Die Gartenlaube (1877)/Heft 4
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No. 4. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Mehrere Tage lang hatten heftige Nordstürme die See aufgewühlt, mit Ungestüm die Wogen auf den Strand geworfen und die Baumwipfel auf den hohen bewaldeten Strandbergen geschüttelt. Es war ein Wetter gewesen, das eher an den November, als an den Juni erinnerte, und doch zeigten die noch in jungem Blätterschmucke prangenden Bäume und das frische Grün der Wiesen, daß man sich in diesem wonnigsten Monate des Jahres befand. Auch jetzt noch, obgleich die Wuth des Sturmes sich gelegt hatte, konnte das aufgeregte Meer sich nicht beruhigen. Man vernahm sein Toben bis in die letzten Häuser des Badeortes, und die Stadtbewohner, welche eben erst zur Sommerfrische in dem Orte angelangt waren, versicherten, daß es besonders zur Nachtzeit, wenn alle anderen Stimmen schwiegen, entsetzlich wäre, das Wüthen des Elementes zu hören. Man könnte kein Auge zuthun bei dem Tosen, sagten sie, und wenn das noch längere Zeit so fortginge, dann thäte man am besten, seine Zelte wieder abzubrechen und zurückzukehren in die sichere Stadt. Was nun ersteres anbelangte, so hatte der Nordwind ihnen diese Mühe erspart. Er hatte die leichten Sommerbuden zusammengeworfen, wie ein ungeduldiges Kind seine Kartenhäuser, und die Leinwand hin und her gezaust, daß man gemeint, es würde kein Faden neben dem andern bleiben. Mehr Widerstand hatten ihm die Villen geleistet, welche sich die reichen Handelsherren der benachbarten Großstadt in dem Orte gebaut hatten. Zwar hatte er sie bis in ihre Grundvesten erschüttert, aber sie dennoch nicht zum Wanken gebracht; sie fühlten festen, soliden Grund unter sich, ebenso wie ihre Besitzer. Dafür aber hatte sich der Wind mit desto größerer Wuth an den Gartenanlagen vergriffen, die jene Villen umgaben. Er hatte auf den Rasenplätzen die hochstämmigen Rosen und Lilien geknickt und die sorgsam hinaufgerankten Reben von den zierlichen, sommerlichen Veranden gerissen. Und als alle diese Gewaltthaten vollbracht waren, hatte er aufgehört zu toben und, zufrieden mit seinem Werke, sich in seinen Krystallpalast am Nordpole zurückgezogen. Die Sonne wurde endlich Herr über den Aufruhr und lächelte vor ihrem Niedergange so mild auf die Verwüstung herab, als wollte sie mit ihrem Blicke alle Schäden heilen. –
Vor dem großen Logirhause, das seine offene Halle der See zukehrte, hatte sich eine Gruppe von Herren zusammengefunden, welche den Sonnenuntergang beobachteten und dabei die Aussicht auf kommende schöne Tage erörterten. Sie hatten so stetig in die Gluth des niedersinkenden Gestirns geschaut, daß, als es endlich langsam in der Fluth verschwunden war, ihre Augen nur unsicher und geblendet durch den schnell aufsteigenden Abendnebel zu blicken vermochten. Dies mochte wohl auch der Grund sein, daß einer der Herren von dem Reiter, der, von einem Reitknechte gefolgt, langsam die chaussirte Dorfstraße daher kam, bereits als Bekannter mit einem Schwenken des leichten Hutes begrüßt worden war, ehe Jener noch etwas Anderes wahrgenommen hatte, als den schön gebogenen Hals und die ebenmäßigen Formen des herrlichen Rappen, und daß die Hand des Ankommenden, der sich schnell vom Pferde geschwungen hatte, schon auf seiner Schulter ruhte, als er sich noch damit beschäftigte, die goldene Brille abzureiben, um schärfer ausschauen zu können. Zu gleicher Zeit tönte eine Stimme in sein Ohr, die trotz der langen Zeit, in der er sie nicht gehört hatte, dennoch plötzliche Erinnerungen an vergangene frohe Stunden in ihm wachrief.
„Guten Abend, König David!“ sagte die Stimme, und der Eigenthümer derselben, ein großer Mann mit braunem, schönem Vollbarte, blickte lächelnd den Angeredeten an, der, etwa um einen Kopf kleiner als er, ernsthaft und forschend ihm in's Gesicht schaute. Doch dauerte sein Schwanken nur kurze Zeit. Ein Ausdruck freudigen Erstaunens breitete sich über seine Züge, als er, Jenem die Hand kräftig schüttelnd, ausrief:
„Sehe ich recht? Gerhardt! Wo in aller Welt kommst Du her, so plötzlich und erfreulich wie das gute Wetter nach den kalten stürmischen Tagen? Und verändert hast Du Dich, daß ich Dich beinahe nicht wiedererkannt hätte. Mir scheint’s, Du bist kleiner geworden – oder liegt es daran, daß Deine Breite jetzt in besserem Verhältnisse zu Deiner Länge steht? Deine stattliche Gestalt giebt auch dem ärgsten Spötter nicht mehr das Recht, Dich, wie wir es einst thaten, für eine mathematische Linie zu erklären, die bekanntlich zwar Länge, aber keine Breite hat.“
Der Andere lächelte.
„Ja,“ sagte er, „die Jahre haben ihr Werk an mir gethan. Sie haben, wie ich hoffe, alles Schwankende an mir gefestigt, nicht allein die lange, schmale Figur. Was aber Dich anbetrifft, König David, so bist Du merkwürdig der Gleiche geblieben. Du bist noch so schlank und behende wie damals, als Dein prächtiger Tenor und Dein lockenumwalltes Haupt – 'bräunlich mit schönen Augen' – Dir den Namen des israelitischen Sängers eintrugen. – Wo ich herkomme, fragst Du mich? – Nun, darüber ist bald Auskunft gegeben! Ich habe mir hier in der Nachbarschaft eine alte Ritterburg erstanden, auf welcher ich als Nachfolger der Deutschherren hause. Es ist dies ein altes Nest mit öden hohen Gemächern und hallenden Gängen, welches seinen [58] besten Werth dadurch erhält, daß eine gute Strecke schöner Felder und Wiesen und ein Wald dazu gehören, den ich Dir nicht beschreiben will, den Du selbst sehen sollst. – Nun aber befriedige auch meine Neugier, und laß’ hören, was Du treibst und wie es kommt, daß ich Dich hier im süßen Nichtsthun treffe, den ich als vielbegehrten Arzt in der großen Stadt wähnte?“
„Eins schließt das Andere nicht aus,“ entgegnete Jener gutgelaunt. „Wenn ich in der Stadt vielbegehrt bin, so bin ich es auch hier, da die Liste der hiesigen Badegäste zum größten Theile Namen aus der dortigen Einwohnerschaft ausweist. Ich muß daher im Sommer mehr unterwegs sein, als es mir wünschenswerth ist. Und in diesem Sommer wird dies voraussichtlich noch mehr der Fall sein, als sonst. Ich habe einen kleinen Patienten hier, der meine fortwährende Aufmerksamkeit und Sorgfalt in Anspruch nimmt, der so recht eigentlich durch die Mühe, die er mir gemacht hat, mein Eigenthum geworden ist, und auf welchen ich Rechte zu besitzen meine, die ich durch manche an seinem Bette durchwachte Nacht errungen habe. Nun, dieser kleine Bursche hat mich auch heute hergeführt, und wenn Du mich begleiten willst – es ist nur eine kleine Strecke Wegs, die Villenstraße hinab, – dann sollst Du seine Bekanntschaft machen und dabei eine alte erneuern.“
„Eine alte Bekanntschaft? – Du machst mich neugierig – wer ist es?“
„Nichts da!“ entgegnete der Andere, „ich gebe keinen weiteren Aufschluß. Komm’ mit und Du wirst mit eigenen Augen sehen und erkennen.“
„Wenn Du Dir zutraust, mich als willkommenen Gast dort einzuführen,“ sagte der Große, „so bin ich bereit. Aber bedenke, ich habe von jeher scharfe Augen gehabt – hast Du sie nicht zu fürchten? Die Sache mit dem kleinen Patienten scheint mir bedenklich – ist da nicht etwa eine hübsche Schwester, oder gar eine Mutter im Spiele, die Dich mehr in Athem hält, als der kleine Kranke?“
„Herr des Himmels, ist der Mann scharfsichtig!“ erwiderte lachend der Andere. „Beides ist vorhanden, sowohl eine Mutter, wie auch eine Schwester. Nun aber sage ich auch nichts weiter – komm’ mit und thu’ die Augen auf, dann wirst Du sehen.“
Die Herren wandten sich zum Gehen, und nachdem der Größere seinem Reitknechte gewinkt hatte, ihm mit den Pferden zu folgen, schritten sie eine Strecke die Hauptstraße entlang und bogen dann in den Weg zu den Villen ein. Sie gingen langsam zwischen den zierlichen, niedrigen Zäunen hin, welche die Straße von den sorgfältig gehaltenen Vorgärten trennten. In allen erblickten sie geschäftige Arbeiter, die bemüht waren, die Verwüstungen des Sturmes zu verwischen. Zwischen den Laubgruppen schimmerten helle Sommerkleider, und in den offenen Hallen saßen die Bewohner plaudernd um den gedeckten Theetisch.
Der Doctor grüßte rechts und links auf eine Weise, die seinen Begleiter erkennen ließ, daß er wohlbekannt und wohlgelitten in den Häusern sei. Auch glaubte er zu bemerken, daß es vorzugsweise die Augen der Frauen waren, die ihm mit Interesse folgten.
Diese Wahrnehmung erregte sein Lächeln. Es wurde ihm dadurch wieder lebhaft jene entschwundene Zeit in’s Gedächtniß zurückgerufen, da sie Beide lustige Jenenser Studenten waren und sein Freund jede Woche ein anderes Liebesabenteuer hatte. Sie waren damals eine Zeitlang Stubennachbarn gewesen, und er erinnerte sich daran, wie fast kein Tag entschwunden war, ohne ein duftiges, kleines Billet oder sonst eine zierliche Sendung für Jenen zu bringen. Mit einiger Verwunderung fragte er sich, wie es hatte geschehen können, daß dieser oft beneidete Liebling der Frauen bis jetzt unvermählt geblieben war, wie er selbst, der doch in früherer Zeit stets eine sehr bescheidene Rolle in der Gesellschaft gespielt hatte. Während er noch darüber nachdachte, öffnete Jener die Thür des letzten der Gärten, und beide Männer betraten den Kiesweg, welcher einen sauber gehaltenen, weiten Rasenplatz begrenzte. Auf demselben stand eine hohe Frauengestalt leicht niedergebeugt zu einem Arbeiter, der sich knieend mit einem beschädigten Rosenbäumchen beschäftigte. Die Dame stand von den Kommenden abgewandt, sodaß diese ihr Gesicht nicht sehen konnten. Aber die schlanke Gestalt, die anmuthige Haltung, die graziöse Art, wie die weiche, dunkle Seide ihres Gewandes in reichen, ungebrochenen Falten herniederfloß, machten sie auch in dieser Stellung zu einem angenehmen Ruhepunkte für die Blicke der Nahenden. Als deren Schritte dem Ohre der Dame hörbar wurden, richtete sie sich in die Höhe und wandte sich langsam um.
„Guten Abend, Frau Helene!“ sagte der Arzt, während er ihr mit dem Vorrechte des alten Bekannten die Hand hinreichte. „Verzeihen Sie, daß wir Sie stören in der Ausübung Ihres milden Amtes, Wunden zu heilen! Ich bin vor kaum einer Stunde angekommen und wollte mich vor Nacht noch von dem Befinden unseres Felix überzeugen – und da habe ich Ihnen einen alten Freund und neuen Nachbar mitgebracht, der mir unterwegs ganz unvermuthet in den Wurf gekommen ist. Schauen Sie ihn an, Frau Helene, und sagen Sie mir, ob Sie sich dieses kleinen, zarten Menschenkindes noch von früherher erinnern!“
Die schöne Frau hob langsam das Auge und schaute mit einem ernsten, prüfenden Blicke zu dem Fremden empor. Dieser regte sich nicht, nur das schnellere Heben und Senken der Brust bezeugte, daß er lebe und athme. Seine Augen waren auf das glänzende, dunkle Haar der Dame gerichtet, dessen reichen Flechten ein paar widerspenstige Löckchen entwischt waren. Und diese auf dem schlanken Halse sich kräuselnden Löckchen waren es, die ihm plötzlich die Leiden verflossener Jahre mit peinvoller Deutlichkeit in’s Gedächtniß zurückriefen. Unter den auf ihn einstürmenden Erinnerungen wurde die Pause des Stillschweigens, welche den Worten des Doctors folgte, ungebührlich lang. Das zartgeschnittene bleiche Gesicht der jungen Frau wurde von einem feinen Roth übergossen, und der Blick ihrer großen dunkelgrauen Augen begann unsicher zu werden. Endlich hatte sich der Fremde gefaßt und sagte mit einer wohlklingenden, tiefen Stimme: „Wollen Sie es meiner Ueberraschung zu gute halten, gnädige Frau, wenn ich heute wieder in den Fehler meiner Jugend zurückfalle und da schweige, wo Reden geboten wäre? Der Doctor hier hat mir allerdings das Wiedersehen einer Freundin aus frühern Tagen verheißen, daß ich aber Sie, gerade Sie, hier treffen würde, das habe ich so wenig vermuthet, daß die Ueberraschung mir im ersten Augenblicke die Fähigkeit raubte, Ihnen meine Freude darüber auszudrücken.“
Die junge Frau reichte ihm lächelnd die Hand.
„Ihre Stimme,“ sagte sie, „giebt mir erst Gewißheit darüber, wen ich vor mir habe. Meine kurzsichtigen Augen haben mich darüber in Zweifel gelassen. Daher ist meine Begrüßung auch weniger herzlich ausgefallen, als es bei einem lieben Freunde aus der Jugendzeit der Fall sein sollte. Lassen Sie mich das Versäumte nachholen und Ihnen sagen, daß ich Sie von Herzen willkommen heiße! Und Sie sind unser Nachbar geworden – ich denke, lieber Doctor, so sagten Sie doch? – und weilen hier am Orte, um gleich uns Seebäder zu nehmen?“
„Behüte, Frau Helene!“ entgegnete der Doctor, „wir haben in unserem Freunde den neuen Besitzer von Schloß Hirschberg zu begrüßen, denselben, für welchen die schönere Hälfte der Badegesellschaft bereits schwärmt, ohne ihn zu kennen. Ja, ja, Du Glücklicher,“ wandte er sich lachend an seinen Freund, „man hat Großes mit Dir im Sinne. Man hat Absichten auf Dich und Alles, was Dein ist. Dein Park liegt uns gerade bequem zu unsern Pikniks und Waldfesten. Deine Wagen und Pferde brauchen wir zu unsern Ausflügen in die Umgegend, und Dich selbst pressen wir zum Vorstande des Vergnügungscomités. So ist’s beschlossen in öffentlicher Sitzung, was natürlich nicht kleine private Pläne ausschließt, die Dich dem Gelübde der Ehelosigkeit untreu machen sollen, das Du, wie man sich erzählt, als würdiger Nachfolger der Ordensbrüder abgelegt haben sollst. Ich habe jetzt meine Freundespflicht an Dir erfüllt und Dich gewarnt. Und nun, Frau Helene, lassen Sie mich meinen Kleinen sehen! Wie steht’s sonst bei Ihnen – Alles wohl?“
Er hatte während der letzten Worte die Hand der jungen Frau ergriffen, sie durch seinen Arm gezogen und sich dem Hause zugewandt, Alles mit der Miene eines Mannes, der ein unbestreitbares Recht in Anspruch nimmt. Sie hatte es geschehen lassen, es aber so einzurichten gewußt, daß der Fremde an ihrer andern Seite dem Hause zuschritt.
„Der Doctor hat ein scharfes Ohr,“ sagte sie lächelnd, „er hört das Klappern der Theetassen von der Veranda her und weiß, daß es unsere Pflicht ist, diesem Zeichen pünktlich zu gehorchen. – Also als Landwirth finde ich Sie wieder, und eben [59] dachte ich darüber nach, welch einen juristischen Titel Sie jetzt wohl führen könnten. Haben Sie die Beamtencarrière aufgegeben?“
„Seit längerer Zeit schon,“ entgegnete er. „Es waren damals eben andere Zeiten als jetzt. Und als ich einsehen gelernt hatte, daß Kenntnisse, Pflichttreue und Arbeitslust nicht ausreichten, mich in meiner Laufbahn vorwärts zu bringen, daß man noch außerdem ein gänzliches Aufgeben meiner selbständigen Ansicht von mir verlangte – da wählte ich einen andern Beruf. Ich habe bis jetzt keine Ursache gehabt, es zu bereuen.“
„Das glaube ich, sagte der Doctor. „Die Verwandlung eines geplagten, unbesoldeten Assessors in einen freien, wohlhabenden Gutsbesitzer ist sicherlich für Jedermann eine ganz angenehme Sache. Aber nicht Jedem geht es so gut, so zu rechter Zeit der Erbe einer reichen, alten Tante zu werden. Du hattest aber immer Glück bei den alten Damen. Das hattest Du Deinen braunen Locken und Deinem mädchenhaften Erröthen zu verdanken.“
„Ja, wir pflegten uns immer brüderlich zu theilen,“ entgegnete Jener mit melancholischem Lächeln, „Dir fielen die jungen und mir die alten Damen zu. Indessen kann ich nicht leugnen, daß es eine Zeit gab, wo mir diese Einrichtung manches Herzeleid bereitet hat.“
Man war während dessen bis an die Stufen gelangt, die an der Hinterseite des Hauses zu einer offenen Vorhalle hinaufführten, von welcher man eine freie Aussicht auf die See hatte. Eine von der Decke herabhängende Ampel erleuchtete den Raum und warf ihr Licht auf den darunter stehenden Tisch, der mit glänzendem Damastgedeck, feinem Porcellan und Silber zierlich servirt war.
„Onkel Doctor! Onkel Doctor!“ rief eine jubelnde Kinderstimme den Ankommenden entgegen, und ein kleiner Knabe streckte von dem Rollstuhle, auf welchem er saß, seine Arme nach dem Manne aus, der sich liebevoll zu ihm niederbeugte. Er beschäftigte sich in den nächsten Minuten so ausschließlich mit dem Kinde, welches seine Arme um seinen Hals geschlungen hatte, daß er außer einer flüchtigen Verbeugung im Vorübergehen der jungen Dame, die mit ungeduldig umwölkter Stirn hinter dem Theetische stand, keine weitere Aufmerksamkeit schenkte. Sie hatte seine Verbeugung mit einem hochmüthigen Neigen des Kopfes erwidert und sich dann mit dem dampfenden Theekessel zu schaffen gemacht. Auch als Frau Helene zu ihr herantrat, blickte sie nicht auf.
„Du hast Dich so lange erwarten lassen, Mama,“ sagte sie dabei in mißmuthigem Tone, „daß es Dich nicht überraschen darf, den Thee vom langen Stehen trübe und bitter zu finden. Ich glaube, es ist bereits neun Uhr – hoffentlich setzen wir uns jetzt.“ –
„Laß mich Dir zuerst einen alten Bekannten vorstellen, liebes Kind,“ entgegnete die Angeredete, „einen Freund, den ich ganz unvermuthet als unsern Nachbar auf Schloß Hirschberg wiedergefunden habe – Herr Gerhardt von Schack – meine Tochter, Fräulein Rosa von Malwitz.“ –
Die Worte, in ruhigem, gleichmäßigem Tone und mit einer weichen, vollen Altstimme gesprochen, bildeten einen scharfen Contrast zu der ungeduldigen Redeweise der jüngern Dame und zu der lebhaft vibrirenden Stimme derselben. Mit einer schnellen Bewegung hob sie den Kopf empor und erröthete, als sie die ernsten Augen des Fremden mit einem unzufriedenen Ausdrucke auf sich gerichtet fand.
„Und hier haben Sie noch eine Bekanntschaft zu machen,“ fuhr die junge Hausfrau fort – „die meines Knaben. Hiermit wäre unser kleiner Kreis geschlossen, und wir können Rosa's Wunsch erfüllen und uns setzen.“
„Die Bekanntschaft Ihres Herrn Gemahls zu machen, darf ich heute nicht hoffen?“ fragte Schack, der sich vergebens nach dem Hausherrn umgesehen hatte.
„Meines Mannes?“ erwiderte Frau Helene, „so wissen Sie nicht, daß ich ihn verloren habe, schon vor sechs Jahren?“
Er zuckte zusammen und richtete die Augen auf das Gesicht der jungen Frau, welches ernst zu ihm aufblickte.
„Ich bitte um Verzeihung,“ sagte er nach einer Pause mit unsicherer Stimme. „Ohne es zu ahnen, habe ich durch meine Frage Ihnen Schmerz bereitet. – Seitdem ich erfuhr, daß Sie sich verheirathet, habe ich keine Gelegenheit gehabt, von Ihrem Ergehen zu hören. – Und Ihr kleiner Knabe hat den Vater schon so früh verlieren müssen? Das arme Kind!“
Er beugte sich zu dem Knaben nieder, der von dem Arzte indessen an den Tisch geschoben worden war, und blickte prüfend in sein Gesicht. Es waren unverkennbar fremde Züge darin, aber die Augen und der schön geformte Mund erinnerten ihn lebhaft an die Mutter. Er hob das feine zartgeschnittene Gesichtchen empor und küßte es.
„Du mußt mich besuchen,“ sagte er. „Ich habe einen kleinen Ponywagen, den Du selbst lenken sollst. Auch segeln wir einmal nach dem Leuchtthurm hinüber und sehen uns die großen Seeschiffe im Hafen an. – Was sagst Du dazu?“
Die Augen des Kindes leuchteten.
„Wenn ich ganz gesund sein werde, will ich gern kommen,“ sagte es.
„Felix hat einen schweren Winter hinter sich,“ berichtete die Mutter, „wenn er sich aber noch einige Tage still und geduldig verhält, dann verspricht Onkel Doctor ihm ein so gesundes Füßchen, daß er damit den ganzen Tag laufen und springen kann.“
Sie hatte sich neben das Kind gesetzt und winkte Gerhardt an ihrer Seite Platz zu nehmen.
„Ich hoffe, mein gnädiges Fräulein,“ sagte in diesem Augenblicke der Arzt mit einer tiefen, ceremoniellen Verbeugung, in welcher unverkennbar etwas Spott lag – „ich hoffe, Sie werden es mir verzeihen, daß ich als später Gast an Ihrem Theetische Ihnen Mühe bereite.“
„Das thun Sie durchaus nicht,“ erwiderte sie, und während sie sprach, hob sich ihre kurze Oberlippe empor, daß darunter die weißen, kleinen Zähne hervorblitzten. – „Sie sind nie im Stande, mir Mühe zu bereiten. Der Thee ist fertig, wie Sie hören konnten, und eine Tasse mehr oder weniger thut nichts zur Sache. Es geht eben in eins hin.“
Der Doctor lächelte und verbeugte sich abermals, dann nahm er seinen Platz zwischen dem schönen Knaben und dessen Schwester mit der Miene eines Mannes ein, dem man eben etwas sehr Angenehmes gesagt hat.
Während des Schweigens, welches der unliebsamen Antwort folgte, und das nur durch das Klappern der Tassen unterbrochen wurde, hatte der Fremde Zeit das ungeduldige kleine Fräulein näher zu betrachten. Sie war augenscheinlich noch sehr jung, etwa sechszehn- oder siebenzehnjährig. Ihre Gestalt war, obgleich unter Mittelgröße, von vollendeter Symmetrie und reizender Fülle und zeigte sich in allen Bewegungen behende, anmuthig und leicht. Ihr wundervolles, glänzendes Blondhaar fiel in natürlichem Gelock um Hals und Schultern und wurde zuweilen in einer Art zurückgeschüttelt, die von dem erregbaren Temperamente der Besitzerin zeugte. Dazu stimmten auch die lebhaften braunen Augen, welche zuversichtlich in die Welt blickten, das feingeformte Näschen, das durch eine kleine, eine ganz kleine Neigung, sich in die Höhe zu heben, dem Gesichte einen pikanten, kampfbereiten Ausdruck gab, sowie die Haltung der schlanken Gestalt, die etwas Festes, Selbstbewußtes hatte und die Absicht der jungen Dame auszudrücken schien, die einmal eingenommene Position tapfer gegen jeden Angriff zu vertheidigen. Alles zusammen genommen, machte die Erscheinung den Eindruck, als könne in gewissen Fällen die Gesellschaft des jungen Mädchens unbehaglich, nie aber langweilig werden.
„Es hat stark bei Ihnen gestürmt, Frau Helene,“ sagte der Doctor, „man merkt das an dem Nachgrollen des Wetters. Ich spreche Ihnen mein herzlichstes Beileid zu dem schlechten Anfange aus.“
Die Worte wurden in harmlosem, freundlichem Tone gesprochen; das Gesicht des Doctors sah unschuldig aus wie das eines neugebornen Kindes – und dennoch schien für Fräulein von Malwitz ein Angriff darin zu liegen. Sie gab durch ein schnelles Zucken der Wimpern und ein hastiges Heben des Kopfes Kunde davon.
„Warum sagst Du das nur der Mama und nicht auch mir, Onkel? Ich habe auch den Sturm gehört, und er war gräulich anzuhören – das kannst Du mir glauben.“
Der Kleine sprach die Worte mit der Eifersucht eines kranken, verzogenen Kindes, das daran gewöhnt ist, sich zum Gegenstande allseitiger Aufmerksamkeit gemacht zu sehen.
[60] „Gräulich anzuhören! Das glaube ich gern, mein Kleiner. Ich wünschte nur, ich wüßte ein Schutzmittel, das Euch sicher stellte gegen die Unbilden des entfesselten Elementes.“
Die Lippen des jungen Mädchens zuckten spöttisch.
„Sie kennen ja so Vielerlei, Doctor – Simonis,“ sagte sie, „vielleicht möchte es Ihnen auch gelingen, eine chinesische Mauer um den Badeort zu bauen. Ich denke, das würde dem gewünschten Zwecke entsprechen.“
„Das ginge über meinen Zweck hinaus,“ entgegnete er ernsthaft. „Mein Wunsch beschränkt sich darauf, die Bewohner dieses Hauses, nicht die ganze Badegesellschaft zu schützen.“
„Es wäre viel christlicher, wenn Sie diesen Wunsch auf die Allgemeinheit ausdehnten.“
„Christlicher?! Können Sie im Ernste einem Abkömmlinge von Juden und Judengenossen die Zumuthung stellen, sich einer christlichen Nächstenliebe zu befleißigen? – Auch ich bin gewöhnt, nur da Hülfe zu leisten, wo solche noth thut, hier aber thut sie dringend noth.“
„Und weshalb hier mehr als anderswo?“ fragte das junge Mädchen, indem sie hastig den Kopf erhob und einen finstern Blick auf den Gast warf.
„Weil Frau von Malwitz und Felix von zarter Gesundheit sind und weil sie den Lärm stets in nächster Nähe haben.“
„Dachte ich's doch!“ rief das junge Mädchen mit zuckender Lippe, „dachte ich's doch, daß es wieder auf eine Beleidigung abgesehen war! Ich möchte Sie in allem Ernste bitten, mein Herr, Ihre Worte besser zu bedenken.“
Der Doctor blickte mit einer unschuldig verwunderten Miene von seiner Theetasse auf.
„Mein gnädiges Fräulein,“ sagte er, „ich sehe mit Ueberraschung, daß Sie meinen harmlosen Worten einen versteckten Sinn unterlegen. Ich sollte denken, daß dieselben kaum mißzuverstehen sind. Da dieses Haus das letzte in der Villenstraße und das nächste der See ist, so wird mein Ausspruch kaum noch einer Erklärung bedürfen.“
Die junge Dame antwortete nicht, aber ein verächtlicher Zug, der sich um ihren ausdrucksvollen Mund legte, sprach deutlicher, als Worte es vermocht hätten.
„Sie müssen wissen, lieber Freund,“ wandte sich Frau Helene lächelnd zu dem neben ihr sitzenden Gaste, „daß zwischen meiner Tochter und dem Doctor ein fortwährender Krieg stattfindet. Täglich hoffe ich, daß die fortgesetzte Anstrengung des Kampfes eine Erschöpfung beider Parteien zur Folge haben werde, die sie zum Frieden geneigt machen möchte. Bis jetzt aber hat sich zu meinem Bedauern meine Hoffnung nicht erfüllt.“
„Ist das meine Schuld, Frau Helene? Ich wünsche aufrichtig den Frieden, allein das gnädige Fräulein kann ohne Kampf nicht leben. Es ist das mehr ihr Verhängniß, als eigene Wahl. Das Blut ihrer erlauchten Vorfahren, das Blut von Rittern und Kriegern braust durch ihre Adern – ich unglücklicher Mensch bin derjenige, welcher am meisten darunter leidet.“
„Wenn dies der Fall ist,“ antwortete Rosa schnell, „dann wundert es mich, daß Sie sich Ihrer Abstammung gemäß nicht friedliebender zeigen. Kampfesmuth pflegt man im Allgemeinen Ihrem Volke nicht zum Vorwurf zu machen.“
Dem Doctor zuckte es um die Lippen. „Wahr, mein Fräulein! Ich habe auch schon darüber nachgedacht, was mich so hat aus der Art schlagen lassen, und da habe ich herausgefunden, daß es der Tropfen versprengten Ritterblutes sein muß, der einst durch die Heirath meines Großvaters mit der Schwester des Ihrigen in unsere Familie gekommen ist. Meine schöne Großmutter muß doch keine so große Antipathie gegen die Abstammung des kecken, eben getauften Bankiers gehabt haben, der es wagte, sie aus einem Fräulein von Malwitz zu einer einfachen Frau Simonis zu machen. Ich muß mir diesen Umstand immer wieder in's Gedächtniß zurückrufen, um mein Gemüth daran aufzurichten, wenn es durch Ihre Grausamkeit, gnädige Cousine, niedergedrückt wird.“
„Sie vergessen, daß man die Heirath meiner Großtante auch anders erklären kann, und ich bin überzeugt, daß meine Erklärung die richtige ist. Ihr Großvater war ein reicher Mann und seine Gattin eine arme Waise, als er ihr seine Hand anbot.“
„Ich protestire gegen diese Erklärung,“ rief der Doctor schnell. „Mein Gefühl empört sich dagegen, daß Sie dieser Dame aus erlauchtem Hause denselben Schachergeist zusprechen, der meinen Großvater und alle seine Vorväter beseelt und den Mammon zusammengescharrt hat, der noch manche Generation der Simonis beschweren wird. Nein, mein Fräulein, eine solche Beleidigung kann ich meiner Großmutter nicht anthun lassen. Ich behaupte, es war Liebe – ein beseligender Zug des Herzens, der sie meinem Großvater einte. Widersprechen Sie mir nicht! Es wird Ihnen nie gelingen, mich vom Gegentheil zu überzeugen.“
Um einer heftigen Antwort Rosa's vorzubeugen, zu welcher sie ganz bereit schien, streckte Frau Helene die Hand nach der Glocke aus und gab dem eintretenden Diener einige Befehle. Das junge Mädchen war dem Winke gehorsam und schwieg, aber der Ausdruck ihres Gesichts gab eine desto beredtere Antwort. Ihre Oberlippe hob sich wieder empor, und wieder erschien darunter der perlmutterweiße Streif ihrer kleinen scharfen Zähne.
„Wie lange bleibst Du hier, Onkel?“ fragte der Kleine.
„Morgen den ganzen Tag,“ lautete die Antwort. „Denke darüber nach, wie wir ihn genießen wollen, mein Junge! Und Du, Schack, merke Dir, daß sich morgen das Vergnügungscomité constituirt. – Zeige Dich dankbar und nimm ohne Widerrede Dein Kreuz auf die Schultern!“
„Thorheit, Doctor – ich danke für die Ehre. Ich habe nicht einmal einen Begriff davon, welche Pflichten mir als Mitglied dieses schrecklichen Comités obliegen würden.“
„Man wird sich Deiner Unwissenheit schon annehmen,“ tröstete ihn der Arzt.
„Wer kann mich zu diesem Amte vorgeschlagen haben? Ich bin fast unbekannt hier.“
„Fast, aber doch nicht ganz. – Uebrigens darfst Du mich nicht so strafend ansehen; ich bin unschuldig daran. Hätte ich freilich ahnen können, daß Du Dich als der fragliche Schack auf Hirschberg entpuppen würdest, dann hätte ich mit meiner Stimme nicht zurückgehalten. Denn mir ist noch sehr wohl erinnerlich, daß Du in früherer Zeit ein unverwüstlicher Tänzer warst. Ja, ich entsinne mich sogar, daß es Dir gelang, selbst mich einmal zu bewegen, in einer entsetzlichen Sturmnacht bei strömendem Regen eine drei Meilen lange Fahrt im offenen Wägelchen zu machen, damit Du den Cotillon mit einer gewissen jungen Dame nicht versäumtest.“
„Du sprichst von längst vergangenen Zeiten,“ erwiderte Jener, „und vergissest, daß andere Motive, als bloße Tanzlust damals vorlagen.“
„Diese Motive können wiederkehren. – Nun, es würde mir wirklich eine rechte Freude sein, Dich in die Stimmung Deiner gefühlvollen Jugendzeit zurückfallen zu sehen. Ich werde Dich Bekanntschaften machen lassen, die es Dir beweisen sollen, wie empfänglich Dein Herz noch ist.“
Gerhardt war im Begriffe zu erwidern, daß neue Bekanntschaften dazu weniger im Stande sein dürften, als solche, die aus glücklichen Jugendjahren stammten, allein die Hausfrau, als ob sie diese Entgegnung geahnt hätte und sie unterdrücken wollte, gab das Zeichen zum Aufstehen. Die Stühle wurden gerückt, und man erhob sich. Während der Doctor sich die ein- für allemal gestattete Cigarre anzündete, war Frau Helene langsam die Treppe hinabgeschritten. Gerhardt folgte ihr, und Beide wandten sich dem Mittelgange zu, der durch die Gartenanlagen bis zu der Balustrade führte, hinter welcher der Berg schroff zur See abfiel. Während man drinnen verweilt hatte, war auch der letzte Schimmer der Tageshelle verschwunden, dafür aber war der Mond aufgegangen, und in seinem Lichte glänzten die bewegten Wogen wie flüssiges Silber. In den blühenden Büschen zwitscherte hin und wieder ein Vogel wie im Traum, und unter den Bäumen rechts und links vom Wege glänzten Johanniskäfer im thaufeuchten Grase.
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„Da verlangt der Senat schon wieder so und so viel
Millionen für neue Quaianlagen! Unsummen Geldes sind schon
bewilligt, aber immer mehr und mehr wird nachverlangt. Heute
Abend in der Bürgerschaft kommt der Antrag zur Abstimmung.
Ich gehe gar nicht hin. Dagegen stimmen kann man nicht gut,
und dafür stimmen mag ich nicht. Die ganzen Quaianlagen sind
mir antipathisch.“
Der dies sprach – der Schreiber dieser Zeilen war zufällig gegenwärtig – ist ein alter Hamburger Handelsherr. Einer von der Sorte, welcher der Zopf hinten hängt. Man findet auch solche Exemplare an der Börse unserer Welthandelsstadt, aber zum Glücke ziemlich selten.
Der Angeredete, ein jüngerer Kaufmann, lächelte. „Was haben Sie denn gegen die Quaianlagen einzuwenden? Sind diese stattlichen Hafendämme zum Ein- und Ausladen unserer Waaren nicht für Hamburgs Handel unentbehrlich?“
„Für unser modernes Geschäft allerdings.“ murrte der Alte. „Aber das ist’s ja eben. Geht mir doch mit der oft gepriesenen Jetztzeit, schafft mir die gute alte Zeit zurück! Sehen Sie sich die neuere hamburgische Handelsstatistik an, lieber Freund! Zahlen beweisen. Da haben nur vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren so und so viel Import, so und so viel Export gehabt; alle Zahlen sind gestiegen; auf den ersten Blick sollte man glauben, der Handel blühe. Vergleichen Sie jedoch unsern Proprehandel (Handel für eigne Rechnung) mit dem Speditionsgeschäfte so finden Sie, daß das Verhältniß ein anderes und zwar ein schlechteres geworden ist. Der Proprehandel ist der wahre Lebensnerv; vom Speditionsgeschäfte mag ich gar nichts hören. Der eine Spediteur nimmt noch billigere Sätze als der andere. Jeder unterbietet den Concurrenten – es ja fabelhaft, wie der Verdienst beim Spediren gedrückt ist. Und wem dienen die Quaianlagen? Doch in erster Linie dem Speditionsgeschäfte. Und es geht jahraus jahrein mit den Millionen-Bewilligungen lustig fort; immer neue Quais werden gebaut; mit Stolz weist man auf die immer wachsende Zahl von Schiffen hin, die im Hamburger Hafen angekommen – aber die Waaren, welche sie bringen? Nun, die wandern direct aus dem Schiffsbauche in den Eisenbahnwagen; die Locomotive pfeift – weg damit! Fort auch mit dem schönen Verdienste von Anno Dazumal!“
„Aber wir müssen doch mit den concurrirenden Hafenplätzen Schritt halten.“
„Weiß ich. Deshalb stimme ich auch nicht gegen den Antrag. Glaub’s gern, daß es so sein muß. Aber darum kann man doch mit Bedauern daran denken, wie es früher doch so viel besser war.“
Und weiter entwarf der wackere Mann ein Bild der „guten alten Zeit“, unter welcher er die ersten Decennien dieses Jahrhunderts verstand, als man noch nicht „mit Dampf arbeitete“.
Ja, der Dampf! Er, der wilde, tückische Geselle, dessen Riesenkraft der Mensch gezähmt und menschlichem Wirken dienstbar gemacht hat, er hat auch die großartige Umwälzung auf dem Gebiete des Handels zu Stande gebracht, von welcher die Rede. Früher gab es in Hamburg im Allgemeinen abwechselnd eine „flaue“ und eine „hille“ (belebte) Geschäftsperiode, je nach der Jahreszeit. Im Frühjahre, Sommer und Herbste kamen die Segelschiffe in den Hafen. Die Waaren wurden in die „Schuten“ (flache, wenig tiefgehende Leichterfahrzeuge) entladen, von diesen in die Speicher gebracht, und dann begann der Handlungsreisende oder der Agent seine Thätigkeit. Der Binnenländer machte bei diesen seine Bestellungen und erhielt nach Wochen oder Monaten die Waare per Flußschiff oder per Fuhrmann. Wenn der Herbst vorrückte, ging das Geschäft noch flotter. Man mußte sich für den Winter versorgen; mit dem ersten Froste war die Schifffahrt auf der Elbe ja vorbei. Im Winter bestellte der Binnenländer nur das Nothwendigste, denn der Landtransport durch den Fuhrmann war bedeutend theurer, als der Wassertransport.
Wie hat sich das Alles durch den Dampf geändert! Schlot an Schlot zieht die Elbe hinauf und hinab; selbst die Segelschiffe, die früher bei ungünstigem Winde lange an der Elbmündung harren konnten, werden jetzt durch flotte kleine Schleppdampfer des Wartens enthoben. Aus dem Schiffsraume holen die Dampfkrähne am Quai die Waare, mit der das flüchtige Dampfroß davoneilen soll. Und wenn der erste Frost eintritt, brechen die großen amerikanischen Paketfahrdampfer spielend durch die dünne Eisdecke. Der Frost wird schärfer; der Eisgang nimmt zu, und Gebirge von mächtigen Schollen thürmen sich an engen Stellen des Fahrwassers auf. Da erscheint der Eisbrecher. Mit voller Wucht der Dampfkraft preßt er den schweren eisernen Bug gegen die Barrikaden, zerdrückt, zerschellt und zerstreut sie. Seit mehreren Jahren hat bereits Hamburg, dank dem trefflichen Eisbrecher (ein zweites Exemplar ist im Baue), keine winterliche Schifffahrtshemmung mehr erlitten, und es müßte schon ein ganz außergewöhnlich harter Winter sein, dessen Eisbildungen nicht von jenen gewaltigen Widdern besiegt werden könnten. Längst schon hält Hamburgs Handel keinen Winterschlaf mehr.
Aber noch in anderer Beziehung änderten sich die Handelsverhältnisse durch die modernen Verkehrseinrichtungen ganz wesentlich. Der Binnenländer, früher gewohnt, seine Ankäufe auf den deutschen Küstenplätzen zu machen, trat mit der Zeit mehr und mehr in directen Verkehr mit dem Auslande. Ausländische Agenten und Reisende suchten ihn auf; nicht nur mit europäischen, selbst mit außereuropäischen Plätzen trat das Inland in unmittelbare Geschäftsverbindung. Der Hamburger Kaufmann bequemte sich der veränderten Lage rasch an; er selbst bot die Hand zur Erleichterung des directen Bezuges, wohl wissend, daß unter allen Umständen die Welthandelsstadt an der Elbmündung ein namhafter Stapelplatz des Warenaustausches bleiben werde. Da ist z. B. brasilianischer Kaffee einer der Hauptartikel der Hamburger Börse. Hamburg allein importirt fast ebenso viel Kaffee, wie ganz Großbritannien; das Verhältniß ist etwa wie einundzwanzig zu vierundzwanzig. Der Importeur verkauft denselben gewöhnlich „schwimmend“, das heißt die von Rio de Janeiro abgesandte Ladung wird, während sich das Schiff noch auf hoher See befindet, auf Grund der vorher per Dampfer angekommenen Proben an der Hamburger Börse verhandelt. Früher kaufte ausschießlich der Hamburger Commissionär (eine ganz falsche Bezeichnung; denn seit Menschengedenken waren gerade diese sogenannten Commissionäre ausschließlich Proprehändler). Heutzutage kauft auch wohl einmal der Berliner, der Leipziger, der Magdeburger direct vom Importeur eine ganze, halbe, Viertels-Ladung Rio-Kaffee. Als zuerst derartige Geschäfte abgeschlossen wurden, schrieen die Herren vom Zopfe Zeter über diesen „Mangel an hamburgischem Patriotismus“. Was hat’s geschadet? Nichts, gar nichts; es kam noch Kaffee genug und übergenug in die hamburgischen Speicher. Und auch hier machte sich die alte Erfahrung geltend, daß oft in Folge der Börsenschwankungen der directe Einkauf weniger günstig ist, als der Bezug vom Zwischenhandelsplatze. Baumwolle, die der Hamburger heute von Liverpool erhält, kann er vielleicht nach acht Tagen seinem Breslauer Geschäftsfreunde billiger anbieten, als dessen Liverpooler Correspondent. Doch das ist eine ganz alte, unzählige Male gemachte Erfahrung, von der wir da sprechen; sie dient als unwiderleglicher Beweisgrund gegen das heutzutage gottlob ziemlich überwundene System der verschiedenen Zollansätze (Differentialzölle).
Alles in Allem genommen, ist es erklärlich, daß unter so bewandten Umständen das Speditionsgeschäft in den Zahlencolonnen der Handelsstatistik rascher steigen konnte, als der Proprehandel, ohne daß etwa jenes vorherrschte, wie aus den Klagen des alten Kaufmannes herausgehört werden könnte. Vielmehr vertragen sich beide ausgezeichnet, ergänzen sich wechselseitig; die Interessen aller Handelsbranchen sind solidarisch.
Ein Speditionsgeschäft an einem Welthandelsplatze ohne Quais wäre ein Unding. Wenn man sich in Hamburg lange genug ohne solche beholfen – der erste Quai wurde 1868 in Betrieb genommen –, so hatte man das nur der eigenthümlichen, dem Handel so enorm günstigen natürlichen Lage Hamburgs, dieses von Elbarmen und Canälen (den sogenannten Fleeten) durchschnittenen „nordischen Venedigs“, zu danken. Bestand doch [63] eigentlich schon seit Urzeiten der größte Theil der Stadt aus natürlichen Quais, denn die Wasserfront der Elbufer und der Canäle, soweit sie städtisch angebaut, ist circa einhundertneunundvierzigtausend Fuß lang und ungefähr die Hälfte hiervon dient gewerblichen und Handelszwecken, das heißt die Waarenspeicher und Lagerräume liegen mit ihren Hinterfronten am Wasser und sind für Landfuhrwerk von den mit den Canälen parallel laufenden Straßen zugänglich. So kann denn mittelst der oben erwähnten „Schuten“ die Waare nicht nur aus dem Schiffe im Hafen direct nach dem Speicher geschafft werden, sondern auch aus dem einen Speicher in den andern, auch im Platzverkehr wandert sie also gewöhnlich per Schute. Wie gesagt, ist der Transport per Achse hier, wie wohl überall, theurer als der Wassertransport. Dazu kommt noch der Umstand, daß die Schute verhältnißmäßig außerordentlich wenig Arbeitskraft erfordert. Ein einziger Mann bewegt eine solche beladene Schute (vier- bis sechshundert Centner Tragfähigkeit), indem er eine sechszehn bis achtzehn Fuß lange Hakenstange, einen sogenannten Peekhaken, gegen den Grund oder seitwärts gegen eine Mauer stemmt und dann das Fahrzeug vorwärts schiebt. Gern macht er sich hierbei die Strömung (Ebbe und Fluth) zu nutze, aber auch gegen dieselbe kann er die Schute fortbringen. Stelle man dieser billigen Art des Transports das in anderen Seestädten obwaltende Verhältniß gegenüber: fast überall wird die Waare aus den Schiffen auf den Quai geladen und dann per Wagen nach den Magazinen geschafft. Ein Gewährsmann erzählt, daß ihm ein Kaufmann in Marseille mit Stolz die wahrhaft großartigen Hafenanlagen dieser Stadt zeigte. Der Hamburger meinte, man müsse in Marseille sehr kostspielig arbeiten. Der Franzose bestritt dies. Man rechnete nach, und es ergab sich, daß bei aller Großartigkeit der Anlagen die Kosten des Transports der Waare vom Speicher in Marseille etwa doppelt so hoch sind, wie in Hamburg.
Für den Proprehandel hätten die natürlichen Quais noch lange genügt. Auch vom Seeschiff direct in das Flußschiff ließ sich selbstverständlich von jeher mit Leichtigkeit verladen. Das Speditionsgeschäft erforderte aber einen Fortschritt, als man mit Dampf arbeitete. Die Dampfschiffe, welche ihre Reisen rasch und regelmäßig machen mußten, um die Concurrenz anderer Linien zu bestehen, durften nicht warten, bis die für die verschiedensten Handelsfirmen und für die Eisenbahn bestimmten Güter mit Schuten abgeholt sein würden. Man half sich einstweilen mit großen Leichterfahrzeugen. In diese schafften die Dampfer, welche im Laufe der Zeit mit Dampfkrähnen und Dampfwinden ausgerüstet wurden, ihre Ladung, aus allen Luken gleichzeitig „löschend“ (entladend). Aus dem Leichter wurden dann später die Waaren in Schuten abgeholt. Die Leichter waren also eigentlich schwimmende Quais. Ein großer Mangel der Leichter bestand aber darin, daß ihre räumliche Ausdehnung zu gering war, um die Waaren gehörig sortiren und übersichtlich hinlegen zu können. Wenn die Schuten kamen, so mußten die Waaren vielfach umgestapelt werden, oder die Schuten mußten warten, bis die für sie bestimmten Waaren zur Hand lagen. Nicht nur ging Zeit verloren, auch das Liegegeld für die Schuten mußte entrichtet werden. Auch war immer noch nicht das Ideal des Spediteurs, directe Verladung aus dem Schiffsraum in den Eisenbahnwagen, erreicht.
Wie conservativ der Hansestädter auch in mancher anderen Beziehung zu sein pflegt, er hat stets da dem Fortschritte zu huldigen gewußt, wo es sich um seine Lebensinteressen handelt. Gegen eine kaum bemerkbare Opposition wurden Millionen auf Millionen bewilligt, und so entstanden die Quais, deren Abbildung aus der Vogelperspective heute den Lesern der „Gartenlaube“ vorliegt.
Es ist ein gigantisches Werk, welches hier vollbracht worden ist, wie wenig auch seine architektonische Großartigkeit dem besuchenden Fremden in die Augen fällt. Diesen fesselt das bunte Leben und Treiben, der emsige Verkehr auf dem Wasser und auf dem Lande. Auf die Quais selbst, die nüchterne kahle Wand, wirft er, falls er nicht selbst Techniker ist, kaum einen Blick. Denn auf Formenschönheit haben die Quais sammt ihren Schuppen und Speichern selbstverständlich verzichten müssen. Solidität, unbedingte starre Solidität war die Parole beim Bau, und wer eine Ahnung davon hat, welche Schwierigkeiten sich dem Baumeister entgegenstellen, der auf unsicherem Marschboden, im dem Schlick des Strombettes seine Grundmauer unverrückbar aufthürmen soll, der wird begreifen, daß es zur Erfüllung dieser Aufgabe einer Kraft ersten Ranges bedurfte. Hamburg besaß eine solche in dem genialen, leider zu früh dahingeschiedenen Wasserbaudirector Dalmann, der weit über Hamburgs Mauern hinaus als Autorität galt, dessen Schöpfungen die Bewunderung seiner Fachgenossen erregten. Diesmal kam das Wort von der undankbaren Republik nicht zur Geltung. Die Stadt wußte ihren Dalmann zu schätzen, über Orden und dergleichen Auszeichnungen gebot sie nicht, dagegen zahlte sie ihm ein Gehalt, wie es nie ein Bürgermeister von Hamburg bezog, wie es mancher Minister in größeren Staaten nicht erhält, nämlich 7840 Thaler pr. Courant jährlich. Der vor Kurzem erfolgte, allgemein beklagte Tod des Meisters hat die Fortführung der Quaibauten nicht beeinträchtigt, da alle Pläne vollendet daliegen. Ihm zu Ehren erhielt der Dalmanns-Quai den Namen. Was Dalmann auf diesem Gebiete, wie auf dem der Elbstromregulirung geleistet hat, wird ohnehin sein Andenken noch auf Jahrhunderte hinaus für Hamburg unvergeßlich machen. – Ueber die technischen Einzelheiten des Baues haben Fachzeitungen eingehend berichtet; hier sei nur erwähnt, daß die Quais theils auf Beton, theils auf Pfahlroste fundirt sind.
Die Generalübersicht der Quais, vom Quaispeicher aus der Vogelspective aufgenommen, führt links vom Beschauer den Sandthorquai, in der Mitte den Kaiserquai, rechts den Dalmann-Quai vor. In der Ferne zeigen sich der Venlooer (Pariser) Bahnhof, die städtische Gasanstalt, die Elbbrücke, deren Bild die „Gartenlaube“ 1872 ihren Lesern vorführte, rechts der Oberhafen. Gerade vor uns sehen wir noch einen Theil des Quaispeichers. Letzterer, ein respectables Gebäude, mit 1,480,000 Mark Unkosten erbaut, krönt die Spitze der vom Kaiserquai eingenommenen Landzunge. Ein Thurm des Quaispeichers (auf unserem Bilde nicht vorhanden) trägt einen sogenannten Zeitball. Letzterer, weithin sichtbar, fällt jeden Mittag präcise zwölf Uhr nach Greenwicher Zeit und dient den Schiffscapitainen im Hafen zur Regulirung ihrer Chronometer.
Der Sandthorquai ward im Juli 1866 eröffnet, 1875 erweitert, der Kaiserquai 1872 im Juli eröffnet, ebenso der Dalmann-Quai; letzterer ward 1876 erweitert. Die Dimensionen sind:
Länge | Schuppenlänge | Bedachte Fläche. | |
Sandthorquai | 1170 Meter. | 910 Meter. | 19,580 Q.-Meter. |
Kaiserquai | 1040 “ | 740 “ | 21,300 “ |
Dalmann-Quai | 1035 “ | 790 “ | 22,150 “ |
Total | 3245 Meter. | 2440 Meter. | 63,030 Q.-Meter |
Der Quaispeicher, im Februar 1875 eröffnet, ist auf einer Grundfläche von 362984 Quadratmeter erbaut und kann in sechs Stockwerken auf 18,90526 Quadratmeter Flächenraum 300,000 Centner lagern.
Die Quais benutzten 1875 1426 Schiffe, von denen vier Segelschiffe, der Rest Dampfer waren. Total in den zehn Jahren des Betriebes: 8261 Schiffe mit 4,504,329 britische Registertons Netto-Raumgehalt. Die Hauptflaggen vertheilten sich in den zehn Jahren wie folgt: 5564 englische, 1729 deutsche, 530 französische, 283 holländische Dampfer.
Der Verkehr auf den Quais bezifferte sich 1875 wie folgt: Gesammtgüterbewegung 11,919,000 Centner; Verkehr per Eisenbahn 5,852,000 Centner, per Fuhre 1,635,000 Centner, per Wasser (Schute) 4,432,000 Centner – Total in zehn Jahren 59,710,000 Centner.
Hat der Fremde den Hamburger Hafen besucht, so versäume er nicht den Besuch der Quais! Jener imponirt durch seinen Mastenwald, diese durch den äußerst lebendigen, bunt wechselnden Verkehr, gegen den selbst das Leben und Treiben im eigentlichen Hafen wie ein ruhiges Idyll erscheint. Auf den Quais geht Alles mit Dampf, mit fieberhafter Eile pulsiren die hier zusammenlaufenden Verkehrsadern, sehr häufig, wenn es gilt, einen großen Paquetdampfer, der etwas verspätet angekommen, schnell zu entladen und wieder zu befrachten, wird Tag und Nacht, Wochentags und Feiertags ununterbrochen fortgearbeitet. Die Quaisarbeiter sind ein kerniges, urkräftiges Geschlecht von dem Schlage der „Markthelfer“, welche Gustav Freytag im deutschen Musterroman „Soll und Haben“ so trefflich zeichnete. Wir sehen sie auf unserm zweiten Bilde (die Dampfkrähne) im voller Thätigkeit unter Anleitung von Inspektoren, freundlichen Gentlemen in einer [64] Tracht nach Art der Handelsschiffscapitaine. Rechts vom Beschauer liegt ein südamerikanischer Paquetdampfer, der „Valparaiso“, eines jener „schwimmenden Hôtels“, welche circa 1000 Seelen auf einmal hinüberbringen können nach dem gelobten Lande Amerika. Neben dem breiteren Schienengleise, auf dem die Krähne fortbewegt werden können, läuft ein schmäleres für diejenigen Eisenbahnzüge, welche direct aus dem Schiffsraume ihre Ladung erhalten. Weitere drei Gleise finden sich auf der anderen Seite des Schuppens. Sie stehen selbstverständlich mit allen hamburgischen Bahnhöfen in Verbindung. Daß auch Schuten und gewöhnliches Fuhrwerk am Quai laden können, mag nur der Vollständigkeit halber erwähnt sein.
Die Krähne selbst verdienen etwas nähere Betrachtung. Es sind theils Dampf-, theils Handkrähne. Von beiden sehen wir ein Exemplar im Vordergrunde des Bildes; die Art der Waare entscheidet, ob Dampf- oder Menschenkraft zur Anwendung kommen soll. Die gewöhnlichen Dampfkrähne heben zwanzig bis hundert Centner, es sind aber auch einzelne Enakssöhne vorhanden, welche zweihundertfünfzig Centner heben können, und ein Goliath nimmt eine Last bis zu 60,000 Pfund (30,000 Kilo) auf sich, falls es verlangt wird. Die Krähne sind eigener Construction. Wasserbaudirector Dalmann hatte sich auf einer Reise in Großbritannien vergebens nach solchen Dampfkrähnen, wie sie den Zwecken des Quaibetriebes seiner Meinung nach am besten dienen würden, umgesehen und entwarf Submissionsbedingungen, welche einen wahren Sturm unter seinen Fachgenossen erregten, die da meinten, daß Unmögliches verlangt werde. Es handelte sich um eine Uebertragung des Flaschenzug-Princips der hydraulischen Krähne auf Dampfkrähne. Dennoch lösten hervorragende deutsche, englische und belgische Maschinenfabriken die gestellte Aufgabe durch geistreiche neue Erfindungen, die denn auch zum Theil acceptirt und ausgeführt wurden. Namentlich verlangte Dalmann absolut bewegliche Krähne, denn nur diese ermöglichen die volle Ausnutzung der Quais in der Art, daß die Schiffe längs derselben eine geschlossene Reihe bilden und der Vordersteven des einen das Heck des nächst vor ihm liegenden fast berührt. Selbst eine Befestigung (Anklammern) des Krahnes an die Schienen ward nicht gestattet. Die Drehung sollte rasch und sicher, nach jeder Seite mindestens auf hundertachtzig Grad erfolgen.
Doch auch hier können wir uns ein näheres Eingehen auf die technischen Details ersparen; die durch Dalmann’s Inspiration gemachten Erfindungen auf diesem Gebiete sind längst in der Fachpresse gebührend gewürdigt worden. Eine Reihe solcher Dampfkrähne in voller Arbeit bietet auch dem Laien ein hochinteressantes Schauspiel. – Nebenbei erwähnt kostet ein Hundert–Centner-Krahn circa 24,000 Mark.
Gewöhnlich verweilen die Schiffe drei bis vier Tage am Quai. In dringenden Fällen ist es ausgeführt worden, daß ein Schiff binnen vierundzwanzig Stunden entlöscht und neu beladen worden ist; da geht dann freilich die Arbeit im figürlichen wie im buchstäblichen Sinne mit Dampf. Wesentlich zu Statten kommt hierbei dem hamburgischen Kaufmanne das Fehlen aller jener Zollbelästigungen und Declarationsformalitäten, die anderswo den Verkehr belästigen und hemmen. Hamburg ist bekanntlich dem Zollvereine gegenüber Freihafen, und die nominelle Declarationsabgabe, welche die Stadt selbst einzieht, wird auf Grund der von dem Kaufmanne der Behörde eingesandten Declarationen entrichtet; Controlirung, Revision und wie alle die Zollplackereien heißen mögen, sind auf den hamburgischen Quais unbekannt.
So darf denn nach allem Gesagten wohl behauptet werden, daß sich Hamburgs Quaianlagen dem Großartigsten, welches auf diesem Gebiete geleistet worden ist, den Quais in den englischen und amerikanischen Handelsstapelplätzen, ebenbürtig an die Seite stellen. Sie sind würdig der ersten Handelsstadt Deutschlands, des bedeutendsten Welthandelsplatzes des europäischen Festlandes.
Das hört sich ganz leicht an und ist doch unendlich schwer. Der junge Dichter, der sein erstes Drama geschrieben hat und von großen Erfolgen, von Ruhm und glänzenden Tantièmen träumt, hat so wenig wie das Publicum eine Ahnung von den Hindernissen, Zufälligkeiten, Kabalen und Unannehmlichkeiten, womit eine erste Vorstellung verbunden ist. Jährlich werden bei der königlichen General-Intendanz in Berlin mehr als dreihundert Stücke eingereicht, von denen kaum zehn zur Annahme sich eignen und höchstens zwei einen Erfolg haben. Die Prüfung dieses kaum zu überwältigenden Materials ist eine wahre Sisyphus-Arbeit, welche hauptsächlich auf den Schultern des Intendanturraths, Doctor Titus Ullrich, ruht, der als ausgezeichneter Dichter und ebenso humaner wie geistvoller Kritiker der „National-Zeitung“ sich bereits früher einen hoch geachteten Namen erworben hat, weshalb Herr von Hülsen ihn mit diesem bedeutenden Amte betraute. Derselbe ist verpflichtet, alle eingegangenen Stücke zu lesen und darüber ein kurzes, motivirtes Urtheil zu fällen, außerdem die ganze Correspondenz mit den Schriftstellern, Schauspielern und Bühnenleitern zu führen, wozu eine nicht gewöhnliche Kenntniß der deutschen, französischen, englischen und italienischen Sprache erforderlich ist.
Jedes eingereichte Manuscript wird von ihm erst einer sorgfältigen Prüfung unterworfen und entweder zur weiteren Lesung empfohlen oder zurückgelegt. Nach dieser Sichtung der Spreu von dem Weizen gelangen die nur einigermaßen tauglichen Stücke in die Hände seines literarischen Beiraths, der aus einigen sachverständigen, unparteiischen Schriftstellern und Gelehrten besteht und das frühere sogenannte Lesecomité ersetzen soll. Was aus diesem kritischen Fegefeuer hervorgeht, gelangt zunächst an den Director Hein, einen durch tüchtige Bühnenpraxis, ästhetische Bildung und technische Leistungen rühmlichst bekannten Regisseur. Die letzte Entscheidung jedoch hängt einzig und allein von dem General-Intendanten Herrn von Hülsen ab, der selbst die ihm so empfohlenen Stücke liest und nochmals prüft. Trotz aller Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit kommen noch immer zuweilen Mißgriffe und Täuschungen bei dieser Auswahl vor, da bekanntlich nichts schwerer ist, als den Erfolg eines Dramas vor der Aufführung zu bestimmen. Selbst der geübteste Kritiker und erfahrenste Bühnenleiter kann sich in dieser Beziehung irren, wie zahlreiche Beispiele zeigen. So wurde unter Anderm das bekannte Lustspiel „Rosenmüller und Finke“ von Töpfer von dem damaligen Lesecomité zurückgewiesen, trotzdem aber auf besonderen Wunsch des damaligen General-Intendanten, Herrn von Küstner, gegeben und von dem Publicum mit rauschendem Beifalle begrüßt. Dasselbe Schicksal hatten Freytag’s „Journalisten“; von der königlichen Bühne wegen der damaligen Zeitverhältnisse abgelehnt, gelangten sie auf dem Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater mit so glänzendem Erfolge zur Aufführung, daß die Intendanz sich bewogen fand, später das Freytag’sche Lustspiel ebenfalls zu bringen. Aber auch die entgegengesetzte Erfahrung wird nicht selten gemacht, daß nämlich Stücke, von denen man sich vorher eine große Wirkung verspricht, von dem Publicum kalt aufgenommen werden und nach den drei üblichen Gnadenvorstellungen vom Repertoire sang- und klanglos verschwinden.
Gerade die königliche Bühne ist bei der Wahl der Stücke durch ihre eigenthümliche Stellung vielfach gefesselt und zu Rücksichten verpflichtet, welche die Privattheater nicht zu nehmen haben. Zunächst hat das königliche Institut die ehrenvolle Aufgabe, die wahre Kunst zu pflegen, das Talent aufzumuntern und vor Allem das classische, vaterländische Drama zu fördern, was auch von seiner Seite nach Kräften geschieht. Ein Hauptverdienst hat sich Herr von Hülsen dadurch erworben, daß er nicht wie andere Bühnenleiter die französische dramatische Literatur auf Kosten der deutschen begünstigt. Selbstverständlich werden alle die bestehende Regierung, die Religion und Sittlichkeit verletzenden Dramen ausgeschlossen, Possen und Uebersetzungen nur ausnahmsweise zugelassen, wodurch allerdings bei der Dürre der dramatischen Production das Repertoire eine gewisse, durch die Verhältnisse gebotene Beschränkung erleidet.
Nachdem das Stück glücklich all die Prüfungen überstanden
[65] hat, worüber gewöhnlich mehrere Wochen vergehen, erhält der Verfasser eine schriftliche Anzeige. Mit Ungeduld erwartet er jetzt die Aufführung, welche sich jedoch Monate lang und in einzelnen Fällen über Jahr und Tag hinauszieht. Bald sind es bereits früher eingegangene Verpflichtungen, bald Ueberbürdung der Schauspieler mit andern dringenden Aufgaben, bald bereits abgeschlossene Gastspiele, welche diese unangenehme Verzögerung herbeiführen. Natürlich kann man der Intendanz nicht verdenken, wenn sie den Werken anerkannter Schriftsteller oder solchen Stücken den Vorzug giebt, von denen sie sich einen besonders günstigen Erfolg verspricht.
Eine nicht geringe Schwierigkeit bietet die Besetzung der Rollen, wobei so viel wie möglich die Wünsche des Verfassers beachtet werden. Aber auch bei dieser wichtigen Angelegenheit kommen die keineswegs so einfach daliegenden Bühnenverhältnisse in Betracht. Gerade die besten Schauspieler, denen der Autor seine Arbeit vorzugsweise anvertrauen möchte, sind am meisten beschäftigt und durch anderweitige Leistungen so sehr in Anspruch genommen, daß sie ohne Störung des Repertoires keine neue Rolle lernen können; zuweilen, wenn auch selten, bietet das sogenannte Rollenmonopol und die gegenseitige Eifersucht der Schauspieler unerwartete Hindernisse, oder ein und der andere Künstler ist mit der ihm zugetheilten Aufgabe nicht zufrieden und sucht sich derselben zu entledigen. In solchen Fällen bedarf es der größten Energie von Seiten der Intendanz, der feinsten Diplomatie von Seiten des Schriftstellers, um die vorgeschlagene Besetzung zu erzielen.
Nach Erledigung dieses wichtigen Punktes wird ein Tag für die Abhaltung der Leseprobe angesetzt, wobei sämmtliche in dem Stück auftretende Schauspieler ihre Rollen in Gegenwart des Regisseurs sich gegenseitig vorlesen, um den Inhalt desselben kennen zu lernen. Leider wird in Deutschland und auch in Berlin der Leseprobe keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und der Dichter nur ausnahmsweise hinzugezogen, obgleich er doch allein den besten Aufschluß über den Geist und die Intentionen seines Werkes, sowie über die Natur der von ihm geschilderten Charaktere zu geben vermag. Dieser Mangel ist um so mehr zu bedauern, als häufig das Schicksal eines Stückes von dem richtigen Verständniß der Dichtung abhängt, die lebendige Wechselwirkung zwischen dem Verfasser und den Künstlern das Interesse an der Aufführung steigert und wesentlich zum Gelingen des Ganzen beitragen muß. Außerdem kann der Autor bei der Leseprobe etwaige praktische Winke und Vorschläge benutzen, nothwendige Streichungen, Anordnungen und Verbesserungen vornehmen, was später, wenn einmal die Rollen gelernt worden sind, schwer oder ganz unmöglich ist.
Wieder vergehen einige Wochen, welche der Regisseur zur Einrichtung und Inscenirung, zur Beschaffung der zu brauchenden Costüme und Decorationen, die Schauspieler zum Auswendiglernen und Studium ihrer Rollen verwenden, worauf die eigentlichen Proben beginnen. Während in Frankreich gewöhnlich fünfzehn bis zwanzig Proben bei einem neuen Stück stattfinden, so daß der Souffleur fast überflüssig wird, läßt man sich in Deutschland in der Regel mit deren drei bis vier genügen. Hauptsächlich dient die erste Probe nur dazu, die verschiedenen Stellungen zu marquiren, die Gruppirung anzugeben und den dabei anwesenden Inspicienten auf die zur Verwendung kommenden Requisiten aufmerksam zu machen. Die Mehrzahl der Schauspieler hat die Rollen noch nicht inne und spricht dieselben ohne Ausdruck und Mienenspiel, wobei der Souffleur fortwährend dem schwachen Gedächtniß zu Hülfe kommen muß. Häufig unterbricht der auf der Bühne sitzende Regisseur den Dialog mit seinen Bemerkungen, indem er bald eine falsche Stellung oder die unrichtige Betonung eines Wortes rügt, bald dem Inspicienten oder den Schauspielern eine nöthige Weisung giebt. Der arme Dichter, welcher indeß nur selten der ersten Probe beiwohnt, empfindet dabei Höllenqualen, wenn er die Gleichgültigkeit bemerkt, mit der die Schauspieler vorläufig das Werk seiner Nächte behandeln.
Nicht viel besser geht es auf der zweiten Probe her; erst in der dritten und noch mehr bei der Generalprobe strengen sich die Schauspieler an, ihren Rollen gerecht zu werden, wozu die Gegenwart des General-Intendanten mit beiträgt. Jetzt erst gewinnt das Ganze eine gewisse Abrundung, greifen die Scenen rascher und sicherer in einander, so daß der anwesende Dichter einen klaren Einblick in sein eigenes Werk erhält. Es ist eine Lust, zu sehen, wie durch begabte Darsteller Fluß und Ebenmaß, Zug und Feuer in die Gestaltung und Veranschaulichung eines Stückes kommt, wie alles sich unter Künstlerhand klärt und formt. Dieses Wachsen und Werden, geleitet und gelenkt durch den Regisseur, gewährt ein überaus belebtes, oft durch komische Intermezzos unterbrochenes Bild, und erst wenn alles klappt und stimmt, wenn Wort und Seufzer, Sturm und Donner, Versenkung und Verwandlung präcis und prompt von Statten gehen, treten gleichzeitig die Mängel und Vorzüge des Stücks deutlicher hervor; denn erst bei einigermaßen abgeklärter Darstellung zeigt sich der geistige und künstlerische Werth einer dramatischen Arbeit. Dann kann es wohl auch vorkommen, daß noch in der letzten Stunde die bereits angekündigte Aufführung wegen nöthiger Veränderungen verschoben wird, oder auch gänzlich unterbleibt, wie dies vor nicht langer Zeit einem namhaften Bühnendichter geschehen ist – ein unangenehmer Vorfall, der vielleicht durch eine strenger gehandhabte Leseprobe sich vermeiden ließe.
Endlich kommt der langersehnte Tag der ersten Vorstellung, wenn nicht noch im letzten Augenblicke durch eine plötzliche Erkrankung eine Abänderung nothwendig wird, weshalb der Verfasser mit ängstlicher Sorge die Gesundheit der in seinem Stück beschäftigten Schauspieler überwacht. Gewöhnlich werden bei jeder neuen Aufführung die Billete schnell vergriffen und, wenn das Publicum sich einen besondern Genuß oder einen kleinen Scandal verspricht, die Plätze den Unterhändlern doppelt und dreifach bezahlt. An dem bestimmten Abend füllt sich das Haus vorzugsweise mit den Theaterfreunden, welche so leicht keine Novität zu versäumen pflegen. Gewöhnlich sieht man eine große Anzahl bekannter Personen und dieselben Gesichter immer wieder bei einer solchen Gelegenheit. Wenn auch das Theater nicht mehr die Bedeutung wie in früherer Zeit hat und durch andere Interessen abgelöst worden ist, so übt doch eine erste Vorstellung noch jetzt einen eigenen Reiz auf die Bewohner der Residenz. Das Berliner Publicum zeigt dabei eine ganz eigenthümliche Physiognomie und erscheint besonders im königlichen Schauspielhause weit kritischer, anspruchsvoller, schonungsloser, zur Parteinahme und Opposition mehr geneigt als bei andern dramatischen Aufführungen.
Einen Hauptbestandtheil desselben bilden die Damen und Herren der Börsenaristokratie, welche sich amüsiren und jede neue Erscheinung kennen lernen wollen, um darüber mitsprechen zu können und weil es einmal zum guten Tone gehört. Dann kommen die Freunde und Gegner des Dichters, mit der Absicht, entweder zu nützen oder zu schaden, die Vertreter der Presse und die Berichterstatter der verschiedenen Zeitungen, die gerade zur Zeit anwesenden Fremden und Abgeordneten des Reichstages, die Verwandten und Verehrer der Schaupieler und besonders der Schauspielerinnen, endlich die große Zahl der Indifferenten, stets bereit, sich dem Urtheile einiger Stimmführer oder der Majorität anzuschließen. Zu bedauern ist es, daß gerade der Gelehrtenstand und die intelligente Beamtenwelt nur sparsam erscheint, woran wohl hauptsächlich die hohen Preise und der Mangel an Zeit die Schuld tragen mögen. Weit mehr als in andern, selbst kleinern Städten macht sich aus diesem Grunde in Berlin der Mangel an einem tiefern Verständnisse und an einem höhern Interesse auf dem dramatischen Gebiete bemerkbar, wenn auch unserm großen Publicum keineswegs die Freude am Theater, ein instinctmäßiges Gefühl für das Gute und Schöne und ein meist zutreffendes, scharfsinniges Urtheil abgeht. Leider aber werden diese Vorzüge wieder durch das absprechende Wesen und den negirenden, Alles zersetzenden und bekrittelnden Verstand des Berliners getrübt, der theils aus Ueberhebung, theils aus Furcht, sich durch seine Begeisterung lächerlich zu machen, sich mehr ablehnend als anerkennend verhält und jede neue Erscheinung mit einem gewissen kalten Mißtrauen begrüßt, bis er sich erst von ihrem wahren Werthe vollkommen überzeugt hat.
Mit dieser Stimmung des Publicums hat jede erste Vorstellung mehr oder minder zu kämpfen. Außerdem fehlt es nicht an Gerüchten und Bemerkungen über das neue Stück, welche nicht immer aus der reinsten Quelle fließen und nicht selten im Voraus ein ungünstiges Vorurtheil erwecken. Mit Ungeduld erwarten die Zuschauer das Zeichen zum Beginne der Aufführung. Langsam steigt der Vorhang in die Höhe, und die Exposition nimmt ihren Anfang, häufig von dem Lärme der auf- und zuklappenden Sitze [66] des Parquets übertönt und durch das Geräusch der Zuspätkommenden gestört. Nach und nach wird das Publicum aufmerksamer und folgt bald mit größerm, bald mit geringerm Interesse dem Gange der Handlung. Zuweilen applaudiren schon am Schlusse des ersten Actes einige Freunde des Dichters, und die Claque, welche nicht fehlt, macht einen schwachen Versuch, den beliebten Helden oder die erste Liebhaberin herauszurufen.
Im zweiten Acte steigert sich im günstigen Falle die Theilnahme oder die Spannung. Einzelne besonders gelungene Scenen und poetische Schönheiten werden beifällig aufgenommen und lebhaft beklatscht und die eleganten Toiletten der Schauspielerinnen von den anwesenden Damen bewundert. Mitunter verdankt der Dichter dem schönen Kleide und dem reizenden Aussehen einer beliebten Künstlerin einen Erfolg, den er am wenigsten erwartet hat, oder der Ungeschicklichkeit eines untergeordneten Statisten, der eine falsche Meldung macht und über seinen Degen stolpert, eine Störung, die ihn zur Verzweiflung bringt.
Entscheidend ist der dritte Act, in dem sich gewöhnlich der dramatische Conflict steigert, die Charaktere wachsen und die Handlung ihren Höhepunkt erreicht. In diesem Falle, wenn die Schauspieler noch dazu Gelegenheit finden, ihr Talent zu zeigen, und für überraschende Scenen und glänzende Abgänge gesorgt worden ist, wird der Beifall allgemein und rauschend. Selbst der erste Rang applaudirt gegen seine sonstige Gewohnheit, und der glückliche Dichter wird so lange gerufen, bis er die Neugierde der Zuschauer durch sein Erscheinen befriedigt und mit der hergebrachten linkischen Verbeugung dankt. Nicht immer leuchten die Sterne so günstig, und weit öfter ist der Erfolg ein zweifelhafter oder trauriger. Der Vorhang fällt, ohne daß sich eine Hand rührt, oder ein ominöses Zischen macht sich bereits bemerkbar. Manchmal kämpfen noch die bösen mit den guten Geistern und in den Applaus der Freunde und der Claque mischen sich die minder angenehmen Laute der Opposition, bis die eine oder andre Partei den Sieg behält.
In den darauf folgenden Zwischenakten eilt die Menge nach dem Corridore und der Conditorei, theils um frische Luft zu schöpfen, theils um die materiellen Bedürfnisse neben den geistigen zu befriedigen, wobei Bekannte und Freunde ihre Meinungen und Urtheile über das neue Schauspiel austauschen. Hier wird der Mangel an Handlung getadelt, dort die poetische Sprache und die Charakteristik gelobt, das Spiel der Künstler gerühmt oder bemängelt. Am härtesten urtheilen die Collegen des Dichters, deren Stücke entweder zurückgewiesen oder durchgefallen sind, die Agenten und Recensenten der Theaterblätter, welche mit dem Verfasser oder der Intendanz nicht auf freundschaftlichem Fuße stehen. Um die tonangebenden Kritiker der großen politischen Zeitungen, meist hochgebildete und unabhängige Männer, sammeln sich mehr oder minder dichte Gruppen, begierig die Ansichten derselben zu hören und eine geistreiche Bemerkung zu erlauschen, um dieselbe sich anzueignen und weiter zu colportiren. Mancher Recensent, dem es an selbstständigem Urtheile fehlt, schöpft seine Weisheit aus diesen flüchtigen Unterhaltungen des Corridors in den Zwischenacten.
Das Zeichen mit der Glocke unterbricht die Conversation und ruft das Publicum auf seine Plätze. Der vierte und der fünfte Act, diese besonders scharfe Klippe für den Verfasser, verlaufen ohne besondere Störung, außer daß sich vielleicht das Interesse gegen das Ende sehr abschwächt. Am Schlusse müssen die Hauptdarsteller und der Verfasser noch einmal erscheinen, wenn das Stück gefällt, und die erste Liebhaberin erhält wohl auch von einem begeisterten Verehrer ein prächtiges Bouquet oder einen Lorbeerkranz zugeworfen. Im entgegengesetzten Falle folgt ein tiefes Schweigen oder ein lautes Zischen, das sich nur selten zu einem wirklichen Theaterscandale steigert.
Man würde jedoch Unrecht thun, wenn man den Erfolg einer ersten Vorstellung für maßgebend halten wollte. Die Erfahrung lehrt zuweilen, daß Stücke, welche mit vielem Beifall gegeben worden sind und in denen der Verfasser mehrere Male gerufen wurde, schon nach wenigen Aufführungen wieder vom Repertoire verschwinden und sich nicht behaupten können. In der That ist das Publicum mit seinen Launen und Stimmungen unberechenbar, heute überaus freundlich und nachsichtig, morgen kalt und streng. Dazu kommen noch verschiedene Zufälligkeiten, von denen der Erfolg mehr oder minder abhängt. So erzählt Herr von Putlitz, der bekannte Dichter, in seinen „Theater-Erinnerungen“ von einer Aufführung seines Schauspiels „Die blaue Schleife“: „Das Publicum war freundlich, aber nach und nach schien es mir, als ließe die Theilnahme nach und man finge an, sich zu langweilen. Da verfiel die liebenswürdige Frau von Lavallade, mit der ich seit längerer Zeit befreundet, und mit der ich an dem Abend zufällig in derselben Parquetloge zusammengetroffen war, auf ein freundliches Mittel. Sie fing an, sich zu amüsiren, spielte so vortrefflich die Amüsirte, sprach das so sichtlich aus, daß die ganze Umgebung auf sie aufmerksam werden mußte. Das Mittel half wirklich. ‚Nun, wenn die Dame sich so unterhält bei dem Stücke und es so reizend findet, muß es wohl amüsant sein,‘ dachten die Leute, und die Theilnahme, die schon im Erschlaffen war, belebte sich auf’s Neue. Das Mittel ist zu empfehlen, aber es bedarf einer so wohlwollenden Freundin, die zugleich so vortreffliche Darstellerin ist, als Frau von Lavallade es war.“
Es vermag, wie diese kleine, charakteristische Geschichte lehrt, ein einziger wohlwollender Freund eine günstige Stimmung hervorzurufen, aber die Feinde vermögen auch das Gegentheil zu bewirken. Wie Heiterkeit und Lachen, so ist auch Langeweile und Unruhe ansteckend, und das Publicum in seiner Gesammtheit für jeden äußern Eindruck weit leichter empfänglich, als der einzelne Zuschauer. Ein Wort, eine komische oder böswillige Aeußerung, selbst eine Miene kann ein Stück zum Falle bringen, wie ich das selbst schon erlebt habe. In dem Drama „Columbus“ eines berühmten Aesthetikers rief in der ergreifenden Scene, wo der Held die neue Welt erblickt und seine Begleiter „Land! Land!“ jubeln, ein Besucher der Galerie: „Das steht ja in Becker’s Weltgeschichte.“ – Der schlechte Witz wurde applaudirt, belacht und zerstörte die ganze Illusion, sodaß die werthvolle Dichtung nur einen Achtungserfolg errang.
In einem anderen Schauspiele eines ältern, namhaften Berliner Schriftstellers und Kritikers, in dem der sterbende Franz von Sickingen, auf den an seinem Todtenlager stehenden Philipp von Hessen deutend, sagt: „Was ich gewollt, wird Euch dieser verkünden,“ riefen einige lustige Studenten nach dem Fallen des Vorhanges zur Verwunderung des übrigen Publikums nicht den Hauptdarsteller, sondern den Schauspieler, welcher die unbedeutende Nebenrolle des Philipp gab, so lange hervor, bis derselbe endlich erschien. Eine tiefe Baßstimme fragte den Ueberraschten: „Was hat Franz von Sickingen gewollt?“ – und versetzte dadurch dem Stücke einen schweren Streich, von dem es sich nicht wieder erholte. – Ebenso kann die Ungeschicklichkeit eines verlegenen Statisten, die verzeihliche Gedächtnißschwäche eines Schauspielers, ein zweideutiger oder verkehrt gesprochener Satz ein unauslöschliches Gelächter hervorrufen und den schädlichsten Einfluß auf die Stimmung üben.
Nicht selten vernichten die an den folgenden Tagen in den Zeitungen erscheinenden Besprechungen den bereits errungenen Erfolg des ersten Abends. Obgleich man der Mehrzahl der Berliner Kritiker ein richtiges Verständniß, eine tüchtige Bildung und meist auch eine große Unparteilichkeit nachrühmen muß, so liegt es doch einigermaßen in der Natur ihres Amtes und in dem ganzen angeborenen Wesen des Berliners, mehr die Fehler, Schwächen und Lächerlichkeiten hervorzuheben, als die Vorzüge und guten Seiten einer neuen Erscheinung anzuerkennen. So mancher frische Lorbeerkranz des zwei oder drei Mal gerufenen Dichters wird noch hinterher mit schonungsloser Hand zerpflückt und der durch die Bemühungen der Freunde und der Claque erworbene Triumph in eine nachträgliche Niederlage umgewandelt. Nur eine ganz kleine Zahl von dramatischen Arbeiten besteht die Feuerprobe einer ersten Vorstellung, welche übrigens meistens ebenso interessant für die Zuschauer, wie schwierig und gefährlich für den Dichter und die Schauspieler ist.
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Mit vollem Rechte führt man die zorn- und geräuschvolle Arbeiterbewegung in unserm heutigen Deutschland auf Ferdinand Lassalle als auf ihren Urheber und Stifter zurück. Mit vollem Grunde aber bricht immer mehr die Erkenntniß sich Bahn, daß diese Bewegung nur ein dürftiger Schatten, ja in wesentlichen Punkten eine entschiedene Abweichung vom Geiste und den Plänen des Mannes ist, der sie entzündet und zur Flamme angeblasen hat. Nur ein winziges Fähnlein der jetzigen Socialisten-Partei feiert auch in Lassalle noch den Propheten und Meister. Seinen Nachfolgern in der Irreführung der Arbeiter ist es gelungen, ihn allmählich von der Bildfläche zu wischen, auf der sie allein stehen und gelten wollen. Es lag aber im Blute und in dem ganzen Verhängniß seines Lebens, daß es mit flammender und brausender Hast geführt wurde und so auch den denkenden Zeitgenossen erst einen gesammelten Ueberblick ermöglichte, als es längst an ihnen vorübergestürmt war. Nun erst erkannte hier die leidenschaftslosere Prüfung viel deutlicher als vorher, daß es bei Lassalle eine zwar aus der Art seiner Natur entsprießende, aber doch immerhin nur eine Abirrung von einer viel höheren Bestimmung gewesen, die ihn auf den Weg des Agitators gedrängt und aus dem Agitator zuletzt einen aufwieglerischen Demagogen gemacht hatte. Denn hinter und in dieser Verirrung fand man den stark über dieselbe hinausleuchtenden Glanz eines echten Kernes: einen merkwürdigen, Menschen und hochinteressanten Charakter, einen sehr bedeutenden Denker, Schriftsteller und Redner. So ist Lassalle mehrfach schon gewürdigt und so ist er neuerdings von dem Dänen Georg Brandes in der brillanten Manier dieses cultur- und literargeschichtlichen Schilderers gezeichnet worden („Ferdinand Lassalle. Ein biographisches Charakterbild. Berlin, Franz Duncker“).
Wir sind nun freilich unsererseits nicht in der Lage, von Lassalle wie von einem der Helden unseres Jahrhunderts zu reden, wenn wir ihm auch nicht absprechen mögen, daß er das Zeug zu einer solchen Rolle in sich getragen hat. Es braucht aber eine Persönlichkeit noch nicht jenen höchsten aller Namen zu verdienen, um doch als bedeutsam zu Lob und zu Tadel, als Muster wie als Beispiel unserer Theilnahme sich nahe zu legen. Die „Gartenlaube“ hat sich bisher mit dem Stifter der Socialdemokratie wenig befaßt, weil im Handgemenge brennender Parteikämpfe das Urtheil über ihn noch ein schwankendes war. Erst jetzt, wo ein minder durch den Parteien Gunst und Ungunst gefärbtes Bild von ihm gewonnen ist, glauben wir verpflichtet zu sein, auf Grund der oben genannten Schilderungen und unserer eigenen Ueberzeugungen einige Züge aus diesem Leben hier vorzuführen.
Das freundliche und geistesbewegte Schlesierland, das unserer neueren Literatur und Publicistik so viele regsame und hervorragende Kräfte zugeführt, ist bekanntlich auch die Heimath Lassalle’s gewesen. In Breslau ist er als Sohn eines jüdischen Hauses geboren worden. Sein Vater, ein wohlhabender, als brav und redlich gerühmter Kaufmann, hatte ihn für den Handelsstand bestimmt. Aber schon auf der Handelsschule in Leipzig zeigte sich seine vollständige Untauglichkeit für diesen Beruf, und man ließ ihn zur Vorbereitung auf die Universitätsstudien nach Breslau zurückkehren. Das Verhältnis zwischen ihm und den Seinigen war ein sehr inniges; sein ganzes Leben hindurch hat er für seine Eltern die liebevollste Treue bewahrt, und bemerkenswerth blieb namentlich die Schwärmerei der Mutter für diesen Sohn. Schon in seinem Knabenalter verrieth sich aber das, was er selber später seine „Frechheit“ nannte; er war ein recht vorlauter und naseweiser Junge. Ein Drang zum Widerstande, eine Begierde nach Geltung und Ueberwindung von Hindernissen wurde frühe an ihm bemerkt. Schon in seinem sechszehnten Jahre warf er sich in einer den häuslichen Frieden störenden Angelegenheit zum Familienhaupt auf, trat Eltern und Geschwistern gebieterisch gegenüber und ordnete durch sein energisches Verhalten eine schwierige Sache.
Dieser Willensstärke stand aber eben so frühe ein ausdauernder Wissenstrieb und eine überraschende wissenschaftliche Befähigung zur Seite. Von seiner Begeisterung für das classische Alterthum getrieben, studirte Lassalle auf den Universitäten Breslau und Berlin Philologie und Hegel’sche Philosophie, deren dialektische Methode er mit Eifer und Entzücken sich aneignete. Gleichzeitig sog er die auf eine nothwendige Umwälzung des Staats- und Gesellschaftswesens hinzielenden Ideen des jungen Deutschland und des aus der Hegel’schen Schule hervorgegangenen kritischen Radicalismus ein. Alle, die ihm damals näher getreten, erhielten den Eindruck, daß dieser Mensch nicht für irgend eine Unterordnung, sondern zur Macht geschaffen und von der Natur zu einem Herrscher gestempelt sei. Ein Dichter, der ihn nur ein einziges Mal in einem Concert gesehen, sagte zu Brandes: „Er sah aus wie lauter Trotz, aber auf seiner Stirn lag eine solche Thatkraft, daß es Einen nicht hätte wundern mögen, wenn er sich einen Thron erobert hätte.“ Da ihn das Geschick aber nicht zu einem Prinzen und Aristokraten gemacht, da er als ein Kind des Mittelstandes und eines noch vielfach zurückgesetzten Stammes geboren war, so führte ihn seine geistige Ueberlegenheit in den Kampf gegen das Vorrecht: er wurde ein demokratisch gerichteter Denker. Zunächst zeigte er in seinen akademischen Studien seine Anlage zur Meisterschaft. Auf dem Gebiete der Sprach- und Alterthumskunde legte er so ungewöhnliche Gaben an den Tag, daß Männer wie Bökh und Alexander von Humboldt dem „Wunderkinde“ – so nannte ihn Humboldt – eine glänzende Zukunft verhießen. Nach seinem Abgange von der Universität lebte er sodann als unabhängiger Privatmann am Rhein und gab sich in Düsseldorf und während eines Aufenthaltes in Paris (1845) unausgesetzt dem Studium der griechischen Philologie und Philosophie hin.
In Paris kam der damals zwanzigjährige Lassalle auch in nahe Beziehungen zu Heinrich Heine, und man bekommt schon Respect vor der Genialität des jungen Studenten, wenn man sieht, wie er den Aristophanes seines Zeitalters für sich einnimmt, der doch wahrlich so leicht nicht geblendet werden konnte. Ganz eigenthümlich aber berührt uns auch der Scharfblick, mit welchem der Dichter über den Landsmann sich äußerte, der ihm an Geist und Erfahrung doch noch wie ein Kind erscheinen mußte. Mit seiner mehrfach bewiesenen Energie hatte dieses Kind dem kranken und verlassenen Dichter in seinem Erbschaftsstreite offenbar einen durchgreifenden und erfolgreichen Beistand geleistet; denn in seinen Briefen nennt ihn Heine stets seinen „liebsten, theuren Freund“, seinen „theuersten Waffenbruder“, und schreibt unter Anderm: „Noch nie hat Jemand so viel für mich gethan. Auch habe ich noch bei Niemand so viel Passion und Verstandeskraft vereinigt im Handeln gefunden. Wohl haben Sie das Recht, frech zu sein, wir Andern usurpiren blos dieses himmlische Privilegium. In Vergleichung mit Ihnen bin ich doch nur eine bescheidene Fliege.“ Und an einer andern Stelle: „Leben Sie wohl, und seien Sie überzeugt, daß ich Sie unaussprechlich liebe! Wie freut es mich, daß ich mich nicht in Ihnen geirrt; aber auch Niemandem habe ich je so viel getraut, ich, der ich so mißtrauisch durch Erfahrung, nicht durch Natur. Seit ich Briefe von Ihnen erhielt, schwillt mir der Muth und ich befinde mich besser.“
Das sind eingestreute Aeußerungen, glücklicher Weise aber haben wir in einem Briefe Heine’s an Varnhagen vom 3. Januar 1846 eine vollständige Charakteristik des jungen Ferdinand Lassalle, in der es heißt: „Mein Freund, Herr Lassalle, der Ihnen diesen Brief bringt, ist ein junger Mann von den ausgezeichnetsten Geistesgaben: mit der gründlichsten Gelehrsamkeit, mit dem weitesten Wissen, mit dem größten Scharfsinne, der mir je vorgekommen, mit der reichsten Begabniß der Darstellung verbindet er eine Energie des Willens und eine Habilité im Handeln, die mich in Erstaunen setzen, und wenn seine Sympathie für mich nicht erlischt, so erwarte ich von ihm den thätigsten Vorschub. Jedenfalls war diese Vereinigung von Wissen und Können, von Talent und Charakter für mich eine freudige Erscheinung. Herr Lassalle ist nun einmal so ein ausgeprägter Sohn der neuen Zeit, die nichts von jener Entsagung und Bescheidenheit wissen will, womit wir uns mehr oder minder heuchlerisch in unserer Zeit hindurchgelungert und hindurchgefaselt. Dieses neue Geschlecht will genießen und sich geltend machen im Sichtbaren; wir, die Alten, beugten uns demütig vor dem unsichtbaren,
[68][69] WS: Das Bild wurde auf der vorigen Seite vervollständigt [70] haschten nach Schattenküssen und blauen Blumengerüchen, entsagten und flennten und waren doch vielleicht glücklicher, als jene harten Gladiatoren, die so stolz dem Kampftode entgegen gehen.“ Wer den spätern Lebenslauf Lassalle’s kennt, der wird an diesen Worten nicht blos das Meisterauge, sondern auch den tiefen Seherblick des Dichters bewundern müssen. Auch ein Schalkslächeln über das neuerwachsene Stürmergeschlecht ist in dem ernsthaften Urtheile nicht zu verkennen. Jedenfalls aber zeigt uns dasselbe, was Lassalle schon war, ehe er in die Literatur trat und ehe die Oeffentlichkeit wußte, daß er überhaupt vorhanden sei. Schon bald jedoch sollte man von ihm hören, aber es war keine wissenschaftliche That, sondern eine Privataffaire lärmerregender Art, durch welche sein Name zuerst in die Welt geworfen wurde.
Am 11. August 1848 stand vor dem Geschworengerichte in Düsseldorf ein schlank gewachsener Jüngling von stolzem und einnehmenden Aeußern. Es war Lassalle. Die Anklage bezichtigte ihn der moralischen Mitschuld an einer als „Diebstahl“ bezeichneten Handlung, welche schon zwei Jahre vorher ein außerordentliches Aufsehen erregt hatte. Gleich ihm hatten noch zwei andere junge Lennte in dem Scheidungsprocesse des Grafen Hatzfeldt und seiner Gattin eifrigst für die Gräfin Partei genommen. Diese beiden Genossen waren von Lassalle verleitet worden, der Geliebten des Grafen aus ihrem Pulte ein Kästchen zu entwenden, in welchem man wichtige Documente vermuthete. Lassalle bekannte sich zu der That, aber in seiner glänzenden Vertheidigungsrede betonte er, daß nicht ein gemeiner und selbstischer Beweggrund, sondern die Pflicht zur „Vertheidigung der Menschenrechte“ ihn dazu gezwungen habe. In Bezug auf die Lage der Gräfin sagte er unter Anderm: „Die Familie schwieg. Aber es heißt: wo die Menschen schweigen, da werden die Steine reden. Wo alle Menschenrechte beledigt werden, wo selbst die Stimme des Blutes schweigt und der hülflose Mensch verlassen wird von seinen geborenen Beschützern, da erhebt sich mit Recht der erste und letzte Verwandte des Menschen, der Mensch.“
Trotzdem verurtheilte ihn das Gericht, aber die höhere Instanz vernichtete später dieses Urtheil. Schon fünf Jahre vorher hatte Lassalle als neunzehnjähriger Student die damals etwa doppelt so alte, aber schöne und imponirende Gräfin (geborene Fürstin) Hatzfeldt in Berlin kennen gelernt und, gerührt von ihrem Unglück, sich in ihren Proceß gestürzt. Möglich, daß die bedeutende Schönheit und die elegante Erscheinung des blutjungen Mannes einen sehr günstigen Eindruck auf die Gräfin gemacht hatten. Wie über das Verhältniß Goethe’s zu Frau von Stein, so wird auch über die Art der Beziehungen Lassalle’s zur Gräfin Hatzfeldt, so ungleich auch sonst beide Paare waren, ein auf Thatsachen begründetes, nicht aus Schlüssen und Vermuthungen hergeleitetes Urtheil sich kaum aufstellen lassen. Gewiß ist nur, daß Lassalle mit der Gräfin damals von Berlin nach Düsseldorf übersiedelte, daß das unstreitig für ihn verhängnißvoll gewordene Freundschaftsverhältniß bis zu seinem Tode dauerte und er zunächst zehn seiner besten Jugendjahre, mit vollständiger Hintansetzung seiner Lebenszwecke, dem Kampfe für die Vermögensinteressen und die gesellschaftliche Stellung der Freundin gewidmet hatte. Es waren hier kolossale Arbeiten, ganz ungeheure Schwierigkeiten zu überwinden. Vor sechsunddreißig Gerichten hat Lassalle die Sache der Gräfin mit allem Geschicke eines juristischen Fachmannes geführt. Aber der staunenswürdigen Ausdauer fehlte auch der Erfolg nicht. Der halsstarrige Graf wurde endlich mürbe; es kam zu einem Vergleiche, und von dem philosophischen Gelehrten war für die Gräfin ein fürstliches Vermögen gewonnen. Während des Processes hatte er mit der von allen Mitteln entblößten Frau die nicht bedeutende Summe getheilt, die er von Hause erhielt, zum Ersatze dafür sich aber eine jährliche Rente ausbedungen, wenn die Sache gewonnen sei. Von jetzt ab konnte er mit einer Jahreseinnahme von fünftausend Thalern ganz sorgenlos und ohne Rücksicht auf Broderwerb wiederum seinen Studien sich hingeben.
Die Früchte dieser Muße ließen nicht lange auf sich warten. Sein erstes größeres Werk „Die Philosophie Herakleitos des Dunkeln“, ein Product langjähriger Forschungen, stellte den bisher der weiteren Oeffentlichkeit nur als exaltirter und abenteuerlicher Leichtfuß geltenden, nur durch seine brillanten Gelegenheitsreden vor Gericht bekannt gewordenen jungen Mann mit einem Schlage unter die ersten Gelehrten Deutschlands. Auch sein später erschienenes Hauptwerk „Das System der erworbenen Rechte“ erwarb ihm Hochachtung und Ruhm durch die erstaunliche Sicherheit und Beschlagenheit, mit der er sich hier auf dem Boden der juristischen Wissenschaft bewegte, die er niemals bei einer Facultät studirt hatte. Wer seinen revolutionären Anschauungen in Bezug auf das Erbrecht widerstrebte, der mußte doch zugeben, daß sie mit ungewöhnlichem Scharfsinne mit hinreißender Beredsamkeit, von einem schwerbewaffneten Geiste verfochten wurden. Aber es waren doch nur die engen und abgeschlossenen Kreise der wissenschaftlichen Welt, in denen dieser Beifall ertönte, und das war es nicht, was den dürstenden Ruhmesdrang eines Lassalle befriedigen konnte. Es war ein unablässiger „Sturm in dieser Natur“, und Macht hieß das Ziel, dem sie entgegenrang. Zur Erringung desselben aber fand sich der geeignete Kampfplatz nur auf dem politischen Felde.
Um Lassalle eingehend als Politiker, als demokratischen und socialen Agitator zu würdigen, dazu ist in diesem gedrängten Charakterbilde nicht der genügende Raum; es erfordert das eine besondere und ausführlichere Darlegung, die wir uns vorbehalten. Schon 1848 hatte er sich am Rhein an den demokratisch-revolutionären Bewegungen entschieden betheiligt und einen damals von ihm erlassenen Aufruf zu bewaffneten Widerstande gegen die Auflösung der preußischen Nationalversammlung mit Gefängnißstrafe gebüßt, wie überhaupt seit jener Zeit ein Martyrium von Criminalprocessen und Gefängnißleiden sich durch sein ganzes ferneres Leben zog. Nicht wie Marx, Engels und andere Parteigenossen von der revolutionären „Rheinischen Zeitung“ trieb er jedoch eine macht- und fruchtlose Opposition gegen die im Herbste 1848 wiederkehrende Reactionswirthschaft so weit auf die Spitze, daß er landesflüchtig werden und allem Wirken in Deutschland entsagen mußte.
Davon hatte ihn wohl schon in jenen Tagen sein vaterländischer Sinn und jene realistische Erkenntniß der „thatsächlichen Machtverhältnisse“ abgehalten, die in seinen späteren politischen Theorien und Handlungen eine so vorwiegende Bedeutung gewann. Man lebte aber damals in der Zeit der Ausweisungen und Aufenthaltsverweigerungen, und die „thatsächlichen Machtverhältnisse“ verschlossen ihm Berlin, wo er aus manchen Gründen zu wohnen wünschte. Als Fuhrmann verkleidet, drang er in die Hauptstadt ein, und Humboldt erwirkte ihm in der That beim Könige die Aufenthaltserlaubniß. Nun war er auf dem Boden, der seinem Bewegungsdurste einen genügenden Tummelplatz, seinen Ansprüchen an ein vornehmes Dasein die ausreichende Befriedigung verhieß. Sein Leben in Berlin war fortan zwischen Studien und Zerstreuungen getheilt, sein Haus ein Sammelplatz geistvoller Bildung, aber auch eine Stätte geistreicher Frivolität und excentrischer Leichtlebigkeit. Der Versuch, mit dem gedankentiefen, aber poesielosen und untheatralischen Drama „Franz von Sickingen“ seinen Namen schnell durch ganz Deutschland zu tragen, war nicht von Erfolg gekrönt. Das Stück wurde nicht aufgeführt. Dafür lenkte der Verfasser wieder einmal durch eine öffentliche Scandalaffaire die Blicke auf seine Person. Ein Herr, dessen Herausforderung zum Duell er aus guten Gründen abgewiesen hatte, überfiel ihn unter Mithülfe eines Andern am hellen Tage in der belebten Gegend des Brandenburger Thores. Lassalle aber bläute die Beiden so weidlich durch, daß sie von ihrem Angriffe abließen. Zu künftiger Abwehr solcher Ueberfälle schenkte ihm ein deutscher Historiker den Stock Robespierre’s, den er fortan stets bei sich trug. Man sieht, es stand seiner Furchtlosigkeit eine erhebliche Körperkraft zur Seite, trotz der frühzeitigen Untergrabung seiner Gesundheit, die kaum jemals seinen Muth zu beugen vermochte.
Der künstlichen Lahmlegung des demokratischen Geistes in den Reactionsjahren folgten naturgemäß bald neue Bewegungen des Völkerlebens. Es kam der italienische Krieg des Jahres 1859; es kam der Thronwechsel, die neue Aera und der große Verfassungsconflict in Preußen. Diese Wendungen führten Lassalle wieder in das politische Fahrwasser, und es läßt sich nicht leugnen, daß hier seine Schritte als Volksredner und Publicist durch neue und eigenartige Gesichtspunkte bezeichnet waren, daß er hier Spuren reifer Gedanken, fruchtbarer Lehren und Anregungen in der Geschichte des Liberalismus zurückgelassen hat. Der nächste Erfolg verwirklichte aber die Träume seines Ehrgeizes noch [71] keineswegs; nicht einmal zu dem erstrebten Sitze im Abgeordnetenhause verhalf ihm die damalige Fortschrittspartei. Verletzt zog er sich zurück, bis er endlich durch die 1864 von ihm hervorgerufene Arbeiterbewegung sich vor das Ziel seiner heißesten Wünsche gestellt sah. Aufrichtiges Mitgefühl mit Unterdrückten, denen er durchgreifend helfen wollte, begeisterungsvolle Ueberzeugungen und Ergebnisse seiner volkswirthschaftlichen Studien waren hier sicher ebenso bestimmend für ihn, wie die fieberhafte Agitationssucht und die bis jetzt nicht satt gewordene, nach großen Siegen ringende Eitelkeit seines Wesens. Mehr als bei allen seinen bisherigen Aufgaben hatte er an dieses Unternehmen, mit dem er alle Brücken hinter sich abbrach und allen Parteien den Fehdehandschuh hinwarf, die ganze Energie seiner großen Kraft, auf dieses verwegene Spiel alle seine Karten gesetzt, sodaß er stand oder fiel je nach dem schnellen Gewinnen und Verlieren. Es war ein Traum. Mit halbgebildeten Genossen glaubte er in Sturmeseile die durch ihre Mehrzahl zwar überwiegenden, aber unreifen und unwissenden, schwerfälligen und geistig noch vielfach verwahrlosten Arbeitermassen, den Mächten des Besitzes und der Intelligenz gegenüber, zu einer vorherrschenden Macht im Staatsleben organisiren zu können. An der Spitze derselben wollte er dann mittelst des allgemeinen Stimmrechts und der vom Staate unterstützten Productiv-Associationen eine der tiefgreifendsten Umwälzungen aus dem Boden stampfen, welche die Weltgeschichte jemals gesehen hat. Der Plan des einzelnen Mannes war keck ausgeklügelt, aber die Berechnungen trafen nicht zu, und alle seine Redetriumphe, alles Beifalljauchzen hingerissener Arbeitervereine konnten Lassalle nach mehrjährigen ungeheuren Anstrengungen und Opfern nicht über das lahme Vorwärtsgehen der Sache täuschen. Er hat das Anwachsen der von ihm entfachten Bewegung nicht erlebt, freilich auch nicht ihren Abfall von ihm, ihr Herabsinken zur Vaterlandslosigkeit und zu hohlem Phrasen-Communismus. Als der einst von Heine ihm prophezeite „Kampftod“ ihn ereilte, hatten schon Ueberdruß und niederschlagende Erfahrungen einen Theil seines zähen Lebensmuthes verzehrt.
Blicken wir unbefangen auf das Bild dieses Menschen zurück, wie er in seiner gesammten Erscheinung sich uns darstellt, so wird es uns zur zweifellosen Gewißheit, daß in ihm ein eindrucksvolles Phänomen am Horizont unserer Zelt aufgestiegen war. Der Glanz aber war getrübt und an vollem und wohlthuendem Leuchten gehindert durch mißfarbige Streifen von störender Breite. Daß Gemeines und Niedriges in seiner Natur gewesen, hat Niemand behauptet, trotz der unverzeihlichen Angriffe auf verdiente Männer des Fortschrittkampfes, zu denen seine parteiische Leidenschaft ihn fortgerissen hat. Mit aufrichtiger und schwungkräftiger Inbrunst konnte er auf den höchsten und reinsten Höhen edler Idealität und schöpferischen Denkens weilen, als ob nur dort seine wahre Heimath sei. So wie aber der Lorbeer wahren Ruhmes seinem jugendlichen Haupte winkte, da erwachten auch schon die wilden Antriebe, die ungezähmten Wallungen und thörichten Schwächen seines Blutes und zogen ihn gewaltsam in kleine Pfade. Viele seiner Anläufe waren groß, allen aber folgte der verhängnißvolle Sturz von der Höhe in Irrgänge der Alltäglichkeit, und immer wurde derselbe herbeigeführt durch die innern Fehler dieses bedeutenden und auch gemüthvollen Charakters, durch seine machtsüchtige Eitelkeit und seine Liebe für alles Gleißende, durch seinen vermessenen Uebermuth und die Ruhelosigkeit eines rücksichtslosen Genußdurstes. Wenn er seine Wohnungsräume stets mit dem geschmackvollsten Luxus ausstattete, wenn er mit der sorgfältigen Eleganz eines Modemannes sich kleidete und in dieser Toilette, in Lackstiefeln und ausgesucht seiner Wäsche zu den rußigen Arbeitern sprach, wenn er gelegentlich auch gern in dramatischen Positionen sich zeigte, so mag ihm das zu hoch nicht angerechnet werden, da er diese Schwäche mit mancher wirklichen Größe der Geschichte teilte.
Widerwärtiger in Lassalle’s Privatleben waren schon seine flatterhaften und unreinen Beziehungen zu der Frauenwelt, sowie jene pikanten Diners und Soupers in seinem Hause, von denen heute noch erzählt wird, daß sie damals die glänzendsten und üppigsten in Berlin gewesen seien. Denn hier offenbarte sich grell und schroff der häßliche Widerspruch zu jener Schlichtheit des Sinnes und Wandels, aus der allein ein warmes Verständniß der Volksseele, eine wahre Theilnahme für das Volksleben und alles selbstlose Wirken für die Verbesserung der Volkszustände sich erzeugen kann. Wenn es auch ein Märchen ist, daß man regelmäßig bei ihm in Haschisch sich berauschte, so steht es doch fest, daß neben einer gewaltigen Denkarbeit die Aufreizungen raffinirter Schwelgerei, der wüste Taumel fesselloser Begierden zu den Bedürfnissen seines Daseins gehörten. Und außerordentlich bezeichnend, ungemein verhängnißvoll für seinen Ruhm war es, daß nicht der Faust, sondern die Don Juan-Natur in ihm den vorzeitigen Schlußact seines genial angelegten Lebensdramas herbeigeführt hat. Der Gedankenringer und geistesstolze Massenapostel endete nicht auf dem Felde der Ehre; er fiel als Opfer eines ziemlich alltäglichen und wenig tragischen Liebeshandels.
In der Schweiz, wohin er sich im Sommer 1864 nach ihm dargebrachten brausenden Huldigungen der rheinländischen Arbeiter zurückgezogen hatte, wurde die jugendlich schöne Tochter des baierischen Gesandten von Dönniges von dem Zauber des neununddreißigjährigen Mannes geblendet und von einer heißen Liebe zu ihm ergriffen, die er - zum ersten Male in seinem Leben - ernsthaft erwiderte. Die Eltern der jungen Dame verweigerten ihr jedoch hartnäckig die Erlaubniß zu dieser Heirath, und eines Tages stürzte sie in höchster Erregung zu Lassalle in’s Zimmer und bat ihn, sie nicht wieder von sich zu lassen. Lassalle zeigte in diesem Augenblick eine Gebrochenheit; die alte rücksichtslose Verwegenheit hatte ihn verlassen; er fürchtete das Aufsehen und überredete die Geliebte zur Rückkehr in das elterliche Haus, wo er nun hübsch ordnungsmäßig, aber vergebens sich ihre Hand erbat. Von diesem Tage an wollte das junge Mädchen, das er der Beschämung und Bestrafung ausgesetzt, nichts mehr von ihm wissen, und die Leidenschaft des nunmehr Verschmähten stieg zur äußersten Wuth, als er hörte, daß die Vermählung des Fräulein von Dönniges mit ihrem ehemaligen Verlobten in naher Aussicht stand. Von diesem Herrn von Rakowitz ist Lassalle im Zweikampfe erschossen worden. War er auch mit vollständiger Kaltblütigkeit dem Tode entgegen gegangen, so war es doch ein seiner unwürdiger Tod, und erst die Folgezeit hat der Nachwelt bewiesen, wie thöricht und kindisch diese verspätete Liebesgluth gewesen ist. Auf dem jüdischen Friedhofe in Breslau ist sein Grab zu finden.
Wenn es schwer sich sagen läßt, welche Rolle er im ferneren Wandel der deutschen Angelegenheiten gespielt haben und auf welcher Seite er gegenwärtig stehen würde, so kann doch ein Zweifel nicht obwalten in Bezug auf die Breite und Tiefe der Kluft, die ihn von den heutigen Betreibern des Volksaufwieglungsgeschäftes trennt. Auch er nannte sich in seinen Reden und Schriften gern einen „Revolutionär aus Princip“, aber er hatte auch stets eine Fülle spöttischer Glossen für Diejenigen, welche das Wort „Revolution“ nicht hören können, ohne dabei an Blutvergießen und „geschwungene Heugabeln“ zu denken. Und wenn er von seiner Entflammung der Arbeiterbewegung spricht, weist er gern auf seinen schwierigen Weg durch die ernste Wissenschaft hin, indem er fragt: Und Sie können wirklich glauben, daß ich diese ganze lange Bildung damit schließen wollte, dem Proletarier eine Brandfackel in die Hand zu geben? Wir lassen das dahingestellt. Wirklich tief aber unterschied ihn von den heutigen socialistischen Stimmführern ein hervorstechender Zug von besonderer Kraft: sein nationaler Sinn, sein leidenschaftlicher Patriotismus. Er war so wenig ein Verräther an seinem Vaterlande, so wenig ein kosmopolitischer Schwärmer, daß all sein politisches Streben sich einzig auf Deutschland und vor Allem auf den preußischen Staat bezog. Als 1859 der italienische Krieg ausbrach, da warf er jene merk- und denkwürdige Schrift über die Aufgabe Preußens hinaus, die man doch heute nicht ohne Gefühle der Ueberraschung lesen kann. Denn sie enthält in Bezug auf die Beseitigung des bundestäglichen Doppelregiments in Deutschland und in Bezug auf die Proclamirung des allgemeinen Wahlrechts der Nation einige der kühnsten und fruchtbarsten Gedanken, denen Bismarck sechs Jahre später zum Durchbruche verholfen hat. Wenn sich auch eine directe Beziehung nicht nachweisen läßt, so läßt es sich auch nicht kurzweg eine Uebertreibung nennen, wenn der philosophische Agitator als der Lehrer des großen Reichskanzlers bezeichnet wurde. Mit vollem Recht sind die socialen Theorien Lassalle’s, ist seine frevelhafte Entzündung des Classenhasses von den entschiedensten Seiten der Freiheitsparteien bekämpft worden. Aber auch mit Recht sagt der dänische Biograph: „Ein ausgezeichneter Mann der Wissenschaft kann in diesem oder jenem Punkte geirrt haben. Die Fluth der Zeit spült den Irrthum hinweg, und die Menschheit erbt den Rest.“
Doctor Urban hatte ihr ruhig zugehört. „Ich dächte, noch bequemer wäre es, wenn Du mir mündlich sagtest, was darin steht, Liebste. Vielleicht hörst Du aber zuerst, was ich Dir wahrscheinlich auch schriftlich hätte sagen müssen, da Dein Bruder sich weigerte, die Mittheilung zu übernehmen. Mit der Hoffnung auf ihn ist es so gut aus wie mit derjenigen auf Deine Mutter. Sie hat mir Zehren als Deinen Bräutigam vorgestellt.“
„Ich ahnte es,“ stieß Emilie heftig hervor. „Und dieser Mensch – wisse es! – besitzt die Frechheit, mir in das Gesicht hinein zu erklären, daß ihm alle Mittel recht seien, um mich zur Ehe mit ihm zu zwingen. Dieser Mensch ist ein solcher Heuchler und so beschränkt zugleich, daß er sich geberdet, als wisse er nichts von unserm Verhältniß, und als würde ich ihm glauben, daß er nichts wisse. Ah! es ist sehr bequem, taub zu sein; es ist ein Vorwand, um das nicht zu wissen, was man nicht wissen will. Hier steht es, Heinrich“ – und sie zog den Brief hervor und zerriß ihn – „ich reiße die Bande des Blutes durch wie diesen Brief, wenn ich auf Dich rechnen kann. Sind diese Bande von unzerstörbarem Stoff? Nein, denn der Tod löst sie, und ich werde todt sein für die Meinigen, so lange sie es so wollen. Vielleicht daß ich Reue empfinden werde, später, irgend einmal. Was kann mich das jetzt kümmern? Ich weiß keinen andern Ausweg aus dieser Drangsal. Ich vertraue Dir Leib und Seele an, Heinrich; willst Du mich retten, wie Du geschworen hast?“
Vornehm-prächtig stand das schöne Mädchen da, mit den stolzen Augen und dem entschlossenen Ausdruck um den feinen Mund, die Rechte, welche den Brief zusammengeballt hielt, wie beschwörend gehoben, daß der weiße Arm in der Dunkelheit der Baumgruppe leuchtete – und den Doctor faßte eine trunkene Empfindung von Glückseligkeit. Er nahm die ausgestreckte Hand und zog die Herbe, Trotzige widerstandslos an sich. „Frau Venus,“ stammelte er, „ich bin Dir verkauft und zerschlage alle meine Götzenbilder, Freiheit, Constitution, Republik – ich weiß selbst nicht einmal mehr, wie sie eigentlich heißen – ich will Dich allein anbeten.“
„Sprich nicht so vermessen, Heinrich!“ sagte sie ernst; „das kann Deines Herzens Meinung nicht sein. Du mußt weiter wirken für die heilige Sache des Volkes, und ich werde Dir kein Hinderniß sein, sondern ein Sporn, wenn Du müde bist; ich werde es sein, die Dir Kühlung fächelt, wenn Dir heiß wird von der Arbeit.“
„Aber Dein Bruder?“ fragte er etwas ernüchtert. „Außerhalb seiner Organisation ist hier die Arbeit ein Unding, und es steht dahin, ob er mich neben sich duldet, nachdem Du unter solchen Umständen mein Weib geworden.“
Sie wollte antworten, aber es geschah in diesem Augenblick etwas Unerwartetes. Hinter dem Amor, in den Rhododendronbüschen klang es wie ein leises Rauschen gestreifter Blätter, und plötzlich fluthete ein Regen von Rosen und Rosenblättern über die Beiden, daß der Doctor erschreckt ein paar Schritte zurück trat.
„Was ist das?“
„Das ist der Segen des großen Gottes Amor!“ entgegnete eine verstellte tiefe Mädchenstimme hinter dem Sockel. Ein kurzes, lustiges Lachen folgte, und Toni sprang wie ein Reh durch die Sträucher.
„Alle guten Geister loben Gott den Herrn,“ sagte sie ernsthaft. „Das ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich ein Tête à Tête überrasche. Guten Abend, Herr Doctor Urban!“
Die Beiden schüttelten sich die Rosen vom Kopfe und aus den Kleidern, und der Doctor verneigte sich lachend. „Ich denke, wir sträuben uns nicht mehr, liebe Milli, Fräulein Seyboldt dort einzugestehen, was sie weiß.“
„Sie werden doch jetzt nicht leugnen wollen, mein Herr?“ versetzte sie mit geheucheltem Erstaunen. „Aber was nun?“ fügte sie etwas beklommen hinzu, „gehen wir in das Haus hinein? Wenn ich recht vermuthe, so wollten Sie meinen Vater sprechen, und ich glaube, daß er zurückgekehrt sein wird. Kommen Sie! Ich bin die dame d'honneur und nehme Sie unter meine Flügel. Ich denke, jetzt sollen Sie mich endlich respectiren, Herr Doctor, und nicht mehr so en bagatelle behandeln. Ich weiß Ihr Geheimniß, und wehe Ihnen, wenn Sie mich reizen! Ich lasse es ausklingeln.“
In den Gastzimmern des Wiedenhofes befand sich, wie allabendlich, ein etwas gemischtes Publicum, das sich in den nicht sonderlich eleganten Räumen hin und her bewegte. Der größere Theil desselben gehörte den höheren Classen der Gesellschaft an – Kaufleute, zumeist aber Männer, deren Aeußeres sie einer Beschäftigung zuwies, welche wissenschaftliche Bildung voraussetzte, dazwischen ein paar derbe Figuren aus dem wohlhabenden Bürgerstande. Die zahlreichsten Gäste umfaßte ein weitläufiger Raum, den eine Reihe von Balkenpfeilern in zwei Hälften schied; jede derselben war von einem dürftigen Kronleuchter erhellt, von denen der eine über einem Billard hing, der andere über einer gedeckten Tafel. Weiterhin füllten Spieltische den Raum, an den zwei Talgkerzen kenntlich, welche auf denselben standen.
Es war übrigens ein seltsamer Zug von Einheit, der durch dieses Publicum ging. Einem feinen und aufmerksamen Beobachter konnte es nicht entgehen, daß der Verkehr dieser Männer etwas Freimaurerhaftes hatte. Aber es gehörte, wie gesagt, besondere Aufmerksamkeit und ein gewisser Grad von Menschenkenntnis dazu, um dies zu gewahren. Gleichwohl war der Wiedenhof keineswegs das Local einer geschlossenen Gesellschaft, sondern ein Hôtel; es saßen ein paar Fremde unter den Gästen, welche Handlungsreisende zu sein schienen und sich deutlich von den andern unterschieden.
Sie waren jedoch schwerlich zum ersten Male Besucher des Wiedenhofes. Einer von ihnen, welcher sich durch ein ziemlich blühendes Gesicht mit sorgfältig abgezirkeltem Backenbärtchen auszeichnete und im Begriffe stand, das Fleisch eines Huhns von den Knochen zu lösen, wurde plötzlich von einem bebrillten älteren Herrn derb auf die Schulter geschlagen, welcher Letztere sich im Gegensatze zu jenem eines ungehemmten Bartwuchses erfreute. „Wieder einmal da, Räderchen?“ sagte der mit der Brille lustig. „Was macht Paris?“
„Ah, Sie sind’s, Herr Stadtsecretär? Nun, es amüsirt sich. Was soll Paris weiter thun?“
„Räder,“ murmelte der Andere mit dumpfer Stimme, „Paris tanzt auf einem Vulcane. Haben Sie nichts gemerkt?“ Und dabei zwinkerten seine Augen so drollig, daß man seine Worte für die größte Schelmerei halten mußte.
„Ach, Unsinn!“ meinte der Reisende, steckte seine Serviette fest und wandte sich wieder dem Huhne zu. „Ich bin alle vierzehn Tage einmal dort, aber ich will Schmalz heißen, wenn – ja so, da sitzt ja Einer im rothen Kragen. Nun, ich versichere Sie, Herr Stadtsecretär, daß die Leute gerade so dort tanzen, singen, in die Oper und spazieren laufen und fahren, wie sonst auch. Ich habe noch bei keiner schönen Pariserin irgend ein Mordinstrument bemerkt, ausgenommen die Dolche, welche sie alle in den Augen haben. Ein Völkchen, Herr Stadtsecretär! – es geht nichts darüber. – Wollen Sie einen Schluck Marcobrunner mit mir trinken?“
„Berauben Sie sich nicht! Ich muß zu meiner Partie drüben –“
„Ah, Sie spielen Whist –“
Der Stadtsecretär entfernte sich und schlug im Vorübergehen noch Jemanden auf die Schulter. „Was machen Sie denn einmal hier im Wiedenhofe, Herr Zehren?“ redete er den überrascht zu ihm aufblickenden Fabrikanten in der nämlichen heiseren Lippensprache an, deren sich alle dem Tauben gegenüber bedienten, wobei er sich ein wenig zu diesen; niederbog. Zehren richtete einen fragenden Blick auf den Secretär:
„Ich suchte Karl Hornemann. Ist er noch nicht hier anwesend?“
„Noch nicht,“ meinte kopfschüttelnd der Stadtsecretär; „er kommt aber sicher hierher.“
[73] Zehren nickte ihm zu, und der Andere ging zum Whisttische. Der Fabrikant saß ganz mutterseelenallein; auch er war in diesem Kreise sichtlich noch ein Fremder. Er blickte ziemlich tiefsinnig in das Weinglas, dessen Fuß er mit Daumen und Zeigefinger umspannt hielt, und bemerkte nicht einmal, daß er von einer Seite her aufmerksam beobachtet wurde.
In einer Nische saß der Polizeicommissar Donner mit dem Wirthe und einem Manne in den vierziger Jahren, der sich durch eine röthliche Nasenspitze und eine wahre Löwenmähne auszeichnete, letztere gleichfalls röthlich, aber bereits ein wenig mit Grau gemischt. Der Wirth zeigte den gewöhnlichen Typus von Leuten seines Gewerbes bis auf die Augen, welche ungewöhnlich schlau und vorsichtig unter dichten Brauen hervorfunkelten. Sie unterhielten sich über Zehren, den der Commissar beständig im Auge hatte wie ein Kater die Maus.
„Mit wie viel Leuten arbeitet er eigentlich jetzt?“ fragte der Letztere, zu dem Löwenmähnigen gewendet. „Wissen Sie das vielleicht zufällig, Herr Bandmüller? Er gehört nicht in meinen Bezirk.“
„Ein halb Hundert beschäftigt er wohl,“ meinte dieser. „Wir haben von uns aus manchmal Zuzug herüber und hinüber, da Seyboldt und Compagnie auch in Watte arbeiten, freilich nur in Baumwollwatte, von den Abfällen. Zehren hat Wollwatte, und das ist die gute. Seit sein Onkel todt war, ging es dort eine Weile drunter und drüber, und ich habe damals an die zwanzig Arbeiter für uns gekapert. Jetzt hat der die Sache wieder gut im Gange. Haben Sie etwas mit ihm vor, Herr Donner, daß Sie mich seinetwegen ausfragen?“
„Also er ist heute wirklich erst zum zweiten Male hier, Vater Schoner?“ fragte dieser jetzt den Wirth, die letzte Frage des Fabrikleiters von Seyboldt und Compagnie überhörend.
„Ich kenne ihn kaum,“ meinte Herr Schoner trocken.
Der Commissar hatte bisher noch nicht von den Beiden erfahren können, was er wissen wollte. Er beschloß, direkter auf sein Ziel loszusteuern.
„Halten Sie ihn wirklich für einen solchen Schlaukopf, Herr Bandmüller, wie die Leute sagen? Sie müssen das doch sicher wissen. Was mich betrifft, so behaupte ich, daß er ein erzdummes Gesicht hat.“
„Verkaufen Sie sich nicht, Herr Donner!“ sagte Bandmüller mit hochaufgezogenen Augenbrauen. „Er ist ein verdammter Amerikaner, und da drüben lernt man Pfiffe und Kniffe, von denen Sie und ich nichts wissen.“
Der Wirth wurde gerufen und verließ den Platz, worauf der Commissar näher zu dem Fabrikleiter heranrückte. „Sie mögen Recht haben; diese Amerikaner sind gerade solche Racker, wie gewisse Franzosen, die sich hier herum sehen lassen. Haben Sie Indicien, Zeugnisse für Ihre Ansicht?“
Bandmüller zuckte die Achseln.
„Unter uns,“ fuhr der Commissar flüsternd fort; „glauben Sie wirklich, daß er taub ist?“
„Oho!“ lachte jener. „Sie können ihm eine Kanone vor den Ohren abschießen, und er blinzelt nicht, Herr Donner.“
„Nun, so sollen Sie sehen, daß ich doch noch schlauer bin, als ein Amerikaner,“ sagte Donner mit überlegenem Lächeln, indem er sich plötzlich erhob und möglichst leise und unbefangen an der Wand hinschob, bis er hinter dem Fabrikanten stand. Er ging dann langsam die paar Schritte bis hinter dessen Stuhl und bog sich mit dem Munde ganz dicht an das rechte Ohr Zehren’s. Hier sagte er leise, sodaß keiner der Nahesitzenden es zu verstehen vermochte: „Im Namen des Gesetzes: ich verhafte Sie.“
Franz Zehren kehrte sich mit einer jähen Wendung um und starrte etwas verblüfft in das triumphirende Gesicht des Beamten. Der warme Hauch von dessen Munde hatte ihm gesagt, daß ein Mensch dicht hinter ihm stehe, und nun erblickte er einen Polizeibeamten. „Was wünschen Sie, mein Herr?“ fragte er höflich, indem er aufstand und seine Tafel mit dem Stifte aus der Tasche zog.
„Incommodiren Sie sich nicht!“ fügte mit pfiffigem Lächeln der Commissar hinzu. „Ich wollte blos sehen, ob Sie wirklich so schwerhörig sind, wie die Welt glaubt.“
„Ich verstehe Sie nicht,“ meinte Zehren und hielt ihm die Tafel hin, ohne diese in’s Auge zu fassen. „Ich habe das Unglück, taub zu sein. Wollen Sie die Güte haben, mir auf diese Tafel zu schreiben, was Sie mir sagen möchten?“
Der Commissar blickte, betroffen über die Geistesgegenwart, wie er meinte, auf die Tafel und bemerkte, daß auf derselben einige Worte geschrieben standen. Er las im Fluge die Uriaswarnung, welche der Doctor Urban darauf geschrieben hatte und die Zehren zu löschen vergessen. Im nämlichen Augenblicke kam diesem auch die Erinnerung an die aufgeschriebenen Worte, als er die gierig lesenden Augen des Beamten sah, den er nicht kannte, in dem er aber mindestens einen Verräther zu fürchten hatte, und blitzschnell zog er das Täfelchen an sich. Seine Verlegenheit und die Eile, mit der er jene Worte verwischte, war zu augenscheinlich, als daß sie nicht hätten beitragen sollen, den Triumph Donner’s zu vervollständigen.
Der Commissar schlug die Arme übereinander und starrte ihn mit unverschämtem Lachen an. Dann legte er ihm die Hand auf die Schulter und wiederholte: „Hüten Sie sich vor dem Polizeicommissar Donner! Ein Freund.“ Er ging in die Nische zurück, während Zehren ihm mit feuerrothem Kopfe nachblickte.
„Sie scheinen sich verdammt gut mit ihm unterhalten zu haben, Herr Donner,“ empfing Bandmüller den Zurückkehrenden.
Der Commissar sah ihn mit überlegenem Mitleid an. „Amtsgeheimnisse, bester Herr Bandmüller,“ sagte er in geschäftsmäßigem Tone. „Wenn Sie morgen wieder hier sind, sollen Sie Näheres über den Vorfall hören.“
„Ich hoffe, Sie bekehren sich morgen noch zu dem Glauben, daß er taub ist wie eine Otter,“ lachte der Fabrikleiter und zeigte einen Mund voll wahrhaft gräulich langer Zähne zwischen seinem Urwald von Bart. „Daß Dir der Teufel die Haut in Riemen herunterschneide, verdammter Spion!“ knurrte er für sich, indem er dem abgehenden Donner einen bösen Blick nachwarf. „Ah, da ist ja der Pascha!“
Während der Commissar sich in den dunkelsten Hintergrund des Zimmers zurückzog, war Karl Hornemann, der „Pascha“, in das Zimmer getreten. Die Art, wie sein Eintritt bemerkt wurde, bewies, daß er in diesen Räumen eine Art Respectsperson war. Der Wirth zuerst, aber auch eine ziemliche Zahl der Uebrigen näherte sich ihm sofort, um einen Händedruck und einen Blick des Einverständnisses mit ihm zu tauschen. Er hatte für Alle das nämliche milde Lächeln und ein paar freundliche Worte. Karl Hornemann sah überhaupt aus, als ob er wohl lächeln, aber nicht eigentlich lachen könnte; es lag ein stiller Schleier über dem Wesen des seltsamen Mannes, wie der Sonnenduft des Mittags über einem Alpenthale, der zuweilen die Landschaft vor dem Auge des Bergsteigers verklärt.
Der Wirth zog ihn endlich ein Stück seitwärts mit sich und flüsterte ihm hier eifrig etwas zu, was Karl Hornemann veranlaßte, flüchtig aber aufmerksam einen Ecktisch in der Nähe der Billardqueues zu mustern. Dort saßen zwei Männer, welche beim Weine leise mit einander sprachen; der eine, ein Hüne von Gestalt, ein breiter Nordlandsrecke mit flachsfarbenem Lockenhaar, der sehr lebhaft gesticulirte, der andere, ein schmächtiger junger Mann, mit dem gebräunten Teint des Südländers und sorgfältig gepflegtem schwarzem Schnurrbärtchen, Beide sonach in diesem Kreise ziemlich auffällige Erscheinungen.
„Sie hätten sie auf keinen Fall in die Wirthsstube hereinlassen sollen, Vater Schoner. Wenn Donner sie sieht, den ich oben beim Fenster bemerkt habe, so ist der Geier los.“
„Der Große wollte durchaus herein, Karl; ich konnte ihn nicht oben halten.“
„Dieser Mann wird niemals klug werden; er ist eine ehrliche, treue Seele voll reinen Wollens und urwüchsiger Kraft, aber man läuft beständig Gefahr, von ihm compromittirt zu werden. Die Beiden müssen sofort auf ein Zimmer hinauf; ich darf sie hier nicht sprechen, auf keinen Fall.“
Im nämlichen Augenblick war Karl Hornemann von dem Hünen gesehen worden, der plötzlich aufsprang und seinen Gefährten beim Arme vom Stuhle zog. Der Pascha runzelte die Stirn und legte den Finger auf den Mund, indem er mit der andern Hand eine abwehrende Bewegung machte. Er flüsterte dem Wirthe noch über die Schulter zu: „Sagen Sie, ich käme sofort nach!“ und trat dann mit ein paar raschen Schritten in [74] den Nebenraum. Hier bemerkte er Zehren, welcher sich erhoben hatte. Er nickte ihm freundlich zu und ging um die Tafel zu dessen Stuhl hin.
„Hast Du den Doctor Urban nicht mitgebracht, Karl? fragte Zehren, der noch immer etwas verstört aussah. „Seid Ihr nicht die Zeit her zusammen gewesen?
„Er hatte dem Commerzienrath Seyboldt versprochen, heute Abend mit ihm der Union einen Besuch abzustatten; vielleicht daß er später nachkommt,“ bedeutete ihn jener in der gewohnten Lippensprache.
„Ich habe Unglück gehabt, wenn ich es so nennen soll. Du mußt es wissen; vielleicht erfahre ich durch Dich, was die ganze Sache zu bedeuten hat. Urban hat mir diesen Nachmittag eine Warnung vor dem Commissar Donner auf meine Tafel geschrieben und nun sage, wer ist dieser Polizeibeamte da?“ und damit winkte Zehren mit den Augen zu dem Commissar hinüber.
Karl Hornemann nickte fast unmerklich und flüsterte dessen Namen, indem er sein Gegenüber mit Spannung betrachtete.
„Nun,“ fuhr Zehren heftig fort, „vorhin redet mich derselbe Mensch plötzlich an; ich reiche ihm, wie ich bei Fremden gewöhnt bin, meine Tafel, und – er liest die Worte.“
Die Augen des Pascha schweiften unsicher durch den Raum vor ihm, und nur der heftige Druck, mit dem er Zehren's Arm ergriffen hatte, verrieth, daß ihn dessen Mittheilung beschäftigte. Endlich gab er demselben einen Wink, der verstanden wurde. Franz Zehren nahm wieder die Tafel unterm Rocke hervor, und Karl Hornemann schrieb mit wunderlich krausen, aber sehr deutlichen Schriftzügen darauf: „Wenn Dir etwas passirt, schicke sofort einen Boten an mich! Uebrigens mache Dir keine Sorge!" Er wartete, bis der Andere die Worte gelesen hatte, dann fuhr er mit dem Finger darüber, bis er die Ueberzeugung gewonnen, daß kein Buchstabe mehr lesbar sei. Eben verschwanden die beiden Fremden in der Thür, die der Wirth geräuschlos hinter ihnen schloß, während zugleich sein Auge Karl Hornemann suchte. Dieser lehnte zerstreut die Einladung Zehren's, sich zu setzen, ab.
„Warum hast Du mich eigentlich wieder in dieses merkwürdige Gemisch von Leuten geführt, unter denen ich Verschiedenen durchaus nicht zu begegnen Lust habe? Da hinten sehe ich z. B. einen von den Leuten des Commerzienrathes, der mir in innerster Seele fatal ist. Er macht auf mich durchaus den Eindruck der Rohheit und Heimtücke. Ich verkehre, offen gestanden, viel lieber in der Union, und ich kann mir Deine Anwesenheit hier nur aus nachbarlichen Gründen erklären.
Karl Hornemann sah ihn mit seinen ruhigen, stillen Augen an und schob sein Käppchen etwas weiter die hohe Stirn hinauf. „Es thut mir leid,“ schrieb er auf die Tafel des Tauben, „daß ich mich Dir im Augenblicke nicht so widmen kann, wie ich wollte. Es sind hier Fremde, mit denen ich dringend zu reden habe. Ich werde Dir aber Gesellschaft holen; einen Augenblick Entschuldigung!“ – und er ging an einen Tisch, an dem Whist gespielt wurde, und sprach zu einem kleinen, grauköpfigen Herrn mit echtem Geheimrathsgesichte wenige Worte, welche diesen veranlaßten, die Karten bei Seite zu legen und ihm zu folgen. Karl Hornemann nahm abermals Stift und Tafel und schrieb auf die letztere: „Abraham Swering, unser neuer amerikanischer Consul –“
Zehren verneigte sich tief, und der Pascha schritt, die beiden Männer sich selbst überlassend, an dem Wirthe vorbei. „Im Jenny-Lind-Zimmer,“ flüsterte der, worauf jener hinaus ging und treppaufwärts stieg.
Das Jenny-Lind-Zimmer hatte seinen Namen zum Andenken daran erhalten, daß die schwedische Nachtigall es bei einem Besuche der Stadt bewohnt hatte; es war selbstverständlich das Prunkzimmer des Wiedenhofs. Es hatte eine Fülle von soliden alten Möbeln aufzuweisen, worunter sich die Sitzmöbel durch auffallend hohe Polsterung und helle, großblumige Kattunüberzüge auszeichneten; in einem ähnlichen Muster waren auch die Tapeten gehalten; die Dielen waren mit dicken Teppichen belegt. Weiße, breite, auf dem Boden schleppende Gardinen vervollständigten den altväterisch-pompösen Eindruck dieser Räumlichkeit.
Als Karl Hornemann eintrat, waren sämmtliche Gardinen zurückgeschlagen und die Fenster geöffnet. Auf dem Tische brannten ein Paar gewaltiger silberner Armleuchter. Der Hüne lag der Länge nach auf dem Sopha, und seine hohen, nicht sehr saubern Ungarstiefeln verriethen wenig Pietät vor der großen Erinnerung, der dieses Zimmer geweiht war, denn sie bohrten sich rücksichtslos in die eine Sophalehne. Der kleinere, dunkelfarbige Begleiter schien auf einem Spaziergange durch die Stube begriffen zu sein, wobei er die Hände auf dem Rücken zusammengelegt hielt.
„Hurrah!“ schrie der auf dem Sopha, indem er aus seiner Lage aufsprang und Karl Hornemann um den Hals fiel, denselben herzhaft abküssend. „Alter Junge, was machst Du für eine verdammte Geheimthuerei, wenn unsereiner einmal hier in Euer Krämernest einfällt! Ich denke, Ihr habt hier das gelobte Land, weil Euch die Tyrannenknechte selber die Stange halten? He? oder sind unsere Nachrichten falsch?“
„Mensch, schrei' uns doch nicht die Brandspritzen vor die Thür!“ sagte der also Bewillkommnete lächelnd und warf dabei einen fragenden Blick auf den Dunkelfarbigen, den der mit Harro Angeredete indeß nicht sofort zu bemerken schien. „Wo hausest Du denn jetzt auf der Gotteswelt? Ich suchte Dich noch in Amerika.“
Der Hütte hob beide Arme auf und declamirte mit Begeisterung:
„Wenn Tyrannen fragen:
Wo ist Absalon?
Magst Du ihnen sagen,
Daß er hänge schon.
Aber nicht am Baume,
Noch an einem Strick,
Sondern an dem Traume
Einer Republik.“
Karl Hornemann lächelte wieder und sagte mit einer Handbewegung auf den Fremden zu: „Ich denke, die Herren werden gewöhnlich doch noch ein weniger luftiges Plätzchen bewohnen.“
„Ja so, ich habe Dir hier Herrn Pseudonymus Schneider mitgebracht, Geheimsecretär des großen Unbekannten in London; spricht Deutsch und ist für die Tyrannen aus Hinterpommern gebürtig, für uns hingegen aus Mailand. Karl Hornemann, Pascha und Volkstribun zugleich, ein Meerwunder.“
Der Italiener machte seine ceremoniöse Verbeugung, und seine scharfen schwarzen Augen glitten dabei prüfend über die neue Bekanntschaft hin, als wollten sie das Bild Karl Hornemann's fest in's Gedächtniß prägen. „Ich hatte bereits zweimal die Ehre, Ihnen zu schreiben,“ sagte er mit nur wenig fremdklingendem Accent.
„Kommen Sie direct von Mazzini, mein Herr – Schneider?“ fragte Karl Hornemann.
„Auf Umwegen,“ lautete die mit verbindlichem Tone gegebene Antwort, welche der Hüne in seiner derben, polternden Weise ergänzte:
„Wir haben die Pariser Clubs unsicher gemacht. Die Kerle sind feige. Mit der Zunge schlagen sie dem Satan ein Bein ab, aber wenn man sie fragt, wann die Bombe eigentlich in's Platzen kommen soll, dann ist es immer noch nicht Zeit. Die Rothen sind die Einzigen, auf die ich noch etwas gebe; wenn sie nur bessere Führer hätten. Der Louis Blanc ist ein Mordkerl, aber er fischt auch am liebsten erst, wenn Andere den Teich abgelassen haben. Diese Andern aber wollen bessern, flicken und noch einmal flicken. Sie glauben ein gutes Werk zu thun, wenn sie alle Schandthaten an's Licht ziehen, welche unter den Fittichen der Tyrannei ausgebrütet wurden, aber die große Schlafmütze des Orleanismus deckt sie wieder zu, und es bleibt doch alles beim Alten. Und diese furchtbaren Reformbankets, hahaha! – der Riese lachte, daß das Zimmer scholl – „als ob man Revolution machte, wenn man gut ißt und trinkt!“
„Und Lamartine? fragte aufmerksam Karl Hornemann.
„Geh mir mit Lamartine!“ war die wegwerfende Entgegnung. „Er hat kein Rückenmark, nicht für drei Schillinge. Ich sage Dir, Karl, er und seine Art, die rühren alles, was gesammelt einen Schlag wirken müßte, zu einem großen Brei auseinander, und der Spiritus fliegt heraus. Der Bourgeois sitzt ihnen allen in den Gliedern, und eine Philisterrepublik, wie jene sie zu Stande bringen würden, ist nicht werth, daß man sie an den Galgen hängt.“
„Du weißt, denke ich, daß ich nicht auf alle Fälle Republikaner bin, Harro. Wenn ich einen constitutionellen König haben kann, so ist er mir lieber, als der Tummelplatz für die Machtgelüste von Tausenden, den man Republik nennt.“
Der Italiener hatte bisher zugehört, ohne eine Miene zu [75] verziehen. Jetzt sagte er einfach: „Sie werden zu dieser Republik greifen müssen.“
„Warum meinen Sie das?“
Der Geheimsecretär Mazzini’s blickte einen Moment zu Boden. „Glauben Sie, daß wir in London sichere und prompte Rapporte von den Höfen der continentalen Großmächte haben?“ fragte er dann.
„Ich habe mich immer zu dem Glauben geneigt, daß nicht viel Cabinete durch ihre Gesandten so gut informirt sind, wie Mazzini durch seine Leute.“
„Nun, dann nehmen Sie die Versicherung, daß Ihr König den Volkswünschen nicht nachgeben wird, und daß Sie darauf werden verzichten müssen, einen constitutionellen König zu haben.“
Die Einfachheit und Bestimmtheit, mit der diese Worte gesprochen wurden, blieb auf Karl Hornemann nicht ohne Wirkung. Er sah betroffen auf den Italiener, gewann aber sofort seine ruhige Haltung wieder. „Sie mögen im Rechte sein,“ meinte er. „Viel Hoffnung haben wir nicht. Allein der König hat bisher nur den Volkswillen, aber noch nicht die Macht des Volksdruckes erfahren. Wir werden abwarten, ob wir an diesen werden appelliren müssen, und wir werden dann erst wissen, welche Regierungsform die unsrige sein wird.“
Der Italiener lächelte überlegen. „Vor vierundzwanzig Stunden ungefähr hatte der König eine Unterredung mit dem österreichischen Gesandten, in welcher er ihm die formelle Versicherung, für Metternich bestimmt, abgab, daß er völlig auf seine Truppen zähle und zählen könne und daß er nie dem Volke gestatten würde, der Krone etwas abzutrotzen, was auf die principielle Stellung derselben im Staate verändernd einwirken würde. Sie sehen, daß Sie die Republik haben werden, Herr Hornemann.“
„Nous verrons,“ sagte Karl Hornemann trocken und zuckte die Achseln. „Könige sind nicht unverbesserlich.“
Der Hüne ließ sich in das Sopha fallen, daß es in allen Federn ächzte, und hing die Beine über eine Stuhllehne. „Könige und immer Könige!“ brummte er ärgerlich. „Wie ein Mensch vom Wiener Congreß bis heute gelebt haben und noch von Königen reden kann, das begreife, wer will!“ Dann lachte er für sich.
„Und als ich über die Alpen kam,
Da hörte ich Deutschland schnarchen;
Es lag und schlief in guter Hut
Von sechsunddreißig Monarchen.“
„Das gäbe rund sechsunddreißig Constitutionen und eine große Reichsconstitution dazu. Geh zum Teufel mit Deinem Glauben an Constitutionen!“
„Ich möchte Ihnen einen Hauptgrund nicht vorenthalten, warum wir die Republik wünschen müssen,“ fuhr der Italiener fort, und seine Sprache wurde wärmer. „Es wäre das die einzige Garantie dafür, daß Nationen, welche die Kraft nicht in genügendem Maße zu finden vermögen, um ihre Ketten abzuschütteln, dennoch Erlösung von ihrer Schmach zu finden hoffen dürfen. Eine Nation, die einen König hat, wird nie zur Entthronung von Königen beitragen. Wer ein Herz hat, das für alle seine Menschenbrüder schlägt, wem die Faust zuckt, wenn er den Nachbar gemißhandelt sieht, getreten und geknebelt, der, mein Herr, kann den Constitutionalismus nicht für das halten, was die Zeit braucht. Die Republik ist die Barmherzigkeit, die Liebe, die Humanität; der Constitutionalismus ist die Beschränktheit, die Selbstsucht.“
Karl Hornemann schüttelte leise den Kopf. „Das wäre zu beweisen,“ sagte er, und mit einem feinen Lächeln fügte er hinzu: „Vergessen Sie nicht, mein Herr, daß Ihr Asyl England heißt!“
„Wir sind nicht undankbar,“ erwiderte der Geheimsecretär gewandt ausweichend, „aber wir rechnen mit der Thatsache, daß es England war, welches Amerika zwang, die Aera der Revolutionen zu begründen.“
„Possen!“ schrie Harro, indem er dem Stuhl einen Tritt verabreichte, daß er in das Zimmer hineinflog. „Fangt nicht mit Spitzfindigkeiten an, Kinder! Die Zeit der Länder ist vorbei, und die Zeit der Völker beginnt. Wo es nur Länder giebt, da sind Könige nöthig, meinethalben mit Knute und Kantschu oder Constitutionen, Völker aber, Karl, Völker haben eine einzige passende Regierungsform: die Republik. Laßt den Spectakel nur erst losgehen, und dann seht, wo Eure Constitution bleibt! Die Republik kommt von selber.“
„Ich glaube nicht, daß Sie viele Gesinnungsgenossen unter den deutschen Patrioten haben,“ sagte jetzt der Italiener wieder, indem seine Stimme einen melancholischen Klang annahm, „und ich hoffe, daß die Ereignisse Ihre Ansichten umgestalten. Die meisten Ihrer Landsleute, welche ich persönlich zu kennen die Ehre habe, sind begeisterte Republikaner. Und wir, mein Herr, werden alles thun, um eine französische, eine deutsche Republik mit Einschluß des deutschen Oesterreichs zu erzielen; wir müssen es, denn wir wollen ein freies Italien. Wissen Sie, mein Herr, was Sbirren und Pfaffen sind? Kennen Sie die Tiefe, bis zu der eine Nation durch sie hinabgezerrt werden kann? Haben Sie einen Begriff davon, was römische und neapolitanische Folterkammern sind?“
In diesem Augenblicke klopfte es an die Thür, und der Italiener entfärbte sich ein wenig, während Karl Hornemann die Thür öffnete. Es war der Wirth, der eintrat. „Was giebt’s, Vater Schoner?“ fragte der Pascha.
Statt aller Antwort überreichte ihm der Wirth mit verständlichem Augenblinzeln einen Brief, dessen Siegel Hornemann sofort erbrach. Er überlas wenige Zeilen und sagte dann mit einem Gemisch von Bitterkeit und Verachtung auf seinem sonst so leidenschaftslosen Gesicht: „Sie müssen fort, meine Herren. Ich habe von vertraulicher Seite die Nachricht in den Händen, daß soeben der Polizei Ihr hiesiger Aufenthalt signalisirt worden ist. Unsere Unterredung ist zu Ende.“
Der Papst und der Peterspfennig. Vielleicht ist unsern Lesern der Name Pierre des Pilliers nicht unbekannt. Dieser thatkräftige Schriftsteller giebt gegenwärtig in Brüssel die Zeitung „l'Ère chrétienne“ heraus. Zwei seiner Werke „La Cour de Rome“ und die „Bénédictins de la Congrégation de France“, welche in der dritten Auflage erschienen, sind von der freisinnigen französischen Presse auf das Rühmendste hervorgehoben worden. Pierre des Pilliers war Prior der Abtei Acey im Jura, die er mit einem Theile seines Vermögens selbst gründete. Nach langen, furchtbaren Kämpfen mit der ultramontanen französischen Kirche schied er, seinem Gewissen folgend, aus dieser Kirche aus, blieb jedoch Katholik. Seine einzige Aufgabe war seitdem, durch Wort und Schrift den Kampf gegen das ultramontane Rom fortzusetzen. Aus Frankreich wurde er unter der traurigen Herrschaft der „Ordre moral“ verbannt, weil er im „Journal de la Gironde“ mannhaft den Bischof von Montauban brandmarkte, der in Lourdes vor Tausenden von Zuhörern predigte: „Die Protestanten in Frankreich, speciell die Elsässer, haben das protestantische Preußen gegen Frankreich gehetzt.“ Ein feiler Gerichtshof verurtheilte den tapferen Pierre des Pilliers dieses muthvollen Artikels wegen zu fünf Jahren Verbannung oder vierzehn Monaten Gefängniß. Er zog die Verbannung vor und lebt, wie gesagt, gegenwärtig in Brüssel, wo er den Kampf durch die „l'Ère chrétienne“ und seine Schriften fortsetzt. Ueber den Papst und den Peterspfennig schreibt uns nun Pierre des Pilliers Folgendes:
Gewiß hat schon Mancher sich mit Staunen gefragt, was wohl der Papst mit den zehn Millionen Mark und darüber, die der Peterspfennig ihm jährlich einträgt, anfangen mag. Wozu braucht der Nachfolger des schlichten Fischers, der an den Ufern des galiläischen Meeres selbst seine Netze ausbesserte, das viele Geld? Wen dies in Staunen setzt, dessen Fuß hat wohl noch nie die Siebenhügelstadt betreten, oder beim flüchtigen Besuch der alten Tiber-Metropole ist ihm nicht, wie mir, das Glück zu Theil geworden, den Nachfolger Petri mit seinem Gefolge von Bischöfen und Cardinälen in pompösem Aufzuge vorüberziehen zu sehen. Ohne jede Uebertreibung oder Entstellung, einfach, wie die Wahrheit selbst, will ich erzählen, was ich in Rom mit eigenen Augen gesehen habe.
Im Jahre 186… war ich in Angelegenheiten des Benedictinerordens von Solèsmes, ich selbst ein Priester dieses Ordens, nach Rom gezogen. Wie das so Sitte ist in der römischen Kirche, las ich die Messe in der Kirche St. M. Ich hatte geendet; der Weihrauch hing noch wie ein bläulicher Nebel in der schwülen Atmosphäre und schmiegte sich, aufwärts steigend, in feinen duftenden Ringen um die steinernen Behälter und Blüthen der herrlichen Säulenknäufe, die einst den Tempel der Venus geziert; ich war eben im Begriff, die Kirche zu verlassen; da trat ein Abbé mit den Worten an mich heran:
„Révérend Père, haben Sie während Ihres Aufenthaltes in Rom den heiligen Vater schon ausfahren sehen?“
„Diese Ehre ist mir noch nicht zu Theil geworden. Seit Kurzem [76] erst hier, brachte ich die meiste Zeit im Kloster Santa C. mit Schreiben zu und habe daher noch wenig von Rom gesehen.“
„Nun dann benutzen Sie die Gelegenheit! Pio Nono kommt mit den Eminenzen gleich vorüber, keine drei Schritte von hier. Wir haben diesen Morgen den Befehl erhalten, bei seinem Vorüberfahren hier zu stehen und seinen Segen zu empfangen.“
„Mit Vergnügen will ich einer der Ihrigen sein,“ war meine Antwort.
Kaum standen die sieben Priester und ich in Reih' und Glied vor dem Portale der Kirche, als schon ein Vorreiter Seiner Heiligkeit die Straße herauf kam. Alles an ihm war überaus reich; er ritt ein herrliches Thier, das, indem es dahintänzelte, sich der Wichtigkeit seiner Mission, als Vorläufer des heiligen Vaters zu dienen, bewußt zu sein schien. Einen Moment später – und die sieben „Abbés“ lagen auf den Knieen. Ich folgte instinctmäßig ihrem Beispiele. Auf circa dreißig Schritte Entfernung rollte die „Equipage“ des Papstes, die soeben um eine Straßenecke gebogen, auf uns zu. Acht wunderschöne Schimmel zogen die über und über in Gold strahlende, mit blitzenden Spiegelfenstern versehene Carosse des „Nachfolgers Petri“.
Die Pracht des achtspännigen Wagens erinnerte mich lebhaft an jenen Tag in Paris, wo Napoleon der Dritte, der Held von Boulogne, von Straßburg und Sedan, achtspännig über die „Place Notre Dame“ fuhr, an jenen Tag, wo der Stellvertreter unseres Pius des Neunten, der Cardinal Patrizzi, den Erben Frankreichs in Gegenwart der Würdenträger des Reiches und des Auslandes taufte. Das päpstliche Gespann übertraf jedoch an Pracht weit das des französischen Kaisers. Diese acht Pferde, die schönsten in Italien, wie man mir versicherte, heißen in der Sprache des Vaticans „Cavalli Pontificii“. Seine Heiligkeit segnet sie selbst mit einem ganz speciellen Segen. Wo bei anderm Pferdegeschirr Eisen oder Stahl, war nichts als Gold bei diesen päpstlichen Pferden zu sehen. Gold glänzte am Zaum, flimmerte unterm weißen Schaum am Gebiß, strahlte an der Brust, schimmerte an der flatternden Mähne, leuchtete auf am Bauche, glitzerte an den Seiten, blitzte auf dem Rücken – Gold und überall Gold. Vier Postillone, gleichfalls in goldstrotzenden Livreen, leiteten das Gespann. Es war für Einen, der an solchen Dingen Gefallen findet, wirklich eine Augenweide, diesen goldenen Triumphwagen fast geräuschlos vorüberfahren zu sehen.
Wie mir in Rom gesagt wurde, hat dieses Fuhrwerk allein die Kleinigkeit von einer halben Million gekostet. Was Kunst und Geld aus einem Wagen machen können, das war der Wagen des Pio Nono. Das Innere, das ich nur flüchtig erblickte, war mit den herrlichsten Seidenstoffen gefüttert. Drei mit goldenen Tressen förmlich überladene Lakaien saßen vorn und fünf andere hinten auf. Inmitten all dieser märchenhaften Pracht saß, wie ein Prinz aus „Tausend und eine Nacht“, wie ein wiedererstandener Darius oder römischer Imperator, in weißen Kleidern, mit weißer „Calotte“ auf dem Haupte – der Nachfolger des Fischers am See Tiberias.. Zu seiner Linken bemerkte ich einen Cardinal – Antonelli, wie der Abbé mir zuflüsterte. –
Ein unaussprechliches Lächeln schwebte auf den Lippen des heiligen Vaters, wie er so, in die seidenen Polster zurückgelehnt, durch das auf den Knieen liegende Volk und der Porta Pia della Via del Quirinale zurollte. Damals schien mir's ein väterliches Lächeln zu sein, heute freilich hat es für mich eine ganz andere Bedeutung. Das Lächeln eines Bauern, der seine prächtigen Schafe musterte, hat mich jüngst daran erinnert. Der Mann lächelte so für sich hin, halb selig, halb habgierig – und ich dachte an Pio Nono und sein unaussprechliches Lächeln und an jenen Tag in Rom.
Einige Schritte hinter dem päpstlichen Wagen fuhren die Eminenzen in ihren Kutschen. Jede wurde nur von vier silbergeschirrten Rappen gezogen. Statt vier nur zwei goldbetreßte Postillone, und auf den Wagen vorn nur zwei und hinten drei Bediente. Wie bescheiden doch die Eminenzen sind! Bei dem Vorüberfahren so vieler Wagen vernahm man sonderbarer Weise fast kein Geräusch. Das kam daher, weil für diese Morgenspazierfahrt die Straße dicht mit feinem Sande bestreut wurde, auf eine Breite von drei Meter und eine Länge von acht Kilometer, vom Vatican an bis drei Kilometer über die Porta Pia della Via del Quirinale hinaus, und das alles, damit seine Heiligkeit nebst den büßenden Eminenzen, sanft in den seidenen Kissen gewiegt und ohne ihre Füße oder vielmehr die Räder ihrer Wagen an einen Stein zu stoßen, ihre Morgenpromenade halten könnten. Man berechne nun, wie viel vierundzwanzigtausend Quadratmeter Sand zu streuen kostet, wie viel Arbeiter und Fuhrwerke dazu erforderlich sind – und das alles für eine kleine Morgenpromenade – und man wird sich nicht mehr fragen, wo der Peterspfennig hinkommt.
Als der letzte Wagen hinter einer Staubwolke verschwunden war, da sagte mir der „Abbé“: „Sehen Sie, Révérend Père, das ist der Stellvertreter dessen, der nicht hatte, wohin er sein Haupt legen sollte.“ Ich schaute betroffen den Priester an und bebte zurück vor der Wuth, die sein sonst schönes Gesicht entstellte.
„Wie können Sie von ihm sich segnen lassen,“ fragte ich scheu, „wenn Sie solche Gedanken im Herzen haben?“
„Sie sind Ausländer und kennen die Verhältnisse hier noch nicht; Sie haben deshalb keine Ahnung von Allem, was hier vorgeht. Bemerkten Sie die päpstlichen Lakaien? Es sind deren hundertsiebenundachtzig.“
„Es fiel mir in der That auf, daß sie musternd und etwas frech um sich schauten.“
„Das sind die Spione des Vaticans. Wenn sie statt sieben nur sechs von uns Priestern hier hätten knieen sehen, so wäre morgen schon ein Bote des Papstes hierher gekommen, um sich nach der Abwesenheit des siebenten zu erkundigen. Wehe ihm, wenn nicht Krankheit ihn zurückgehalten, oder er nicht an das Bett eines Sterbenden gerufen worden wäre! Absetzung und Pönitenz in irgend einem Kloster wäre sein gewisses Loos gewesen. Ich könnte Ihnen Beispiele erzählen. Glauben Sie mir, nur die bitterste Noth beugt unsere Kniee vor unserm Despoten!“
Ich wußte schon Manches von Solèsmes her, was man sich im Kloster vertrauensvoll zuflüsterte, ich glaubte aber nicht, daß es in Italien beim untern Klerus bereits so weit gekommen wäre.
Gegen 1870, als König Victor Emanuel die hundertneununddreißigtausend päpstlichen Wahlmänner aufforderte, zwischen ihm und Pius dem Neunten als König von Rom zu wählen, befanden sich dreißigtausend Priester und Mönche in den päpstlichen Staaten; zehntausend davon kamen allein auf Rom, und alle waren Wahlmänner. Wie viel Stimmen erhielt Pius der Neunte? Tausendfünfhundert und Victor Emanuel hundertdreiunddreißigtausendneunhundert. Fünfzehnhundert Stimmen auf dreißigtausend Priester: das ist ein Zwanzigstel, und darunter waren die tausendsiebenundneunzig goldbetreßten, kurze Hosen und seidene Strümpfe tragenden Bedienten des Vaticans. Sie wußten wohl, warum sie für Pius den Neunten stimmten; ein gut Theil des Peterspfennigs floß ja in die langen Taschen ihrer kurzen Hosen. Bei dem Resultate dieser Wahl werden sie wohl schwerlich so befriedigt gelächelt haben, wie an dem erwähnten Tage Pio Nono in seiner goldenen Kutsche oder jener Bauer an seiner Stallthür, der Eine über seine Lämmer, der Andere über seine Schafe.
Eine Ausstellung von Fälschungen tierischer und pflanzlicher Nahrungsmittel. In den ersten drei Tagen des kommenden Februars wird in Berlin eine Kochkunstausstellung stattfinden, die vom deutschen Gastwirthverbande veranstaltet worden ist. Nach dem Programm wird die Tendenz der Ausstellung vorzugsweise die sein: „ein Bild über den gegenwärtigen Stand der Kochkunst überhaupt und besonders der deutschen Küche und Conditorei darzubieten.“ Ferner soll ein Ueberblick geboten werden über die chemischen, diätetischen und sanitätlichen Hülfsmtttel einer vernunftgemäßen Volksernährung, sowie über die Behandlung dieser Materien in der wissenschaftlichen und populären Literatur. Schließlich werden auch die Fortschritte der Technik derjenigen Industriezweige Berücksichtigung finden, die in naher Beziehung zur Kochkunst, zur Küche und zur Gastwirthschaft stehen.
Die Ausstellung von Surrogaten der Nahrungsmittel und von Hülfsmitteln der Kochkunst ist nur unter der Bedingung gestattet, daß es solche sind, welche unter ihrem wahren Namen in den Handel gebracht werden.
Mit der im Vorstehenden erwähnten Ausstellung, die vorzüglich culinarischen Zwecken dient, und der auch im Hinblick auf das angestrebte Ziel einer rationellen Volksernährung eine große Bedeutung beizulegen ist, wird eine andere verbunden, die ebenfalls ein besonderes und allgemeines Interesse in Anspruch nehmen dürfte. Dr. Bernhard Heßlein, der Dirigent der diätetisch-sanitärischen Abtheilung, theilte mir mit, daß der Minister Dr. Friedenthal die Direction des landwirthschaftlichen Museums ermächtigt habe, sich an der Ausstellung mit Präparaten und Darstellungen von Krankheiten und Fälschungen thierischer und pflanzlicher Nahrungsstoffe zu betheiligen.
Ich halte diesen Schritt für sehr verdienstlich und bedeutungsvoll und möchte im Interesse des Gemeinwohls wünschen, daß vorzugsweise die Schaustellung gefälschter Nahrungsmittel in der umfassendsten und eingehendsten Weise veranstaltet würde. Hierdurch könnte dem Publicum ein Bild dargeboten werden, das freilich nicht so angenehm berühren und keinen so erfreulichen Anblick wie die Ausstellung von Kochkunstgegenständen gewähren würde, aber ein derartiger Einblick in das verwerfliche Treiben jener Gattung von Menschen, die es sich zur Aufgabe macht, die unentbehrlichsten Nahrungsmittel aus schnöder Gewinnsucht in der schamlosesten Weise zu fälschen, würde eine wünschenswerthe, ja man kann sagen eine nothwendige Aufklärung und Belehrung auf diesem Gebiete verbreiten.
Ich will nur an die Mehlfälschungsprocesse erinnern, die sich laut Zeitungsberichten vor gar nicht langer Zeit in Cleve und in letzter Zeit in Wiesbaden vor den Schranken des Gerichts abgespielt haben. In Cleve wurde der eine Chef der Firma Bauder und Compagnie aus St. Tönis, Namens Scherer, überführt, Mehl mit Gyps und ähnlichen Stoffen verfälscht zu haben, und in Wiesbaden verurtheilte man den Mühlenbesitzer D. aus Weißkirchen wegen Vermischung seines Mehls mit Schwerspath. In beiden Fällen ereilte die Schuldigen eine bedeutende und wohlverdiente Geldstrafe.
Wir sehen hieraus, wie nothwendig es ist, mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln darnach zu streben, das Publicum über alle Arten von Nahrungsverfälschungen aufzuklären.
Es ist ein umfangreiches Gebiet und das Feld der Thätigkeit ein schwieriges und großes, das nur durch die vereinten Kräfte sämmtlicher deutscher Sachverständiger und durch eine thatkräftige Unterstützung derselben von Seiten der Behörden in nutzbringender und erschöpfender Weise bearbeitet werden kann.
Der Geheimmittel-Schwindel ist endlich der Beachtung des Bundesrathes durch eine Eingabe des deutschen Apothekervereins empfohlen worden. Die Anträge des letztern stellen fast dieselben Punkte auf, über die wir in Nr. 48 der „Gartenlaube“ vom vorigen Jahre berichtet haben, daß sie im Schweizer-Canton Luzern gesetzlich bestehen. Ein gutes Gesetz und kräftige Ausführung desselben könnten auf diesem Gebiete sehr vielem Betruge und mancher Thorheit ein Ende machen.
Zur Nachricht. Gegenüber den mehrfachen Anfragen wegen verspätet eingegangener Nummern unseres Blattes die Mittheilung, daß sowohl durch die gehäuften Arbeiten des Jahreswechsels, wie durch einen unvorhergesehenen Unfall in unserer Druckerei die Ausgabe der letzten Nummern der „Gartenlaube“ leider etwas verzögert wurde. Von nun ab wird indessen die Expedition voraussichtlich wieder ihren gewohnten regelmäßigen Gang gehen.