Die Gartenlaube (1877)/Heft 5
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No. 5. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Wissen Sie auch, Frau Helene, daß der heutige Abend mich wunderbar an den erinnert, den wir vor zehn Jahren zum letzten Mal zusammen verlebten?“ fragte Gerhardt, als er neben ihr langsam den Weg hinabschritt. „Es war damals auch eine so milde schöne Nacht, wie die heutige. Sie sollten am nächsten Morgen abreisen, um zu Ihren Eltern in die ferne, große Residenz zurückzukehren, und ich war von E., wo ich als jüngster Referendar auf dem Kreisgerichte arbeitete, herausgekommen auf das Landgut Ihrer Tante, um Abschied von Ihnen zu nehmen. Aber das Glück war mir nicht günstig – ich fand das Haus voll von Gästen. Vettern und Basen waren von Nah und Fern gekommen. Sie waren so umringt, Frau Helene, daß ich, als die Stunde der Heimkehr geschlagen hatte, mich mit einer Verbeugung und einigen leisen Worten beim Abschied begnügen mußte. Und doch hätte ich meine Seligkeit darum geben mögen, wenn ich nur zehn Minuten mit Ihnen hätte sprechen können. – Ich glaube, nie vorher und kaum jemals nachher bin ich wieder so unglücklich gewesen, wie in jener Nacht, als ich langsam heimritt durch die blühenden Felder.“
Sie hatte ihm schweigend zugehört. Auch in ihr war die Erinnerung an jenen Abend und an das herbe Weh des Abschieds wieder wach geworden. Sie entsann sich, wie mühsam sie damals ihre Thränen zurückgehalten, wie schwer sie hatte kämpfen müssen, um die ihr schon früh zur Pflicht gemachte Selbstbeherrschung aufrecht zu erhalten. Dann, zurückgekehrt in ihr stattliches, reiches Elternhaus, hatte sie gewartet, still und geduldig. Sie hatte es nicht fassen können, daß Alles vorbei sein – daß sie sich getrennt haben sollten für immer. Aber ein Tag nach dem andern war verflossen; sie waren zu Wochen und Monaten geworden, und keine Kunde war zu ihr gelangt. Ihre Gesundheit hatte zu wanken angefangen – sie entsann sich, wie sie sich darüber gefreut, wie sie gehofft hatte, es werde bald Alles vorüber sein. Ihre Eltern, deren einziges Kind sie war, liebten sie zärtlich und versäumten nichts, was sie retten konnte. Der Arzt hatte Luftveränderung und Zerstreuung angerathen, und unverweilt wurden Reisevorbereitungen getroffen. In der Schweiz hielt man sich längere Zeit auf. Hier, in einer Pension unweit Flüelen, am Vierwaldstätter See war es, wo Helene ihren Gatten kennen lernte. Er war ein stattlicher, ernster Mann in der Vollkraft des Lebens. Seit einiger Zeit Wittwer, zog er sich von allen rauschenden Vergnügungen zurück, schloß sich aber mit großer Herzlichkeit an Helenens Eltern an. Die schöne sanfte Tochter hatte gleich anfangs einen mächtigen Eindruck auf den reifen, hochgebildeten Mann gemacht, der noch gesteigert wurde durch die leidenschaftliche Liebe, welche sein zehnjähriges Töchterchen für Helene faßte. Da er sich schon früh als tapferer Officier ausgezeichnet hatte und schnell avancirt war, so konnte seine Lebensstellung auch die anspruchsvollsten Eltern befriedigen. Helene hatte unterdessen ihren Stolz zum Bundesgenossen aufgerufen; ihr siebenzehnjähriges Köpfchen hatte einen hohen Begriff von der Würde ihres Geschlechts, und sie sagte sich, daß es ihrer unwürdig sei, sich mit Schmerzen nach Jemand zu sehnen, der sich nichts aus ihr mache. Zudem war sie daran gewöhnt, die Wünsche ihrer Eltern als Befehle zu betrachten – sie widerstand ihnen auch jetzt nicht. Sie war noch nicht achtzehnjährig, als sie Herrn von Malwitz ihre Hand reichte und ihm in seine Garnison folgte. Alle diese Erinnerungen waren mit der Plötzlichkeit eines Blitzes wieder vor ihre Seele getreten. Alle Gefühle, von welchen sie damals durchwogt war, lebten in ihr mit voller Klarheit wieder auf, während die Worte des Mannes in ihr Ohr tönten. Er sprach mit bewegter Stimme – wollte er etwa jetzt, da er sie durch Zufall wiedergefunden hatte, die Beziehungen von Neuem anknüpfen, die er damals durch eine zufällige Trennung hatte zerreißen lassen? Er hatte in der Zwischenzeit so wenig an sie gedacht, daß er nicht einmal die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens kannte – wähnte er in ihr noch das leichtgläubige sechszehnjährige Mädchen zu finden, das seine Huldigungen zitternd und wonnevoll empfangen und darauf gläubig und vertrauensvoll das Gebäude ihres künftigen Glückes errichtet hatte? Hielt er sie für eine, nach welcher er, wenn der Zufall sie in seine Nähe führte, nur nachlässig die Hand ausstrecken dürfe? Ihr Stolz empörte sich bei diesem Gedanken – sie war es sich, ihrem verstorbenen Gatten und ihrem Kinde schuldig, die Würde ihres Geschlechts und des Namens, den sie trug; streng zu wahren.
„Wer von uns hat nicht an Stunden zurückzudenken, welche unsere Erwartungen nicht erfüllt haben!“ sagte sie mit ihrer schönen, ruhigen Stimme, welche trotz ihres Wohlklangs dennoch ernüchternd auf ihren erregten Begleiter wirkte, „zumal in der Jugendzeit, wo unsere Wünsche und Hoffnungen gern bis in den Himmel hinein fliegen. In späteren Jahren lernen wir die Kunst, Alles auf das gehörige Maß zu beschränken. Ich habe oft gedacht, ob die Erziehung, welche uns das schon in der Jugend lehren könnte, nicht die verständigste und tüchtigste wäre. Wie es bei Männern sein mag, weiß ich natürlich nicht; allein [78] das habe ich oft gefühlt, daß wir Frauen in unserer Jugend – ich meine wir, die wir mit den gewöhnlichen Sorgen des Lebens nicht zu kämpfen haben, denen ein gütiges Schicksal schon vor der Geburt eine reiche, schöne Heimath bereitet hat – ich meine, daß wir unserm Gefühlsleben eine zu große Wichtigkeit einräumen. Wie voll überschwänglichen Glückes sind nicht unsere Jugendträume! Wir erbauen uns in unserer Phantasie ein Haus und durchleuchten es mit ewigem Sonnenschein. Man läßt uns Zeit – denn ernste Pflichten haben Mädchen unseres Standes selten zu erfüllen – es mit Gestalten zu bevölkern, die dem Boden der Wirklichkeit nicht entsprossen sind, die unsern kindischen, überspannten Hoffnungen, nicht aber dem alltäglichen Leben angehören.“
„Sie sprechen aus Erfahrung, Frau Helene?“ fragte er, und während er sprach, ließ er seinen Blick forschend auf ihrem zarten, vom Mondschein beleuchteten Gesichte ruhen.
„Sicherlich thue ich das,“ entgegnete sie schnell. „Ich leugne es nicht, daß ich mir von vielen Dingen – und auch von vielen Menschen – mehr versprochen habe, als sie im Stande waren zu halten. Es sei fern von mir, jenen daraus einen Vorwurf machen zu wollen. Ich erkenne gern an, daß nicht sie die Schuld daran trugen, sondern lediglich mein eigener thörichter Kopf. Aber diese Zeiten sind zum Glücke lange vorüber. Die Schule, die ich habe durchmachen müssen, war vielleicht keine ganz milde; allein sie hat ihren Zweck erreicht. Sie hat mich gelehrt, mich mit dem Möglichen zu bescheiden und keine Wünsche zu hegen, deren Erfüllung nicht in der ruhigen Fortentwickelung des Gegebenen liegt.“
Sie blickte zu seinem Gesichte empor und sah, daß es bleich und leidend aussah. Ihr Herz fing schmerzlich an zu klopfen – sie fühlte die Nothwendigkeit, dem Gespräche eine andere Richtung zu geben.
„Es wäre auch schlimm, lieber Freund,“ sagte sie leichter und heiterer sprechend, „wenn eine alte Frau wie ich sich noch thörichten Jugendphantasien hingeben wollte. Lächeln Sie nicht – ich fühle in Wahrheit, daß ich alt werde. Erinnern mich doch alle Dinge, die ich schaue, daran, daß eine lange Zeit zwischen heute und meiner Jugend liegt. Sehen Sie,“ fuhr sie fort, dicht an die Balustrade tretend und auf eine Linde hinweisend, die mit theilweise bloßgelegten Wurzeln dicht über dem Abgrunde schwankte, „dieses Baumes weiß ich mich zu erinnern, als er noch mehrere Schritte vom Abhange entfernt stand. Damals stand er innerhalb der Balustrade; er hat mit seinen überhängenden Aesten oft meine kleine Hängematte getragen, als ich nicht älter war, als jetzt mein Felix ist. Meiner Mutter waren zu jener Zeit Seebäder verordnet, und mein Vater hatte diesen Grund und Boden gekauft und ihr das Sommerhaus darauf gebaut. Hier habe ich gar oft gelegen und mich vom frischen Seewinde schaukeln lassen. Aber wieviel Sandkörnchen sind seitdem den Abhang hinabgerollt, wie oft hat der Wind in den Aesten rütteln müssen, bis es ihm gelungen ist, den alten treuen Baum so weit zu bringen, daß man mit Sicherheit voraussehen kann, es ist dies der letzte Sommer, dessen er sich freut. Die Herbststürme werden ihn unfehlbar zu Fall bringen, und zwar trotz der Mühe, die sich Jeder von uns gegeben hat, ihn zu erhalten. Mein Mann, der sich für diesen alten Freund aus meiner Kinderzeit auch lebhaft interessirte, hatte ihm zum Schutze den Abhang mit Weidenstecklingen bepflanzen lassen. Sie gingen aber ein in dem dürren Sande. So sehe ich ihn unrettbar dem Untergange geweiht – und so habe ich schon viel Werthvolleres dahin gehen sehen. Solche Erfahrungen aber, mein Freund, machen ernst und alt. Glauben Sie mir, jedes der zwanzig Jahre, die vergangen sind, seitdem meine Hängematte hier hing, hat mehr als die gewöhnliche Anzahl der Tage gehabt.“
„Ich erkläre mir das dadurch, Frau Helene,“ erwiderte er, „daß Sie von jeher ernster, beobachtender, inniger gewesen sein mögen, als andre Kinder, Sie haben eben früher angefangen zu leben. Selbst damals, als ich Sie kennen lernte – Sie waren in jenen Tagen fast noch Kind – wurde ich oft überrascht durch die Tiefe und den Ernst Ihres Wesens. Sie lebten ein andres Leben, als das heitere Schmetterlingsleben Ihrer Cousinen, das Sie doch theilten.“
„Sie täuschen sich, mein Freund. Entsinnen Sie sich nur, wie oft Sie mir damals meine Spottsucht und meinen Uebermuth zum Vorwurfe machten!“
„Ich weiß das wohl. Aber dieser lachende Uebermuth war Ihnen etwas bis dahin Unbekanntes gewesen. Er brach zur Ueberraschung Ihrer Verwandten plötzlich hervor mit einem Glanze, der uns Alle entzückte. Und doch sahen sie nur den Widerschein, lernten sie nur die Nachwirkung dessen kennen, was reich und von den Meisten ungeahnt in Ihrem Innern aufgelebt war. Ich aber, Helene, ahnte es – und es machte mich trunken von Glück.“
Er hatte mit bewegter Stimme geendet. Schweigend schritten sie nebeneinander den Weg entlang. Aber während die Lippen der jungen Frau geschlossen blieben sprach eine Stimme in ihrem Innern das Urtheil aus: er wußte also um meine Liebe – er erkannte den Ernst und die Tiefe derselben, und dennoch konnte er unserer Trennung kein Wiedersehen folgen lassen. „Da kommt der Doctor,“ sagte sie nach einer kleinen Pause ruhig.
Gerhardt fuhr aus seinen Gedanken und beschleunigte gleich seiner Begleiterin die Schritte, um Jenen zu erreichen.
„Wünschen Sie mir Glück, Frau Helene,“ sagte der Arzt in einem Tone, der Kunde gab von der freudigen Erregung seines Wesens – „wünschen Sie mir Glück, und ich kann Ihnen frohen Herzens ein Gleiches thun. Eben habe ich Felix' Füßchen untersucht und zum ersten Male die volle Ueberzeugung gewonnen, daß die Operation gelungen ist. Wenn Ihr wüßtet, was es heißt, trotz der gewissenhaftesten Pflichterfüllung des Erfolges nicht sicher zu sein, wenn Ihr die Pein kenntet, an seiner Kunst oft gerade da verzweifeln zu müssen, wo man den besten Theil seines Selbst hingeben möchte, um ein günstiges Resultat zu erlangen; wenn Ihr, wie ich, unter dem Jammer dieser Unzulänglichkeit gelitten hättet, dann könntet Ihr mir die Freude nachfühlen, womit ich jetzt sage: es ist gelungen.“
Er hatte mit einer Empfindung gesprochen, die dem ruhigen, sarkastischer Wesen des Mannes sonst fremd war. Jetzt nahm er den Hut ab und ließ die erhitzte Stirn vom Nachthauche kühlen.
„Lieber Doctor,“ entgegnete Helene mit bewegter Stimme, „Sie wissen, wie tief ich in Ihrer Schuld schon stehe, und wie fast jeder Tag Ihre Schuldforderung an mich noch vergrößert. Ich bin gewohnt, Ihre Anordnungen vertrauensvoll gut zu heißen – heute aber muß ich doch mit Ihnen rechten. Sie haben heute erst Gewißheit erlangt über den Erfolg der Operation, und mich ließen Sie in ruhiger Sicherheit dahinleben? Sie haben mir die Gefahr verheimlicht, worin mein Kind schwebte? Doctor, Ihre Absicht mag gut gewesen sein – aber war es recht, so an mir zu handeln?“
„Ich hielt es dafür,“ lautete die schnelle Antwort. „Noch habe ich nicht die Zeit vergessen, wo ich einen hoffnungslos Kranken in Ihrem Hause behandelte. Damals hatten wir Ihnen den sichern Ausgang nicht verheimlichen können. Ich habe gesehen, wie schwer Sie unter dieser Hoffnungslosigkeit gelitten haben. Nun, Frau Helene, ich konnte es nicht über das Herz gewinnen, Ihnen etwas Aehnliches wieder anzuthun. Glauben Sie mir, es ist mir nicht leicht geworden, meinen Zweifel, meine Unruhe still zu tragen, wenn ich in Ihre hoffnungsfreudigen Augen blickte! Ich habe keine Vorwürfe verdient – reichen Sie mir die Hand und sagen Sie: Ich danke, Doctor.“
Die junge Frau erfüllte sein Verlangen, dann wandte sie sich dem Hause zu.
„Bleiben Sie noch, ich bitte,“ sagte sie zu den beiden Männern, die ihr schweigend nachschauten, „ich möchte Ihnen noch besser 'Gute Nacht' sagen als ich es jetzt vermag. Zuvor aber muß ich noch zu meinem Sohne; er ist daran gewöhnt, vor dem Einschlafen meinen Kuß zu empfangen.“
„Mir ist zu Muthe, Gerhardt, als sei eine Centnerlast von meinen Schultern genommen,“ sagte der Doctor, als die junge Frau in's Haus getreten war. „Ich kann Dir nicht beschreiben, wie sehr ich unter der Qual dieses Zweifels gelitten habe. – Wie oft haben die schwersten Selbstvorwürfe mich gepeinigt, daß ich den Kräften des zarten Kindes zu viel zugemuthet – daß mich der Wunsch, das Antlitz der Mutter glücklich lächeln zu sehen, verleitet hätte, die Operation zu beschleunigen, die ich ganz wohl erst in einigen Jahren hätte vornehmen können. Freilich hatte ich auch wieder die Entschuldigung für mich, daß gerade diese Art Uebel, je früher, desto sicherer geheilt wird. – Aber obwohl ich mir dies immer wiederholte, habe ich doch seit [79] Wochen keine ruhige Stunde gehabt. Mit einer Angst, wie ich sie noch niemals empfunden habe, ging ich heute daran, die Bandagen und Schienen zu lösen – und siehe da! Alles ist so, wie ich es nicht besser wünschen kann. Das Bürschchen hat jetzt zwei gesunde Füße – der eine ebenso gerade und ebenso lang wie der andere. Ich sage Dir, kein Vater könnte sich mehr darüber freuen, als ich es thue.“
„Du liebst den Kleinen sehr?“ fragte Gerhardt.
„Wie sollte ich nicht?“ entgegnete der Doctor. „Habe ich ihm doch mit Mühe und Noth in's Leben geholfen und dadurch so eine Art Vaterrecht über ihn erworben. Ich habe stets eine Vorliebe für Kinder gehabt – Du mußt Dich dessen noch von früher her erinnern – es pflegten mir immer einige an den Rockschößen zu hängen. Nun, für dieses Kind aber fühle ich mehr, als für irgend ein anderes, schon der Mutter wegen. Du weißt doch, daß ich mit der Familie von Malwitz verwandt bin; Malwitz und ich waren Vettern im zweiten Grade, und ich bin zu einer Zeit Arzt im Hause gewesen, die wohl geeignet war, die Menschen einander näher zu bringen. Es war nach Malwitz’s Verwundung bei Königgrätz. Die Sache schien anfangs ungefährlich zu sein, und ihm war in Folge dessen die Heimreise gestattet worden. Aber bald nach seiner Rückkehr – ich selbst hatte ihn abgeholt und mit aller Sorgfalt, deren sein Zustand bedurfte, heimgeleitet – sah ich, daß es eine Wendung zum Schlimmen mit ihm nahm und daß sein Zustand mit jedem Tage bedenklicher wurde. Eine Verheimlichung war unmöglich – bei seinem Anblicke mußte auch das Auge des Laien erkennen, daß hier nichts mehr zu hoffen war. Und dieser gräßliche Zustand dauerte nicht etwa nur Wochen – es gingen Monde darüber hin, und immer war die Frau an seiner Seite, still und geduldig zu jedem Dienste bereit. Wie lebensmüde und wie hoffnungslos sie war – wie dieses Nicht-sterben-können und Nicht-leben-dürfen auf ihr Gemüth gewirkt hatte, das erkannte ich erst, als in all diesem Jammer das Kind geboren wurde. Die Rechte des armen Jungen war ihm schon vor der Geburt verkümmert worden. Die Mutter hatte ihn und sich selbst vergessen über dem Wunsche, die letzten qualvollen Tage des Gatten zu erhellen. Der Vater – der arme Mann – hatte am eigenen Elend genug zu tragen – ihm war Alles um ihn her gleichgültig geworden. So kam es, daß bei der kaum zwanzigjährigen Frau jeder Lebenswunsch und jede Lebenskraft so darniederlag, daß das Bürschchen es nur mir zu verdanken hat, daß sein Geburtstag nicht zugleich sein Todestag wurde. Du siehst, ich habe beinahe Vaterrechte an dem Jungen, fast ebensolche, wie der arme sieche Mann, dessen letzter Athemzug beinahe in dieselbe Minute fiel, in der sein Sohn den ersten Schrei ausstieß. – Unter diesen Umständen ist meine Vorliebe für das Kind gewiß erklärlich.“
Die beiden Männer waren während des Gesprächs den Kiesweg entlang geschritten, welcher den Rasenplatz umgab. Sie hatten die Hinterfront des Hauses vor sich, und hier waren es hauptsächlich zwei von faltigen rothseidenen Vorhängen verhüllte Fenster, welche die Blicke Schack’s anzogen. Hinter diesen Vorhängen glänzte ein mildes, verschleiertes Licht: die Nachtlampe in Frau Helenens Schlafgemach, und der Schatten einer schlanken Gestalt – Schack erkannte sie deutlich – glitt an den Vorhängen hin. „Er liebt den Knaben wie sein eigenes Kind – er sagte, er sei ihm um der Mutter willen theuer – es kann kein Zweifel obwalten: er liebt sie. Und ebenso zweifellos ist es, daß auch sie ihn nächst ihrem Kinde am meisten liebt. Anfangs mag es nur Dankbarkeit gewesen sein, und vielleicht ist es auch jetzt nicht viel mehr. Aber dieses Gefühl ist so innig und tief, daß er mit Geduld und Beharrlichkeit sicherlich zu seinem Zwecke gelangen wird.“
Er wandte sich mit einem halbunterdrückten Seufzer ab, um weiter zu schreiten, blieb aber wieder stehen, als sein Gefährte ihm nicht folgte. Dieser stand da und blickte aufmerksam durch die weitgeöffneten Flügelthüren in den Saal hinein, der nur durch eine einzige, auf einem Tische brennende Lampe matt erhellt war. An diesem Tische saß Rosa von Malwitz. Vor ihr lag ein Buch, sie schien aber nicht darin zu lesen; denn während der Zeit, daß die beiden Männer sie betrachteten, wandte sie weder ein Blatt um, noch veränderte sie ihre Stellung. Sie saß da, einen Arm auf den Tisch gestützt, das Haupt tief gesenkt und mit der Hand das Gesicht so beschattend, daß der Ausdruck desselben den Blicken der Beobachter entzogen blieb. Aber die Haltung des jungen Mädchens und ihre starre Unbeweglichkeit sprachen dafür, daß keine heitern Gedanken sie beschäftigten. Da öffnete sich die Thür ihr zur Seite, und Frau Helene trat ein. Man sah, daß die junge Frau freudig bewegt war; ihr Gesicht war von milder Röthe übergossen und zeigte einen Ausdruck strahlenden Glückes. Sie blieb neben ihrer Stieftochter stehen, um mit ihr zu sprechen, beugte sich nieder zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Da kam plötzlich Leben in die unbewegliche Gestalt. Mit einer hastigen, ungestümen Wendung, als ob sie etwas Widerwärtiges von sich abschütteln wollte, entfernte sie die Hand von ihrer Achsel. Sie war aufgesprungen und stand ihrer Stiefmutter gegenüber, augenscheinlich zornige Worte ihr entgegensprudelnd. Plötzlich aber hielt sie inne, verhüllte mit den Händen ihr Gesicht und brach in leidenschaftliche Thränen aus. Dann eilte sie aus dem Zimmer, die Thür heftig hinter sich in’s Schloß werfend.
„Welch’ ein stürmisches, unberechenbares Temperament dieses Mädchen hat!“ sagte Schack im Tone herber Unzufriedenheit. „Das Zusammenleben mit ihr muß eine Qual sein. Hätte ich hier einen Einfluß geltend zu machen – ich würde diese kleine Tyrannin aus dem Hause schaffen. Sie müßte mir unter ernste Aufsicht kommen; ein strenges Pensionat für ein oder zwei Jahre wäre eine dienliche Sache für sie.“
„Wenn ein Mädchen achtzehnjährig ist, kann man sie nicht mehr gut in die Schulstube stecken,“ entgegnete der Doctor bedenklich. „Aber ich wüßte dennoch ein Mittel: Man müßte ihr einen Mann finden, der es verstände, sie in guter, ehelicher Zucht zu halten.“
„Sieh mich nicht so prüfend an!“ rief Schack lachend. „Selbst wenn Du in mir die nöthigen Eigenschaften erkennen solltest, dieses böse Käthchen im Zaume zu halten – ich würde mich dennoch niemals dazu verstehen, ihren Petruccio zu machen.“
„Auch nicht aus Freundschaft für Frau Helene?“ fragte der Doctor lächelnd. „Es läßt sich nicht verkennen, sie leidet unter dieser Ungleichheit der Laune. Schau hin, wie in Gedanken verloren und wie niedergeschlagen sie dasteht!“
„Deshalb eben will ich, daß Du der Sache so schnell wie möglich ein Ende machst, Doctor. Du darfst es nicht zugeben, daß man sie in ihrem eigenen Hause und unter Deinen Augen tyrannisirt. Du hast ja hier so eine Art von Hausherrnrecht occupirt – mache es geltend! Es wäre das ein gutes Werk.“
„Du willst mich also durchaus zu Frau Helenens befreiendem Ritter machen? – Du bist indessen kein zuverlässiger Rathgeber – Du bist Partei in der Sache. Wir müßten da doch tiefer auf den Grund gehen. Es ist ein alter Erfahrungssatz, daß, wo zwei sich nicht vertragen, die Schuld gewöhnlich an beiden Theilen liegt.“
„Das sagst Du nach der Scene, deren Zeuge ich heute gewesen bin? Ich dächte, das Benehmen am Theetisch gegen Dich könnte Jeden davon überzeugen, wer hier der Friedensstörer ist.“
„Bitte, laß mich aus dem Spiel!“ rief der Doctor, „wir sprachen ja von Frau Helenens Leiden und nicht von den meinigen.“
„Aber Du kannst doch Niemand verwehren, aus dem Betragen der jungen Dame gegen Dich Schlüsse zu ziehen, wessen ihre Hausgenossen sich von ihr zu versehen haben.“
„Sie ist nicht ganz so schuldig, wie es scheint – ich will gerecht sein und gestehen, daß ich sie reize. Ich liebe den Kampf mit ihr; ihr Zorn erfrischt mich wie ein Wellenbad. Anfangs findet man es etwas frisch – vielleicht auch ein wenig zu frisch – aber bald fühlt man sich ganz behaglich. Ich muß bekennen, sie gefällt mir nie besser, als wenn sie zornig ist.“
„Ueber den Geschmack läßt sich nicht streiten,“ meinte der Andere. „Ich erkenne willig die Berechtigung des Deinen an, wenn ich ihn auch nicht begreifen kann. Indessen kommt es hier nicht auf Deinen Geschmack allein an – Du solltest billig auch den Anderer berücksichtigen. Und bedenke, wie soll sich die Zukunft gestalten mit einer Hausgenossin, deren Gegenwart Behagen, Friede und Ruhe illusorisch macht?“
„Durchaus nicht!“ sagte der Doctor behaglich; „ihr Temperament mag gefährlich sein, aber nicht für den, der Meister darüber bleibt. Ich bin stets als Sieger aus unsern Kämpfen hervorgegangen, und so wird es auch in Zukunft bleiben.“
„Verzeih!“ entgegnete Schack mit zuckender Lippe, „ich sprach [80] nicht von Dir.“ Leise aber setzte er hinzu: "So sicher also fühlt er sich seiner Zukunft, daß er jene Worte unbedenklich auf sich bezog.“
Indessen hatte eine ältliche Dienerin sich ihnen mit einer Botschaft ihrer Herrin genaht. Die gnädige Frau ließe um Entschuldigung bitten, sagte sie, daß sie nicht mehr in den Garten käme. Sie ließe den Herren gute Nacht wünschen und hoffte, sie morgen zu sehen. Auf die Frage des Arztes nach den Befinden des Kleinen berichtete sie, daß er ruhig schlafe, die gnädige Frau aber wäre von plötzlichem Kopfschmerz befallen worden und hätte sich bereits zur Ruhe begeben.
Als die beiden Männer sich dem Ausgange zuwandten, war die Nachtlampe hinter den rothen Vorhängen das einzige noch brennende Licht im Hause; alle anderen Fenster zeigten sich dunkel. Drinnen aber im Saale saß Frau Helene und blickte den beiden Gestalten nach, welche an der Gartenthür stehen geblieben waren, um Schack's Reitknecht zu erwarten, der die unruhigen Pferde langsam die Villenstraße entlang ritt. Das Mondlicht war hell genug, um die zierliche Gestalt des Arztes und die hohe, straffe, stattliche des Edelmannes deutlich in allen Bewegungen erkennbar zu machen. Als sie ihnen nachschaute, dachte sie daran, wie wenig sie es in ihrer Jugend geahnt hatte, daß derjenige, der damals ihr bester Freund, ihr treuester Verehrer gewesen war, ihr einst so fern stehen würde. – Sie hatte damals mit der Erkenntniß seiner Liebe, und im beglückenden Gefühl der ihrigen ihr Schicksal für unumstößlich besiegelt gehalten und war dennoch nach kaum zwei Jahren die Gattin eines andern Mannes geworden. Sie war es geworden ohne Zwang, selbst ohne Ueberredung. Es hatte genügt, daß sie diese Verbindung als sehnlichen Wunsch ihrer Eltern erkannt hatte. Wenn hier eine Schuld vorlag – war es allein die des Mannes? Hätte sie nicht noch einige Jahre ruhig hoffen, ruhig warten müssen, bis er sich zu einer Stellung emporgearbeitet haben würde, die ihm in den Augen ihrer Eltern die Berechtigung gab, sich um die Hand ihres einzigen Kindes zu bewerben? – Aber warum schwieg er? Nur wenige Worte wären genügend gewesen.
Sie riß sich schnell aus ihren Gedanken empor. Sie schienen ihr ein Unrecht gegen den verstorbenen Gatten, den Vater ihres Kindes, zu sein. Aber schon im nächsten Augenblick kam sie wieder darauf zurück, als sie den Mann beobachtete, der sich jetzt von seinem Gefährten trennte, um sein Pferd zu besteigen. Wie hatte er sich verändert! Die fast überschlanke Gestalt des Jünglings hatte sich zu der stattlichen, in voller Lebenskraft blühenden des Mannes gefestigt. In jeder seiner Bewegungen lag die unbewußte Anmuth und Kraft eines vollkommenen Ebenmaßes. Helene blickte ihm nach, wie er das ungeduldige Pferd leicht und sicher zügelte, bis die Abendnebel hinter der Gestalt zusammenschlugen und sie ihrem Blicke entzogen.
Als sie sich vom Fenster abwandte, wurde sie durch das offen auf dem Tische liegende Buch an Rosa und an die Scene erinnert, die eben zwischen ihnen stattgefunden. Heute, wie schon mehrmals vorher, hatte sie Gelegenheit gehabt, wahrzunehmen, daß sie die Liebe ihrer Stieftochter, die sich in früheren Zeiten beinahe bis zu einer vergötternden Anbetung gesteigert hatte, verloren habe. Die Ursache hiervon aufzufinden, war ihr bis jetzt nicht gelungen. Sie hatte ihre Worte und ihr Betragen Rosa gegenüber einer ernsten Prüfung unterworfen; sie fragte sich auch jetzt wieder, ob sie vielleicht im Laufe des Abends eine Aeußerung gethan, welche das junge Mädchen verletzt habe. Allein trotz allen Nachsinnens konnte sie sich auch heute von einer bewußten Schuld freisprechen und mußte sich mit der Hoffnung trösten, daß die Zeit eine Klärung des ungleichen, launenhaften Wesens herbeiführen werde. Sie gestand sich auch heute wieder, wie schon oft vorher, daß es eine schwere Aufgabe sei, eine mütterliche Autorität auszuüben und mütterliche Liebe einem Wesen entgegenzubringen, welches ein eigenes Kind weder war, noch den Jahren nach sein konnte.
Als Rosa am nächsten Morgen aus ihrem Schlafzimmer trat, fand sie, daß ihre Stiefmutter und Felix noch nicht aufgestanden waren. Die Thüren des Gartensaales standen geöffnet; der Frühstückstisch war bereit, und Diener und Stubenmädchen gingen leise ab und zu in Erfüllung ihrer täglichen Pflichten.
Langsam trat das junge Mädchen in den Garten hinaus und schritt den Mittelgang hinab, der zu der Balustrade auf dem Strandberge führte. Hier blieb sie lange stehen und blickte auf die noch immer hochgehende See hinab. Aus unabsehbarer Weite wälzten sich die Wellen heran, eine nach der andern daherkommend und eine nach der andern mit lautem Rauschen auf den Strand niederfallend. Im Scheine der hellen Morgensonne glänzten sie wie dunkelgrünes Glas, auf welchem die weißen Schäfchen – die schaumgekrönten, sich überstürzenden Häupter der Wellen – schon weithin sichtbar waren. Rosa liebte die See, vielleicht deshalb, weil eine unleugbare Aehnlichkeit zwischen derselben und ihrem eigenen leicht erregbaren Temperamente herrschte. Sie hatte einen projectirten Aufenthalt in der Strandvilla stets mit Lebhaftigkeit befürwortet; die an der See verlebten Sommerferien waren ihr stets die genußreichsten gewesen, und Helene hatte es ihr zu Liebe sowohl jetzt, seitdem sie Wittwe war, wie auch früher, während der Dauer ihrer kurzen Ehe, so einzurichten gewußt, daß fast in jedem Sommer einige Wochen für das erfrischende Seebad erübrigt worden waren. So war Rosa zu einer Vertrautheit mit dem Elemente erlangt, welche ihr beim Baden eine Kühnheit und Gewandtheit gab, die ihr eine gewisse Berühmtheit bei den Badegästen eingetragen hatten. Man ließ es sich nicht leicht entgehen, ihrem muthwilligen Spiele mit den Wellen zuzuschauen und die zugleich anmuthigen und doch kräftigen Bewegungen zu bewundern, mit denen sie sich aus den Fluthen wieder emporarbeitete, wenn sie über ihrem Haupte zusammengeschlagen waren. Ihr rosiges Gesicht tauchte dann wie das einer Nixe aus der grünen Welle empor, um sogleich wieder unter dem weißen Schaume der nächsten zu verschwinden, und daß die schöne Rosa von Malwitz selbst im kleidsamsten Ballcostüm und in der anmuthigen Bewegung des Tanzes niemals so schön und reizend sei, wie als Wassernixe im Ostseebade, war eine Ueberlieferung, die von den Ohren gläubiger Brüder und Söhne willig aus dem Munde ihrer Mütter und Schwestern empfangen wurde. –
Wie es immer zu geschehen pflegte, so wurde Rosa auch heute von dem Spiele der sich überstürzenden Wogen mehr und mehr angezogen. Ihr Temperament, das stets zum Widerstande bereit war, wurde durch diesen Anblick kampfesfreudig erregt, und mit Entzücken nahm sie wahr, wie die rothe Fahne, das Zeichen der Gefahr, vom Damenbade entfernt wurde, um der weißen Platz zu machen, die mit der Erlaubniß zum Baden ihrem Kampfesmuthe die erwünschte Befriedigung versprach. Heiter ein Liedchen vor sich hin trällernd, wandte sie sich dem Hause zu, allein je mehr sie sich demselben näherte, desto zögernder und langsamer wurden ihre Schritte. Sie fühlte sich wieder von der ganzen Last des Schmerzes bedrückt, an der sie schon seit Monaten schwer getragen und unter welcher sie nicht allein selbst gelitten, sondern auch Andere leiden gemacht hatte. Sie dachte an den Zornesausbruch, der sich gestern über ihre sanfte, milde Stiefmutter ergossen, und trotz des eifersüchtigen Grolles, den sie zu ihrer eigenen Pein schon seit Monaten in sich genährt hatte, fühlte sie ihr Unrecht dennoch tief. Ihr Zorn pflegte nach solchen Ausbrüchen stets schnell zu verfliegen, um der Reue Platz zu machen. Sie trat dann bußfertig und demüthig vor die Gekränkte hin und sprach ihr Bedauern und ihre Bitte um Vergebung mit herzlicher, rückhaltsloser Offenheit unter Thränen und Liebkosungen aus. Diese Bitte wurde zwar stets gewährt, allein Helene verhehlte es sich nicht, daß ihr diese stürmischer Versöhnungsscenen fast nicht weniger unangenehm waren, als Rosa's leidenschaftlicher Zorn, und oft hatte sie die Mahnung ausgesprochen, das junge Mädchen möge gegen die Ausbrüche ihres ungestümen Temperaments mehr auf der Hut sein. Daß ein milder Tadel ihr auch heute bevorstünde, fühlte Rosa wohl, und sie erkannte willig die Gerechtigkeit desselben an. Es war auch nicht die Unbehaglichkeit dieser Erwartung, was ihre Schritte so zögern machte; es war das plötzlich sich ihr wieder aufdrängende Bewußtsein des gestörten innigen Verhältnisses, das Bewußtsein, daß sie nicht nur eine Ueberflüssige im Hause ihrer Stiefmutter sei, sondern daß man sie selbst als ein Hinderniß betrachte, das sich zwischen Helene und einen neuen Ehebund schiebe. Sie hatte ähnliche Andeutungen von Helenens Mutter, einer stolzen, kalten Dame, hören müssen, und seit jener Zeit war es geschehen, daß sie ihre harmlose Heiterkeit verloren und mit scharfem, spähendem Blicke um sich geschaut hatte. Welch eine Heirath es sei, die man für Helene
[81][82] herbeizuführen wünschte, darüber konnte das junge Mädchen nicht im Zweifel sein. Die alte Dame zeigte offen ihre Vorliebe für Doctor Simonis, ja, sie hatte sogar schon mehrmals zu ihrer Tochter in Rosa’s Gegenwart Andeutungen gemacht, die es deutlich erkennen ließen, daß sie ihn für den einzigen Mann halte, der im Stande sei Helenens und vor allen Dingen Felix’ Glück zu begründen. Dergleichen Aeußerungen hatte die junge Frau nie verstehen wollen. Stets hatte sie eine Wendung gefunden, die das Gespräch in andere Bahnen lenkte, und dennoch – Rosa glaubte sich nicht zu täuschen, wenn sie bei Helene ein tiefes Interesse für den Arzt voraussetzte. Sie fügte sich stets vertrauensvoll seinen Anordnungen, und nicht nur den medicinischen; sie verhehlte nicht ihre Freude über seine Liebe zu ihrem Knaben und zögerte nie, sich in allen Dingen an ihn zu wenden, wo ihr der Rath oder die Hülfe eines Mannes noththat.
Es ist kein Wunder, daß die Verehrer des Canarienvogels nach vielen Tausenden zählen und daß ihre Zahl sich in der gesammten gebildeten Welt immerfort mehrt, und hoch obenan unter allen Canarien steht unbedingt der Vogel des Harzes. Er ist ein Sänger, dessen wundervolle Töne wohl die Entscheidung schwer machen, ob ihm die Palme gebührt oder den Gesangsköniginnen: Nachtigall, Sprosser, amerikanische Spottdrossel. Umsomehr ist es aber zu bedauern, daß es einige Uebelstände giebt, welche uns diesen theuergewordenen, goldigen Hausschatz zu beeinträchtigen und über kurz oder lang wohl gar völlig zu entziehen drohen.
Mit vollem Rechte haben die Sachkundigen darauf hingewiesen, daß der Harzer Canarienvogel in den besten Stämmen zweifellos zu Grunde gehen muß, wenn die Zucht und der Verkauf an Ort und Stelle, sowie die Behandlung von Seiten der Liebhaber nicht demnächst durchgreifende Veränderungen erleiden. Möchte diese Darstellung dazu dienen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf diesen in der That hochwichtigen Gegenstand zu lenken, um den kostbaren Vogel, der gleichsam als ein deutsches Nationalgut betrachtet werden darf, in seinem vollen Werthe zu erhalten.
Zunächst ist es ein Haupterforderniß, daß die große Mehrzahl aller gebildeten Leute den Vogel wirklich gründlich kennen lerne. Diese Kenntniß hat sich in den letzten Jahren förmlich zu einer Wissenschaft herausgebildet, und ich will auf Grund der Kundgebungen der hervorragendsten Kenner und Züchter, namentlich der Herren Controleur Böcker in Wetzlar, Lehrer Wiegand in Anspach und Händler Maschke in Andreasberg, in der in Berlin erscheinenden Zeitschrift „Die gefiederte Welt“, sowie nach eigenen Erfahrungen eine Schilderung des Harzer Vogels nach seinem ganzen Wesen geben und damit zugleich den Aufsatz in Nr. 11 der „Gartenlaube“ 1875 im Wesentlichen ergänzen.
Während die gemeinen und Harzer Canarienvögel in der Gestalt und Färbung nur wenig von einander abweichen (man findet goldgelbe und isabellfarbene Vögel unter den letzteren kaum), sind sie im Gesange und in der Lebensweise doch durchaus verschiedenartig. Der gemeine Canarienvogel wird für jedes musikalisch gebildete Ohr durch die Einförmigkeit seines Gesanges, vornehmlich aber durch die scharfen und schmetternden Töne nur zu leicht unausstehlich. Der vorzüglichste Sänger unter allen Finken, sagt Wiegand, ist der Harzer Canarienvogel. Man unterscheidet: erstens Kollervögel, zweitens Hohlroller, drittens Gluckervögel, viertens Rollvögel oder gewöhnliche Roller. Die Kollervögel sind seit mehreren Jahren in der Abnahme begriffen, der reine Gluckervogel ist fast gänzlich ausgestorben, dagegen werden auf Kosten jener jetzt beinahe nur Hohlroller und Roller gezüchtet.
Ein vorzüglicher Harzervogel leistet durch sein herrliches Lied Erstaunliches, und unter den Vogelliebhabern giebt es noch Tausende, welche den wundervollen Gesang der besten Stämme niemals gehört haben, die ihn daher nicht zu würdigen vermögen und namentlich nicht wissen, welche Forderungen von dem Kenner an die vorzüglichsten Canarien gestellt werden. Der Lockton eines solchen Vogels muß zart und flötenartig sein; er darf denselben aber nur selten hören lassen. Lockt der Vogel, ehe er sein Lied vortragen will, sechs- bis achtmal, so ist dies fehlerhaft; lockt er zwei- bis dreimal zart und leise, so läßt sich dies das Ohr des Kenners allenfalls gefallen, lockt er aber vor Beginn des Liedes gar nicht, so ist der höchsten Anforderung Genüge geleistet. Der Gesang muß mit einer zarten, langen Hohl- oder Lispelrolle beginnen, wohl auch mit einer feinen Flöte oder Hohlpfeife, wie „hü, hü, hü,“ drei- bis sechsmal erklingend. Im letztern Falle muß stets eine schöne, edle Rolle auf die Flöte folgen. Beginnt der Vogel mit einer edlen, leisen Rolle, so ist es dem Kenner am erwünschtesten, wenn dieselbe etwas angeschwellt wird; doch Vögel, welche diesen Anfang stets hören lassen, sind selten. Auf die Anfangsrolle müssen zwei bis drei andere, edle Rollen folgen[WS 1], und dann darf ein feiner Pfiff, eine Hohlflöte oder auch ein Glockenton, wie „dü, dü,“ oder „tü, tü,“ oder „du, du,“ oder „tzü, tzü,“ oder „tzu, tzu“ folgen. Sechs- bis zehnmal müssen letztere Töne angeschlagen werden und nicht hastig nach einander, sondern langsam, gemessen, getragen. Am schönsten ist jetzt der Fortgang des Liedes, wenn auf diese Nachtigalltöne eine ganz tiefe, lange Baßrolle folgt; nach dieser darf eine Hohlrolle, eine Hohlpfeife oder eine Koller kommen. Folgt auf die Baßrolle eine feine Hohlrolle, so klingt nach dieser die Koller am schönsten. Auf die Koller soll eine tiefe Hohlpfeife folgen und in dem Fortgange des Liedes müssen Hohlrollen, Schnatterrollen, nur wenige feine Triller, Klingelrollen, Gluckertöne, Schwirrrollen mit der Koller oder Baßrolle und den Hohlpfeifen in anmuthigen Verbindungen abwechseln. Der Schluß ist am schönsten, wenn ein tiefer Nachtigallton einmal angeschlagen wird, wie „tzü“ oder „tzu.“ Doch solche Vögel sind wiederum sehr selten. Die Länge und Vielfältigkeit der Touren bedingt ebenso sehr den Werth des Vogels, wie die Feinheit des Gesangorgans und die Schönheit der Stimme. Die Touren müssen so lang gezogen werden, daß man mindestens bis zwölf, allenfalls bis fünfundzwanzig und höchstens bis dreißig zählen kann. Ferner darf der Sänger nicht in seinem Gesange abbrechen, wenn er etwa drei bis sechs Touren gesungen hat, sondern er muß durchschlagen, das heißt er muß sein ganzes Lied ruhig und ohne Erregung, gleichsam leidenschaftslos und im vollen Zusammenhange vortragen. Er darf weder zu viel, noch zu wenig singen.
Damit die Liebhaber noch wissen mögen, welche technischen Ausdrücke für die Benennung der einzelnen Touren bei den Kennern und Züchtern gangbar sind, will ich dieselben noch anführen: Triller, grobe Rolle, Schnarrrolle, Krachrolle, Wasserrolle, Lispelrolle, Schwirrrolle, scharfe Schnatterrolle, feine Schnatterrolle oder Hohlschnatter, auch feine Schnatter genannt, Baßrolle, Hohlrolle (gerade abwärts gebogene und aufwärts gebogene Hohlrolle), Klingelrolle, Kollerrolle, Gluckerrolle, Pfiffe, Hohlpfeife, Glockentöne oder Nachtigalltöne, Gluckertöne oder Glucker, Wasserflöte Wasserglucker, Schnatterglucker, Koller, Gluckerkoller. Ich habe mit den minder schönen Touren im Aufzählen begonnen und so steigend die schöneren folgen lassen. Am herrlichsten erklingt eine tiefe, lange, abwärts gebogene Koller.
Die Feinheit der Stimme und der edle Ton des vorzüglichsten Kollervogels und des feinen Hohlrollers übertrifft jeden andern Sänger der Lüfte. Im Wohnzimmer, selbst im Studirzimmer kann man den feinen, leisen, anmuthigen Gesang eines solchen Harzervogels ertragen. Selbst wenn die Nerven des Besitzers etwas überreizt sind und ihm die Töne des gewöhnlichen Canarienvogels unausstehlich sein würden, ruft der feine Harzvogel gar oft durch sein herrliches, edles Lied neue Freude, neue Lebenslust, selbst in dem kranken Herzen hervor.
Es ist erklärlich, daß solch ein vorzüglicher Sänger und überaus werthvoller Vogel eine ganz besondere Pflege und Sorgfalt verlangt. Außer den allgemein gültigen Regeln und Erfordernissen der aufmerksamsten Vogelpflege: bestes Futter, regelmäßige Abwartung, äußerste Reinlichkeit und Behütung vor allen übeln Einflüssen, wie Zug, staubige oder verdorbene Luft, Kälte, Nässe etc., bedarf der Harzer Canarienvogel auch noch einiger andern, besondern Verpflegungsmaßregeln. Die Fütterung besteht [83] im besten Sommerrübsamen nebst einer Zugabe von täglich einem Theelöffel voll Eifutter. Den Sommerrübsamen erhält man leider nur selten in brauchbarer Beschaffenheit; gewöhnlich ist er mit Winterrübsamen, Raps und am häufigsten mit Hederichsamen untermischt, und diese Sämereien, namentlich die letztere, sind für die zarten Harzer Canarien geradezu Gift. Guter Sommerrübsamen muß dunkel violettbräunlich sein und einen süßen, wallnußartigen Geschmack haben. Die genannten ähnlichen Samenarten lassen sich bei großer Aufmerksamkeit in folgender Weise unterscheiden: Winterrübsamen und Raps haben dunklere, schwärzlich-braune und der letztere auch weit größere Körner, deren Geschmack entschieden bitterlich ist. Die Körner des Hederichs sind kleiner, glatt und glänzend und von nahezu reinschwarzer Farbe. Beim Zerkauen brennt er scharf wie Senf auf der Zunge.
Für den Einkauf des besten, hederichfreien Sommerrübsamens weiß ich mit gutem Gewissen nur folgende Quellen anzugeben: die Samengroßhandlung von Karl Capelle in Hannover und den Handelsmann Reinecke in Appenrode bei Kynenburg.[WS 2]
Das Eifutter, an welches diese Vögel vom Harze her gewöhnt sind, wird wie folgt bereitet: Ein, frisches, hartgekochtes Hühnerei wird auf einem sauberen Reibeisen fein zerrieben, dann ebenso ein Dreier-Weizenbrödchen, welches bestens ausgebacken, aber nicht braun sein darf und alt und hart ist. Beides wird gründlich untereinander gemischt und mit äußerst wenig Wasser befeuchtet, sodaß das Brodpulver an dem Ei haftet. Man hüte sich jedoch, zu viel Wasser hinzuzusetzen, weil sonst die zarten Vögel nur zu leicht erkranken. Als guten Ersatz für das Eifutter darf man übrigens auch die bekannten Kinder- oder Löffelbiscuits geben und allenfalls auch frische Ameisenpuppen.
Alle übrigen Füttereien, wie Kreuzkraut, Vogelmiere oder Salat, Zucker, Kuchen etc. sind diesen Vögeln entschieden nachtheilig; auch alle anderen Sämereien, wie Mohn, Hanf, gespelzten Hafer und Glanzkorn oder Canariensamen, giebt man ihnen nur dann, wenn sie krank oder schwach sind. Die andauernde Fütterung mit denselben ist ihnen aber schädlich. In der ersten Zeit, sagt Böcker, singen sie bei diesem Futter zwar fleißiger, bald aber werden sie übermäßig fett, verlieren die Lust zum Gesange und vor Allem den metallischen Wohlklang der Stimme.
Frisches Wasser muß der Vogel täglich ein- bis zweimal bekommen und ebenso saubern, nicht zu scharfen und nicht zu staubigen Sand wenigstens wöchentlich einmal, und dazu etwas Kalk, zerstoßene frische Eischalen, Sepienschale oder Tintenfischbein, auch Mörtel von alten Wänden.
Nach Darlegung dieser nothwendigen Pflege wenden wir uns nun zu den vorhin erwähnten Uebelständen.
Der allerschlimmste derselben ist der, daß die Harzer Canarienvögel viel zu früh und in zu großer Anzahl von den Händlern aufgekauft und ausgeführt werden. Der bedeutendste deutsche Großhändler, Ch. Reiche in Alfeld bei Hannover (welcher sogar in New-York ein Zweiggeschäft, Chs. Reiche and brother hat), klagt in der vorhin erwähnten Zeitschrift darüber, daß ein Aufkäufer, mit dem andern wetteifernd, den jungen Vögeln gar nicht mehr die volle Zeit zur Entwickelung läßt.
Keinem dieser herrlichen Sänger ist nämlich der Gesang von vornherein angeboren; jeder derselben muß ihn vielmehr erst von einem Vorschläger, das heißt von einem älteren eingeübten Vogel erlernen. Diese Schule verlangt eine besondere Behandlung. Die jungen Vögel werden in kleinen Käfigen so gehalten, daß sie weder zum Fenster hinausschauen, noch durch anderweitige Zerstreuung von ihrem Studium abgelenkt werdet können. Ja, man gewöhnt sie an’s Verhängen oder Zudecken, das heißt man legt ein dünnes, blaues oder grünes Tuch so über den Käfig, daß der Vogel garnicht sich umblicken kann, sondern alle seine Aufmerksamkeit dem Gesange zuwenden muß. Wenn hierin auf den ersten Blick eine arge Grausamkeit liegt, so ist dies doch thatsächlich keineswegs richtig. Wer die Aeußerungen der Freude und Fröhlichkeit, des Behagens und Vergnügens bei einem Vogel zu beurtheilen versteht, wird es bestätigen müssen, daß diese der junge, fleißige Sänger im vollen Maße zeigt. Er singt so recht ruhig-vergnüglich, und am herrlichsten erfreut uns sein Gesang, wenn des Abends bei Licht die Hülle entfernt wird und er seine wunderlieblichen Touren beginnt.
Da nun die Sänger vor dem völlig eingetretenen Winter keineswegs hinreichend ausgebildet sein können, so ergiebt sich daraus ganz von selber der vorhin erwähnte Uebelstand. Herr Reiche und ebenso die hervorragenderen Händler zweiter Hand, wie Mieth, Schmidt, Dondorf, Pantzer, Wagener (Züchter) in Berlin, Gudera, Geupel-White in Leipzig, Hromada, Zuckerkandel in Dresden, Wenisch, Kaspar in Breslau, Gersten in Hannover, Bonvie in Cöln, Sennhem in Cassel, halten sich, da sie durch die Concurrenz ebenfalls zum frühen Ankauf gezwungen werden, Vorschläger, durch welche die jungen Vögel weiter unterrichtet werden. Außer dem Uebelstande aber, daß die bei weitem größte Anzahl der jungen Canarienvögel doch kaum zu einer tüchtigen Gesangsausbildung gelangen kann, treten nun aber für den Liebhaber, der nur einen oder einige vorzügliche Sänger anschaffen will, andere sehr bedeutsame Nachtheile ein.
Der Hauptversand der jungen Harzer Canarienvögel geschieht durch ganz Deutschland in der Zeit vor und um Weihnachten herum. Nun haben die Händler wohl ihre recht zweckmäßig eingerichteten Versandkäfige und z. B. Maschke in Andreasberg übernimmt Gewähr für die sichere Ankunft bis auf die weitesten Entfernungen hin. Dennoch kann der junge Harzer Vogel bei dem Empfänger in den meisten Fällen nur ein trübseliges Dasein fristen. Der unheilvollste Uebelstand dieser Vogelzucht kommt jetzt nämlich zur Geltung.
Während die Landrace der Canarienvögel bekanntlich sogar den Winter im ungeheizten Zimmer vortrefflich zu überdauern vermag, wird die feine Harzer Race dagegen in einer unheilvoll hohen Temperatur gehalten und gezüchtet. Die Wärme von zweiundzwanzig Grad Réaumur im Durchschnitt (und oft noch viel höher) während der Brutzeit ist in allen Züchtereien Regel; zur Mauserzeit wird sie sogar auf vierundzwanzig Grad Réaumur erhöht, um dann später wiederum bis auf etwa achtzehn Grad Réaumur ermäßigt zu werden. Erklärlich ist es daher wohl, daß der unter solchen Umständen aufgewachsene Canarienvogel in der Obhut des neuen Besitzers bei gewöhnlicher Stubenwärme, also bei drei bis neun Grad unter der gewohnten Temperatur, niemals zum vollen Wohlsein und zur ganzen Entfaltung seines Gesanges gelangt, sondern allmählich verkümmert. Die Züchter und Händler sollten daher alle zum Verkauf bestimmten jungen Vögel durch sehr langsames Herabmindern der Wärmegrade an Stubentemperatur und zur Nachtzeit an noch viel niedrigere Wärmegrade gewöhnen. Erst dann dürfte die Versendung geschehen.
Der letzte Uebelstand der Harzer Zucht ist der, daß dort seit vielen Jahren im Wesentlichen Inzucht getrieben wird. Obwohl ich ganz entschieden ein Gegner derselben bin, so muß ich doch zugeben, daß in gewissen Fällen, wie z. B. bei der Zucht mancher edlen Rinder- und Schafracen, bei den belgischen Brieftauben und andern Thieren, die nothgedrungene, seit Jahrzehnten betriebene Zucht innerhalb derselben Familie sonst auftretende üble Folgen nicht zeigt, sondern sogar die Erhaltung und Vervollkommnung der Race bedingt. Wenn der Canarienvogelzüchter nur mit äußerster Sorgfalt darauf achtet, daß jeder etwa verkrüppelte oder sonst verunstaltete Vogel sofort sorgfältig ausgemerzt werde, so kann die Zucht innerhalb derselben Stämme nicht leicht Verderben bringen. Wer als Liebhaber diese Zucht betreiben will, halte sich jedenfalls an die Rathschläge, welche in dem kleinen Buche „Der Canarienvogel“ von Dr. Karl Ruß (zweite Auflage) gegeben worden sind; sie beruhen auf umfassendster Kenntniß der Pflege und Zucht aller Canarienracen und insbesondere des Harzer Vogels.
Gegen zwei allgemein verbreitete Mißbräuche muß ich noch ganz entschieden auftreten. Man versuche niemals, die Zucht mit Harzer Männchen und Weibchen der gemeinen Landrace zu betreiben. Es kommt nichts Gutes dabei heraus, denn die jungen Vögel verunstalten ihren schönen Gesang stets durch die angebornen häßlichen Töne. Ebenso wenig soll man junge Männchen der gemeinen Race zu einem feinen Harzer Hähnchen in die Lehre geben; sie lernen doch nichts Gescheidtes und verderben den werthvollen Vorsänger zweifellos.
Die Vögel der besten Harzer Stämme, welche untereinander außerordentlich verschiedenartig sind, gehen mit Ausnahme derer, welche Herr Reiche und andere Exporthändler aufkaufen, in die Hände der vorhin genannten Klein- und Großhändler über, und für den Bezug ist den Liebhabern somit ein weites Feld geöffnet. Ein wahrer Canarienvogelmarkt entwickelt sich in den Herbstmonaten im Anzeigentheile der „Gefiederten Welt“ und die Preise [84] wechseln hier etwa von 7,50 bis 75 Mark für den einzelnen Vogel. Im Allgemeinen stehen sie durchschnittlich auf 15 bis 30 Mark für das junge Hähnchen von guter Harzer Race und einem bewährten Stamme. Diese Stämme sind aber in Andreasberg und an andern Orten des Harzes, sowie in ihrer Verpflanzung durch unser ganzes deutsches Vaterland, noch recht zahlreich, und wenn nur die Behandlung derselben naturgemäß und verständnißvoll geregelt wird, so ist der Harzer Canarienvogel noch keineswegs im Rückgange begriffen.
Wenn ein Liebhaber des herrlichsten Gesanges einen einzelnen Harzer Vogel sich anschaffen will, so kaufe er nur bei einem gewissenhaften Händler oder Züchter ein und lasse sich auf Wort und Glauben die bisherige Verpflegungs- und Behandlungsweise mittheilen, um ihn anfangs ganz genau so zu versorgen und dann erst allmählich an eine etwa gewünschte andre Haltung zu gewöhnen.
Möchte die obige Darstellung dazu beitragen dieses liebliche und kostbare Gut und diese beachtenswerthe Einnahmequelle dem deutschen Volke zu erhalten.
Die auffallende Aehnlichkeit des Prinzen Napoleon mit dem großen Kaiser ist bekannt, und der Prinz thut sich nicht wenig zu gute darauf, obgleich diese Aehnlichkeit in Anbetracht seiner militärischen Tugenden, welche von den Franzosen aller Farben, wie man weiß, sehr gering geschätzt werden, zu Vergleichen herausfordert, die für den Prinzen niemals schmeichelhaft waren. Was hilft da das ausgezeichnete Leumundzeugniß, das ihm der Marschall Saint-ArnaUd in seinem Bericht über die Schlacht an der Alma ausstellte?
Diese Aehnlichkeit beschränkt sich aber auf den Kopf. Das ist die Stirne, das Lächeln, der Blick, die Frisur, der gelblich wächserne Teint des großen Kaisers, wie wir sie auf den besten seiner Portraits sehen, dagegen übertrifft ihn der Prinz an Länge, an Schulterbreite und Corpulenz. Er mißt etwa sechs Fuß, aber es fehlt der mächtigen Gestalt die Energie, der feste Grat. Sein Gang ist langsam, ja leicht schleppend; er trägt den Kopf gern auf die linke Seite geneigt und die weißen fleischigen Hände auf dem Rücken. Man braucht den Prinzen nur mit der weißen Toga zu umgürten, und sofort glaubt man sich in jene späte Kaiserzeit versetzt, wo aller Geist und alles Laster in Rom zusammengedrängt waren. Man thue die Krone hinzu, und ein Caligula steht fix und fertig da.
Philosophischer Gleichmuth und zügellose Sinnlichkeit, feiner Epicuräismus und lächerlichste Eitelkeit vereinigen sich in dem Prinzen. Demokratisch von Gesinnung, ist er tyrannisch im Gebieten; lässig bis zur vollsten Apathie, ist er auffahrend bis zur rohesten Brutalität, besonders Frauen gegenüber; er ist ein Verschwender und doch wieder ein Knicker, Einer, der oft mit weitem Blicke mißt und in den gewöhnlichsten Dingen wieder nicht um die Ecke schaut, halb Idealist halb Cyniker.
Er ist in allen Sätteln beritten, und doch sitzt er in keinem fest; sein Wissen geht mehr in die Breite, als in die Tiefe, aber er versteht es wie kein Zweiter mit goldenen Löffeln überall die Fettaugen abzuschöpfen und sich das Wissenswertheste von dem Erlesensten mundgerecht serviren zu lassen. Der Prinz ist ein feiner geistreicher Plauderer, der ebenso elegant das Silberglöcklein der übermüthigen Narrethei zu läuten weiß wie seine politisch-literarischer Ansichten oft mit zwingender Logik vorzutragen. Das rechte Wort ist ihm stets zu Diensten, und die Rede fließt ihm glatt von den Lippen; seine Redeweise unterscheidet sich übrigens in bester Weise von der stets theatralischen Manier der Franzosen; alles Pathos ist ihm fremd, und auch auf der Tribüne – die Hände meist in den Taschen – spricht er leicht, glatt im plaudernden Gesellschafstone, wie am Kamine seines Hôtels, aber man weiß niemals, ob der Prinz selbst glaubt, was er glauben machen will. Der Prinz genießt überhaupt sehr viel Mißtrauen und sehr wenig Achtung.[1]
Prinz Napoleon Josef Karl Paul Bonaparte ist als der zweite Sohn des weiland König „Alleweil Lustig“ und der Prinzessin Sophie Dorothea Friederike Katharina, Tochter des Königs von Württemberg, am 9. September 1822 in Triest geboren. Der Kaiser war seiner Schwägerin für ihr edles muthiges Benehmen in wärmster Liebe zugeneigt, und noch in St. Helena sagte er bewundernd von ihr: „Sie hat sich mit eigener Hand unauslöschlich in's Buch der Geschichte eingetragen. Prinz Napoleon's älterer Bruder starb 1846; seine Schwester ist die Prinzessin Mathilde, welche von ihrem Gatten dem Fürsten Demidoff, geschieden lebte. In Rom, wo der größte Theil der Familie Bonaparte sich zusammenfand, brachte der Prinz seine erste Jugend zu, bis er 1831 in Folge des Aufstandes in der Romagna den Kirchenstaat verlassen mußte. Als er das dreizehnte Jahr erreicht hatte, sandte ihn sein Vater nach kurzem Aufenthalte in Florenz und Genf in die Militärschule von Ludwigsburg (Württemberg), wo er bis zu seinem achtzehnten Jahre verblieb (1840). Der unter Thiers’ Ministerschaft drohende Krieg führte ihn wieder fort, und nun ging er auf Reisen: nach Oesterreich, Deutschland, England und Spanien, wo er während Espartero’s Herrschaft einen langen Aufenthalt nahm.
Nach wiederholten vergeblichen Versuchen, Frankreich betreten zu dürfen, ward ihm endlich 1845 von Louis Philipp die Erlaubniß dazu auf die Dauer von vier Monaten zu Theil. Er kam nach Paris und fand sich sofort von den bedeutendster Persönlichkeiten, von den Führern der am weitesten fortgeschrittenen Parteien umringt, bis er eines Morgens den strammen Befehl erhielt, binnen acht Tagen Frankreich zu verlassen. Nachdem wiederholte Versuche zurückzukehren vergeblich geblieben, wandte sich sein Vater Jerôme 1846 endlich an die Kammer. Im Luxembourg in der Pairskammer, in der so Viele saßen, die dem Kaiser Alles zu verdanken hatten, wurde die Petition zurückgewiesen, trotz der warmen Worte, mit welchen sie der jüngste, aber wortgewaltigste Pair befürwortete. „Es ist ein Greis, ein früherer König, der nur einen Wunsch kannte, für Frankreich zu sterben, und nur noch eine Sehnsucht hegt, in Frankreich zu sterben, rief in flammender Rede vergeblich Victor Hugo. Aber die Deputirtenkammer unterstützte das Gesuch und setzte es durch, daß Jerôme und seinem Sohne provisorisch die Rückkehr nach Frankreich gestattet wurde.
Wenige Monate später wird der Thron Louis Philipp's gestürzt. Der Prinz Napoleon eilt auf's Stadthaus und bietet seine Dienste an, die man natürlich ablehnt. Aber er candidirt in Corsica, im Stammlande der Napoleoniden. „Seit meiner Kindheit hatte ich die Ueberzeugung,“ ruft er in seiner Candidatenrede, „daß die Republik die passendste Staatsform für Frankreich ist. Heute ist dieses große Princip, welches ich von jeher ersehnte, zur Wahrheit geworden. Außerhalb der Republik sehe ich nur Anarchie, Bürgerkrieg und Rückkehr und Verfall in die Fehler und Verbrechen der Bourbonen.“ Dann sagte er, sich auf den großen Onkel berufend: „Indem ich mich für die Republik begeistere und mich ihr unterwerfe, folge ich dem großen Kaiser, der auf dem Felsen von St. Helena, an den ihn der Haß der Könige geschmiedet hatte, mit Sehermunde voraussagte: ‚In fünfzig Jahren ist Europa republikanisch oder kosakisch.‘ Dank dem Herrn und Frankreich ist es die Republik, die triumphirt. …“
Corsica sandte ihn in die constituirende Versammlung.
Der Prinz saß im Centrum unter den gemäßigten Republikanern, stimmte aber mit der Rechten für das Zweikammersystem, für die Präsidentschaft, für die römische Expedition, für die Beibehaltung der Todesstrafe und gegen die Verbannung der Orleans. Später geht er unter die demokratische Opposition, und in der Legislative stimmt er mit der Linken bis 1851. Von [85] da an zieht er es meistens vor zu schweigen, und nach dem Staatsstreich verduftet er nach Brüssel.
Dieses politische Ereigniß traf den Prinzen unvorbereitet; er gehörte niemals zu den Intimsten Napoleon’s, der ihn auch niemals in seine Geheimnisse einweihte, in seine Werkstatt sehen ließ. In jener denkwürdigen Nacht, in der Napoleon mit seinen Helfershelfern Persigny, Morny, Walewski, St. Arnaud Paris überfiel, saß der Prinz ahnungs- und harmlos in dem Salon einer sehr bekannten Phryne. Der Prinz eilte nach Brüssel und war unter den Ersten, welche den Protest gegen den Staatsstreich unterschrieben. Er traute dem Stern seines Vetters nicht; er glaubte, ja er hoffte vielleicht eine Gegenrevolution und hielt sich in Bereitschaft. Als ihn aber die Proclamirung des Kaiserreichs ernüchterte, kam er wieder zum Vorschein; war er doch allein kaiserlicher Prinz und der natürliche Erbe des Kaiserreiches. Zwar umgaben mehrere Napoleoniden den Thron, aber mit Ausnahme des Exkönigs von Westphalen und seines Sohnes gehörten sie alle zur Linie Lucian (Prinz von Canino, ältester Bruder Napoleon’s des Ersten) und sind durch dessen Mesalliance vom Throne ausgeschlossen. Nur Prinz Napoleon war „Prinz von Frankreich“ und erbberechtigt.
Die politischen und militärischen Würden, welche der Prinz bekleidete, trugen ihm mehr Spott als Ehre ein. Noch unter der Republik zum Gesandten in Madrid ernannt, wurde ihm diese Bürde rasch wieder abgenommen, als er eines Tages seinen Posten ohne Urlaub verließ; als Präsident des neu creirten Ministeriums für Algier, sah er sich genöthigt, nach allem möglichen Krakehl mit seinen Collegen um seine Entlassung nachzusuchen; als ihn der Kaiser zum Divisions-General ernannte, machte ihn Paris zum Général du corps de Ballet, und im Krimkriege erwarb er sich den Spottnamen Plon-Plon.
Dagegen bewies der Prinz als Präsident der Weltausstellung von 1855 ein großes Organisationstalent und eine überaus glückliche Hand in der Wahl seiner Mitarbeiter. In seinem drei Bände umfassenden Werke „Besuch des Prinzen Napoleon auf der Ausstellung“ ist viel interessantes Material aufgestapelt und manch geistvoller Gedanke niedergelegt. Manche kühn ausgesprochene Voraussicht haben Zeit und Erfahrung bestätigt. „Die Weltausstellungen sind der höchste kosmopolitische und civilisatorische Gedanke des Jahrhunderts,“ sagt der Prinz, „sie drücken dem industriellen Jahrhundert seinen wahren Stempel auf; sie lösen die National-Ausstellungen ab; sie sind der Plan, auf dem sich alle Völker zum friedlichen Wettkampf vereinigen, die Realisirung der hochfliegenden Träume Saint Simon’s.“ Aber der Prinz kann die allzuhäufigen, sich rasch folgenden Ausstellungen nicht billigen, auch glaubt er, daß Fachausstellungen allgemeinen Ausstellungen vorzuziehen und instruktiver seien; er ist nicht der Ansicht, daß die Ausstellungen ausschließlich vom Staat als solchem ausgehen sollen; schließlich ist er für die unbedingte Aufhebung der Prämiirung, und wenn nicht anders möglich, so doch für ihre thunlichste Beschränkung. „Der Gerichtshof ist hier die ganze Welt, und die Prämien zahlt eigentlich der Consument“ ist sein Ausspruch. Die Erfahrungen der folgenden, und vor allen diejenigen der Wiener Ausstellung, haben die Ansichten des Prinzen vollauf bestätigt.
1858 fand das Attentat Orsini’s statt. Aus dem Gefängnisse heraus erließ er einen Mahnruf an den Kaiser, mit der Befreiung Italiens nicht länger zu zögern; ein Jahr später vermählt sich der Prinz mit der Tochter Victor Emanuel’s, und in demselben Jahre bricht der italienisch-französische Krieg gegen Oesterreich aus. Stets weit vom Schusse, war dem Prinzen die Aufgabe zugefallen, als Führer eines Observationscorps Toscana vor einem Ueberfalle zu bewachen, und erst nach Unterzeichnung des Friedens von Villafranca verließ er Livorno. Auch während des deutsch-französischen Krieges – die Kriegserklärung traf ihn in Tromsöe, und in fünf Tagen legte er die sechshundert Meilen zurück, welche ihn von Frankreich trennten – weilte er in Italien. Der Kaiser hatte ihn nach Turin gesandt, um eine Allianz zwischen Italien und Frankreich zu Stande zu bringen. Der Prinz schien der beste Unterhändler. Aber all seine Bemühungen waren vergebens, und er mußte seine Aufgabe ungelöst lassen.
Die Ehe Napoleon’s war für die kaum sechszehnjährige Tochter Victor Emanuel’s keine glückliche, denn der Prinz führte auch nach seiner Vermählung das kraftgeniale Garçonleben in seinem „pompejanischen Palaste“ in der Avenue Montaigne weiter. Dieses Haus war der Sammelpunkt von Künstlern, Schauspielern, Malern, politischen Schöngeistern, literarischen Politikern. und Emigranten der Länder, die man warm halten wollte, ohne ihre Abgesandten in den Tuilerien zu empfangen. Hier traf der Kaiser mit Kossuth vor Ausbruch des italienischen Krieges zusammen; hier fanden aber auch die „petits soupers“ statt, Abendgesellschaften, welche an den Prinzen Egalité mahnten, und die berüchtigte Cora Pearl mit ihren Gespielinnen fühlte sich hier wie zu Hause. Hier wurde sehr viel Esprit consumirt, und von hier aus flatterte manch scharfes Witzwort über Rouher und vor Allem über die Kaiserin durch Paris, und aus der Avenue Montaigne kam manches Scandälchen, manch frivole Geschichte, welche stets in den innersten Gemächern der „Spanierin“ spielten, in Rochefort’s Laterne.
Der Prinz hat aus seiner Abneigung, aus seinem Hasse gegen die Kaiserin niemals ein Hehl gemacht, und dieser Haß wurzelt tief; der Prinz haßt die Kaiserin aus „Geschäftsrücksichten“; er haßt und verfolgt in ihr die Mutter Lulu’s, dessen Geburt ihm die Aussicht auf den Thron versperrte. Jene ganze Schmutzliteratur gegen die Kaiserin – von Brüssel und der Schweiz aus flügge gemacht – welche die Legitimität des kaiserlichen Prinzen anzweifelt und das Vorleben der „Spanierin“ in unzweideutigster Weise schildert, hat im Prinzen ihren Urheber, wie die Imperialisten behaupten, aber selbst die Republikaner lassen ihn bei dieser Literatur Gevatter stehen.
Uebrigens revanchirte sich auch die Kaiserin durch Verherrlichung der militärischen Bravour und des reckenhaften Muthes ihres theuren Neffen in Wort und Bild, ja nach dem Krimkriege circulirte sogar ein Bildchen, das man in intimen Kreisen dem malitiösen Griffel der Kaiserin zuschrieb und welches den Prinzen während der Schlacht an der Alma in einem Zustande darstellte, der mehr an Opiumpulver als an Schießpulver gemahnte. Als der Herzog von Aumale dem Prinzen ein Cartel sandte und ihm sagen ließ, er werde ihn in acht Tagen in Belgien erwarten, rief die Kaiserin dem bei Hofe erscheinenden Plon-Plon zu:
„Wie, mein Prinz, Sie hier? Wir glaubten Sie schon auf der Reise nach Brüssel.“
„Ich hole nur den Rath des Oberhauptes unserer Familie ein,“ explicirte der Prinz mit Grandezza.
„Ach, dann bin ich beruhigt,“ sagte Eugenie lachend, „wer in Ehrensachen um Rath fragt, der schlägt sich nicht.“
Während des letzten Krieges weilte der General Prinz Jerome Napoleon friedlich und lustig in Florenz, war täglich an der Seite einer der populärsten Halbweltdamen im Theater zu sehen und trotzte mit feigem Cynismus der Entrüstung des Publicums, welches ihn mit Schimpf bewarf. Der 4. September traf ihn noch in Italien. Während der Gefangenschaft des Kaisers ließ der Prinz aus Vorsicht das Gerücht verbreiten, Deutschland habe ihn zum Nachfolger Napoleon’s des Dritten ausersehen, und durch die „Times“ die Nachricht, Bismarck führe in dieser Richtung Unterhandlungen. Das Dementi, welches von deutscher Seite erfolgte, steckt sicher nicht hinter dem Spiegel des Prinzen. Nach dem Tode des Kaisers brachen die Feindseligkeiten der „ältern und jüngern Linie Bonaparte“ in offenen Kampf aus. Von Chislehurst aus beschuldigte man den Prinzen, daß er den Sturz des Kaiserreichs verschuldet, welches er systematisch untergraben habe, daß er dem Kaiser die liberalen Ideen, das heißt das Ministerium Ollivier aufgezwungen (?), um den vacanten Thron selbst zu besteigen, und der Prince impérial erließ gelegentlich seiner Candidatur für Versailles einen rüden Fehdebrief gegen ihn, wogegen wieder der Prinz die „bigotte Spanierin, welche der Kaiser so schwach war auf den Thron zu erheben“, das Unglück Frankreichs nennt.
Wenn man den Kampf der beiden Linien Bonaparte auch nur oberflächlich verfolgt, wird man rasch den Eindruck erlangen, welchen der selige Heinrich Heine im „Streite zwischen Pfaff und Rabbiner“ erhielt.
Plon-Plon hat übrigens für die reiche Sammlung von kostbaren Ehrentiteln, mit denen jede Partei ihn bereits beschenkte, neuerdings einige auserlesene Exemplare erhalten. „Vetter Liederlich“ nennt ihn Gambetta verächtlich; Paul Cassagnac, der journalistische Bravo der Imperialisten, schimpft ihn „Jerome Egalité“, die Rechte „Le communard Jérôme“, und Rochefort [86] wirft in seiner bekannten absprechenden Rücksichtslosigkeit ein Urtheil über die angebliche Feigheit des Prinzen Napoleon in die Welt hinaus, das aus Anstandsgefühl hier besser unterdrückt werden dürfte.
Einsam, von Allen gemieden, sitzt der Prinz in der äußersten Ecke von Versailles und träumt von einer Krone.
Ist es nur ein Traum?
Beim lieben Gott und in Frankreich ist freilich Alles möglich.
Harro fluchte wie ein Türke. Der Italiener aber trat auf Karl Hornemann zu, erfaßte mit Wärme seine Hände und sprach im Tone tiefer Erregung: „Mein Herr Hornemann, ich habe den Wunsch, Sie Bruder nennen zu können. Leihen Sie Ihren Arm der Schöpfung einer deutschen Republik und eines freien und einigen Italiens! Lassen Sie uns in diesem Sinne sagen: auf Wiedersehen!“
Die braunen, treuen Augen des Pascha suchten das Fenster, zu dem die laue Nachtluft hereinströmte. „Vielleicht,“ sagte er zögernd.
„Nun,“ sprach blitzenden Auges der Italiener, und ließ die erfaßten Hände los. „Wir werden dafür sorgen, daß Ihr König verschmäht, um eine Constitution zu pactiren; wir werden das Unsrige thun, damit Ihr 'Vielleicht' zu einen 'Gewiß' wird.“
Harro's Abschied war so stürmisch wie seine Bewillkommnung. „Junge, wir gehen nach Baden hinunter, schloß er; „wenn Du nicht mit uns, sondern wider uns sein wirst, so lasse ich eine Auflage Bibeln drucken und statt Pilatus Hornemann setzen.“
„Leb' wohl, Du alter, lieber Tyrannenfresser!“ sagte der Pascha und drückte dann dem Italiener die Hand. „Und nun, Vater Schoner, fängt Ihre Aufgabe an; durch die Schlucht hinunter bringe ich die Herren. Tragen Sie Sorge für unsern Wagen und etwas Proviant!“ –
Während diese Unterredung auf dem Jenny-Lind-Zimmer stattfand, war der Polizeicommissar Donner unten in der Gaststube zu einem Entschluß gekommen.
Donner gehörte zu denjenigen Leuten, welche durch einen schlauen Instinct, der bei ihm freilich nichts weniger als unfehlbar war, und durch großen Eifer ersetzen, was ihnen an sonstiger Fähigkeit zum tüchtigen Polizeibeamten mangelt. Eine erhebliche Portion von jener Art Ehrgeiz, welche den Streber bezeichnet, diente seinem Eifer als Sporn.
So saß er denn nach dem Vorfall mit Zehren in der Ecke mit dem Gesicht eines Fuchses, welcher Witterung hat. Daß der Fabrikant Ursache habe, ihn zu fürchten, das unterlag für ihn keinem Zweifel, und hielt er die Entdeckung des heutigen Abends mit der Warnung Urban's zusammen, so ergab sich klar, in welcher Richtung Zehren's Schuld lag. Derselbe mußte ihm zur Beute fallen, wenn er im richtigen Moment zugriff. Vielleicht stand hier noch weit mehr auf der Karte. Aus Urban's Aeußerungen glaubte Donner schließen zu müssen, daß Zehren, wo nicht das Haupt, so doch eines der Häupter jener geheimen Verbindung sei, welcher er auf der Spur war. Wenn dieser Mensch in der That Taubheit fingirte, woran Donner zu zweifeln nicht einmal recht die Lust hatte, wenn derselbe in so raffinirter Weise seine Deckung suchte, dann war er schwerlich schlechtweg ein Verschworener neben andern.
Aber war nicht der richtige Moment eben jetzt vorhanden? Noch saß er dort und sprach mit dem Consul. Vielleicht zehn Minuten noch, und er stand auf, gewarnt von den Unbekannen, dreifach gewarnt durch deren zufällige Entdeckung, und ging hin, um sich vor jeder Ueberraschung zu sichern. Die grellen Augen des Commissars leuchteten, und vor ihnen tauchten geheime Kasten, Schubladen mit Doppelböden und jene kleinen, saubern, verdächtig complicirt gearbeiteten Schlüssel auf, die er aus seiner Praxis kannte; heuchlerische, schuldlos aussehende Büchereinbände klappten die Deckel von einander und entpuppten sich als Enveloppen; darin lagen die kostbarsten Papiere übereinander, und gleich auf dem ersten Blatte stand oben geschrieben: Statuten des Geheimbundes – und wie es dann weiter ging. Ganz im Hintergrunde aber schwebte in leuchtender Schönheit ein bekannter Orden, und seine Strahlen fielen auf ein Avancements-Patent für den Polizeicommissar Donner, eine Berufung in die Hauptstadt. – Und der Polizeicommissar Donner strich sein dünnes, schlichtes, schwarzes Haar hinter den Ohren hervor, schlug sich auf die Schenkel und rückte mit vernehmlichem Räuspern auf dem Stuhle hin und her.
„Ich glaube, ich kann es wagen,“ murmelte er endlich. „Was wird es mir schaden, wenn es mißglückt? Die Schrift auf der Tafel kann ich in jedem Falle auf meinen Amtseid nehmen.“
Er erhob sich, nahm seine Mütze vom Nagel und ging zum Wirthe, dem er rasch die Zeche zahlte. „Sie könnten mir eine Auskunft geben, Vater Schoner,“ meinte er nebenbei. „Wen hat der Zehren dort eigentlich jetzt bei sich im Hause?“
„Die alte Wirthschafterin, die er von seinem Onkel geerbt hat,“ entgegnete Schoner gleichmüthig, während er das Geld in die klirrende Tasche des Beinkleides gleiten ließ.
Der Commissar stolperte die Treppe hinab auf die Straße und verfolgte die Richtung des Canals nach der Brücke zu und über dieselbe hinaus bis dahin, wo die Wasser sich in den Fluß ergossen. Es war schon mondhell; das schwarze Gewirr von Baracken jenseits des Flusses spiegelte sich mit seinen vereinzelten hellen Fenstern in den raschen Strudeln, und man konnte das Wehr rauschen hören, das eine Strecke oberhalb der Canalmündung den Fluß durchsetzte. Er hielt vor einem zweistöckigen Hause an, einem ziemlich einfachen Baue mit Eisenstäben vor den untern Fenstern und einer Treppe; die Thür über dieser war mit einer ziemlich alten Sandsteinarbeit überdacht und mit Schnitzwerk bedeckt. Seitlich bezeichnete noch eine Thorwölbung den Zugang zum Hofe. Vor dem Hause, dicht am Canale, stand eine uralte, mächtige Kastanie, welche ein Sitz von Lattenwerk umschloß.
Donner betrachtete das Haus prüfenden Blicks und bediente sich dann ohne Besinnen eines Klingelzuges. Er mußte eine ziemliche Zeit warten, bevor sich ein schlürfender Schritt auf der Treppe hören ließ. Als die Thür vorsichtig geöffnet wurde, drängte er sich durch die Thürspalte und stand vor einer alten Frau in rothem Kopftuche, welche vor Schrecken über den Anblick der Polizei fast die Küchenlampe fallen ließ. „Jesus Maria,“ brachte sie zitternd über die Lippen, „ich dachte, es wäre Herr Franz. Er ist nämlich nicht daheim.“
„Das ist mir sehr gleichgültig,“ sagte der Commissar brüsk und nahm ihr die Lampe aus der Hand. „Wo ist der Schreibtisch Deines Herrn, alte Eule?“
„Was gefällig?“ fragte diese mit allen Zeichen der Schwerhörigkeit.
„Gott bewahre mich! Ist denn hier Alles taub?“ knurrte Donner, stieß die Frau unsanft bei Seite und stieg die Treppe hinan. Der Bewurf des Hausflurs und der Treppenwand sah ziemlich verwahrlost aus; unter den Stufen der Treppenbiegung ihm zu Häupten hing Spinngewebe hervor. Dennoch waren die Zimmer, in welche er gelangte, nicht ohne Comfort. Wachsteppiche lagen über den Dielen; die Zwischenthüren zeigten Portièren; Oelbilder hingen an den Wänden, und die meisten Möbel waren werthvolle alte Stücke und gut erhalten. Eines der Zimmer war völlig modern ausgestattet, und in diesem machte Donner Halt.
Die Alte kam im Dunkeln hinterdrein getappt; ihre Furcht war der Neugier gewichen. Der Commissar stand vor einem eleganten Schreibtische und zog eine unverschlossen Schublade nach der andern heraus, um sie sämmtlich nach flüchtigem Durchstöbern ihres Inhalts wieder zuzuwerfen. Zwei Fächer nur spotteten des Versuches, sie zu öffnen.
Donner machte dem Weibe wiederholt das Zeichen des Aufschließens vor, aber sie schüttelte den Kopf. „Die Schlüssel wird wohl Herr Franz haben,“ sagte sie, „da müssen Sie warten, bis er kommt, Herr Obercommissar.“
Donner brummte: „Daß ich ein Narr wäre!“ und zog einige Schlüssel aus der Tasche, welche indeß so wenig paßten, wie ein paar andere, welche in der Stube aufzutreiben waren.
[87] Während er bei sich überlegte, scholl auf der Straße der gedehnte Pfiff eines Wächters. Er sprang zum Fenster, öffnete einen Flügel und gab, nachdem er eine Pfeife zum Vorscheine gebracht, ein Signal, welches sofort eine Antwort weckte. Der Wächter stand auf dem entgegengesetzten Canalufer.
„Holen Sie einen Schlosser mit Schlüsseln und Dietrichen, Mann! Ich bin der Commissar Donner.“
„Zu Befehl, Herr Commissar.“
Dieser trat vom Fenster zurück und vertrieb sich, ohne weiter von der Alten Notiz zu nehmen, die Zeit damit, noch einmal, die Lampe in der Hand, aufmerksam die Reihe der Zimmer zu durchwandern. Er fand indeß kaum etwas, das sein Auge länger als wenige Secunden fesselte, bis auf das letzte Zimmer, welches von allerlei Gerümpel voll stand und, wie der Commissar vermuthete, das Schlafzimmer des verstorbenen Onkels gewesen sein mochte. Er athmete einen häßlichen Geruch wie von Moder und Staub, blieb indessen hier, zog die Schubladen einer alten Commode auf, nahm die Deckel von einigen Kisten, welche ihm in den Weg kamen und theilweise mit werthlosem Papier gefüllt waren, und scheuchte nebenbei die Haushälterin fort, welche halb verwundert, halb neugierig spähend den Kopf durch die Thürspalte schob. Endlich schlug er die verstaubten Vorhänge von einem Himmelbett zurück, und hier war es, wo ein Gegenstand sein volles Interesse in Anspruch nahm.
Das Bett stand an der Wand. Ueber dem Kopfende zeigte die Wand eine niedrige Nische und in derselben stand ein viereckiger mäßiger Kasten mit Messingbeschlag, dessen Deckel eine fingerbreite Ritze hatte. Der Commissar nahm den Kasten ohne Schwierigkeiten von seinem Platze; seine Augen funkelten, wie er sich über die Kissen bog, und als er dann mit beiden Händen den Kasten schüttelte, klang es darin wie das Rascheln von Papier.
„Ganz sicher Briefe,“ murmelte er; „das Geräusch da ist mir gut dafür. Wir werden sehen, welche Geheimnisse diese Ritze passirt haben. Aber der Fund allein genügt nicht; der Inhalt könnte so alt sein wie die Schale.“
Er besah den Kasten auf allen Seiten und untersuchte die Beschaffenheit des Schlüsselloches, als Männertritte nebenan ihn störten. Der Wächter kam in Begleitung des Schlossers, und der Commissar winkte Jenem heran. „Schrot,“ sagte er, „Sie tragen diesen Kasten sofort in meine Wohnung und haften für ihn. Kommen Sie, Meister Lademann!“
Der Wächter nahm den Kasten unter den Arm und ging; der Commissar trat, mit der Lampe in der Hand, den Rückweg durch die Zimmerreihe an, und der Schlosser folgte ihm mit verdrossenem Gesicht. Die Haushälterin war nirgends mehr zu sehen. Die bezeichneten Fächer waren bald geöffnet, und der Commissar fand wenigstens eines derselben voller Papiere und gab sich mit Spannung der Untersuchung hin. Das Ergebniß war eine große Enttäuschung: er fand nichts als Rechnungen, auch nicht ein Brief war darunter.
„Verdammt!“ sagte er ungeduldig; „wir werden's anderswo probiren müssen, Meister.“ Er erhielt weder eine Antwort, noch rührte sich etwas im Zimmer, und als er aufblickte, da merkte er erst, daß der Schlosser verschwunden war. Gleichzeitig begann die Lampe trüber zu brennen und zu knistern, und Donner sah den Moment kommen, wo sie verlöschen würde. Er rief in verdrießlichem Tone: „Heda, Alte –“ hielt aber dann inne und knurrte: „Ah so, ich hatte vergessen. Die alte Unke ist schwerhörig.“ Dann stand er lauschend, und es war ihm, als höre er seinen Ruf noch in der Entfernung durch die dunkeln, einsamen Zimmer irren. Unschlüssig suchte sein Blick in der nächsten Umgebung und haftete auf einen Moment an dem mächtigen Oelportrait über dem Schreibtische; ein mürrischer alter Herr mit spitzer Stirn und etwas abstehenden Ohren hielt die Augen scharf auf ihn gerichtet, und es sah in der flackernden Lampenbeleuchtung aus, als ob die Lider des Bildes sich bewegten und die Augen blitzten. Donner war für Empfindungen wie Schauder und Furcht unzugänglich; gleichwohl wurde es ihm unbehaglich in dem öden, unheimlich stillen Hause, bei dem rothgelb verglühenden Dochte, und er suchte widerwillig den Ausgang.
Im Hausflure unten stieß er auf einen Mann, der soeben von der Straße hereingekommen zu sein schien, und da die Hausthür offen stand und die Straße im vollen Mondscheine lag, konnte Donner genug erkennen, um zu vermuthen, daß es Zehren sei. Er schritt mit voller Dreistigkeit auf den Ankömmling zu, um sich Gewißheit zu verschaffen, fühlte aber plötzlich eine Faust wie von Eisen, welche ihm unterm Kinne in die Halsbinde griff und die Kehle zusammendrückte.
„Der Dieb ist hier. Schaffe Licht. Martha!“ rief die zornige Stimme Zehren's; „wir wollen uns den Schurken besehen.“
Und wie ein Geist tauchte plötzlich die alte Wirthschafterin neben den Zweien auf.
„Ach Du barmherziger Heiland – ich gehe schon die Lampe holen, Herr Franz, sagte sie mit jammerndem Tone und bewegte sich, so schnell sie vermochte, die Treppe hinauf.
Der Commissar knirschte die Zähne zusammen und wand sich vergeblich, um loszukommen; jeder heftige Versuch drohte ihn zu ersticken. Er stand endlich richtig und schrie heisern Tones: „Spielen Sie keine Komödie mit mir, Herr! Ich weiß so gut wie Sie, daß die alte Hexe Sie hergerufen hat und daß Ihre Taubheit eine Faxe ist. Lassen Sie los, oder – bei meiner Seele –“
Keine Antwort. Sein Hals schmerzte empfindlich, und er sehnte den Moment herbei, wo die Alte mit der Lampe kommen würde. Auch Zehren wurde ungeduldig und murmelte unverständliche Worte; oben rief die krähende Stimme der Wirthschafterin, aber es war nicht zu verstehen was.
Endlich fiel ein Lichtschimmer über die Treppe nieder.
„O Jemine, es ist der Herr Ober-Commissar selber,“ machte die Alte mit einem Erstaunen, welches Donner für erheuchelt halten mußte. „Die Lampe war schuld, daß ich so lange blieb; sie war beinahe erloschen und ich mußte erst Oel aufgießen –“
Zehren hatte den Commissar sofort aus der Faust entlassen, als das Gesicht desselben zu erkennen war. Aller Zorn war aus seinen Minen entwichen; sie sprachen im Gegentheile eine gewisse Enttäuschung aus, als er sagte: „Entschuldigen Sie, mein Herr! Ich habe jene Frau mißverstanden; ich bin von der neuen Welt her gewohnt, in Eindringlingen, welche meine Hausleute in Schrecken setzen, nur verdächtiges Gesindel zu vermuthen. Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Commissar?“ Und er holte wieder sein Täfelchen hervor und reichte es Donner hin, der von der fatalen Situation her noch alles Blut im Gesichte hatte und seinen dunkelrothen Hals rieb.
Ein grimmiges Lächeln spielte plötzlich um den Mund des Beamten, und er schrieb mit dem Stifte, den er in voller Heftigkeit ergriff: „Sie sind verhaftet.“ Dann riß er der Alten die Lampe aus der Hand und hielt dem Fabrikanten die Tafel unter die Augen.
Zehren that einen Schritt rückwärts, als er die Schrift gelesen hatte.
„Mit welchem Rechte verhaften Sie mich, Herr? Daß ich Sie im Dunkeln für etwas Anderes hielt, als Sie sind, werden Sie schwerlich als Grund für einen solchen Gewaltact betrachten wollen.“
Donner nahm die Tafel auf ein Knie, indem er zugleich den Henkel der Lampe mit dem Daumen hielt. „Das habe ich zu verantworten, und Sie werden mir gutwillig folgen, widrigenfalls ich für Hülfe sorgen werde.“ Er gab Zehren mit hochmüthigem Gesichte auch dies zu lesen, reichte der Alten die Lampe und warf die Tafel seitwärts auf die Fliesen des Hausflurs.
Dieser Ausgang der Sache schien dem Fabrikanten völlig unerwartet zu kommen. Sein Gesicht war um einen Schatten blässer geworden, und er sah düster und unschlüssig bald auf den Commissar, bald auf die Wirthschafterin, welche die Tafel eiligst vom Boden aufhob und ihm hinüberreichte.
Der Commissar wies mit einer herrischen Bewegung nach der Thür.
„Nun gut, mein Herr,“ sagte Zehren, „Sie repräsentiren das Gesetz und ich werde Ihnen folgen. Ich denke, es wird so viel Gerechtigkeit in meinem Vaterlande sein, daß ein Unschuldiger nicht ohne den Schein eines Rechtsgrundes seiner Freiheit beraubt wird. Wenn Sie in der Lage sein werden, Ihre Behandlung meiner Person aus dem Gesetze zu rechtfertigen, soll es mich freuen, und ich werde keinen Grund haben, Ihnen zu zürnen. Denn das Gesetz ist heilig. Wenn ich irgend worin gefehlt habe, so will ich es büßen. Gehen wir, mein Herr Commissar!“
Die Wirthschafterin trat ängstlich mit der Lampe zu ihm hin und zupfte ihn am Rocke. „Gehen Sie noch einmal fort, Herr Franz?“ machte sie mit den Lippen.
Zehren, der ihr aufmerksam in das grellbeleuchtete, faltige [88] Gesicht gesehen. hatte sie verstanden. Er bog sich zu ihrem Ohre nieder und rief: „Sie mögen sich zu Bette begeben, Martha; ich werde diese Nacht keinesfalls nach Hause kommen.“
„Ach, daß sich Gott erbarme! Er wird doch wohl nicht eingesperrt werden?“ klagte sie hinter den Beiden her, indem sie ihnen von der Thür aus nachblickte. Sie schloß dann die Thür sorgfältig ab und schlich, beständig mit dem Kopfe wackelnd und vor sich hin murmelnd, die Stufen hinauf.
Bulgarien, das weite Land, das von zwei mächtigen
Grenzhütern, der zum größten von Mitteleuropa ausgehenden
Strome angeschwollenen Donau im Norden und dem vielbesungenen
Hämus der Alten, dem weithin ausgestreckten Balkangebirge, im
Süden beschirmt wird und sich in die Länge vom serbischen
Morawaflusse bis zum Schwarzen Meer ausdehnt, dieses ganze,
Baiern an Größe gleiche Land war noch bis in die jüngsten
Zeiten in seinem Innern so wenig bekannt, als läge es am obern
Nil. Erdbeschreiber und Landkartenzeichner mußten mit Stift
und Griffel alten, ungenauen Nachrichten folgen, wie sie bei der
Darstellung dieses Türkengebietes mit spärlichen neuen Zügen von
einer Zeit auf die andere vererbt worden waren.
[89] Erst seit etwa einem halben Menschenalter geht uns über jenes Land und sein Volk, dessen Zahl wohl vier Millionen nahe kommt, neues Licht auf durch einen Mann, der die Durchforschung aller von Südslaven bewohnten türkischen Länder sich zum Lebensberufe gemacht hat: durch den 1829 zu Pest geborenen ausgezeichneten Kunsthistoriker und Ethnographen Philipp Felix Kanitz in Wien. Sein letztes größeres Werk über Serbien erschien 1868; sein großes Werk über Bulgarien[2] hat bereits in zwei Bänden (der zweite ist soeben erschienen) den Unterschied zwischen der bisherigen Landes- und Volkskunde und der wahren Gestaltung des Landes sowie den Zuständen und dem Leben der Bevölkerung dargethan. Fast so verwahrlost, wie das weite Gebiet durch die türkische Mißregierung, tritt nun die ehemalige Kunde von demselben uns entgegen. Gewässer und Gebirgszüge zeigen sich in anderm Lauf, unzählige Namen sind berichtigt, ja, wo die frühern Geographen im innern Lande Einöden verzeichneten, fand Kanitz zahlreiche und alte Dörfer vor.
Dennoch würde das mühevolle Werk des Autors vielleicht
noch lange nur von den Fachmännern in die Hand genommen
und durch deren Benutzung sein reicher Inhalt nach und
nach in die Lehr-, Schul- und Volksbücher übergegangen sein,
ohne für das Land selbst und für sich das allgemeine Interesse
gewonnen zu haben, wem nicht ein furchtbares Schicksal den
Namen „Bulgarien“ plötzlich tagtäglich durch alle Zeitungen
vor Aller Augen geführt hätte. Durch den Ausbruch des
serbisch-türkischen Kriegs wurde Bulgarien in die Mitte der
Kämpfer gestellt, und der angestachelte Fanatismus der Osmanen,
vor Allem die thierische Rohheit und Blutgier der Tscherkessen,
an welche wir einst als an die Freiheitskämpfer gegen Rußland
unsere Sympathie verschwendeten, ließen dem Wehschrei der hingeschlachteten
christlichen Bulgaren über die Welt erschallen. Wie
die Hülfe Europas für dieses wackre Volk aus den Händen der
Diplomatie hervorgeht, wird die Zeit lehren; der Wunsch, den
F. Kanitz aus der durch langjährigen Aufenthalt bei ihm gewonnenen
Würdigung desselben ausspricht, der Wunsch, daß diesem Volke sein
langersehntes, vollverdientes Recht, das heißt die Selbstverwaltung
der hartgeprüften bulgarischen Rajah endlich errungen werde,
wird, trotz aller Türkenliebe der Magyaren und Britten, auch
noch in Erfüllung gehen.
Vor der Hand hat durch jenen Krieg nur das Werk des F. Kanitz einen Sieg der Zeit gewonnen, es ist eine der zeitgemäßesten literarischen Erscheinungen der Gegenwart und schon deshalb unsrer besonderen Beachtung empfohlen.
F. Kanitz hat ein Hauptaugenmerk auf die Beschäftigung des Volkes gerichtet, sowohl auf dem Felde wie in den Werkstätten, und spricht die Ueberzeugung aus, daß Bulgarien einst als das Industrieland der Türkei aufblühen werde. Wir können diesen Gegenstand, welcher überdies erst in dem noch anstehenden dritten Bande des Werkes volle Erledigung finden wird, nicht weiter verfolgen, wählen aber zur Probemittheilung aus dem zweiten Bande die Schilderung eines Industriezweiges, der für die Frauenwelt einen besondern Reiz hat, die Rosencultur und die damit verbundene Bereitung des Rosenöls.
F. Kanitz überschreibt das Capitel, aus welchen wir das Folgende abdrucken: „Vom Rosenthal Kazanlik über dem Travna-Balkan nach Tirnovo“ und schildert Kazanlik, den Mittelpunkt dieser Industrie, als eine Stadt von 2500 bulgarischen, 1500 türkischen, 30 jüdischen und 50 Zigeunerhäuschen und etwa 21,000 Einwohnern. Auf dem Wege dahin beginnt seine Erzählung.
„Mit uns zogen kleine Karavanen in die Stadt. Jedes ihrer zahllosen Grauthiere trug an beiden Seiten des „Semers“ (Packsattel) riesige Körbe geschnallt, deren Inhalt die Atmosphäre mit lieblichem Dufte erfüllte. Muntere Dorfschönen mit blendend weißen Hemden und kleidsamen buntwollenen Vor- und Rückschürzen bildeten das Geleite des originellen, beinahe festlichen Zuges, denn alle waren mit Rosen geschmückt, auch die Stäbe waren mit der köstlichen Blume umwunden, welche die Mythe der Griechen, ja nahezu aller Völker verherrlicht und deren Wiege ausgezeichnete Orientkenner weit an den Gestaden des Indus vermuthen.
Der Cultus der „Königin der Blumen“ wurde niemals so
[90] schwungvoll als gegenwärtig in Holland betrieben. Ungeheuere Summen werden demselben in Holland geopfert; unzählige Arten, alle in Blatt und Farbe verschieden und specielle Namen führend, bilden den Stolz der holländischen Rosenzüchter, wandern von dort nach dem englischen Kreideland, bis an die Newa und nach den Gestaden des Bosporus, in die Gärten des Sultans und seiner Großen; denn selbst auf diesem Gebiete empfängt nunmehr der Orient mit Zinsen zurück, was er einst in bessern Tagen dem Occident geliehen. Am Tigris und Euphrat war die Rose bereits zu Herodot’s Zeit allgemein verbreitet, und die Babylonier huldigten ihr, indem sie mit metallenen oder in Holz sculpirten Abbildern der Lieblingsblume ihre Stäbe schmückten. Sie zählten wohl auch zu den Ersten, welche den köstlichsten Bestandteil der Zellen des Blütenblattes, das herrlich duftende Oel, durch einen den Griechen und Römern unbekannt gebliebenen Proceß schon frühzeitig zu extrahiren wußten. Das Rosenöl bildet noch heute den beliebtesten Parfümerie-Artikel im südlichen Asien. Zu Ghazimpur am Ganges wird es in großen Quantitäten erzeugt, aber es steht hoch im Preise, und der Unbemittelte muß sich mit dem billigeren Rosenwasser begnügen. Das indische Rosenöl beherrscht den orientalischen Markt, ja gelangt selbst nach Persien, dessen vielbesungene „Flur Schiras“ wohl Rosenwasser, aber nicht das kostbare ätherische Oel erzeugt. Auch die einst berühmte Rosenöl-Production Aegyptens ist im Sinken begriffen; Srinagars Fluren sind beinahe aufgegeben, auch jene von Medinet-Fajum sind vernachlässigt; sie decken kaum mehr den Bedarf im Lande des Khedive.
Was also in Indien, Persien und Aegypten an Rosenöl und Rosenwasser producirt wird, genügt nur für das Bedürfniß des Orients. Die großen, von europäischen und namentlich englischen Parfümeuren verbrauchten Quantitäten dieses kostbaren Stoffes werden aber nahezu ausschließlich in den pittoresken Gefilden an der thracischen Seite des Central-Balkans gewonnen. Dort, in einem ziemlich zusammenhängenden Complexe von mit Rosenculturen besäeten Districten, liegt ihr Mittel- und Hauptpunkt, Kazanlik, das noch seines Dichters wartet. Selbst Moltke, den „Schweiger“, versetzte der Anblick des „Kazanlik-Tekne“ in Enthusiasmus. Er nannte es das Kaschmir Europas, das türkische Güllistan, das Land der Rosen.
„Diese Blume wird hier nicht wie bei uns,“ schreibt Moltke, „in Töpfen und Gärten, sondern auf Feldern und in Furchen wie die Kartoffel gebaut. Nun läßt sich wirklich nichts Anmuthigeres denken, als solch ein Rosenacker; wenn ein Decorationsmaler dergleichen malen wollte, so wurde man ihn der Uebertreibung anklagen. Millionen, ja viele Millionen von Centifolien sind über den lichtgrünen Teppich der Rosenfelder ausgestreut, und doch ist vielleicht jetzt erst der vierte Theil der Knospen aufgebrochen. Nach dem Koran entstanden die Rosen erst während der nächtlichen Himmelfahrt des Propheten, und zwar die weißen aus seinen Schweißtropfen, die gelben aus denen seines Thieres, die rothen aus denen des Gabriel, und man kommt in Kazanlik aus die Vermuthung, daß wenigstens für den Erzengel jene Fahrt sehr angreifend gewesen sein muß.“
Wie wunderprächtig das Thal von Kazanlik ist, dafür spricht schon, daß von den hundertdreiundzwanzig thracischen Orten welche die Rosenölproduction als Hausindustrie treiben, zweiundvierzig ihm angehören und daß von eintausendsechshundertfünfzig Kilogramm, die durchschnittlich jährlich im „europäischen Güllistan“ gewonnen werden, achthundertfünfzig etwa, also mehr als die Hälfte auf dieses entfallen. Die Ziffern steigen und fallen natürlich je nach der buchstäblich von „Wind und Wetter“ abhängigen Rosenernte. Die thracische Rosenölproduction beträgt beispielsweise in dem allerdings außerordentlich günstigen Jahre 1866 nahe an dreitausend Kilogramm und sank im Jahre 1872 durch Frost und Hagel auf achthundert Kilogramm. Welch riesiges Terrain aber die Rosencultur beansprucht, geht daraus hervor, daß durchschnittlich dreitausendzweihundert Kilogramm Rosen erst ein Kilogramm Oel geben.
Die thracische Rose (Rosa damascena, sempervirens und moschata) mit ungefüllten, leichtrothen Blüthen gedeiht am besten auf sandigen, der Sonne ausgesetzten Hängen. Die Pflanzung erfolgt im Frühlinge und Herbste, die Ernte im Mai bis Anfang Juni. Der bäuerliche Rosenzüchter ist auch größtenteils Oelproducent, es giebt jedoch bereits solche, welche ihre Ernte in natura an die größeren Destillationen der Stadt, unter welchen die Firma „Brüder Papasoglu“ die berühmteste, abliefern. Sie erhalten je nach dem Ausfalle der Qualität pro Okka (gleich zweiundeinviertel Wiener Pfund) dreißig bis sechszig Para (gleich siebenundeinhalb bis fünfzehn Neukreuzer).
Die an den Abhängen des Balkans wachsende Rose ist um fünfzig Procent ölhaltiger als jene in der Ebene, sie giebt auch das stärkere Oel, ist theurer und mehr gesucht.
Die Rosenölproduction ist zweifach besteuert. Im Mai wird die Rosenernte von Regierungsorganen abgeschätzt und mit den andern Naturalsteuern von deren Pächtern zum Durchschnittsverkaufspreise des Jahres im Betrage von zwölfundeinhalb Procent der anzuhoffenden Ernte in Geld eingehoben. Das Oel selbst ist mit einer besondern zweiten Steuer belastet, und diese war vor zehn Jahren so übermäßig hoch, daß der gesammte blühende Industriezweig ernstlich bedroht erschien und die Bauern an Stelle der Rosen Mais etc. pflanzten. Zu jener Zeit nahmen die türkischen Zollämter noch überdies fünfzig Bara (gleich zwölf und einhalb Neukreuzer) pro Muskal Ausfuhrware. Gegenwärtig erhebt die Regierung außer dem Zehent, an Djumruk nur fünf Para pro Muskal (einundeinviertel Neukreuzer pro Medical) Ausfuhrzoll. Der Preis von huntdertdreiundzwanzig Muskal (gleich ein Wiener Pfund) Rosenöl bester Qualität betrug an Ort und Stelle in den letzten Jahren durchschnittlich hundertfünfundachtzig bis zweihundert Gulden österreichische Währung. Die Versendung des Rosenöls erfolgt in runden, hermetisch verlötheten Blechflaschen à fünfhundert Muskal, welche in dichtes, trefflich schützendes „Kecetuch“ (bulg. plos) eingenäht werden.
Das nach Europa in den Handel gelangende Rosenöl wird durch Mengung der Oele aus den Blüthen der Ebene und jenen der Berglagen auf zwölf bis dreizehn Grad Reaumur hergerichtet. Nur durch langjährige Erfahrungen läßt sich echtes von gefälschtem Rosenöle unterscheiden. Kenner unterscheiden es nicht allein am Geruche, sondern auch am Aussehen der Masse. Nach der Meinung der Eingebornen wird zur Fälschung Geraniumöl verwendet, nach wissenschaftlichen Untersuchungen ausgezeichneter englischer Chemiker ist es aber ausschließlich das aus Andropogon- und Cymbopogongräsern erzeugte „Idrisöl“, welches dem Rosenöle beigemengt wird. Die Moralität des Verkäufers gewährt die einzige Garantie für die Reinheit des kostbaren Rosenöls, und neben der bereits genannten Firma, welche sich neuestens mit Manoglu u. Sohn vereinigte und eine Filiale in Leipzig führt, können wir hier noch weiter als renommirte Häuser Ihmsen u. Comp., dann Holstein u. Comp. zu Constantinopel nennen.“
Ueber die außerordentliche Einfachheit der Bereitung des Rosenöls theilt F. Kanitz ein Bild mit, welches uns zwar nicht viel Aufschluß über seinen Gegenstand giebt, aber um so beachtenswerther für das friedliche Verhältniß ist, in welchem vor dem Kriege die Menschen verschiedenen Glaubens miteinander zu leben vermochten. Kanitz hatte die Nordseite des Balkans erreicht und von Travna aus mit einem bulgarischen Freunde einen Ausflug gemacht. „Mit kleinem Umwege,“ erzählt er, „führte mich mein Begleiter nach einer anmuthigen Lehne, an deren schattigem Hange ich zu meinem nicht geringen Erstaunen einen Geistlichen in bester Harmonie mit einem alten Türken bei der Destillation von Rosenöl beschäftigt fand. Es war eine Scene, wie sie nicht leicht freundlicher gedacht werden kann. Eben hatte des Popen Töchterlein prächtig duftendes Rosenmaterial in Körben für den bereits geheizten Kessel herbeigebracht, dessen Rohr durch einen Kühlbottich lief. Ein munter plätschernder Quell füllte ihn fortwährend mit frischem Wasser; daneben standen Flaschen, in welche der Türke die abgeschöpfte fette, wohlriechende Essenz durch einen Trichter mit kaum sichtbarer Oeffnung träufeln ließ. Ich konnte es mir nicht versagen, den primitiven, genau so wie in Kazanlik betriebenen, hier aber in malerischester Weise sich darstellenden Proceß mit einigen Strichen zu skizziren. Während dieser Arbeit erfuhr ich, daß Travna der einzige Ort am Nordhange des Balkans sei, welcher Rosenöl erzeugt, und daß Pope Stefan die Destillation für dessen drei Rosenpflanzer besorge, welche zusammen 1 1/4 bis 1 1/2 Kilogramm Oel in den Handel bringen. Der freundliche Pope verehrte mir ein Fläschchen „za spomenj“ (zur Erinnerung) und wir zogen weiter.“
Die Bereitung des Rosenöls ist bekannt. Vierzig Pfund frischer Rosen werden mit sechszig Pfund Wasser in eine Blase gebracht. Die Masse wird mit den [91] Händen gut gemischt und unter der Blase ein gelindes Feuer entfacht. Wenn das Wasser heiß zu werden anfängt und Dämpfe aufzusteigen beginnen, setzt man den Helm auf die Blase und verkittet die Fugen gut. Ebenso giebt man kaltes Wasser in das Kühlfaß. Die Vorlage wird angelegt und das Feuer weder zu heftig, noch zu schwach unterhalten. Wenn das geschwängerte Wasser überzugehen beginnt und die Blase sehr heiß ist, vermindert man nach und nach das Feuer und setzt die Destillation fort, bis dreißig Pfund Wasser überdestilirt sind, was gewöhnlich in vier bis fünf Stunden geschieht. Das so gewonnene Rosenwasser wird auf’s Neue auf vierzig Pfand Rosen gegossen wovon man vermittelst Destillation, wie angegeben, fünfzehn bin zwanzig Pfund abzieht. Dieses so gewonnene, destillirte Rosenwasser besitzt, wenn die Rosen frisch und gut waren und die Destillation sorgfältig geleitet wurde, einen sehr starken Geruch. Es wird dann in irdene oder verzinnte Gesäße gegossen und der kühlen Nachtluft ausgesetzt. Das Atar oder Rosenöl scheidet sich hierbei aus der Oberfläche in kleinen, weichen Stückchen oder Tröpfchen ab, welche mit dem Blatte einer Schwertlilie sorgfältig abgenommen werden. Zur Gewinnung von ein Loth Rosenöl sind durchschnittlich achttausend Rosen notwendig.
Blätter und Blüthen.
Wieder Einer dahingegangen. Man schreibt uns aus San Francisco: Die Deutschen in San Francisco haben heute eine schmerzliche Pflicht erfüllt: sie haben die irdischen Reste eines guten und braven Mitbürgers zur Ruhe bestattet. Dr. Ferdinand von Löhr starb in der Mittagsstunde des 28. December. Nur wenige Tage war er durch Bronchitis an’s Bett gefesselt und dadurch an der Erfüllung seiner Pflichten als Bürger und als Arzt gehindert, denen er ein Vierteljahrhundert lang unermüdlich oblag. Nur eine Stunde vor seinem Tode unternahm er noch, Leitartikel für den „California Demokrat“ zu schreiben, doch sein schwacher Körper und das vorgerückte Alter zwangen ihn, die Feder aus der Hand zu legen. Wir beklagen in ihm den Verlust eines der edelsten Männer unserer Stadt, der eine Zierde des Deutschthums in Amerika, ein Vorkämpfer für Volksrecht und Aufklärung war. Heute, am letzten Tage des scheidenden Jahres 1876, bei herrlichem Wetter, haben wir seine schwache Hülle der Mutter Erde übergeben. Nun ruht er aus von seinen irdischen Kämpfen, unfern vom Strande des Stillen Oceans. Der Sarg war reich mit frischen Blumen geschmückt. Das Trauergeleite war, den Verdiensten des Geschiedenen angemessen, groß und würdevoll.
Ferdinand von Löhr war 1817 in Worms geboren, studirte in Gießen Medicin und trat später als Militärarzt in die hessen-darmstädtische Armee ein. Im Jahre 1844 war er Präsident der deutsch-katholischen Gemeinde in Gießen, den Kampf für religiöse und Gewissensfreiheit aufnehmend. Die Wogen freiheitlicher Begeisterung auf politischem Gebiete erfaßten auch ihn, und im Jahre 1848 fand ihn die Revolutionsarmee in ihren Reihen. Seinem Verbleiben in Deutschland war nach dem Verunglücken der Revolution ein Ziel gesetzt; er mußte flüchten, und zu Beginn des Jahres 1849 warfen ihn die Wogen des atlantischen Oceans an die ferne Küste Amerikas, das ihm, dem Sohne der Freiheit, anfänglich als Asyl, als Zufluchtsort aus der geistigen und politischen Unterdrückung Deutschlands diente, doch später ihm zu einer lieben, neuen Heimath wurde. Mit vielen und nicht den unwürdigsten Söhnen Deutschlands traf ihn das gleiche Loos: dort Verbannung für Vaterlandsliebe und der Kampf um Volksrecht und Volkswohl – hier freundliche Aufnahme, persönliche, politische und religiöse Freiheit, ein unbegrenzter segensreicher Wirkungskreis, Arbeit in Hülle und Fülle, allgemeine Achtung und – letzte Ruhestätte. Nachdem er hier längst heimisch geworden und sich bereits einen Ruf als Arzt erworben hatten gelangte zu ihm die Kunde, daß er dieser seiner politischen Verbrechen wegen von mehreren Kriegsgerichten nur dreimal zum Tode und zu einhundertundsechs Jahren Festungsstrafe verurtheilt worden. Mit welchem Jubel er diese Nachricht empfing, braucht nicht näher bezeichnet zu werden, im Freundeskreise klangen die Gläser und aus der Kehle Freiheitslieder. Später hat er dieser seiner Verurteilung noch oftmals mit Stolz und Ironie gedacht.
Das Goldfieber im Beginne der fünfziger Jahre trieb auch ihn nach Californien, doch nicht das Gold war der Magnet, der ihn zog, er hoffte vielmehr sich dort schnell eine segensreiche Praxis als Arzt zu gründen. Im Jahre 1852 kann er nach San Francisco und sofort nahm er auch die Gründung einer deutschen Zeitung, des „California Demokrat“ in die Hand. Anfänglich war er Besitzer und Redacteur dieser Zeitung zugleich, das Recht als Besitzer veräußerte er alsbald, doch reservirte er sich das Recht als Redacteur, dessen Pflicht er bis zur letzten Stunde seines Lebens erfüllte. Und gerade in der Ausübung dieses Rechts und dieser Pflicht als Redacteur liegt die hohe Bedeutung und das allgemeine Ansehen, das er sich erworben, denn Jedermann muß von ihm sagen: Er war ein Ehrenmann, durch und durch rechtlich, aufrichtig, furchtlos, ein Freund alles Guten, Wahren und Schönen, ein Feind von Lug und Trug, Falschheit und Schlechtigkeit. In seiner eigenthümlichen Weise, in derber unzweideutiger Sprache schilderte er Personen und Verhältnisse. Eine einmal für recht und gut erkannte Ansicht verfocht er mit Heftigkeit und Energie. Die einflußreichen und mächtigsten Personen oder Parteiführer konnten ihn nicht schrecken, und kein Geld konnte ihn kaufen.
Wohl nie in diesem langen Zeitraume von vierundzwanzig Jahren hat er eine einzige Zeile geschrieben, die nicht seine volle Ueberzeugung wiedergab. Hierdurch gründete er seinen Einfluß auf’s Volk. Ohne Vorurtheil und unbestechlich, nur dem wahren Volkswohle huldigend, geißelte Dr. von Löhr die deutsche Kleinstaaterei, das Zopf- und Bierphilisterthum, die Reaction mit ihren Früchten –- doch war er einer der Ersten, der zur Zeit der Gefahr, als französische Invasion drohte, den Haß gegen preußische Bajonette überwand, und einem einigen Deutschland unter Preußens Führung enthusiastisch das Wort redete.
In gleicher Weise zeichnete er den Deutschen Amerikas die Licht- und Schattenbilder amerikanischer Zustände bekämpfte den Fremdenhaß, begünstigte die Aufhebung der Sclaverei, verdammte den Bürgerkrieg mit seinen Folgen, focht für Ehrlichkeit und Reinheit der Verwaltung und Justiz, bespottete das Muckerthum und Temperanzwesen und stritt mit kräftigen Keulenhieben gegen die in erschreckender Weise um sich greifende Corruption und Gesetzesverletzung der letzten Jahre. Der jüngsten politischen Krise widmete er treffliche Artikel, und in allerletzter Zeit hat er unablässig dem Volke die Gefahr vor Augen gehalten, die in der Usurpation der Staatsstreichler liegt, die an der Wahlurne unterlegen und dennoch ihre Macht durch Betrug und Diebstahl, Constitutionsverletzung und Machtanmaßung aufrecht zu erhalten suchen. Inmitten dieser seiner Pflichterfüllung ereilte ihn der Tod, und seine Feder ruht für immer.
Dem „Deutschen Hospital“ war er Mitbegründer und ältester Arzt. Vielen Leidenden hat er Beistand geleistet. Seine Hülfe in Rath und That stand Jedem offen, er fragte nicht nach Vergütigung. Sein Lohn lag in seiner Brust, in dem Bewußtsein erfüllter Pflicht. Der alte Löhr war ein Sonderling, ein Mann, der wenig auf Aeußerlichkeiten gab, aber in seiner Brust schlug ein warmes Herz, und sein tiefes Gemüth war nur auf gute Thaten bedacht. Arm ist er gestorben, doch reich an Segenswünschen seiner Mitmenschen.
Optische Verstümmlungen. Zur Zeit kann man in der deutschen Reichshauptstadt an drei oder vier verschiedenen Orten Damen ohne Unterkörper bewundern. Die schöne Fatimah, oder wie sie sich sonst nennt, erscheint dem Beschauer als lebendige, auf einem unverhangenen vierbeinigen Tisch placirte Büste, ohne daß er von ihrem Unterkörper die geringste Spur zu erblicken im Stande wäre. Man glaubt ein sehr gelungenes, mit Hohlspiegeln erzeugtes Luftbild vor sich zu haben, da öffnet die „schöne Tscherkessin“ den Mund und ersucht ihren Halbirer sie dem versammelten Publicum „zu erklären“. Mit jener Gewissenhaftigkeit, die den Löwen im „Sommernachtstraum“ so sehr auszeichnet, versichert nun dieser ehrliche Mann, daß die schöne Tscherkessin durchaus nicht ist, was sie scheint, sondern eine fehlerfrei gewachsene Deutsche, daß es zuerst dem Professor Robinson in London gelungen sei, Menschenkinder so zu verstümmeln, und daß Vorzeiger dieses seine sechs- oder gar zehntausend Thaler für die Kunst bezahlt habe. Wir wollen unsern Leser für weniger Geld mittheilen, wie dieses Jahrmarktstück, welches sich anderwärts als Sphinx, redenden Kopf, Enthauptung und dergleichen producirt, gemacht wird. Die ganze Zauberei beruht darauf, daß die Büste oder der Kopf in der Schüssel scheinbar auf einem gewöhnlichen vierfüßigen Tische zu stehen scheint, zwischen dessen Füßen man ungehindert durchblicken zu können glaubt, während doch dieser Unterraum, zur sichern Verbergung der Ergänzungen jener sichtbaren Theile mit undurchdringlichen Spiegelscheiben zugesetzt worden ist. Von den vier Beinen des Tisches wird das eine den Zuschauern zugekehrt und zwischen ihm und seinen beiden Nachbarn sind weiße Spiegelscheiben derartig eingefügt, daß sie von den Füßen und der von der Rahmenkante des Tisches genau eingefaßt werden. Die den Boden berührenden untern Kanten der beiden Spiegel werden den Blicken der Zuschauer durch ein davor gelegtes langes Plakat oder dergleichen entzogen. Dieser Spiegeltisch ist nun derartig auf einen Teppich oder dergleichen mit symmetrischen Mustern aufgestellt, daß diese sich in Folge der Spiegelung regelrecht unter dem Tische fortzusetzen scheinen, woselbst man auch die von seitlichen Coulissen gespiegelte Hinterwand, ja sogar ein gespiegeltes hinteres Tischbein zu gewahren glaubt. Da beide Spiegelflächen unter einem Winkel von circa 45 Grad gegen die Beschauer stehen, so können sich diese in denselben nicht wahrnehmen, und die „Professoren“, die uns auf solchen unverhüllten Tischen irgend welche Wunderdinge zeigen, haben nur nöthig zu vermeiden sich denselben von den Seiten zu nähern oder dahinter zu treten.
Diese ebenso sinnreiche wie einfache Zauberei erinnert mich an ein andres, wahrscheinlich unbeabsichtigtes Spiegelwunder, welches mir im Schlosse von Versailles gezeigt wurde. In einer Saalecke begegnen sich dort mehrere Spiegelscheiben derart, daß man, in einer gewissen Entfernung stehend, sein Spiegelbild ohne Kopf erblickt, wobei man sich, wenn nicht ein auffallender Kleiderstoff die Erkennung begünstigt, gewöhnlich erst durch Armbewegungen überzeugen muß, daß man seiner eigenen Köpfung im Bilde zuschaut. Die viel ausgebeutete Sage, daß sich Marie Antoinette einst in den Tagen ihres Glanzes ohne Haupt im Spiegel erblickt habe, würde hier eine sehr einfache Lösung finden, wenn sie nicht vielmehr, aller Wahrscheinlichkeit nach, erst aus diesem von den Castellanen jedem Fremden gezeigten Spiegelwunder hergeleitet worden ist.
[92] Systematische Prügel. In Amerika ist kürzlich, wie die Zeitungen berichten eine Prügelmaschine erfunden worden mit welcher gleichzeitig an zwölf Kindern die Ruthenstrafe sehr energisch vollzogen werden kann. Sollte dieser geniale Gedanke nicht in besonderem Grade das Interesse derjenigen Kreise der deutschen Lehrerwelt erregen, von denen seit einigen Jahren das Recht beliebigen Prügelns in den Schulen zu einem Gegenstande emsiger Studien und entschiedener Vertheidigung gemacht worden ist? Die großen Erziehungslehrer und pädagogischen Reformatoren der von mancher Seite her jetzt als „überwunden“ erklärten Humanitätsepoche, Rousseau und Basedow, Pestalozzi und Diesterweg, haben bekanntlich das bis dahin zu den notwendigen Erziehungsmitteln gerechnete Schlagen der Kinder im Principe bekämpft und zwar aus Gründen der pädagogischen Nützlichkeit sowohl, wie der Humanität und des natürlichen Zart- und Würdegefühls. Seit Jahrzehnten hat auch die Wissentliche Meinung und die ganze Strömung des Zeitgeistes dieser Auffassung zweifellos sich angeschlossen, und auch die Staatsgesetze haben derselben durch Beschränkung des Züchtigungsrechts und durch Schutzmaßregeln gegen Ueberschreitungen Rechnung getragen. Das „Hauen“ war dadurch in den deutschen Schulen zwar im Ganzen nicht beseitigt, aber doch mehr oder weniger durch die Vorsicht, welche prügellustige Lehrer sich auferlegen mußten, auf ein bescheidenes Maß beschränkt worden, Eine vollständige Abschaffung schien nur noch eine Frage der Zeit und der steigenden Gesittung zu sein.
Da kam in den zehn Jahren nach 1848 die gewaltsame Einführung einer pietistisch-orthodoxen Dressur der Volksjugend durch die zelotischen Parteiminister Raumer und Mühler, es kamen die berüchtigten schwarzen Schulregulative. Dieses System brachte auch die Prügel wieder zu vollen Ehren. In der Guido Weiß’schen Zeitschrift „Die Wage“ hat Eduard Sack neuerdings den verdienstvollen Nachweis geführt, wie sehr die Herrschaft jener „gläubig-frommen“ Pädagogik der Prügelstrafe in den Schulen Vorschub geleistet hat. Züchtigung, Kasteiung und Demütigung des Fleisches zur Austreibung des alten „Adam“ ist ja ohnedies eine der Lieblingsforderungen auch unserer modernen Frömmlinge, und ginge es nach ihnen, so würden auch den Erwachsenen diese „Seelenerfrischungen“ oft und reichlich zu Theil. Im Uebrigen aber widersetzte sich die Natur der Kinder der ihr zugemuteten grausamen Ueberladung mit religiösem Gedächtnißstoffe. Wollte der Lehrer bei der strengen Schulrevision vor seinen geistlichen Vorgesetzten bestehen, so mußte er seinen Schülern die massenhaften Gesangbuchslieder und Bibelsprüche, welche sie jederzeit sollten hersagen können, durch das Hülfsmittel der Schläge einzubläuen suchen. Der Erfolg aber zeigt sich setzt deutlich in dem Wehegeschrei aller dieser Zionswächter über den Abfall, die Irreligiosität und „Entartung“ desselben Geschlechts, das sie in den Tagen ihrer Macht in den pietistisch gestalteten Schulen durch frühe Brechung des Lebensmuthes zu glaubensvoller Unterwürfigkeit hatten dresiren wollen.
Die Regulative waren ein unhaltbares Experiment fanatischen Parteiübermuthes, das aber mit der Alleinherrschaft dieser Partei nicht gefallen ist, ohne erhebliche Schäden im Schulwesen zurückzulassen. Die meistens im Amte gebliebenen Vertreter der „frommen“ Richtung bemühen sich auch, von dem System einstweilen zu retten, was zu retten ist, und so ist ihnen namentlich das Prügelwesen, das „Strafrecht des Lehrers“, eine jener Herzensangelegenheiten, die sie mit aller Wärme des Eifers als „Zucht der göttlichen Ordnung wider die falsche Humanität revolutionärer Tagesschriftsteller und Gemeindeobrigkeiten“ zu verteidigen suchen. Wir haben uns einige diesen Erörterungen gewidmete Schriften herbeigeschafft und wirklich gestaunt über den angestrengten Fleiß, mit dem hier der widerwärtige Gegenstand zu dem Range einer wissenschaftlichen Frage erhoben werden soll. So stellte vor einigen Jahren der gläubig-regulative ostpreußische Provinzialschulrath Bock seinen Lehrern die Preisaufgabe: Wie die Ueberschreitung der körperlichen Züchtigung (nicht etwa diese selbst) gründlich zu beseitigen sei? Es gingen zweiunddreißig Arbeiten ein, den Preis aber erhielten nur solche, die den Beweis führten, daß das Schlagen in den Schulen nicht zu entbehren wäre. Verschiedene der Einsender bekundeten einen Standpunkt, für den uns die parlamentarische Bezeichnung fehlt. Die schmerzhaften Rutenstreiche auf die innere Hand nennen diese zeitgenössischen Pädagogen eine bloße „Spielerei“. Einer verlangte eine aus ledernen Riemen geflochtene Peitsche. ein Anderer eine richtige Reitpeitsche, ein Dritter einen haltbaren Stock. Genug davon! Wenn aber solchen Discussionen einmal freier Lauf gelassen wird, so wirken sie ansteckend auch auf weitere Kreise. Einer der bemerkenswertesten Vorgänge in dieser Hinsicht hat sich vor drei Jahren in Dresden ereignet. Auf Veranlassung der städtischen Schuldeputation hat dort die Directoren-Conferenz über die Schulprügel in einer amtlichen „Darlegung“ sich geäußert, die sogar Ostern 1874 im Programm der öffentlichen Volksschulen Dresdens veröffentlicht wurde. Die Herren haben der Aufgabe den hingebendsten Mannesernst gewidmet, ein förmliches System möglichst schmerzhaften, aber unschädlichen Prügelns haben sie aufgestellt und man muß diese Untersuchungen lesen, um den Scharfsinn und die minutiöse Genauigkeit bewundern zu können, mit der hier über die körperlichen Stellen gehandelt wird, auf welche geschlagen, und über das Instrument, das zum Schlagen benutzt werden soll.
Wir wissen nicht, wie groß die Zahl deutscher Schulmänner ist, die heute noch den Stock für eines der notwendigsten Mittel ihres Berufes halten. Aber einen in hohem Grade befremdenden Eindruck hat es doch weit und breit gemacht, als vor Kurzem aus dem Erfurter Lehrertage auch ein Lehrer freisinniger Richtung mit starkem Eifer für das Kinderprügeln eingetreten ist. Wir sind gewiß die Letzten, welche die ungeheuren Schwierigkeiten im Berufe und in der Stellung des Lehrers verkennen und ihm nicht auch für ganz besondere Fälle eingreifende Strafmittel gestatten möchten. Die sogenannte „falsche“ Humanität aber weiß sehr wohl, was sie will, wenn sie gegen jedes beliebige Prügeln sich erklärt. Nicht alle Lehrer sind Engel, und in den Schulen sollten die Schläge schon deshalb nicht conservirt werden, weil sie den jungen Seelen das Beispiel einer Strafart geben, die außerhalb der Schule doch als unbedingt roh, als unzweifelhaft häßlich aus den Kreisen der guten Sitte verbannt worden ist.
Zwei neue Erzählungswerke. Wenn wir im Folgenden auf zwei
Werke hinweisen möchten, welche sich durch innern Gehalt über die Alltagserscheinungen
im Gebiete der Belletristik erheben, so geschieht es deshalb,
weil die Autoren derselben zunächst zwei Vorzüge für sich in Anspruch
nehmen können: das Interesse, welches wir an den handelnden
Personen in der Novelle „Rudolf“ von Hermann Presber (Leipzig,
Theodor Thomas) und dem Roman „Verschiedene Stände“ von Adolf Brennecke (Stuttgart, Cotta) gewinnen – denn diese Werke und diese
Autoren meinen wir – liegt nicht allein in der Erfindung sogenannter
spannender Situationen, sondern in den geschilderten Charakteren selbst, und
beide Bücher eignen sich ihrem ganzen Inhalt nach für jeden Leserkreis, für
Alt und Jung, für die Familie. Der Standpunkt der beiden Schriftsteller ist ein
durchaus freisinniger. Wenn das Brennecke’sche Buch eine buntre Abwechslung
bietet als das Presber’sche, so hat die Novelle „Rudolf“ dafür den Vorzug,
daß die Entwicklung jeder einzelnen handelnden Figur mit einer
Sorgfalt, mit einer Feinheit angelegt und durchgeführt worden ist, wie
wir es selten bei einer Novelle gefunden haben. Und vor allen Dingen
schwebt über dem Werke von Presber ein so allerliebster, köstlicher Humor,
daß wir wohl befugt sind, die Novellendichtung in dieser Hinsicht als
einzig in ihrer Art zu bezeichnen. Freilich wollen wir auch nicht unerwähnt
lassen, daß der Schluß der Hermann Presber'schen Novelle etwas
überstürzt erscheint; wenn sonst oft der Spruch zutrifft „Weniger wäre
mehr gewesen“, so müssen wir bei „Rudolf“ beklagen, daß dieses Buch
nicht statt in einem Bande in zwei Bänden vor uns liegt. Nicht ohne
Rührung kann man die Darstellungen des Kinderlebens in der Presber’schen
Novelle lesen; es zeigt sich darin eine sinnige Beobachtung des Seelenlebens
der Jugend und eine innige Liebe zu den Kleinen, deren warmer
Hauch wahrhaft herzerfrischend berührt. Brennecke offenbart eine reiche
Kenntniß des Lebens in allen Ständen; in seinem Erstlingswerk zeigt sich
der Autor als ein gereister, weltkundiger Mann, der eine große Fülle
von Kenntnissen angesammelt hat und dieselben geschickt zu verwerthen
weiß. Was beiden Werken besonderen Reiz verleiht, ist der frische Griff
in’s volle Menschenleben, in den auftretenden Personen finden wir ein
Spiegelbild des Lebens unsrer Zeit, von echter dichterischer Kraft gestaltet.
Eine eingehende Besprechung gestattet die Rücksicht auf den Raum dieser
Zeitschrift nicht. Mögen diese wenigen Zeilen genügen, die Aufmerksamkeit
des Leserkreises der „Gartenlaube“ auf beide Erscheinungen hinzulenken!
Der zeichnende Telegraph, den man jetzt anwenden will, um Verbrecherportraits
in alle Welt zu versenden, wurde während der letzten
Weltausstellung benutzt, um die täglichen Wetterkarten des berühmten
meteorologischen Instituts von Washington nach Philadelphia zu telegraphiren,
woselbst man sie, wenige Stunden nach ihrer Vollendung
in Washington, in einem schleunigst besorgten Umdrucke auf dem Ausstellungsplatze
kaufen konnte. Das zur Herstellung des abzutelegraphirenden
Originals von den Ingenieuren Sawyer und Smith erfundene Verfahren
zeichnete sich durch originelle Einfachheit aus. Man entwarf die
Zeichnung in Washington mit glycerinhaltiger und in Folge dessen
klebrig bleibender Tinte auf Papier und bestreute die Zeichnung mit
feingepulvertem Schellack. Wenn man nunmehr nach dem Abstäuben des
überflüssigen Gummiharzes die heiße Metallwalze des Telegraphenapparates,
über welche nachher der stromabsendende Telegraphenstift in
engen Parallellinien hingleitet (vergleiche Gartenlaube 1877, S. 48) über
diese Zeichnung hinrollte, so übertrugen sich ihre Striche und Umrisse als
geschmolzener Schellack auf die Walze, und das Telegraphiren konnte vor
sich gehen. Während so der zeichnende Telegraph sich endlich in die Praxis
einführen will, überrascht uns plötzlich die Kunde, daß sein Erfinder
Professor Alexander Bain zu Broomhill in Schottland nach langem
Siechthum gestorben ist.
Verunglückt oder flüchtig? Wir werden um Aufnahme nachfolgender
Zeilen zur Auffindung eines Vermißten ersucht und wenden uns
damit an die in ähnlichen Fällen schon oft bewährte Mithülfe unserer
Leser. Man schreibt uns:
„Der Kaufmann Victor Dembezak aus Breslau verließ Mitte Juli 1870 Cairo, um sich in Berlin zum Militärdienst zu stellen. Sein letzter Brief ist datirt aus Triest den 6. August 1870. Nach diesem Briefe will p. Dembezak in Triest erkrankt sein und stellte deshalb sein verspätetes Eintreffen in Berlin in Aussicht. Trotz der Nachforschungen der Berliner, Breslauer und Krakauer Polizeibehörden ist seitdem über den Verbleib des p. Dembezak nichts weiter ermittelt worden, als daß derselbe im Juni 1872 zu Detroit in Michigan (Nordamerika) sich aufgehalten hat. Da der p. Dembezak baares Geld sowie Werthgegenstände in Cairo behufs Ablieferung in Berlin erhalten hatte, so kann dessen Verschwinden nur dahin gedeutet werden, daß er verunglückt oder flüchtig geworden ist. Etwaige Mittheilungen über den Aufenthalt des Verschwundenen werden mit Dank entgegengenommen und wolle man solche gefälligst an die Redaction der Gartenlaube richten.“
H. D. in B. Um ihrer Tochter ein Capital zur künftigen Ausstattung
durch jährliche Einzahlungen zu erwerben, können Sie die „Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig“, neben der „Gothaer“ eine der
ältesten und solidesten Deutschlands, mit voller Sicherheit benutzen. Eine
Versicherung auf den Lebensfall. d. h. eine solche, die dem Versicherten schon
bei Lebzeiten ausgezahlt wird, dient als Kinderversorgungs- und Aussteuer-Versicherung, und der Agent dieser Gesellschaft in Ihrem Orte wird Ihnen
ebenso bereitwillig wie die Gesellschaft hier nähere Auskunft geben.
- ↑ Von einer der hervorragendsten deutschen literarischen Capacitäten wurde uns übrigens versichert, daß der Prinz Napoleon ein durchaus wissenschaftlich gebildeter Mann ist und daß seine so oft beschrieene Muthlosigkeit sich der Hauptsache nach auf die Erfindungen seiner erbitterten Feindin, der Kaiserin Eugenie, zurückführen läßt.D. Red.
- ↑ „Donau-Bulgarien und der Balkan. Historisch-geographisch-ethnographische Reisestudien aus den Jahren 1860 bis 1876“ Mit vielen Illustrationen im Text und Holzschnitttafeln. Leipzig,. Verlagsbuchhandlung von Hermann Fries.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: folgeu
- ↑ vergl. Kleiner Briefkasten (Die Gartenlaube 1879)#Heft 45