein großes Ereigniß erregte das Vaterland: der Krieg von 1870.
Clotildens tiefes Weh ging freilich in diesem Weltereignisse nicht unter, aber ihr Herz ward doch, wie alle andern Herzen, davon bewegt; ihre Gedanken wurden in andere Bahnen gelenkt.
Große Schlachten waren geschlagen. Großer Jubel durchzog das Land, aber auch tiefe Trauer und Wehklagen um die gefallenen Helden.
„Hier ist ein dicker Brief, ein Feldpostbrief, gnädige Frau,“ sagte eines Tages Hanna. „Von wem mag der nur sein? Wir haben doch Niemand im Felde.“
„Gieb her, Hanna! Wir werden es ja sehen,“ beruhigte Clotilde und drehte de Brief um und um. „Das ist eine mir fremde Hand und der Poststempel nicht zu erkennen.“ – Sie erbrach das Siegel; es schien ein amtliches zu sein. Ein großer, halbbeschriebener Bogen hüllte einen andern verschlossenen Brief ein.
Clotildens Augen fielen zunächst auf die Aufschrift dieses Briefes von einer ihr nur zu wohl bekannten Hand. Unter der an sie gerichteten Adresse stand in kleiner Schrift „Nach meinem Tode zu bestellen.“ Das Blatt in ihrer Hand begann zu zittern und Hanna schob einen Stuhl herbei, in dem sie ihre erbleichte schwankende Herrin sanft niedergleiten ließ.
Als Clotilde sich wieder aufgerichtet hatte, sagte sie:
„Ich bitte Dich, Liebe, laß mich allein.“
Clotilde betrachtete, als sie allein war, noch immer den ungeöffneten Brief, wie man einen geliebten Todten zu betrachten pflegt. Endlich überwand sie sich, die von fremder Hand geschriebenen
[421]
begleitenden Worte zu lesen. In ihren Zügen machte der Ausdruck feierlicher Andacht einer kummervollen Spannung Platz. Es widerstrebte der Hand nicht mehr, auch den geschlossenen bogenlangen Brief zu öffnen.
Bis spät in die Nacht hinein saß Clotilde noch immer einsam mit ihrem Feldpostbrief. Als die Lampe verlöschen wollte, faltete sie die Blätter fest zusammen und legte sie in ein verborgenes Fach ihres Schreibtisches. Hier ruhten wie in einem Grabe alle Briefe ihres Verlobten und Gatten, sowie eine Locke seines blonden Haares.
Der nächste Tag fand Clotilde in ernster Thätigkeit. Sie suchte aus ihren wenigen Schränken und Schubladen allerlei Gegenstände zusammen, fügte auch eine Summe Geldes hinzu, und machte aus dem Ganzen ein wohlgeordnetes Packet. Hanna trug es zur Post. Dort ließ sich die Neugierige, die nichts Geschriebenes zu lesen verstand, von einem gefälligen Beamten sagen, daß es an einen deutschen Militärarzt in Frankreich adressirt sei, dessen Namen sie in ihrem Leben nicht gehört hatte. Kopfschüttelnd ging sie von dannen und dachte: der alten Hanna könnte sie auch wohl sagen, was dies Alles zu bedeuten hat. Aber wie hinter Schloß und Riegel bewahrt sie Alles in ihrem armen Herzen. Nun, die Hanna kann warten.
Noch mancher Feldpostbrief kam jetzt in’s Haus, und noch manche Sendung von Geld oder von Erfrischungen trug Hanna zur Post. Sie schüttelte ihren alten Kopf immer bedenklicher. Endlich eines Tages faßte sie den Muth zu einer Frage.
„Um Vergebung, gnädige Frau, ist das ein Verwandter, an den wir all das viele Geld jetzt schicken?“
„Er stand mir einmal sehr nahe, Hanna,“ sagte Clotilde ausweichend und suchte ihre Bewegung und ihr Erröthen zu verbergen. „Der Arme ward gleich in der ersten Schlacht schwer verwundet und hat viel zu leiden.“
„Das ist gewiß sehr traurig,“ meinte die Alte – „aber hat er denn Niemand sonst auf der Welt, der für ihn sorgen kann?“
„Nein, Hanna,“ sagte Clotilde kurz.
„Hm! Ich meine nur,“ fuhr Hanna unerschütterlich fort – „weil gnädige Frau doch selber –“
„Laß das!“ fiel Clotilde ihr in’s Wort. „Du siehst, ich habe jetzt reichlich. Ein paar Unterrichtsstunden mehr des Tages machen ja Alles gut.“
„Ja, aber ich sehe auch, daß das Gesicht der gnädigen Frau immer kleiner und immer weißer dabei wird.“
„O Alte, Du siehst Gespenster am hellen Tage. Aber nun eile Dich, meine liebe Hanna, oder Du kommst zu spät für den nächsten Zug, und der Unglückliche möchte Noth leiden.“
„Es hilft mir nichts, ich muß schon gehen,“ murrte die Alte vor sich hin. Und sie ging, und noch vielmals ging sie denselben Weg mit unzufriedenem Herzen.
Darüber war der Sommer, war der Herbst verstrichen. Der Winter machte sich schon durch rauhe Stürme geltend.
„Und bei diesem rauhen Wetter will meine herzensgnädige Frau reisen,“ dachte die alte Hanna, als sie eines Morgens ihre Nase prüfend zum Fenster hinaussteckte.
Alles was an warmen Kleidungsstücken nur aufzufinden war, schleppte sie herbei und hüllte die junge Frau sorgsam ein.
„Du meinst es zu gut, Hanna,“ sagte diese endlich ungeduldig. „Ich habe ja nur acht bis zehn Stunden zu fahren.“
„Acht bis zehn Stunden!“ seufzte Hanna. „Bei dieser Kälte! Und zum Herrn Onkel geht es diesmal nicht?“
„Nein, diesmal nicht.“
„Und ich darf nicht wissen, wohin die Reise geht?“
„Der Name würde Dir wenig nützen, meine gute Hanna. Du kennst den kleinen Flecken so wenig, wie ich. Frage mich nicht mehr, wenn Du mich lieb hast! Bei meiner Rückkehr erzähle ich Dir Alles.“
„Eine Vergnügungsreise scheint es nicht zu sein,“ dachte die Alte, als sie die großen Thränen in den Augen ihrer Herrin sah, die ihr noch einmal aus dem Waggon zunickte. „Wenn sie mich doch nur mitnehmen wollte! Aber nein! Da fährt sie nun wieder so allein in die Welt hinaus.“
Für Clotilde war es eine Wohlthat, daß sie im Coupé allein blieb. So konnte sie ungestört ihren Gedanken nachhängen.
„Welch eine Reise!“ dachte sie. „Wieder vor ihn zu treten mit diesem leeren Herzen, aus dem allen Liebe, alle Verehrung für ihn geschwunden ist! Ich hatte geglaubt, ihn niemals wiederzusehen, und wie werde ich ihn wiederfinden? Rudolph, Rudolph! Was hast Du aus mir gemacht! O, unsere selige Jugendzeit! Unsere Jahre von Liebe und Glückseligkeit! Dahin, dahin! Nicht einmal die reine Wonne der Erinnerung ist mir geblieben. Wie ein Gifthauch geht Deine Untreue darüber hin. Und als ich Dir unser Kind in die Arme legte, wie innig strahlten mich Deine Augen an! Alles vorbei! Auch mein Kind ist todt.“
Ihre Thränen flossen warm und lindernd; um ihr Herz legte sich der Schmerz sanft und weich. Mitleid und Erbarmen führten sie an sein letztes Lager. … Der Arme! Er konnte nicht sterben, ohne von ihren Lippen zu hören, daß sie seinem Andenken nicht fluche, daß sie an seine Liebe wieder glaube und ihn mit Wehmuth beweinen würde, wenn er gestorben sei.
Sie nahm einen Brief aus der Tasche, einen seltsamen [422] Brief, ein unsauberes Blatt Papier, mit ungeübten Fingern zusammengefaltet. Eine ungeschickte Feder hatte die traurigen Worte darauf gekritzelt, die sein Mund dictirt hatte. Wem dictirt? In welcher Umgebung mußte er leben! –
Nach langen, qualvollen Stunden war sie endlich am Ziele.
Dort in jenem kleinen Städtchen vor ihr lebte er, litt er. Mit schnellen Schritten hatte sie bald die erste Straße erreicht; hier sollte er wohnen. Ein kleines Mädchen, wohl zwölf Jahre alt, stand vor einem schmutzigen, verfallenen Hause und ließ ihre hellen Haare im Winde flattern. Die blauen Augen des Kindes betrachteten unverwandt Clotildens stattliche, schöne Gestalt in dunklen Trauerkleidern, wie sie des Weges daher kam. Sonst war Niemand auf der Straße zu sehen.
„Kannst Du mir sagen, wo Frau Mautner wohnt?“ fragte Clotilde die Kleine.
„Ja, die wohnt hier,“ erwiderte das Mädchen dienstfertig. „Sind Sie die Dame, die der kranke Herr da oben erwartet?“
„Woher weißt Du, Kleine, daß er mich erwartet?“
„Ich habe ja den Brief geschrieben,“ entgegnete das Mädchen mit kindlichem Stolze; „und nun hat mich der Herr gebeten, nach der Ankunft jedes Zuges hier vor der Thür auf Sie zu warten.“
„Hat er denn Niemand sonst zur Pflege und Wartung, als Dich, mein liebes Kind?“
„Ich wohne nur hier im Hause,“ sagte die Kleine schüchtern „und gehe mitunter heimlich zu ihm. Frau Mautner thut dem armen Kranken nicht gut,“ setzte sie flüsternd hinzu und sah sich ängstlich nach allen Seiten um.
„Gott im Himmel!“ seufzte Clotilde. „Steht es hier so? Kann ich ihn sehen, Kleine? Willst Du mich zu ihm führen?“
„O, gewiß. Darum stehe ich ja hier. – Wir müssen leise gehen,“ sagte das Kind auf der Treppe; „er möchte schlafen; er schläft so viel.“
Da stand sie nun vor der niedrigen, undichten Thür, die sie noch von ihm trennte. Die Kleine öffnete behutsam.
In einer finstern, dumpfen Kammer, auf unsauberem Lager ruhte ein bleicher, abgezehrter Mann mit wirrem Haar und wirrem Bart. Das – das war ihr Mann? Ihr einst so schöner, stolzer Mann? – Sie schloß ihre Augen; sie preßte die Hände fest an die Brust, um den Schmerzensschrei zu unterdrücken, der sich ihr entringen wollte.
Er schien zu schlafen. Leise schlich sie an sein Bett und suchte in den verwandelten Zügen das ihr einst so liebe Gesicht. So verändert! Und doch vergingen kaum zwei Jahre, seit er ihr so voll Liebe und Verzweiflung in die Augen sah, als das Unglück über ihn hereinbrach.
Ein feiner, zarter Duft, der alle ihre Kleider zu durchdringen pflegte, mochte die Geruchsnerven des im Halbschlaf Liegenden berühren, als sie ihm nahe stand, und ihm ihr Bild vor die Seele zaubern. Mit schwacher Stimme, die vor Schmerz und Sehnsucht zitterte, rief er: „Clotilde! Clotilde!“
Sie bebte zusammen und fing leise zu schluchzen an. Der Kranke regte sich. Sie trat geräuschlos zurück, das kleine Mädchen mit sich führend.
„Ich will hier warten,“ flüsterte sie ihr draußen zu, „bis er erwacht ist; dann bereite ihn auf mein Kommen vor!“
„Sie dürfen schon drinnen bleiben,“ sagte die Kleine mit traurigem Ausdruck in ihren blauen Kinderaugen; „er sieht Sie nicht, wenn Sie auch da sind.“
„Er sieht mich nicht? Was heißt das? Ich meine, wenn er erwacht ist.“
„Er sieht Sie auch dann nicht,“ entgegnete das Mädchen. „Er ist blind.“
„Er ist blind? Seit wann denn blind?“
„Ich weiß es nicht,“ sagte die Kleine, die zu weinen anfing; „von Tag zu Tag immer mehr.“
„Und was sagt denn der Arzt?“
„Der Arzt? Einen Arzt hat er hier nicht gehabt.“
„Gott im Himmel, welche Zustände!“
„Und er hat so sehr gehungert,“ flüsterte das Kind ihr furchtsam zu. „Das Brod, das ich ihm abgeben konnte, war auch so wenig; meine Stiefmutter giebt mir nicht viel.“
Clotilde rang die Hände. Dann strich sie liebkosend über des Kindes Haar und sagte weich:
„Du gute Kleine! Gott lohne es Dir! Ist Frau Mautner Deine Stiefmutter? Und ist sie zu Hause?“
„Nein, sie ist meine Stiefmutter nicht; zu Hause ist sie auch nicht. Sie schwatzt in der Nachbarschaft. Soll ich sie holen?“
„Ich danke Dir; noch nicht. Aber kannst Du mir einen Arzt verschaffen?“
„Ja, einen Arzt giebt es hier wieder, seit der alte todt ist, einen neuen jungen Doctor. Soll ich ihn holen?“
„Gewiß. Doch beeile Dich!“
Clotilde trat wieder in die unfreundliche, kalte Kammer zurück. Ihr Herz war zum Zerspringen voll von Jammer und Mitleid, aber – sie fühlte es klar – ihr war, als litte sie um einen fremden Unglücklichen. Von der Liebe des Weibes zum Gatten mischte sich nichts in ihre Empfindungen.
Der Kranke erwachte. Seine abgezehrte Hand tastete auf dem elenden Holzschemel umher, der neben dem Bette stand. Er schien das Erwartete nicht zu finden und seufzte. Seine matten, gerötheten Augen irrten im Zimmer umher und streiften Clotilde, ohne sie zu gewahren. Das Kind hatte Recht; der Aermste war blind. Clotilde machte eine Bewegung.
„Bist Du es, Mariechen?“ fragte er, „Hast Du nicht ein Stückchen Brod?“
„Ich bin es, Rudolph,“ sagte die junge Frau leise.
„Clotilde!“ rief er und streckte die zitternden Arme empor. „O Clotilde! Wie danke ich Dir, daß Du gekommen bist; daß Du mich nicht sterben lässest, ohne – ohne –“
Die Stimme versagte ihm. Die Erregung der Freude hatte seine schwache Kräfte erschöpft; er lag wie ein Todter da.
Clotilde blickte, nach Hülfe suchend, in dem öden Gemach umher. Ein Blick auf ihre kleine Tasche gab ihr einen guten Gedanken. Aus einem Fläschchen, das Hanna’s Sorgfalt ihr zu eigenem Bedarfe mitgegeben, goß sie mit zitternden Fingern etwas stärkenden Wein in ihr kleines Reiseglas und brachte es, den Kranken stützend, an seine bleichen Lippen.
Kaum spürte er, was ihm geschah, so schlürfte er den belebenden Trank mühsam, aber gierig hinunter, und die Leichenblässe begann zu weichen. – Rasche Tritte auf der Treppe, denen kleine Kinderfüße folgten, verkündeten den Arzt.
Ein junger Mann trat ein und wich erstaunt zurück, als er Clotilde vor sich sah, die in gleicher Ueberraschung erröthete.
„Gnädige Frau, Sie finde ich hier?“ fragte er im Ton höchster Verwunderung.
„Ihr Erstaunen kann nicht größer sein, als mein eigenes, lieber Doctor Solms. Leonhard hatte mir gesagt, Sie wohnten in einer kleinen Stadt Hannovers –“
„Dort war ich bis vor wenigen Wochen. Dann starb hier der Arzt, und ich zog hierher. … Doch was für einen Kranken haben Sie da, gnädige Frau? Wer ist der arme Mann, der Sie hierher gerufen hat, wie mir die Kleine sagte?“
In Clotildens Augen traten Thränen.
„Sehen Sie ihn genauer an!“ erwiderte sie.
„Um des Himmels willen!“ sagte der Doctor erschüttert, als er den noch immer Bewußtlosen betrachtete, „das ist –?“
„Es ist Rudolph!“ ergänzte Clotilde leise.
„Großer Gott!“ rief der junge Mann. „Wie kommt er hierher und in diesen Zustand? Ich glaubte ihn in – in glänzenden Verhältnissen –“
Ueber Clotildens bleiche Züge flog eine jähe Röthe.
„Er entfloh in Reue und Widerwillen jenen ‚glänzenden’ Verhältnissen,“ sagte sie mit bebender leiser Stimme; „und da er sich und sein zerstörtes Leben haßte, wollte er es von sich werfen. Doch ehe er seinen schauerlichen Vorsatz ausgeführt hatte, erscholl der Kriegsruf. – Als Reserve-Officier zog er mit nach Frankreich und ward schwer verwundet. Am Abend vor der Schlacht schrieb er mir einen langen, reuevollen Brief – der mir nach seinem Tode, den er mit Zuversicht erhoffte, übersandt werden sollte. Der Arzt, in dessen Hände der Verwundete kam, sandte ihn mir mit einem kurzen Bericht über Rudolph’s Zustand und gab mir dann noch mehrfach Nachricht. Nach dem letzten Briefe dieses Arztes war Rudolph mit einem Zuge von Reconvalescenten, den der Doctor selbst begleitete, bis hierher gelangt; doch wegen neuer schwerer Erkrankung unter der Obhut des hiesigen Arztes und in Pflege einer sehr braven Frau zurückgelassen worden. Das bedungene wöchentliche Kostgeld, für die beste Pflege ausreichend, [423] schickte ich regelmäßig ein, aber nur ein einziges Mal bekam ich die Kunde von erfreulicher Besserung. Zugleich theilte mir die Pflegerin mit, daß sie die Stadt verlasse. Eine andere Frau, die Besitzerin dieses Hauses, werde den Kranken unter denselben Bedingungen bis zu seiner gänzlichen Herstellung verpflegen. … Und dieser Brief –“ sie übergab Doctor Solms das Schreiben des kleinen Mädchens – „berief mich heute her.“
Der Arzt war an’s Bett getreten und prüfte den Kranken mit kundiger Hand und geübtem Ohr.
„Es steht schlimm,“ flüsterte er Clotilden zu. „Während der Krankheit meines Vorgängers mag es hier mit der ärztlichen Hülfe traurig genug bestellt gewesen sein, aber warum hat das gewissenlose Weib mich nicht zu Rathe gezogen, seit ich hier bin? Hunger hat ihn so weit gebracht.“
Clotilde weinte bitterlich.
„Und was nun?“ fragte sie rathlos. „In dieser dumpfen Höhle kann er unmöglich bleiben. Wird man bei seiner Schwäche einen Transport wagen dürfen?“
„Ich hoffe es,“ sagte der Doctor. „Ich bitte Sie, gnädige Frau, über unbenutzte Zimmer in meinem Hause zu verfügen. Bessere Luft und bessere Ernährung werden, denke ich, Wunder thun.“
„So glauben Sie an eine Herstellung?“
„Ich halte sie wenigstens nicht für unmöglich. Werden Sie selber bis dahin hier am Orte verweilen?“
Die junge Frau sah in stummer Verwirrung vor sich nieder. „Jedenfalls werde ich eine Entscheidung abwarten,“ sagte sie nach kurzem Bedenken.
„Wir würden gut thun, noch vor Einbruch der Nacht den Umzug zu bewerkstelligen, gnädige Frau. Ueberlassen Sie mir die Sorge für Alles. Auch die Abfindung mit dem schändlichen Weibe! Und gestatten Sie mir, Sie zu meiner Schwester zu führen, die meinem kleinen Haushalte vorsteht!“
„Ihre Schwester ist hier? meine gute Sophie?“ sagte Clotilde und ein heller Schein von Freude glitt über ihre kummervollen Züge. „Alte Freunde soll ich hier finden in der Fremde, wo ich mich in allem Elende so verlassen glaubte – und Theilnahme und Güte!“ – – Sie reichte dem ergriffenen jungen Manne ihre Hand, die er in herzlicher Verehrung an die Lippen führte.
Einen Blick voll schmerzlichen Erbarmens warf sie noch auf den schlummernden Kranken, und verließ an der Hand des Arztes das elende Gemach.
Während in schlaflosen Nächten und wechselvollen Tagen die widersprechendsten Gefühle Clotildens Brust durchwogten, während sie bald mit weichem Mitleid die schweren Leiden ihres Kranken zu lindern suchte, bald mit erneutem Schmerz die Wunde bluten fühlte, die er so erbarmungslos ihrem Herzen geschlagen hatte, saß die alte Hanna daheim in den leeren Räumen und verging fast in Sorge über das Schicksal ihrer Herrin, von der ihr kein Lebenszeichen kam.
„Hätte ich, statt meines Vaters Gänse zu hüten, doch in meiner Jugend lesen und schreiben gelernt! Vielleicht hätte die liebe gnädige Frau ihrer alten Hanna dann einen Brief geschrieben. Aber sie weiß, wie vergeblich die Mühe ist.“
Endlich nach manchem Tage des Harrens kam eines Morgens die Freundin Clotildens mit einem Brief in der Hand.
„Hier, meine gute Hanna, hier giebt es etwas Neues. Heimkehr giebt es! Ihre alten Beine und Ihre fleißigen Hände werden nun wohl Arbeit vollauf finden; denn Frau von Brauneck kommt nicht allein.“
Mit offenem Munde und mit Thränen in den Augen hörte die Alte voll Andacht an, was Clotildens Freundin ihr von der traurigen Geschichte zu erzählen beauftragt war. Ein Mal über das andere schlug sie die Hände zusammen und ihr grauer Kopf ging wie ein Perpendikel hin und her.
„Herr Du meines Lebens! Wie kann so etwas nur möglich sein! Ja, die Männer, die Männer! Hab’s immer geahnt, daß das arme liebe Herz eine ganz besondere Last zu tragen habe, aber von so einem schweren Stück ließ ich mir nicht träumen. Und wie sie es getragen hat! Du mein Himmel! Es giebt ja auf der ganzen Welt nichts Aehnliches!“
„Ja, meine gute Hanna, Ihre gnädige Frau ist ein Heldin. Aber nun gilt es, daß auch Sie sich fassen. Bis heute Abend also wäre das Schlafgemach der gnädigen Frau für den Kranken herzurichten – mit allen Bequemlichkeiten, die es im Hause giebt. Das Zimmer nebenan ist für Sie, Hanna, damit Sie stets zu seiner Pflege bei der Hand sind.“ – –
Der Abend kam und die Stunde, wo Hanna ihre Herrschaft erwarten konnte. Ihr Herz klopfte lebhaft, und sie konnte sich gar keine Vorstellung davon machen, wie sie ihrem Herrn begegnen werde, der ihrer herzensgnädigen Frau ein so himmelschreiendes Unrecht zugefügt hatte. Aber als aus dem Wagen, der die Reisenden vom Bahnhof brachte, der todtbleiche, hülflose, blinde Mann herausschwankte und auf ihre alten Schultern gestützt die Schwelle überschritt – da hatte auch in Hanna’s Herzen neben dem Mitleid keine andere Empfindung Raum.
Sorglich half sie ihm, das bequeme Lager aufzusuchen, das sie am Morgen fast mit Widerwillen für ihn bereitet hatte, und mit gefalteten Händen beobachtete sie voll Freude, daß er bald in einen sanften Schlummer fiel.
Clotilde saß in ihrem Arbeitszimmer, als Hanna sie aufzusuchen ging. Ihre müden Augen hielt sie geschlossen, und die zarten Hände ruhten unthätig im Schooß. Sie schaute freundlich auf, als Hanna sich ihr näherte, und reichte ihr stumm die Rechte.
Die gute Alte fühlte sich von dem Anblick der schönen jungen Dulderin so überwältigt, daß sie vor ihr auf die Kniee sank und laut schluchzend ihre überströmenden Augen in Clotildens Schooß verbarg. Eine Weile ließ diese sie ruhig gewähren, bemüht, ihre eigenen Thränen zurückzudrängen. Dann hob sie ihr den grauen Kopf empor und sah ihr ernst in die alten treuen Augen.
„Meine Hanna,“ sagte sie, „Du weißt nun, wie viel Schmerz ich verbarg. Laß uns auch ferner über Alles schweigen! Ich wollte, ich könnte den Stachel aus meinem Herzen ziehen aber es ist umsonst; ich fühle, er hat dort zu tief Wurzel gefaßt. Auch die Zeit, fürchte ich, kann hier nicht helfen. … Du verstehst mich, Hanna – nicht wahr? Und wir Beide werden schweigend unsere Schuldigkeit thun.“
Die Völkerkunde ist eine junge Wissenschaft. Als man noch weniger reiste und die Hülfswissenschaften der Völkerkunde noch in den Windeln lagen, da war oft das, was man sich von den Menschen erzählte, die „über dem Berge“ wohnten, ganz wundersamer Art. Mit den Fortschritten der Wissenschaft schwanden selbstverständlich die Wunderberichte und der Glaube an dieselben, und wenngleich es heute noch bisweilen vorkommt, daß Reisende es mit ihren Berichten nur wenig genau nehmen und allzu kräftige Farben auftragen, um sich interessant zu machen, so verfallen sie doch nur zu bald der scharfen Section der Kritik, welche unnachsichtlich das Messer ansetzt und Ungesundes auszuschneiden versteht.
Namentlich in dem letzten halben Jahrhunderte, das so viele Entdeckungen aufzuweisen und schon so viele Räthsel gelöst hat, wurde das Studium der Menschenracen mit einer großen Menge von Thatsachen bereichert. Afrika, das unwirthbare, ist in unseren Tagen nicht mehr undurchdringlich, Australiens Festland gleichfalls von einem Ende bis zum andern durchzogen worden; an allen Küsten der verschiedenen Oceane landen europäische Fahrzeuge; Kaufleute, Missionäre und Männer der Wissenschaft dringen bis tief in’s Innere der Continente. Fast alle Völker des Erdballes sind beobachtet, beschrieben und bildlich dargestellt worden; man studirt ihre Sitten, ihre Sprache und ihre Religion, ihre Gewerbsamkeit und ihre Ueberlieferungen; unsere Museen sind reich an Waffen und Geräthen von allerlei Völkern; wir besitzen Schädel und Gerippe aus allen Weltgegenden, Trachten und [424] Werkzeuge der verschiedensten Racen und haben vollauf Mittel zum Studium.
Es soll uns aber noch viel bequemer gemacht werden. Der Gelehrte hat heute gar nicht mehr nöthig große Reisen zu unternehmen, um die Racen und Völker zu beobachten und zu studiren – die Speculation hat voll Verständniß die Aufgabe der neuen Wissenschaft erfaßt und bringt jetzt Angehörige der entferntest wohnenden Nationen und Erzeugnisse ihrer Gewerbthätigkeit nach Deutschland – nicht nur, damit die Laien sie voll Bewunderung anstaunen und sich an ihren Eigenthümlichkeiten ergötzen, sondern auch als Mittel zum Studium für den Fachgelehrten.
Das Verdienst, durch Herbeischaffung derartiger Hülfsmittel dem Ethnologen von unbestreitbarem Nutzen zu sein, darf in erster Reihe Karl Hagenbeck, der bekannte und geachtete Thierhändler in Hamburg, dessen die „Gartenlaube“ schon öfter Erwähnung gethan, für sich in Anspruch nehmen. Karl Hagenbeck hat weder Mühe noch Kosten gescheut, diese seine Aufgabe zu erfüllen, er hat aber auch außerdem in uneigennütziger Weise die Museen für Völkerkunde in Leipzig, Hamburg, Berlin etc. mit werthvollen, interessanten Schenkungen reichlich bedacht und auch auf diese Weise die Forschungen der Völkerkunde unterstützt.
Seit dem Jahre 1875 hat Karl Hagenbeck in Berlin, Dresden und anderen Städten Lappländer, Eskimos, Araber, Nubier, Neger, Ostindier etc. vorgeführt, ausgerüstet mit deren eigenthümlichen Waffen, Werkzeugen und Geräthen und begleitet von deren Hausthieren. Gegenwärtig macht derselbe bekanntlich die Runde durch Deutschland mit Eingeborenen von der Südspitze von Amerika, welche er in Puntas Arenas, dem einzigen civilisirten Orte an der Magellanstraße, durch seine Vertreter einschiffen ließ.
Es sind also wahrscheinlich echte Patagonier, die wir auf diese Weise zu sehen bekommen. Die Hauptperson ist der stattliche, breitschulterige Pikjotke; in seiner Begleitung befindet sich Baasinka, ein großes, starkes Weib von dreißig Jahren. Pikjotke’s Frau war weder von ihrem Manne, noch von dem Agenten des Herrn Hagenbeck zu bewegen, die Reise nach Europa anzutreten, eine Familie mußte aber die Rundreise unternehmen, und so sah sich denn Pikjotke genöthigt, in Ermangelung der wirklichen Ehehälfte, Baasinka mit ihrem siebenjährigen Sohne Louis zur Reisegefährtin mitzunehmen, um so mehr, als dieselbe vom Gatten und Vater verlassen worden war und mit Freuden die dargebotene Gelegenheit ergriff, Europa einen Besuch abzustatten.
Der Lauf des Rio Grande bildet die Südgrenze der Argentinischen Republik. Das südlich von diesem Strome bis zur Magellanstraße liegende, noch wenig durchforschte Land nennt man Patagonien. Es ist dies ein noch unabhängiges, 965,000 Quadratkilometer großes Pampas-Gebiet, auf das Argentinien und Chile Besitzansprüche erheben.
Nichts kann trauriger sein, als der Anblick dieser unendlich scheinenden wüsten Pampas. Langsam wälzen periodisch anschwellende Ströme, die stets in östlicher Richtung anlaufen, von den Cordilleren her ihre trüben Fluthen dem Weltmeer zu; die Vegetation erscheint kümmerlich, und nicht viel reicher ist dort das Thierleben entfaltet. Am Tage hört man das Schreien der Raubvögel, die sich um die Leichen eines Guanaco oder Gamarehs zanken; am fernen Horizont sieht man den südamerikanischen Strauß hineilen, während in der Nacht, unterbrochen vom Heulen des Windes, das Brüllen des Puma und Jaguar die Musik der Pampas bilden.
Ueber die Menschen, welche in diesem rauhen Gebiete umherschweifen, herrscht in ethnographischer Hinsicht noch einige Unklarheit. Die Hauptursache der Verwirrung liegt in dem Umstande, daß die dortigen Völkernamen nur von den Himmelsgegenden hergenommen und daher ganz relativ sind. Man unterscheidet Pueltschen, die Oestlichen, Hueltschen, die Westlichen, Tehueltschen, die Südlichen etc.. Den Süden des Festlandes (Patagonien) bewohnen die Tehueltschen, oder, wie sie sich selbst nennen, die Tsonekas. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß die Bezeichnung Patagonier eine den Tehueltschen selbst völlig unbekannte ist. Den Begleitern Magellan’s, welcher im Jahre 1520 die Einfahrt in die nach ihm benannte Straße entdeckte, fielen die großen Fußspuren auf, welche die Eingeborenen im Sande zurückließen, weshalb sie die Tehueltschen bezeichnend Patagones, das heißt: Leute mit großen Füßen, nannten.
Patagonien gehört zu den wenigst erforschten Länderstrichen Südamerikas. Städte und Dörfer giebt es an der rauhen Südspitze Amerikas nicht aufzusuchen; die wenigen dürftigen Colonien, die man an den Ufern der Straße angelegt hat, dienten mehr dem Nutzen der vorüberfahrenden Schiffer und sind nach längerem Kränkeln wieder eingezogen worden. Europäische Fahrzeuge besuchen zuweilen die Küste von Patagonien, um auf Thranthiere Jagd zu machen.
Die ersten zuverlässigen Mittheilungen über die Bewohner Patagoniens verdanken wir den Berichten Thomas Falkner’s, eines Jesuiten-Missionärs, welcher vierzig Jahre in dem Lande wohnte. In den Jahren 1856 bis 1861 schmachtete ein Franzose, A. Guinnard, in der Gefangenschaft der Eingeborenen; auch von ihm rühren eingehendere Berichte her, die ich meinen Aufzeichnungen zu Grunde legen konnte. Endlich bereiste Patagonien vor etwa neun Jahren ein britischer See-Officier, George Chaworth Musters, in Gesellschaft einer Horde Tehueltschen von der Südspitze, wo die chilenische Colonie Puntas Arenas liegt, der Länge nach bis zum Rio Negro. Sein in deutscher Uebersetzung bei Herm. Costenoble in Jena erschienenes Werk „Unter den Patagoniern“ hat mir neben zahlreichen anderen Quellen ebenfalls zur Benutzung vorgelegen.
Die Patagonier sind eine große und äußerst derbe Menschenrace. Ihr Körper ist massig, Hände und Füße sind verhältnißmäßig klein und ihre Gliedmaßen weder so muskulös, noch so starkknochig, wie man nach der Größe und der äußern Masse anzunehmen geneigt sein könnte. Die Hautfarbe der Patagonier ist ein gesättigtes Rothbraun und variirt zwischen der Farbe rostigen Eisens und reinen Kupfers.
Der Kopf ist im Ganzen ziemlich breit, aber nicht hoch, die Stirn, wenige Fälle ausgenommen, schmal und niedrig. Das Haar, schwarz, grob und sehr schmutzig, hängt lose um den Kopf der Männer; das der Weiber ist dürftiger und wird in zwei mitunter durch eingeflochtenes Pferdehaar verlängerten Zöpfen getragen. Von Natur mit wenig Haar versehen, tilgen sie übrigens alles bis auf das Kopfhaar. Die Augenbrauenbogen ragen vor; die Augen sind ziemlich klein, schwarz und immer ruhelos. Der Mangel an Augenbrauen vermehrt die Eigenthümlichkeit des Ausdrucks dieser Augen, und eine Mischung von Einfalt und Verschlagenheit, Trotz und Furchtsamkeit, mit jenem eigenen wilden Blick, den man nie bei civilisirten Menschen findet, spricht sich bei den Patagoniern sehr deutlich aus. Die unmittelbare Wirkung davon ist, daß man an die Nothwendigkeit erinnert wird, stets auf der Hut zu sein, so lange man in ihrem Bereiche ist.
Die rundlichen Gesichter macht besonders das Vorstehen der Backenknochen ungewöhnlich breit. Die Nase ist wenig niedergedrückt, schmal zwischen den Augen, aber breit und fleischig um die ziemlich großen Nasenlöcher, der Mund breit, roh geformt und dicklippig. Die Zähne sind meist sehr gut, obwohl ziemlich groß, die Schneidezähne in eigenthümlicher Weise abgeplattet, sodaß die innere Substanz an denselben sichtbar wird. Das breite Kinn ragt hervor.
Die Größe der Tehueltschen ist keineswegs so auffallend, wie man sie geschildert hat. Musters giebt als Durchschnittsgröße für die Männer 1 Meter 72 Centimeter an, doch erreichen Einige 1 Meter 93 Centimeter. Die Weiber sind etwas kleiner.
Den Hauptbestandtheil der Männerkleidung bildet ein weiter Mantel aus Guanacofellen, der bis zu den Füßen herabfällt; gewöhnlich hält ein Gürtel dieses Oberkleid um die Hüften zusammen, sodaß der Träger es nach Belieben vom Oberkörper zurückwerfen und die Arme frei benutzen kann. In angeborenem Anstandsgefühl tragen sie ferner unter dem Fellmantel noch ein Unterkleid. Aus der Haut der Kniekehle des Pferdes und gelegentlich auch aus der Haut des Beines eines großen Puma fertigen sie eine Art Gamaschen Die Haut wird bis an’s Knie heraufgezogen und um den Fuß herum befestigt; so wird sie einen oder zwei Tage getragen bis der Stiefel die Gestalt des Fußes angenommen hat, dann wird das Leder an den Zehen abgeschnitten und zusammengenäht. Ist die Sohle durchgelaufen, oder ist sehr nasses oder Schneewetter, so werden außerdem noch Ueberschuhe von Haut getragen. Die Fußstapfen die dadurch entstehen, sind allerdings groß genug, um auf den Gedanken zu führen, daß sie von Riesenfüßen stammen. Die gewöhnliche Kopfbedeckung der Männer ist zwar blos ein farbiges Band, um das Haar zusammenzuhalten, doch werden zuweilen, besonders bei
[425] [426] feierlichen Gelegenheiten, auch Hüte getragen, wenn man sie sich verschaffen kann.
Die Kleidung der Frauen besteht aus einem ähnlichen Mantel, wie ihn die Männer tragen; nur wird er vorn am Halse mit einem Nagel oder Dorn zusammengesteckt. Unter dem Mantel tragen die Weiber ein weites Unterkleid, das von den Schultern bis zu den Knöcheln reicht. Bei Herstellung der Frauenstiefeln wird das Haar an der Thierhaut gelassen, während es bei den Männerstiefeln sorgfältig entfernt wird. Die Frauen lieben den Schmuck sehr; sie tragen gewaltig große Ohrgehänge von viereckiger Gestalt an kleinen, durch das Ohrläppchen gehenden Ringen und Halsbänder von silbernen oder blauen Perlen. Auch die Männer tragen häufig diese Halsbänder und schmücken ihre Gürtel, Pfeifen, Messer, Scheiden und ihr Pferdegeschirr mit Silber, wenn sie es erlangen können.
Beide Geschlechter bestreichen sich das Gesicht und gelegentlich auch den Leib mit einem Gemisch von Fett und rothem Ocker oder von schwarzer Erde. Bei feierlichen Gelegenheiten, wie z. B. zum Tanze, schminken sich die Männer auch noch mit weißer Farbe oder mit gepulvertem Gyps, den sie anfeuchten und auf die Hände schmieren, mit welchen sie dann weiße Abdrücke der fünf Finger auf Brust, Arme und Beine machen. Bei Trauer verwenden sie schwarze Farbe, und geht es zum Kampfe, so bringen sie zuweilen unter den Augen ein wenig weiße Farbe an, die, weil sie von den übrigen auffallend absticht, dem Gesicht einen wilden Ausdruck verleihen hilft.
Ferner tätowiren sich beide Geschlechter am Vorderarme, indem sie mit einer Ahle sich Stiche in die Haut machen und mit einem Stück Glas ein Gemisch von blauer Erde hineinbringen. Die gewöhnlichen Muster bestehen aus einer Reihe Parallellinien und zuweilen einem einzelnen oder auch einem doppelten Dreieck, wobei das obere auf der Spitze des unteren steht.
Die Hauptnahrung der Patagonier besteht in dem Fleisch von Mutterpferden, Straußen und Guanacos. Sie sind aber nicht wählerisch und essen fast alles, was sie fangen können; das Fleisch junger Mutterpferde wird allem Andern vorgezogen. Sie kochen ihre Speisen und essen sie mit einem Stück Fett und mit Salz. Das Fett von Stuten und das von Straußen wird zusammengekocht und in Blasen gegossen, aber das der Guanacos wird roh gegessen.
Es giebt auch zwei Wurzeln, welche sie verspeisen; die eine heißt Tus und die andere Chalas. Das Tus ist eine knollige Wurzel, die wild wächst, und wenn sie gebacken, oder vielmehr geröstet ist, mehlig wird, wie eine Yamswurzel. Das Chalas ist eine lange weiße Wurzel, ungefähr von der Dicke eines Gänsekiels. Sie wird entweder in heißer Asche geröstet oder in Fleischbrühe gekocht. An der Seeküste sammeln die Weiber und Kinder Tellermuscheln.
Capitain Bourne beklagt sich bitter über den Mangel an Sauberkeit bei Bereitung der Speisen. Es hat ihm, namentlich anfangs, viel Ueberwindung gekostet, das von Rauch und Schmutz geschwärzte, kaum warm gewordene Fleisch hinunter zu würgen.
Die von Hagenbeck nach Europa gebrachten Patagonier sind Jagdnomaden im vollen Sinne des Wortes, vielleicht in so hohem Grade, wie kein anderes Volk. Landbau treiben sie nicht, und selbst Fische verstehen sie nicht zu fangen. Als echtes Reitervolk leben sie nur von der Jagd und suchen ihren Hauptreichthum in Pferden. Im Winter schlagen sie gern ihre Zelte in der Nähe der spärlichen europäischen Ansiedelungen auf und hungern dem Frühling entgegen. Im Sommer dagegen führen sie ein fröhliches, unstätes Jägerleben. Der Charakter der Patagonier ist ein gutmüthiger zu nennen; gegen Feinde sind sie mißtrauisch, besonders gegen die Spanier. Unter sich sind die Tehueltschen ehrlich, einen Fremden bestehlen sie indessen ohne Gewissensbisse. Im gewöhnlichen Leben lügen sie fast immer; nur wenn es gilt, reden sie die Wahrheit.
Die Toldos (Hütten) dieser Wandervölker sind der Gestalt nach Zigeunerzelten nicht unähnlich. Es werden Pfähle in die Erde gesteckt, daran andere befestigt und mit zusammengenähten Thierfellen bedeckt, sodaß eine unregelmäßige zeltförmige Hütte entsteht. Drei Seiten und die Spitze sind bedeckt, aber die vordere, gegen Osten gerichtete Seite ist offen. Diese Toldos sind etwas über 2¼ Meter hoch und hinten, das heißt gegen Westen, etwas niedriger, als gegen Osten. Das Innere derselben wird nach Bedürfniß in mehrere Abtheilungen geschieden, die unverheiratheten Familienglieder erhalten aber nur einen gemeinsamen Raum. Die innere Einrichtung des Toldo beschränkt sich fast ausschließlich auf Kissen aus alten Fellmänteln, die als Sitze, als Ruhelager und den Weibern auch als Sattel dienen müssen. Der Rauch, der diese Hütten fast beständig füllt, genirt die Bewohner gar nicht.
Die Frau wird gekauft, ohne Rücksicht auf ihren eigenen Willen. Meist haben nur die Häuptlinge mehrere, bis zu drei Frauen, unter denen die vornehmste die Hauptfrau und Herrin ist. Bei der Ehe, einer mehr oder weniger nichtigen Ceremonie, wird nur der erste Verwandtschaftsgrad beobachtet.
Capitain Bourne weiß über die höchst eigenthümliche Art der Brautwerbung Interessantes mitzutheilen. In der Hütte des Häuptlings, der ihn gefangen hielt, lebte dessen verwittwete Tochter mit ihrem Söhnchen. Eines Nachts hört Bourne lautes Geräusch von vielen Menschen vor der Hütte und eine Stimme, welche mit dem Häuptling wegen der Hand der Tochter unterhandelt. Entrüstet weist der Vater das Ansinnen zurück, der Freier sei ein Bettler und der großen Ehre, sein Schwiegersohn zu werden, nicht werth. Bescheiden giebt Jener seine Armuth zu, macht aber geltend, daß er ein ausgezeichneter Spitzbube sei, dem es schon gelingen werde, sich Pferde, Guanacos und anderes Besitzthum zusammenzustehlen, wenn er nur erst glücklicher Bräutigam sei. Da dies dem gestrengen Herrn Papa keine genügende Garantie für das Glück der Tochter zu sein scheint, wendet sich der Freier an die Dame seines Herzens selbst, die auch gern geneigt ist, ihn zu erhören, und sich ihm völlig zu eigen geben will, als er ihr einen steten Vorrath von Fett zum Pomadisiren verspricht. Sie vereinigt ihre Bitten mit den seinen, ohne indessen den Rabenvater erweichen zu können. Selbst der Mutter, der es wahrscheinlich erscheint, daß aus dem jungen Menschen ein großer Dieb und gewaltiger Häuptling werden könne, gelingt es nicht, das Oberhaupt der Familie umzustimmen. Ja, er geräth endlich in eine solche Wuth, daß er die Wiege, in welcher sein ahnungsloser Enkel schlummert, aus der Hütte wirft, auf demselben Wege das übrige Besitzthum seiner ungerathenen Tochter folgen läßt und endlich diese selbst hinauscomplimentirt. Die junge Dame soll darüber nicht unwillig gewesen und die Ehe damit geschlossen gewesen sein.
Alle Arbeit und Plage fällt der Frau anheim, während der Herr Gemahl gemüthlich faullenzt. Zu den nützlichen Beschäftigungen der Männer gehört die Verfertigung der sonderbar gestalteten hölzernen oder steinernen Pfeifenköpfe; auch finden sich unter ihnen geschickte Eisen- und Silberarbeiter. Die Hauptunterhaltung der Männer besteht in Pferderennen, Karten- und Würfelspiel oder einem Spiel mit kleinen Steinen und einem Ball. Die Kinder wachsen wild auf und sind fast gänzlich sich selbst überlassen. Kurz nach ihrer Geburt entscheiden Vater und Mutter, ob man sie am Leben lassen will oder nicht. Ist Letzteres der Fall, so wird das arme kleine Geschöpf ohne Weiteres erstickt und an einen Ort geworfen, wo es die Beute der wilden Hunde und Raubvögel wird. Bleibt es dagegen dem Leben erhalten, so wird es von den Eltern zärtlich behandelt; bis zum dritten Jahre bleibt es der Mutter überlassen, die es in der ersten Zeit, auf ein weich ausgestopftes Brett gebunden, mit sich führt; im vierten Jahre nimmt man dann das Ohrlochstechen mit ihm vor, ein Gebrauch, welcher bei den Tehueltschen genau die Stelle einnimmt, wie bei uns die Taufe. Der Vater schenkt dann dem Kinde ein Pferd, das an den vier Füßen gebunden auf die Erde gelegt wird; oben darauf legt man das festlich bemalte Kind, und der Häuptling oder Aelteste der Familie durchsticht das Ohrläppchen mit einem zugespitzten Straußknochen. In die Wunde steckt man ein kleines Stückchen Metall, um sie zu vergrößern und offen zu erhalten. Wie bei allen Festlichkeiten wird zum Schlusse eine Stute geschlachtet und eine Schmauserei abgehalten. Allen Theilnehmern wird mit demselben Straußknochen, mit welchen dem Kinde das Ohrläppchen durchbohrt wurde, ein Einschnitt in das erste Glied des Zeigefingers der rechten Hand gemacht. Das hervorquellende Blut gilt als ein Dankopfer für die Götter. Jedem Kinde werden in frühester Jugend Pferde und Zubehör zugewiesen, die hinfort als persönliches Eigenthum betrachtet werden, sodaß die Eltern sie nicht wieder zurücknehmen können.
Die Erziehung des jungen Patagoniers wird so eingerichtet, daß er bald ein nützliches Mitglied der Familie wird. Schon im [427] fünften Jahre sitzt er zu Pferde und reitet wie sein Vater; auch hütet er die Heerden, lernt den Gebrauch der Fangschnur (Lasso), der Wurfkugeln oder Bolas, der Lanze und der Schleuder. Ist das braune Bürschchen zehn oder zwölf Jahre alt geworden, so ist es so selbstständig, wie bei uns ein Mann von fünfundzwanzig Jahren; es unterhält sich selbst und nimmt an der Seite der Eltern Theil an deren Raubzügen; denn auch die Patagonierinnen folgen häufig ihren Männern in den Krieg, und während diese Letzteren über die Soldaten oder über die Hirten herfallen, beeilen sich die Weiber, das Vieh fortzutreiben, wobei ihnen die Kinder behülflich sind. Muth und Kühnheit läßt sich diesen Wilden keineswegs absprechen. Jedem Angriffe widerstehen sie anfangs tapfer; sie wehren sich zäh und ergreifen erst die Flucht, wenn sie einsehen, daß der Kampf erfolglos für sie bleiben muß.
Das Reitzeug der Tehueltschen besteht aus Sattel und Zaum, und der Sattel von Guanacohaut ist mit Stroh ausgestopft. Das Gebiß des Pferdes ist von Holz oder Knochen; die sehr kleinen Steigbügel sind nur für die große Zehe bestimmt. Unter den Sattel wird ein Fell oder ein mehrfach zusammengefaltetes Stück Zeug gelegt. Die Sattelgurten werden aus dreizehn oder vierzehn Bändern gedrehter Haut vom Halse des Guanaco gemacht und mit zwei Ringen versehen, die mit einem Lederriemen zusammengebunden werden, und die Steigbügel hängen an Hautstreifen von den in die vordersten Sattelbäume gebohrten Löchern herab. Die mit Riemen an den Füßen befestigten Sporen bestehen aus zwei Stückchen harten Holzes, in deren Ende man Nägel mit scharfgefeilter Spitze steckt.
Die Jagd ist dem Patagonier eine Geschäftssache, der er eifrig obliegt. Sein Wild sind das Guanaco (ein Lama), der Strauß, der Puma und kleinere Thiere, und seine Jagdwaffen bestehen aus dem Lasso, sowie aus den Bolas oder Wurfkugeln. Zum Straußfang verwendet er Bolas mit zwei Kugeln und zur Guanacojagd solche mit drei Kugeln. Die zähe, leichte Schnur, an der die Stein- oder Metallkugeln befestigt sind, ist zweiundeinhalb bis drei Meter lang. Mit staunenswerther Geschicklichkeit weiß er diese Waffen zu handhaben.
Die Tehueltschen sind ohne Ausnahme und ohne Rücksicht auf Alter, Rang oder Geschlecht unverbesserliche Trunkenbolde. Ohne Murren legen sie eine Reise von zehn oder fünfzehn Tagen nach der nächsten argentinischen Niederlassung zurück, um dort Häute oder Straußenfedern gegen Tabak (Pitrem) und Branntwein (Pulque) auszutauschen. Um letzteren fortzubringen, benutzen sie Schläuche aus Schaffell oder aus der Schenkelhaut des Straußes.
Kaum sind sie jedoch heimgekehrt und die Frauen haben die Pferde abgeladen, so wird der Tabak vertheilt und eine Rauchorgie beginnt. Der Tabak wird in einen steinernen Pfeifenkopf gefüllt; der Raucher legt sich auf den Bauch und zieht den Qualm der Pfeife ein. Erst dann, wenn er ihn nicht mehr im Munde behalten kann, stößt er ihn durch die Nase wieder hervor. Nach einiger Zeit bietet er einen schrecklichen Anblick dar. Er verdreht die Augen, von denen man nur noch das Weiße sieht; sie treten hervor, als ob sie aus dem Kopf heraus gedrängt würden – die Pfeife entfällt seinen Lippen; er scheint alle Kraft verloren zu haben, wälzt sich in zuckender Bewegung auf dem Boden umher und zappelt mit Händen und Füßen wie ein schwimmender Hund. In diesem widerwärtigen Zustande völliger Verthierung findet der patagonische Raucher das höchste Wohlbehagen. Die Umstehenden lassen ihn gewähren, bringen in Ochsenhörnern Wasser für ihn herbei und stellen dasselbe neben ihn hin. Er trinkt das Wasser und schläft dann seinen Rausch aus. Auch Frauen und selbst Kinder rauchen bisweilen.
Eigenartig sind die religiösen Ansichten der Patagonier. Der schon erwähnte Missionär Falkner giebt folgenden Bericht über dieselben.
Die Tehueltschen glauben, daß es eine Menge guter und böser Götter gebe. An der Spitze der Ersteren steht Guayara-Cunny oder der Herr der Todten. Der böse Dämon heißt Atskanna-Kanath. Die guten Götter wohnen in großen Höhlen unter der Erde, und wenn ein Eingeborener stirbt, kommt seine Seele zu der Gottheit, welche seiner Familie vorsteht. Die guten Götter machten die Welt und erschufen zuerst den Tehueltschen, dem sie Lanze, Bogen und Pfeile gaben; später wurden die Spanier erschaffen; nur erhielten dieselben Flinten und Schwerter. Die Verstorbenen werden in Sterne verwandelt; die Milchstraße ist das Gebiet, auf welchem alte Tehueltsche Strauße jagen, und die magellanischen Wolken sind die Federn der Strauße, welche sie tödten. Die Erschaffung der Welt ist noch nicht vollendet, und noch ist aus den unterirdischen Höhlen nicht alles an das Tageslicht dieser oberen Welt gekommen. Die Zauberer, wenn sie ihre Trommeln schlagen, oder mit den mit Muscheln oder Steinen gefüllten Lederbeuteln klappern, geben vor, in andere Gegenden unter die Erde zu sehen. Die Zauberer sind auch Aerzte und wissen mit ihren Zauberbeuteln alle möglichen Gebrechen zu heilen.
Capitain Bourne hatte einst Gelegenheit, das probate Heilverfahren eines solchen Aeskulap zu beobachten.
Ein Kind war krank geworden und schrie jämmerlich. Der gelehrte Herr hatte seine Zaubermittel mitgebracht, eingewickelt in zwei Stück Fell. Mit wichtiger Miene kauerte er sich an die Erde und betrachtete ernsthaft den kleinen Patienten, der merkwürdiger Weise auf einen Augenblick sein Jammergeschrei unterbrach. Durch diesen Erfolg ermuthigt, verordnete der Aeskulap vor allen Dingen ein Lehmpflaster. Mit gelbem Lehm, der mit dem nöthigen Wasser zu einem dünnflüssigen Brei angerührt ward, besalbte man das leidende Kind vom Kopf bis zu den Füßen, leider ohne anscheinenden Erfolg, denn das Schreien ward um so energischer wieder aufgenommen. Es mußten also stärkere Mittel angewandt werden. Den geheimnißvollen Paketen entnahm der Arzt einige Sehnen und Knochen vom Strauß, sowie eine Klapper. Erstere wurden unter geheimnißvollem Murmeln unverständlicher Worte befühlt und befingert, die Klapper aber energisch geschüttelt und dabei dem Patienten starr in’s Auge gesehen. Damit ward die Cur für beendet erachtet. Der Arzt erhielt etwas Tabak als Honorar, schüttelte zum Abschied dankbar mit der Klapper und – entfernte sich. Die Eltern waren überzeugt, daß das Leiden gehoben sei, und mit der Zeit ward der kleine Patient auch ruhiger – vielleicht auch gesund.
Es giebt Zauberer und Hexen. Erstere dürfen nicht heirathen; sie werden gewöhnlich schon von Kindheit an zu diesem Berufe bestimmt; man giebt dabei denen den Vorzug, welche frühzeitig eine weibische Anlage zeigen. Sie werden sehr bald in Frauenkleider gesteckt und mit der Trommel und den Klappern versehen, die zu ihrer Profession gehören. Solche Personen, welche mit der fallenden Sucht behaftet sind, werden ohne Weiteres zu dieser Beschäftigung bestimmt.
Das Begraben der Todten und die religiöse Verehrung, die man ihrem Gedächtniß widmet, wird mit großer Feierlichkeit begangen. Wenn ein Tehueltsche stirbt, so wird eine der vornehmsten Frauen sogleich dazu bestimmt, den Leichnam zu skeletiren. Das geschieht dadurch, daß man die Eingeweide, welche zu Asche verbrannt werden, herausschneidet, sodann das Fleisch so rein wie möglich entfernt und endlich die Knochen vergräbt, damit das noch übrige Fleisch ganz wegfaule.
So lange die Ceremonie des Skeletirens dauert, gehen die Eingeborenen, mit langen Mänteln aus Fellen bedeckt, das Gesicht mit Ruß geschwärzt, mit langen Lanzen rings um das Zelt des Todten herum, singen Trauermelodien und schlagen auf den Boden, um die bösen Geister zu schrecken. Einige besuchen die Wittwe oder Wittwen und andere Verwandte des Todten – wenn nämlich von diesen etwas zu hoffen ist; sonst erachten sie es nicht der Mühe werth. Während des Beileidsbesuches schreien, heulen und singen sie auf die schrecklichste Weise, zwingen sich zu Thränen und stechen sich mit scharfen Dornen in Arme und Beine, daß sie bluten. Für diese Trauerdarstellung werden sie mit Glasperlen, Glöckchen und anderen Kleinigkeiten bezahlt, welche bei ihnen in hohem Werthe stehen. Die Pferde des Verstorbenen werden ebenfalls sogleich getödtet, damit er in dem Lande der Todten dieselben nicht entbehre; nur wenige werden zurückbehalten, um den Leichenzug zu verschönern und die Ueberreste des Verblichenen in die Grube zu bringen.
Die Gebeine werden nach zwei bis sechs Monaten wieder ausgegraben, in eine Haut gepackt und auf einem der Lieblingspferde, welches mit Tüchern, Federn etc. geschmückt ist, zum eigentlichen Begräbnißplatz gebracht, welcher meist Tagereisen von dem früheren Wohnorte des Verstorbenen entfernt ist. An Ort und Stelle werden die Skelete in einer Grube reihenweise in sitzender Stellung geordnet, ihnen die Waffen, die sie bei Lebzeiten trugen, in die Hand gegeben, darauf die Grube mit Bäumen, Rohren, und Zweiggeflechten bedeckt und Erde darauf geschüttet. Die Skelete der todten Pferde werden ringsum aufgestellt.
Ein guter Bürger. Gerade vierzehn Jahre sind es jetzt, daß die „Gartenlaube“ (Jahrg. 1865, Nr. 23) den Kölner Classen-Kappelmann einen guten Bürger nannte. Am 26. Mai dieses Jahres ist der mannigfach um unsere öffentlichen Zustände verdiente Mann auf dem Gute Weyerhof bei Köln einer längeren Krankheit erlegen. Sein Leben war nach den verschiedensten Seiten hin ein ebenso thätiges, wie stürmisch bewegtes. Am zweiten Weihnachtsfeiertage 1816 in Sinzig in der Rheinprovinz als Sohn schlichter Eltern geboren, hatte er ein gutes Fortkommen in der von ihm ergriffenen kaufmännischen Laufbahn einzig seinem Talent und seiner guten Bildung und Führung zu danken. Sein in der Mitte der vierziger Jahre in Köln begründetes Wollwaarengeschäft schwang sich bald zu Ansehen und Bedeutung auf, und er selber erwarb sich durch sein leutseliges stets liebevolles Wesen, so wie durch seine freisinnigen Ueberzeugungen, sein rastloses Interesse für das staatliche und städtische Gemeinwohl die Achtung seiner Mitbürger in einem seltenen Grade. Er wurde zum Stadtverordneten gewählt und blieb in dieser Stellung achtundzwanzig Jahre bis zu seinem Tode. Lange Jahre ist er auch Mitglied der Handelskammer und des Handelsvereins gewesen. Die Stadt Köln verdankt seinem Eifer manche gute Einrichtung, unter Anderem die Aufhebung des einer englischen Gesellschaft verliehenen Gasmonopols und die Erbauung einer eigenen Gasfabrik, wodurch die Gaspreise für die Einwohner erheblich verringert wurden. Wo überhaupt in den letzten Jahrzehnten die Ehre und Selbstständigkeit des Bürgerthums gehoben, der politische und wirthschaftliche Fortschritt durch neue Anregungen und Schöpfungen gefördert werden sollte, da fand sich der durch feurige Beweglichkeit und volksthümliche Beredsamkeit ausgezeichnete Classen sicher mit an der Spitze der Unternehmungen. Bei seiner umfangreichen Thätigkeit fand er noch Zeit und Muße zu poetischer Beschäftigung. In den vierziger Jahren gab er unter dem Pseudonym „Johann von der Ahr“ eine Sammlung von Gedichten heraus, welche beifällig aufgenommen wurden. Später schrieb er auch einige praktische Broschüren, unter andern „Der kaufmännische Calculator“, ferner eine solche wider die Ducaten wie auch gegen das Gasmonopol.
Einen politischen Ruf über die Grenzen seines Wohnortes hinaus erlangte er erst in der sogenannten Conflictszeit der ersten sechsziger Jahre. Als entschiedener Liberaler unterstützte er damals mit Kraft und Muth den Kampf der parlamentarischen Opposition des preußischen Abgeordnetenhauses gegen die Regierung. Ein zu diesem Zwecke von ihm und seinen politischen Freunden den oppositionellen rheinisch-westfälischen Abgeordneten im Jahre 1863 gegebenes Ehrenfest verlief in der ruhigsten und glänzendsten Weise. Nicht so jenes zweite Demonstrationsfest, zu welchem die Kölner alle liberalen Mitglieder des Abgeordnetenhauses eingeladen hatten. Dieses Fest wurde bekanntlich von der Polizei verboten, und Classen-Kappelmann, der unter großem Aufsehen des gesammten Deutschlands diese Sache geführt und dem Eingriffe mit allen gesetzlichen Mitteln widerstanden hatte, verfügte sich auf inständiges Bitten seiner Freunde nach Verviers, da ihm zu Hause Verhaftung drohte. Man konnte ihm aber nichts anhaben. Als er indeß acht Tage später als Deputirter der Kölner Stadtverordnetenversammlung mit zweien seiner Collegen zur Enthüllung des Arndt-Denkmals in Bonn erschien, wurde er von dem Oberbürgermeister und ersten Polizeichef der Stadt bei dieser Feier nicht zugelassen.
Diese Abneigung der Regierungskreise gegen den unabhängig für seine Ueberzeugungen kämpfenden, aber nichts weniger als gefährlichen Manne erhöhte in jenen bewegten Tagen seine Popularität. Im Juli 1866 ward er in Köln fast einstimmig zum Abgeordneten gewählt, und also zu der höchsten Ehre berufen, deren ein Bürger durch das Vertrauen einer Bevölkerung gewürdigt werden kann. Nach Berlin kam er noch erhitzt von dem heftigen Streite, den er gegen die Macht nicht siegreich hatte bestehen können. Die reactionäre Seite des Hauses begrüßte ihn daher mit Hohnlächeln, und man glaubte vielleicht, den Neuling einschüchtern zu können. Dies mißlang, aber trotzdem war das Parlament nicht der geeignete Boden für den zum Massenführer und Volksredner berufenen Mann. Der Moment war ein kritischer, und mit vielen Genossen demokratischer Richtung konnte Classen nicht schnell den Uebergang von der Opposition zur Unterstützung einer Regierungspolitik finden, die soeben selber eine bedeutsame Wendung gemacht, große Hindernisse der Nationaleinigung aus dem Wege geräumt und sichtlich den Entschluß gefaßt hatte, dieselbe auf der Grundlage liberaler Institutionen in’s Werk zu setzen. Classen stimmte im Abgeordnetenhause noch mit Johann Jacoby gegen die Annexionen von 1866.
Im Jahre 1869 aber gehörte er schon als Präses der in Köln errichteten Gesellschaft „Verein“ an, welche die Liberalen aller Schattirungen in sich aufnahm. Und als sodann 1870 der Franzosenkrieg hereinbrach und die wichtigsten Hoffnungen der Nation so glänzend sich erfüllten, da erkannte er als Deutscher seine Pflicht, nicht länger abseits bei der kleinen Schaar der Mißvergnügten zu stehen. Mit seinem ganzen Herzen schloß er nunmehr der großen Verjüngungsbewegung seines Volkes sich an und kämpfte für die Regierung, die er damals Großes erwirken und Größeres anstreben sah. Die Folge war ein Bruch mit seinen bisherigen radicalen Freunden und daraus erwachsende Mißhelligkeit. Er betheiligte sich nun nur noch an den Wahlen, zog sich aber sonst vom politischen Leben zurück; um so eifriger gab er sich der Förderung gemeinnütziger Zwecke hin, bis Krankheit und Tod ihn diesem Wirken enthoben. Sein Name wird fortleben in der Geschichte der liberalen Kämpfe Deutschlands, und die Stadt Köln wird stets sein Andenken ehren als das eines ihrer besten Bürger, ihrer treuesten und opferfreudigsten Berather in guten und in bösen Tagen.
Tausendstelsecundenbilder. Die Photographie von Pferden, welche sich im schnellsten Laufe befinden, ist seit einer Reihe von Jahren von dem Photographen Muybridge in San Francisco zu einer Specialität erhoben worden. Unter Anderem nahm Muybridge im Juli 1877 Photographien des dem Eisenbahnkönig Stanford gehörigen Rennpferdes Occident auf, während es bei einem Wettlaufe in Sacramento betheiligt war und, wie gewöhnlich, den Sieg errang. Es erreichte während der Aufnahme, die aus einer Entfernung von vierzig Fuß senkrecht zur Rennbahn geschah, eine Geschwindigkeit von sechsunddreißig Fuß in der Secunde, und wie ein Blitz, ein dicht vorbeifliegender Vogel, eine abgeschossene Kanonenkugel oder ein sich drehendes Rad unbeweglich erscheint, so geschah es auch hier. Die Expositionszeit der photographischen Platte durfte nicht mehr als höchstens 1/1000 Secunde betragen, um das Pferd in einer bestimmten Stellung festzuhalten und ein unverwischtes Bild zu geben. In der That war auf diesem Tausendstelsecundenbilde selbst die Peitsche des Reiters deutlich erkennbar.
In neuerer Zeit hat Muybridge sich damit beschäftigt, eine Reihe von Aufnahmen trabender und galoppirender Pferde zu machen, welche die einzelnen auf einander folgenden Phasen der Körperbewegungen des in eiligem Laufe befindlichen Pferdes in ebenso vielen Einzelbildern festzuhalten. Da kamen nun, namentlich unter den Bildern des galoppirenden Pferdes, die unglaublichsten Positionen vor, unter Anderem eine, bei welcher das Pferd mit gegen den Bauch geschlagenen Vorder- und Hinterbeinen frei in der Luft schwebt. Man hat diese Bilder, welche sich auch auf der Pariser Weltausstellung befanden, vielfach angezweifelt, allein andererseits hat man den Beweis, daß diese unmöglich erscheinenden Stellungen wirklich den galoppirenden Pferden eigenthümlich sind, dadurch geführt, daß man die Einzelbilder in der richtigen Reihenfolge in einem sogenannten Zootrop verband, einer drehenden Trommel, deren Wandung so viele Gucklöcher enthält, wie Einzelbilder einer zusammengesetzten Bewegung die innere Wand auskleiden. In diesem Apparate, den man mit den verkleinerten Copien der Muybridge’schen Pferdebilder von der Expedition der Pariser Wochenschrift „L’ Illustration“ beziehen kann, setzt sich der natürlichste Trab oder Galopp eines Pferdes wieder aus den Einzelbildern zusammen.
Ein recht bedürftiger Invalide, der im Gensd’armerie-Winterdienst bei einem Rinderpestausbruche sich ein schweres chronisches Unterleibsleiden zuzog und als dienstunfähig auf eine Pension gesetzt wurde, die durchaus unzureichend ist, versichert uns: „Ich kann mit Wahrheit sagen, daß ich bettelarm bin.“ Er bittet um eine Stellung, die ihn in leichten Botendiensten beschäftigt und ihm wenigstens so viel einbringt, um ihn, sein Weib und seine fünf kleinen Kinder vor Hunger zu schützen. Kann diesem Manne geholfen werden?
Anfrage. Wo besteht eine Versorgungsanstalt, in welcher ältere erwerbsunfähige Personen aus guter Familie gegen eine bestimmte Summe ruhigen und, wenn auch anspruchslosen, so doch angenehmen lebenslänglichen Aufenthalt finden?
H. J. in Hamburg. Das „Ausführliche Sachregister der ‚Gartenlaube’. Erster bis fünfzehnter Jahrgang (1853 bis 1867)“ ist noch in der Verlagshandlung von Ernst Keil vorräthig. Ein „Generalregister der ‚Gartenlaube’ – unter Ernst Keil’s Redaction vom 1. bis 25. Band – zur Benutzung der ‚Gartenlaube’ als Quelle der Belehrung in allen Zweigen der Wissenschaft, der Kunst und des industriellen Schaffens“ geht seiner Vollendung entgegen und wird demnächst zum Druck kommen. Selbstverständlich kündigen wir das Erscheinen desselben seiner Zeit an.
Abonnentin Gertrude. Goethe’s „Torquato Tasso“, erster Act, erster Auftritt.
S. G. B. Die Antwort auf Ihre Anfrage giebt Ihnen unser Artikel „Coca und Pentsao“ in Nr. 47 des Jahrgangs 1878.
Adrian von H. Wenden Sie sich an das Kriegsministerium!
Ch. D. in Gr. B. In einer der nächsten Nummern werden Sie den Gegenstand behandelt finden.
F. G. in Mainz. Wurde vernichtet.
Friedrich K. in Ratzeburg. Nein!
Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
- ↑ Die „Gartenlaube“ hat über den Gegenstand bereits im vorigen Jahrgang (1878, S. 12 ff.) einen Artikel gebracht, welcher unsere Stellung zu der Frage erschöpfend darlegte. Wenn wir trotzdem einer der berufensten wissenschaftlichen Autoritäten hier das Wort zu erneuerter Erörterung der Frage ertheilen, so geschieht dies, weil in jüngster Zeit in Deutschland eine energische Anstrengung sichtlich wurde, die öffentliche Meinung für die Ausrottung der Vivisection zu interessiren – neuerdings aber, nachdem jener erste Ansturm die Aufmerksamkeit auf die Sache gelenkt, Versuche gemacht werden, in aller Stille planmäßig durch Bildung von Antivivisectionisten-Vereinen vorzugehen. Wir möchten das Unsrige thun, um in Deutschland Bewegungen zu verhüten, welche mit dem bekannten Weiberfeldzug gegen geistige Getränke in Amerika starke Aehnlichkeit haben.D. Red.