Die Gartenlaube (1877)/Heft 28
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No. 28. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Wildl wußte nicht, wie ihm geschah, als er das Entsetzen sah, das er den Kindern einflößte. In der ersten Aufwallung wollte er den Buben nach, um sie zu züchtigen, aber er fand die Kraft nicht dazu; denn im Augenblick loderte es vor seinen Augen wie die Flammen eines plötzlich ausgebrochenen Brandes empor, der ihn selbst, sowie seine Aussichten und Hoffnungen beleuchtete – der Stern der Hoffnung, der ihm bis zu dieser Stelle geleuchtet, war also nichts gewesen als ein Stern in einem Feuerwerk, das für einen Augenblick die ganze Gegend mit einem Lichtmeer übergießt, um sie dann in desto tiefere Finsterniß zu versenken. Die Verstimmung währte indeß nicht lange; er überredete sich bald selbst, daß es nur Kinder gewesen, welche die Verhältnisse nicht zu beurtheilen vermöchten und bald anders denken würden, wenn die Eltern und anderen Dorfbewohner durch ihr Betragen bewiesen, daß die entsetzliche Beschuldigung, die sie ausgesprochen, nichts mehr sei als leeres Gerede. Er sah von Weitem, wie die Kinder im großen Bogen sich wieder der Straße näherten, und schritt dem Dorfe zu, dessen erstes Haus, ein Wirthshaus, ihn gastlich und um so mehr anzog, als es ihm von den Jahren seines Dorfaufenthalts wohl vertraut war. Wie ein vom Platzregen überraschter Vogel die Wassertropfen, suchte er den Eindruck der Kinderbegegnung abzuschütteln, drückte den Hut fester in die Stirn und murrte vor sich hin. „Dumme Buben! Was verstehen die davon? Der Hund des Gerichtsdieners ist gescheidter als sie; er hat mir die Hand geleckt.“
Er vollendete nicht; denn das Gasthaus war erreicht, aus welchem ihm die Laute eifrigen Gesprächs, zeitweise mit lautem Lachen untermischt, wie grüßend entgegentönten. Es war allerdings nicht um die Zeit, zu welcher die Dorfbewohner sich daselbst einzufinden pflegen, aber die Bauern hatten heute eine Berathung wegen eines Weges zu pflegen, den das Landgericht gebaut haben und gegen welchen man sich sträuben wollte. Deshalb war die Stunde nach dem Mittagsessen zur Zusammenkunft gewählt worden, und an ein paar zusammengeschobenen Tischen saßen die Berather hinter ihren Krügen bedächtig beisammen, während in einem Vorderstübchen ein paar jüngere Bursche sich aufhielten, deren Aussehen verrieth, daß sie zu jener Art von Stamm- und Wandergästen gehörten, die selten in einem Wirthshause fehlen und die man gewöhnlich Tagediebe nennt, wenn sie noch nicht völlig zu Lumpen und Verbrechern geworden sind. Sie hatten eine Cither vor sich auf dem Tisch, auf der sie herumklimperten, unbekümmert um die wichtigen Gespräche der Bauern, die sich hinwieder auch nicht daran stießen, wenn hie und da Cither und Gesang etwas laut wurden, und besonders die Kellnerin, eine derbe, lebfrische Dirne mit rothen Backen und Lippen und ein paar überlustigen Haselnußaugen, mit unverhaltener Stimme Schnaderhüpfeln sang.
Einer der Bursche war Fazi, der Maurer. Er trug eine hellblaue Soldatenjacke, von welcher der Kragen als militärisches Abzeichen losgetrennt war; er mochte dem Krug bereits wacker zugesprochen haben, denn er war ausgelassen lustig und schon der Grenze nahe, wo die Erregung des Trunkes in Abstumpfung und Betäubung überzugehen anfängt.
Wildl war eingetreten und hatte mit leichtem Gruße an einem leeren Tische in der Nähe des Ofens Platz genommen. Mit seinem Eintreten war es, als ob das rauschende Wasser an einem Mühlwehr gestellt worden wäre; das Gesumm der Stimmen verstummte wie auf Befehl oder Verabredung, und augenblicklich wurde es in der Stube so still, daß man den Perpendikel der großen Standuhr hörte, der gleich und unabänderlich fortging, wie der hörbar gewordene Pulsschlag der Zeit.
Wildl war es zu Muthe, als ob ihm das Herz stille stehen wollte; er vermochte kaum der Kellnerin Antwort zu geben, die kurz nach seinem Begehren fragte, und ward es nicht gewahr, daß sie, Krug und Brod abgewendet und flüchtig vor ihn hinstellend, es nicht einmal der Mühe werth fand, das jedem Gaste gebührende und landesübliche „Gesegn’ es Gott!“ auszusprechen. Vom Tische der Bauern tönte ebenfalls kein grüßendes Wort, aber der Blick der Meisten ruhte verwundert auf ihm, während Andere in ihre Krüge hineinsahen, wie um einen unangenehmen Anblick oder einer Nöthigung zum Gruße auszuweichen. Wie sollte Wildl diesen allgemeinen Zeichen der Geringschätzung entgegentreten? So sehr auch das Blut in ihm aufwogte, er fand keinen Ausweg, kein Wort der Erwiderung. Er hatte gehofft, daß die Thatsache seiner Freilassung genügen würde, ihn in der allgemeinen Meinung herzustellen; jetzt ward ihm plötzlich die ganze furchtbare Bedeutung des über ihn ergangenen Richterspruches deutlich, er erkannte, daß er den Verdacht an seinem Fuße gleich einer unsichtbaren Kette nachschleppte, an welcher man ihn jeden Augenblick zurückzuziehen vermochte. Er konnte den argwöhnischen Augen nicht offen entgegentreten, denn er las darin: „Was willst Du von uns? Du bist verdächtig und kannst nicht verlangen, daß wir besser von Dir denken als das Gericht.“
Um das Maß seiner Erregung voll zu machen, war Fazi sofort [468] bei seinem Anblick aufgesprungen, hatte seinen Krug erfaßt und schickte sich mit etwas unsicherem Schritt an, dem unvermuthet erschienenen Bekannten seinen Gruß zu bringen. Konnte es noch eine stärkere Demüthigung geben, als die bereits erlittene war, so lag sie darin, daß der zweideutige Bursche der Einzige war, der ihn in der Freiheit und der Heimath willkommen hieß. Fazi kam übrigens damit nicht so leicht zu Stande. Da er ohnehin im Begriffe war seine Wanderung fortzusetzen, wollte er vorher von der Kellnerin Abschied nehmen, die seinen Worten nicht ohne Gefallen lauschte. Er schien ihr dringend eine Frage an’s Herz zu legen und eine bestimmte Antwort oder ein Versprechen zu verlangen, worauf das Mädchen endlich lachend in die gebotene Hand einschlug.
„Grüß Dich Gott!“ rief er, als er endlich losgekommen war. „Treffen wir da wieder zusammen?“
Wildl wandte sich und schien die Begrüßung nicht beachten zu wollen. „Geh’ Deiner Wege!“ rief er, „ich habe nichts mit Dir zu schaffen.“
„Oho,“ erwiderte der Andere. „Giebst Du’s noch immer so hoch? Ich meine, Du solltest wohl vom hohen Roß heruntersteigen, aber meinetwegen thu’ Du wie Du willst! Mir kann’s recht sein. Ich halt’ Dir doch mein Wort und sage keinem Menschen, wo wir mit einander übernachtet haben. Behüt’ Dich Gott, neuer Himmelmooser! Laß’ fein die Kalkgrube richten hinterm Haus, damit es Dir nicht auch geht, wie dem Alten, dem Du so gleich siehst! Das lange Sitzen hat Dich ein bissel mitgenommen, daß Du schier gerade so aussiehst.“
„Wirst Du mich in Ruh’ lassen, Du Lump?“ zürnte Wildl. Der Andere aber fuhr ihn unterbrechend fort: „Auch die Stimm’ ja ganz die nämliche – wirst Dich auch schon auswachsen auf den nämlichen Pfennigfuchser und Leutschinder. Thut nichts. Deßwegen sind wir doch auf einer Schulbank gesessen, Du vorn und ich immer hinten dran, und ich bin doch der Gescheidtere ’worden, denn ich sehe, wohin Du es gebracht hast mit all’ Deiner Gescheidtheit.“
Er brach in lautes Gelächter aus und beugte sich spöttisch vor, indem er mit beiden Händen auf die Kniee klatschte.
„Der Alte,“ rief er, „der auf so spaßige Weis’ den Weg in die Kalkgrube gefunden hat, hat meine Schnadahüpfeln auch nicht leiden können, und ich habe doch Recht damit.“
„Der g’scheidteste Vogel
Muß der Gugetzer sein.
Die andern bau’n d’ Nester
Und er setzt sich ’nein –“
sang er, indem er nach der Thürklinke tappte um das Zimmer zu verlassen. Wildl hatte ein Gefühl, als ob er unter einer Traufe stünde, von der er bald mit brühheißem, bald mit eiskaltem Wasser übergossen würde; ohne klar zu wissen, was er that, und um doch etwas zu haben, woran er seinen Grimm auslassen konnte, sprang er empor. Blitzschnell hatte er Fazi an der Gurgel gefaßt und drückte ihn an die Wand, daß der Bursche kirschroth im Gesicht wurde. In demselben Augenblick aber fühlte er sich schon zurückgeschleudert. Der Wirth, der ebenfalls unter den Berathenden gewesen, ein Mann von riesenartiger Größe und Stärke, riß ihn los und drückte ihn unwiderstehlich auf seinen Platz nieder.
„Das giebt’s nicht in meinem Haus,“ rief er. „Da wird nichts gerauft. Willst noch Einen durchthun? Du hast wohl noch nicht genug auf dem Gewissen?“
Wildl taumelte beinahe – er fühlte, daß etwas geschehen mußte, um den widrigen Eindruck dieses Auftrittes zu zerstören; er sprang auf und trat zu den Bauern, an den Tisch, unter welchen sich auch der Vorsteher befand.
„Nichts für ungut! Ich kann nichts dafür, daß mich die Hitz’ übergangen hat,“ sagte er beinahe stammelnd. „Aber der Lump soll mich nicht tratzen. Ich will nichts, als dem Vorsteher das Schreiben da übergeben. Ich sehe wohl,“ fuhr er fort, „daß Niemand eine besondere Freude hat, daß ich wieder da bin. Das wird aber anders werden, wenn Ihr das Schreiben gelesen habt.“
Er kam nicht dazu, mehr zu sagen; denn der Vorsteher wies Anrede und Schreiben mit so entschiedener Geberde zurück, daß eine Erwiderung dagegen nicht wohl möglich war.
„Ich kann mir schon denken, was in dem Schreiben steht,“ sagte er. „Komm’ nachher nur in mein Haus! Jetzt hab' ich ’was Wichtigeres zu thun.“
Ohne ihn weiter zu beachten, kehrte er sich ab und wandte sich mit den Uebrigen wieder dem Tische zu. – Wildl stürzte seinen Krug aus, warf eine Münze auf den Tisch und rannte glühenden Angesichts hinaus in den winterlichen Tag.
Er stürmte dem Hause des Vorstehers zu, wo dieser auch bald darauf sich einfand und ihm merklich milderen Sinnes und Benehmens Zutritt in die Stube gewährte, in der er seine Geschäfte zu erledigen pflegte. Er achtete nicht auf die Winke seiner Bäuerin, welche in der Küchenthür stand und ihn aufmerksam machen wollte, doch mit dem gefährlichen Menschen nicht allein zu bleiben, während hinter ihr ein paar Kinder standen und sich an Schürze und Rock der Mutter anklammerten, in dem beruhigenden Gefühl, dadurch vor aller Gefahr geschützt zu sein.
Gleichgültig empfing und öffnete der Vorsteher das Schreiben, gleichgültig steckte er es in das Blei der kleinen, runden Fensterscheiben. Wildl sah ihm verwundert zu.
„Jetzt werdet Ihr wissen,“ sagte er, „daß ich frei bin.“
„Ja, ja!“ entgegnete dieser gelassen. „Es ist, wie ich mir gedacht habe. Frei bist Du, aber nur von der Instanz entlassen – oder wie das Ding heißt; das ist halt so eine eigene Sach’. D’rum steht da in dem Schreiben, daß Du unter Polizeiaufsicht stehst und jeden Tag um zwölf Uhr Mittags und Abends bei Gebetläuten Dich bei mir vorstellen mußt.“
Wildl, der sich auf eine entladende Handbewegung des Vorstehers auf der an den Wänden sich hinziehenden Bank niedergelassen hatte, wollte sich erheben, sank aber unwillkürlich auf den Sitz zurück.
„Was?“ stammelte er. „Nachher hätt’ ich nichts gewonnen, als daß mein Gefängniß größer ist?“
„Ja, ja, es ist halt nichts Ander’s,“ erwiderte der Vorsteher. „Das ist auch nichts Neues, und Du wirst Dich schon dreinfinden; es haben sich schon viele Andere dreinfinden müssen.“
Die Gemüthsstimmungen der Freude und Erhebung, des Grams und Grimms hatten in Wildl’s Herz seit diesem Morgen so oft gewechselt, daß er eines Augenblicks der Sammlung bedurfte, um sich klar zu machen, was ihm abermals Neues in den Weg getreten war. Der Vorsteher gewahrte es und fuhr wiederholend fort:
„Es ist einmal nicht anders, sag’ ich Dir. So geht’s, wenn man in solche Geschichten hineinkommt. Ich hab’ das als Vorsteher schon öfters erfahren. Und wie hast Du’s jetzt im Sinn?“
„Wie anders,“ fragte Wildl entgegen, „als daß ich mich auf das Himmelmoos setze und forthause. Es gehört ja mein.“
„Das ist keine Frage – das Gut gehört Dein und all das Geld dazu, das bei Deinem Vater gefunden worden ist; Du wirst es wohl wissen: droben im Wandkästl über eine Stiege. Es können wohl ein paar Tausend Gulden sein. Sie liegen beim Pfarrer verwahrt. Du kannst sie alle Stunden erheben. Aber ich fürchte, mit dem Forthausen wird es halt doch nicht gehen.“
„Warum nicht? Wer könnte mir was anhaben?“
„Nun; wie’s halt geht,“ entgegnete der Vorsteher. „Anhaben kann Dir freilich Niemand was, aber es hängt Dir halt doch an. Hast es ja vorhin im Wirthshaus deutlich genug sehen können. Wenn das Gericht Dich nicht gerade verurtheilt, aber auch nicht freispricht, so ist in der ganzen Gemeinde kein Mensch, der nicht glaubt, daß Du es doch gethan hast, wenn man Dir’s auch nicht beweisen kann. Ich mein’ drum, Du solltest den G’scheidteren spielen, Dich um die Erlaubniß bewerben, auszuwandern und in die neue Welt gehen – in der Heimath wirst Dich doch nicht halten können.“
„Das möcht’ ich sehen,“ rief Wildl erregt. „Ich will den Leuten beweisen, daß sie unrecht thun, mich so auf den bloßen Schein hin zu verurtheilen. Ich will den Hof zusammenhalten, daß Jeder seine Freude daran haben und sehen soll, daß der Segen darauf liegt – und der Segen würde wohl nicht darauf liegen, wenn ich auf solche Art Bauer im Himmelmoos geworden wäre.“
„Kannst es ja probiren,“ begann der Vorsteher wieder. „Du wirst keine Dienstboten kriegen, wirst herunterkommen und zuletzt den Hof um ein Spottgeld losschlagen müssen, während Du jetzt ein schönes Gebot haben könntest. Ich selbst weiß gleich einen Bauer, der gerne zahlt, was er werth ist.“
Die begleitende Geberde dieser Worte ließ keinen Zweifel, daß er selber der Bauer war; er wollte eben die Summe nennen, aber Wildl ließ ihn nicht dazu kommen.
[469] „Ich will das Gebot gar nicht wissen,“ sagte er. „Es wäre doch umsonst. Das Himmelmoos ist mein; ich geb’ es nicht her, und wenn ich das Zehnfache von dem bekäme, was es werth ist, und was die Dienstboten anbetrifft, so mach’ ich mir keine Sorge – ich hab’ ein Paar tüchtige Arme und kann selber arbeiten. Die Judika und ich, wir kommen auch allein zurecht.“
„Die Judika?“ fragte der Vorsteher bedenklich. „Auf die wirst Du nicht rechnen können. Weißt Du denn nicht … Aber freilich, Du warst ja eingesperrt; da kannst Du ja nicht wissen, daß die Judika fort ist.“
„Das ist nicht wahr,“ fuhr Wildl auf.
„Sei so gut und straf’ mich Lügen!“ sprach lachend der Vorsteher. „Sie ist fort, gleich etwa vierzehn Tage, nachdem das Unglück geschehen war. Zuerst wohl hat sie gemeint, weil sie so lange den Hof zusammengehalten, würde sie ihn auch jetzt zusammenhalten, bis ein Ende herginge, aber nach den ersten Wochen hat sie gesagt, sie könnte es nimmer aushalten. Sie hat nicht gesagt, warum, aber das weiß ja doch jedes Kind.
„Und was weiß denn jedes Kind?“
„Daß es auf dem Himmelmooser Hof nicht geheuer ist,“ erwiderte der Vorsteher behutsam. „Es geistert – der alte Bauer geht jede Nacht um; er hat wohl keine Ruhe in der Ewigkeit, bis seinem Mörder sein Recht geschehen ist.“
Wildl war wie versteinert und wußte im Augenblicke nicht, was er erwidern sollte. Der Vorsteher behielt daher das Wort.
„Drum bleibt es bei dem, was ich gesagt hab’. Du wirst Dich hart thun, und es wird nicht gehen mit dem Forthausen.“
„Und wer ist denn jetzt auf dem Hof?“ brachte der Zuhörer mühsam hervor.
„Wer wird da sein?“ war die Antwort. „So gut wie Niemand. Der Baumann und eine alte Magd, blos damit das Haus nicht ganz leer steht. Die Oberaufsicht aber hat man mir aufgehängt, als ob ich nichts Anderes zu thun hätte. Das meiste Vieh hab’ ich verkauft und das Geld auch zum Pfarrer gelegt; nur soviel Kühe hab’ ich behalten, wie nothwendig sind für die paar Leut’. Das Beste ist, daß jetzt um diese Zeit mit der Feldarbeit nicht viel zu thun ist und das Ausdreschen nicht eilt. Jetzt kannst Du das Alles selber besorgen lassen, wenn Du doch forthausen willst, das heißt, wenn Du Dienstboten bekommst. Aber ich bleibe dabei: es wird schwer gehen. Die Geschichte von der Waitz (Gespenst) macht Alles scheu. Drum sag’ ich Dir nochmal: Du kannst nichts Besseres thun als verkaufen und fortgehen, dahin, wo Dich Niemand kennt. Mit Deinem Geld kannst Dich überall einrichten.“
Wildl schwieg noch lange. Er starrte vor sich hin, und es wollte ihm bedünken, als wäre ihm wohler zu Muthe gewesen, da er in der Kerkerzelle saß, und als thue sich vor seinen Füßen ein Abgrund auf, aber sein Vorsatz, sich dem Schicksal nicht kraftlos zu fügen und den Kampf mit demselben aufzunehmen, war unerschütterlich. Auch die schlecht verborgene Gier des Vorstehers, den Prachthof durch die Gespenstergeschichte zu entwerthen und ihn unter dem Preise abzudrücken, regte ihn zu trotzigem Widerstande an. Jetzt, wie er schon unterwegs vorgehabt, stand es wiederholt klar vor ihm, was er zu thun habe: sein Leben und seine Wirthschaft sollten alle Zweifler und Verleumder zu Schanden machen.
„Ich fürchte mich nicht vor dem Geist,“ sagte er dann, sich erhebend, „und will ein Wörtl mit ihm reden. Das mit dem Verkaufen aber muß ich mir erst überlegen und derweil schauen, wie ich halt zurecht komm’.“
„Hast Recht; kannst Dir’s ja überlegen,“ sagte der Vorsteher geschmeidig. „Probir’ es eine Zeitlang! Du kannst es mir ja immer sagen, wenn Dir die Lust kommt zum Verkaufen. Wir kommen ja oft genug zusammen.“
„Dasselbe glaube ich kaum,“ sagte Wildl nicht ohne Spott. „Ich werde nicht viel Zeit haben, in Heimgarten zu gehen, also werd’ ich auch nicht zu Euch kommen, wenn ich nicht muß.“
„Das ist’s ja gerade, was ich mein’,“ sagte der Vorsteher. „Es wird halt sein müssen. Du wirst Dich wohl erinnern, was in dem Schreiben steht. Hast es ja gehört, daß Du Dich, damit man Dich jeden Augenblick wieder packen kann, jeden Tag Mittags und Abends bei mir stellen mußt – Du wirst mit dem Gericht keine Händel anfangen wollen und also wohl thun, was es verlangt.“
Wildl konnte nicht gleich erwidern; er hatte keinen Athem, und die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er preßte beide Hände über der Brust zusammen, als ob er diese wieder der Luft öffnen und zugleich den Ausbruch des Zornes niederdämmen wollte, der in ihm aufstieg. Dann nahm er gelassen seinen Hut.
„Ich werde also thun, was ich muß,“ sagte er und wandte sich der Thür zu. An derselben blieb er stehen.
„Und wo ist denn die Judika hin? Wißt Ihr’s nicht?“
„Ich weiß es wohl,“ entgegnete der Vorsteher, „aber sagen darf ich’s nicht. Sie hat mir auf die Seele gebunden, daß ich es nicht eher sage, als bis sie es mir erlaubt oder bis Du den Hof verkaufen und von hier fortziehen willst.“
Knirschend biß Wildl die Zähne übereinander und verließ die Stube.
„Nun, wenn sie hat gehen können,“ murrte er, während er das Haus verließ, „dann werd’ ich es auch zuwege bringen ohne sie.“
Bedächtig und auf weitem Umwege schritt er dem Himmelmoose zu; er scheute jede weitere Begegnung. Bald stand er vor dem stattlichen Hause, an dessen Aussehen die wenigen Wochen nichts verändert hatten. Es lag da, so regungslos und still wie ein Todter, und mit Schnee bedeckt, als hätte man über denselben bereits ein weißes Tuch gebreitet, um ihn schon in den nächsten Stunden der Grube zu übergeben. Keine Fußspur zeigte eine betretene Bahn. Die Hausthür war fest verschlossen, und kein lebender Laut war zu hören, bis er um die hintere Hausecke herumgekommen war, wo die Ställe lagen. Dort tönte ihm das Gebell des Kettenhundes trotz seiner Rauhheit wie ein erfreulicher Willkomm entgegen; er trat zu dem Hunde und suchte ihn zu beschwichtigen, allein das Thier, obwohl es schon lange sich auf dem Hofe befand, schien ihn nicht mehr zu kennen; es bellte immer heftiger und zerrte an der Kette, als ob es dieselbe sprengen wollte.
Dafür ward ihm diesmal ein freundlicher Gruß aus Menschenmund, denn der Knecht, der einstweilen als Baumann auf dem einsamen Hofe geblieben, trat aus dem Stall hervor und kam ihm mit freundlicher Miene entgegen. Es war ein alter Mann mit dichtem struppigem Weißhaar und den unverkennbaren Zügen und Falten hohen Alters im Gesicht, aber noch voll männlicher Rüstigkeit in der hageren, beinahe nur aus Knochen und Sehnen bestehenden Gestalt. Auf der unscheinbaren Jacke hing ein kleines, nicht minder unscheinbares Kreuz: der Träger konnte sich von demselben nicht trennen; er trug es auf dem Sonntagsrock, wenn er zur Kirche ging, und heftete es auf das Arbeitsgewand; es war die ganze Freude seines Lebens, der Stolz seiner Erinnerung an den Feldzug nach Rußland und den schrecklichen Uebergang über die Beresina. Daß er auch unter den unglücklichen Kämpfern gewesen, daß er einer von den Wenigen gewesen, die das Vaterland wiedergesehen, war das Kleinod seiner Gedanken, und daß er am liebsten davon sprach und erzählte, war die Ursache, weshalb man ihm im Dorf in gutmüthigem Spott den Namen „der Rußländer“ gegeben hatte.
„Seid Ihr wirklich da?“ fragte er. „Haben sie Euch doch ausgelassen aus dem Schlaghäusel? Das ist recht. Ich bin schon im Dorfe gewesen und hab’ gehört, daß Ihr wieder da seid. Es thut Noth, daß ein Herr in’s Haus kommt. Es ist jammerschade um den schönen Hof und das ganze Sach’. Bisjetzt habe ich erhalten, was zu erhalten war – auf die Länge thut’s aber nimmer gut; es muß ausgedroschen werden und das Vieh muß wieder her.“
Wildl empfing diese Worte wie ein erquickendes Lüftchen, das die Stirn des verschmachtenden Wanderers umweht.
„Ja,“ sagte er, „ich bin wieder da und will dafür thun, daß der Himmelmooser Hof nicht herunterschwimmt. Ich sorg’ nur, ich bekomm’ keine Dienstboten. Und Du selber, alter Rußländer, willst denn Du bei mir bleiben?“
„Warum nicht?“ entgegnete der Greis bedächtig, indem er ihm fest in’s Auge sah. „Ich denke mir: Ihr seid der Bauer, und ich bin der Knecht – das ist mein ganzer Katechismus. Was es sonst zu bedenken giebt, das geht mich nichts an; das müßt Ihr mit dem Gericht ausmachen, mit unserm Herrgott und mit Euch selber.“
„Das ist es nicht allein,“ sagte Wildl, den Blick des Alten erwidernd und festhaltend. „Es geht ja auch sonst noch allerhand Gerede vom Himmelmooserhof.“
[470] „Aha!“ unterbrach ihn der Alte. „Habt Ihr auch schon davon läuten hören? Das ist wirklich nichts als Gerede. Ich hab’ schon gar zu Viele sterben sehen, als daß ich nicht wüßte, daß Keiner wiederkommt, der einmal den letzten Schnaufer gethan hat. Ein alter Rußländer, der sich, um und um voll Eiszapfen, noch mit den Kosaken herumgerauft hat, fürchtet sich vor keiner Waitz – da hat es immer geheißen, die Courage zusammennehmen; da ist es darauf angekommen –“
Der Rußländer war im Begriff, in sein Lieblingsgespräch zu verfallen, als die Magd hinzukam, eine ältliche Person, in Dienst und Arbeit verläßlich und brauchbar, aber sonst von etwas schwachem Geist, und darum keinen Grund findend, warum sie den ihr bekannten Sohn des Hauses nicht mit ihrem freundlichsten Gesicht begrüßen sollte. So verlief der Einstand besser, als Wildl gehofft hatte, und bald saß er mit dem Rußländer in der öden Stube, um Pläne für Haushaltung und Wirthschaft zu entwerfen. Am andern Tage sollte Geld beim Pfarrer erhoben werden und Wildl den Ankauf von Vieh besorgen, der Alte aber es übernehmen, Knechte und Mägde zu dingen; er glaubte mit Recht, daß Wort und Beispiel des Letzteren viel beitragen würde, die angebliche Scheu vor dem Himmelmoos zu beseitigen.
Darüber war es früh Abend und Nacht geworden. Das Haus lag verschlossen und verwaist; Knecht und Magd hatten sich in ihre Kammern begeben – auch Wildl suchte die seine und setzte das Oellämpchen auf den Tisch des kleinen Gemachs, aber er entkleidete sich nicht. Die Eindrücke des Tages waren zu heftig gewesen, als daß sie sofort hätten verstummen können; sie mußten langsam ausklingen, ehe für den Schlaf die Möglichkeit kam, im Gemüth einzuziehen. Wildl ließ sich in einem Winkel auf der Truhe, in der sich seine Kleider befanden, nieder, und die Gedanken gingen über ihn dahin, wie ein überquellender Bach. Der einmal in der Seele gekeimte Entschluß, auf dem Hause auszuharren, wurde immer fester, wie ein Bäumchen durch die Stürme, die es bewegen, nicht erschüttert wird, sondern mit immer tieferen Wurzeln in den Boden greift.
Der Gedanke an Engerl, die Sehnsucht nach der liebgewordenen Genossin seiner Leiden – das war es, was ihn nebenbei vollauf beschäftigte, und so kam es ganz natürlich, daß die beiden Gedankenreihen zuletzt in einander flossen und die Müdigkeit verscheuchten, wenn ja solche sich einzustellen begann.
Das Gemach lag an der Rückseite des Hauses, nur wenig über die Erde erhaben, in einer Art von Mittelstockwerk, vor dessen Fenstern die blattlosen Astkronen des Obstgartens sich kreuzten; leichte Läden waren davor angelehnt, aber so sorglos, daß sie nicht ganz fest anschlossen und von den Windstößen gerüttelt werden konnten. Solche waren in der Nacht immer mehr wach geworden und machten die Läden schüttern, daß sie befremdliche Töne von sich gaben, die einer fruchtbaren Einbildungskraft wohl vorkommen mochten wie menschliche Klagetöne. Wildl achtete lange nicht darauf; der Gedanke an Engerl, die Pläne, wie er sie auffinden, wie er zu ihr gelangen, wie er sie im Hause als Frau einführen könnte, umspannen ihn immer mehr wie die Ranken einer schnellaufstrebenden Schlingpflanze, und er war so ganz darin verstrickt, daß er fast erschrocken auffuhr, als die Schwarzwälderuhr, welche nebenan in der einstigen Schlafstube des alten Himmelmoosers hing, zum Schlagen aushob und mit eigenthümlich singendem Tone Mitternacht schlug.
Aufhorchend blickte er um sich her; denn gleichzeitig hatte ein mächtiger Windstoß abermals an den Läden gerüttelt, als ob eine starke Hand sie von außen aufzustoßen versuchte. Unmittelbar darauf aber trat wieder Ruhe ein; nur die Zweige rauschten ein wenig nach; als auch sie verstummten, war es so still, daß man von draußen her jeden Laut, jeden Tritt hören mußte.
Plötzlich drang durch die augenblickliche Stille ein eigenthümlicher Klang; die Fensterläden flogen auf, daß sie rücklings an den Wänden zu beiden Seiten anschlugen, und zugleich klopfte es deutlich an der Fensterscheibe – es war ein Ton, welchen der Wind nicht hervorbringen konnte und der unverkennbar von den Fingern einer Menschenhand herrührte, die an die Scheibe geschlagen hatte.
„Was der Wind für eine Gewalt hat!“ sagte Wildl, sich erhebend, und schritt zum Fenster. „Oder sollt’ an dem Gerede von der Waitz doch etwas Wahres sein? Das ist ja gerade die Geisterstunde. Ich muß den Laden nur wieder anlegen, sonst giebt’s die ganze Nacht keine Ruh’.“
Er stellte die Lampe bei Seite, damit beim Oeffnen des Fensters nicht ein plötzlicher Windstoß dieselbe auslösche. Er hatte auch ganz recht mit dieser Vorsicht, denn als er das Fenster öffnete, fuhr der Wind wie absichtlich mit einem gierigen Stoße in die Stube, daß er Mühe hatte, die Läden zu fassen und wieder anzulegen. Als er sich wieder der Stube zuwendete, war es klar, daß es nicht der Wind allein gewesen, der die Läden losgemacht, sondern daß wirklich ein Mensch an die Scheibe gepocht hatte. Mitten in der Stube lag, feucht vom Schnee, ein Blatt Papier auf dem Boden, offenbar von Jemand auf das äußere Sims gelegt und vom Winde hereingeweht.
Er nahm es auf. Es war ein Stück groben Papiers, von ungeübter Hand beschrieben, mit Zügen, welche durch die Witterung noch undeutlicher geworden waren, als sie schon an sich gewesen. Er zog den Docht der halb erlöschenden Lampe in die Höhe und las:
„Lieber Bub’! Du wirst schon erfahren haben, daß ich fort bin, weil ich den Leuten aus dem Wege gehen will und auch Dir. Ich kann mir wohl einbilden, daß Du mich suchen wirst, ich will mich aber nicht finden lassen, es ist ja doch aus mit uns zweien für diese Welt. Es hat nicht sein sollen, daß wir zusammenkommen, und darum will ich nicht haben, daß Du an mich denkst. Aber nein! Das will ich auch nicht haben. Ich möchte schon, daß Du an mich denkst, weil ich auch an Dich denken werde, bis ich todt bin. Deswegen schreibe ich Dir, daß Du thun sollst, als wäre ich nie auf der Welt gewesen. Es wäre eine Sünde, wenn wir zwei zusammenkommen wollten; also könnte auch kein Glück dabei sein und kein Segen. Darum frage mir nicht nach! Du kannst mich doch nicht auskundschaften, und wenn Du es auch könntest, Dein todter Vater steht zwischen uns. Ich will Dich nicht verdammen, aber leben könnte ich nicht mit Dir. Also, behüt’ Dich Gott, lieber, lieber Bub’! Laß Dir’s gut gehen, recht gut! Ich bet’ schon für Dich. Ich sag’ Dir noch ’mal von Herzen tausend: Behüt’ Gott! Engelberta.“ Etwas weiter unten stand noch eine Zeile:
„Da ist eine Zäher auf meinen Namen gefallen und hat ihn fast ausgelöscht. Du wirst es aber doch schon lesen können, wer das geschrieben hat.“
Es rauschte im Schilf wie von weichen Schwingen;
Der Wasservogel umkreiste sein Nest.
Wir hörten am Strande die Fischer singen –
Das war auf dem Wettern[1] im Mittsommerfest.
Seerosen nickten und wiegten sich leise,
Auf spiegelebener, flüssiger Bahn;
Die Möve zog über uns lustige Kreise –
Wir saßen drei glückliche Menschen im Kahn.
Ich lehnte am Bug, und ich sah mit Entzücken
Das Ruder, o Holde, dich führen gewandt.
Am Steuer die Schwester – um Rosen zu pflücken,
Wie tauchte sie leicht in die Wellen die Hand!
Und wie sie sich neigte, da frugst du verstohlen:
„O sage, ist Liebe ein flüchtiger Traum,
Wie im Schilfe der Lenznacht Athemholen,
Wie aus schwankendem See ein vergänglicher Schaum?“
Du wandtest dich heimlich zu mir herüber
Und seufztest – da hab’ ich an’s Herz dich gepreßt;
Ich küßte dich stürmisch; die Seele schwoll über –
Das war auf dem Wettern im Mittsommerfest.
O Tage am Wettern, o Tage der Wonne,
Ihr schwandet nun längst, wie ein Traumbild vergeht.
Es sterben die Freuden unter der Sonne,
Wie Schwingenrauschen im Schilfe verweht.
- ↑ Bekanntlich einer der schönsten Seen in Schweden. D. Red.
Die deutsche Literatur, verehrte Freundin, kann uns bisweilen an einen Maskenball mit allen möglichen Volkscostümen erinnern; wenigstens führt die deutsche Muse so viele Schubladen- und Verkleidungsstücke auf, wie kaum die Muse einer andern Nation. Die stehende Maske auf diesem Maskenballe ist aber der gelehrte Erläuterer, der literar-historische Magister, der zu jeder Maskentoilette die erforderlichen Noten giebt und nachweist, warum sie besonders schön und kleidsam ist und unter welchen Länge- und Breitegraden man solche Schuhe, Strümpfe und Hüte zu tragen oder sich mit solchen Buchstaben und Bildern zu tätowiren pflegt.
Der deutsche Geschmack hat einen sehr weiten Horizont, verehrte Freundin. Das spricht für unsere Vielseitigkeit und Empfänglichkeit, doch es wäre kein Glück, wenn unsere Poesie sich ganz in ein „Mädchen aus der Fremde“ verwandeln sollte, welches uns Blumen und Früchte aus allen Zonen darreicht, nur diejenigen nicht, welche auf der heimathlichen Erde gewachsen sind.
Wir begnügen uns indeß nicht damit, das Fremde genießbar zu finden und alle exotischen Leckereien zu kosten, wenn sie uns von einem Uebersetzer auf einem geschmackvollen Präsentirteller angeboten werden, nein, unsere Dichter beginnen gleich nachzudichten; sie schlagen alle Tonarten an, die irgendwo auf dem Erdenrund erklungen sind. Schon im classischen Weimar sammelte man die Stimmen der Völker; die Elegien der Lappländer und Hottentotten, das lyrische Kriegsgeheul der Rothhäute: Alles das hat ja für eine wissenschaftliche Auffassung Interesse: unsere Literatur hat ebenso gut ihr ethnographisches Museum, wie die eigentliche Völkerkunde, und es fehlt darin nicht an allerlei Merkwürdigkeiten, an Spießen, Keulen, Fellen und Federschürzen.
Doch so übertrieben auch die Vorliebe für das Fremdartige, so häufig die Verwechselung des dichterisch Schönen und des lehrhaft Interessirenden sein mag: den Anregungen fremder Kunstpoesie, sobald sie sich über die Naturlaute der allerursprünglichsten Empfindungen erheben, verdankt unsere Dichtung viel Anziehendes und Schönes, unsere Sprache eine seltene Durchbildung und Kräftigung.
Sie lieben Rückert, verehrte Freundin, und das spricht dafür, daß Sie bei den Dichtern mehr suchen, als ein paar duftige Liederblüthen, die sich in ein Album legen lassen. Rückert ist kein bequemer Dichter; er hat etwas Schroffes und Herbes, und in seine Spruchpoesie tritt man wie in einen Insectenschwarm, der uns umschwirrt und anfangs betäubt. Doch welche Fülle an Geist und Lebensweisheit in diesen unzähligen Sprüchen, welche duftige Pracht in diesen östlichen Rosen, welcher Reichthum von Phantasie in den Erzählungen aus dem Osten, in den arabischen, persischen, indischen Nachdichtungen! Da ist es schon lohnend, oft durch eine harte Schale zum süßen Kerne hindurch zu dringen.
Rückert hat manchen Nachahmer, die Lyrik des Ostens zahlreiche Vertreter gefunden. Einer der glücklichsten ist Bodenstedt, und auch Sie besitzen die Perl- oder Diamantausgabe seines „Mirza-Schaffy“. Man hat diesen Weisen lange in Tiflis gesucht; jetzt ist man darüber unterrichtet, daß er in Meiningen, Hannover oder irgend einer abendländischen Stadt zu suchen, daß Mirza-Schaffy nur die Maske und Bodenstedt der Dichter ist; der tatarische Sprachlehrer am Kyros verwandelt sich unter der Hand in den Hoftheaterintendanten an der Werra; wer weiß, ob Mirza-Schaffy einen echten Jünger seiner Lebensweisheit hinter den Coulissen von Meiningen aufsuchen würde! Jetzt freilich ist dieser Jünger wieder den Brettern untreu geworden, die sich seitdem in eine wandernde Musterbühne verwandelt haben.
Mirza-Schaffy war nicht herb und schroff wie Rückert; das war ein flotter und bequemer Poet; die Verse bewegten sich im harmonischen Reigen, leichtgeflügelt, anmuthig scherzend; die hohen Eisgipfel des Kaukasus blickten hernieder in den fröhlichen Tanz, und seine Wasserfälle rauschten darein; die Schönen lockten; es lockte der Wein und die Lust des Lebens. Das war kein tiefsinniger Brahmane, der den Rosenkranz der Spruchweisheit durch die Finger gleiten ließ; das war ein Weltkind in tatarischem Costüme, das auf dem westöstlichen Divan saß, den Pokal in der Hand und im Herzen die Freude an der Schönheit.
Vor etwa drei Jahren hat Bodenstedt Gedichte „Aus dem Nachlasse Mirza-Schaffy’s“ veröffentlicht. Der Dichter ist etwas älter geworden und hat den herausfordernden Uebermuth verloren. Zwar wird noch die Liebe gefeiert, aber, es sind mehr Weisheitsregeln, wie man lieben soll, als die unbefangene Hingebung des fröhlichen Genusses. Dazwischen reihen sich allerlei Erzählungen aus dem Orient, die an das Rückert’sche Vorbild erinnern. Auch an gefällig eingekleideten Sprüchen fehlt es nicht, und selbst mit der neuesten Philosophie nimmt der Weise von Tiflis den Kampf auf. Doch ist das Colorit des Orients etwas verwaschen; einige Liebesgedichte gemahnen so abendländisch, als ginge die Heldin derselben am Isar oder an der Werra spazieren, und einzelne Lieder sind von so zarter und schwärmerischer Naturempfindung beseelt, wie diejenigen [[[Emanuel Geibel|Geibel]]’s. Der Dichter fühlt sich ungenirter und nimmt öfter die Maske ab; doch werden Sie, verehrte Freundin, auch einzelne schöne Gedichte finden, wie z. B. das Lied auf die Cypresse mit den ansprechenden Schlußversen:
Fern von dem lauten Weltgewühl
Den stillen Friedhof schmückt sie;
In ihrem Schatten ruht sich’s kühl;
Den Blick vom Staub entrückt sie.
So ragt sie wie ein grüner Thurm
Der Hoffnung in die Ferne;
Tief unter ihr nagt der Grabeswurm;
Hoch über ihr leuchten die Sterne.
Soeben hat Bodenstedt wieder eine Nachdichtung östlicher Poesie veröffentlicht; der Held derselben ist der „Sänger von Schiras“, Hafis, den ja auch Friedrich Daumer, wenngleich in der freiesten Weise, für einen westöstlichen Liederstrauß benutzt und dem der greise Goethe schon so warmes Lob gespendet hat. Hier ist von keiner Maskerade die Rede; Bodenstedt führt den persischen Dichter in unsere Literatur ein, indem er ihm in treuer und bescheidener Weise das Geleite giebt, ohne sich selbst vorzudrängen oder gar an seine Stelle zu treten.
Und sollen wir den alten Perser willkommen heißen? Wird er es auch bei den Frauen sein? Ein Schwärmer ist er nicht; ein gewisses zartes Rosenroth der Empfindung fehlt ihm gänzlich; dagegen hat er eine seltene Begeisterung für das Weintrinken; er ist ein eifriger Zecher, und das ist gerade keine Eigenschaft, welche die Frauen bei den Männern und bei den Dichtern lieben. Sie dürfen aber nicht vergessen, verehrte Freundin, daß es mit dem Weintrinken in Persien seine eigene Bewandtniß hat. Hafis kann sich nicht so gemüthlich in die Schenke setzen, wie Ihr Nachbar, der Landrath, der sich die Serviette vorbindet und zu einem Gabelfrühstück die halbe Weinkarte heruntertrinkt. Das Weintrinken ist durch den Koran verboten, und Hafis war ein arger Ketzer, wenn er diesen Genuß im vertraulich stillen Kreise pflegte oder fortwährend dazu aufforderte. Die Sultane theilten freilich seine Neigungen und drückten ein Auge zu. Bei uns ist es, wie Bodenstedt sagt, kein Act der Tapferkeit, heimlich oder öffentlich Wein zu trinken, wenn man Freude daran hat und Geld, ihn zu bezahlen. Bei Hafis war dies ganz etwas anderes; in seinem Preise des Weins lag zugleich ein Protest gegen die Heuchelei der blauen Kutten, die in ihren himmelfarbenen Gewändern sich von jedem irdischen Genuß abwandten. Hafis besingt daher den Wein nicht so harmlos, wie etwa Roquette in „Waldmeisters Brautfahrt“; er ist ein starker und trotziger Rebell gegen des Landes Glauben und Sitte, wenn er die Vorzüge des Weines und selbst des Rausches in überschwänglichem Ton verherrlicht:
Bring’ Wein herbei, der Königsmacht verleiht
Und, was im Herzen trübe, klärt und weiht!
Einst war ich Herrscher auf des Herzens Thron:
Doch jetzt, durch Schuld getrübt, spricht es mir Hohn.
Mir spiegelt, wenn die Hand den Becher hält,
In seinem Glanz sich alles in der Welt. –
Der Körper kann nicht leben unbeseelt,
Und so das Herz nicht, wenn der Wein ihm fehlt.
[473] In Persien gab es vor Zeiten einen sagenhaften König Namens Dschem, der einen Becher besaß, um den ihn alle Philosophen beneiden müßten; denn auf dem Grunde dieses goldenen Bechers offenbarten sich alle Geheimnisse des Himmels und der Erde. Wenn unser Dichter bei guter Laune ist, so erscheint ihm jeder Becher als der Becher Dschem’s und er sucht ihm so bald als möglich auf den Grund zu kommen, um jene Geheimnisse zu enthüllen; er scheut sich nicht vor dem „süßen Gift“.
Sie fragen vielleicht, warum der frische Trank der Reben einen so kränkenden Zunamen in Persien hat? Auch das ist eine alte Geschichte und hängt mit dem guten König Dschem zusammen. Derselbe war, wie die meisten alten und neuen Könige seit Nimrod’s Zeiten ein großer Jäger vor dem Herrn. Einstmals, als er zur Jagd reiten wollte, brachte man ihm einen Korb süßer Weintrauben; er ließ sie in einem kostbaren Kruge aufbewahren, um sie nach seiner Rückkehr zu essen. Seine Jagden dauerten lange; als er, im Palaste wieder angekommen, nach dem Kruge sah, fand er, statt der Trauben, in ihm einen gährenden Most von wundersamem Duft und Geschmack. Er schrieb auf den Krug „Gift“ und stellte ihn wieder bei Seite. Nun begab sich’s, daß eine schöne Bewohnerin des Palastes, die wegen verschmähter Liebe ihrem Leben ein Ende machen wollte, den mit „Gift“ bezeichneten Krug fand und ihn bis auf die Neige austrank. Allein, statt daran zu sterben, fiel sie in einen tiefen Schlaf und hatte so wonnige Träume, daß sie, erwachend, wieder Lust am Leben gewann, welches denn auch bald ihre Liebeswünsche erfüllte.
Das Lob dieses „süßen Giftes“ wirkt freilich bei unserem Dichter etwas ermüdend; doch er besingt ja auch die Liebe und die Schönheit, allerdings nicht ganz in abendländischer Art, denn er wünscht sich zum Beispiel die sechs Thore von Schiras, da diese Stadt durch alle sechs Thore die Schönen einläßt. Mehr anstößig, als diese Feier der Schönheit im Plural, ist das folgende Epigramm, das auf manche Vernunftehe ebenso paßt, wie auf die Pariser Halbwelt:
Die Schönen dieser Welt kann man durch Gold erlangen,
Durch Goldesreiz den Reiz der Schönheit fangen.
Sieh, wie selbst die Narcisse mit der Krone,
Durch Gold gebeugt, ihr stolzes Haupt läßt hangen!
Der Dichter preist den ganzen Bazar weiblicher Schönheiten, Rosenwangen, Rubinenmund, feine Grübchen, Augen, Hyacinthenlocken, die wie Cypressen schlanke Huldgestalt, doch ebenso oft kommt die Sprache der Empfindung zu ihrem Recht, die Sehnsucht nach Glück, die Trauer um das versagte:
Komm zurück! denn meine Seele
Glüht nach dir in Sehnsuchtsgluthen;
Komm zurück! in Trennungsqualen
Wird mir sonst das Herz verbluten.
Komm zurück, o süße Liebe!
Denn so lange du mir fern,
Brennt mein Herz und aus den Augen
Strömen bitt’re Schmerzensfluthen.
Auch die Dichtkunst selbst wird von dem Dichter gepriesen, doch er sieht sie stets nur im Zusammenhang mit der Gnade und Gunst der Herrscher; ihnen verdankt er’s, wenn sich des Liedes Perlenschnur von seinem Munde löst, und wenn der Schah unfreundlichen Gesichtes ist, da verläßt den Sänger seine Dichterkraft:
Ach! umsonst, ein schmerzgebeugter Rufer,
Rief ich sie zurück vom Oxusufer.
Dabei denkt aber Hafis durchaus nicht gering von sich selbst; er lobt sich ohne falsche Scham, und Bodenstedt theilt uns mit, daß dies zum persischen Brauch und Herkommen gehört, wie die Krone zum Baume, und dem richtigen Gefühle entspringt, daß ein Poet, der nichts Besonderes zu sagen hat, lieber schweigen soll, als Gedichte in die Welt schicken, die ihm selbst nicht gefallen.
Platen und die Plateniden haben also dem persischen Geschmack gehuldigt, wenn sie sich selbst stolze Ruhmessäulen erbauten, wie dies auch schon Horaz gethan hat, welcher Denkmäler, dauernder als Erz, errichtet zu haben glaubt und mit erhabenem Scheitel die Gestirne berühren will. Das Malerzeichen, welches Hafis öfter unten an seinen dichterischen Bildern anbringt, ist in der That lesbar genug:
Wer in Gesang und Melodie
Hafisens Kunst erreichen will,
Der gleicht der armen Schwalbe, die
Dem Adler sich vergleichen will.
Kann man es vielen unserer neueren Dichter, die nicht in Schiras wohnen, übel nehmen, wenn sie sich auch für unsterblich halten? Die Lappländer glauben ja sogar, daß die Seehunde unsterblich sind, und jener Glaube mancher Poeten ist um so unschädlicher, als er von Niemandem getheilt wird.
Hafis selbst ist bei seiner Genußfreudigkeit und Ruhmredigkeit immer ein würdiger Mann und schlägt bisweilen auch Töne an, die zu Herzen gehen. Das Schicksal hat ihm einen Sohn geraubt, und er giebt dem Vaterschmerze Ausdruck in einem kleineren und einem größeren Gedicht, welche zu den Perlen der Sammlung gehören. Hafis, am Grabe seines Sohnes, klagt:
Nun alle Rosen weckt des Lenzes Hauch,
Warum, verlor’ne Rose, dich nicht auch?
Wie eine Frühlingswolke, holder Knabe,
Wein’ ich um dich, bis du erstehst vom Grabe.
Das größere Gedicht aber beim Begräbnisse seines Sohnes lautet:
Es klagt die Nachtigall, weil eine Rose brach;
Der alte Vater weint dem todten Sohne nach.
Mein eig’nes Herzblut ist versiecht mit seinem Blut;
Mein Hoffen, all’ mein Glück verschlang die Schicksalsfluth.
Mein Licht, mein Trost und Stab! wie hat die Todesnacht,
Die dich so leicht mir nahm, mein Herz so schwer gemacht!
Helft, Freunde, mir! zu schwer ist mir des Schmerzes Last;
Gern dem Verlor’nen selbst folgt’ ich zur letzten Rast.
Ach, warum traf der Neid des hohen Himmelslichts
Mein Licht auf Erden so, zu leuchten ihm in’s Nichts?
Ich ließ ihn unvermählt, und nun steh’ ich allein;
O Hafis, leichten Sinns schufst du dir schwere Pein.
Es sind dies Klänge einfacher und rührender Empfindung; dieses Gedicht zeigt Ihnen außerdem, mit wie anmuthigem und harmonischem Gange die Bodenstedt’sche Muse einherwandelt und wie leicht und bequem sie die fremde Gewandung trägt. Es giebt Uebersetzungen, denen man die Qual des Ringens mit dem Urtexte anmerkt. Dies ist hier nirgends der Fall. Gleichwohl schließt sich Bodenstedt mit Treue dem Originale an, während Daumer mehr die Firma von Hafis wählte und über einige Motive desselben freie dichterische Variationen componirte.
Sie werden, verehrte Freundin, gewiß mit Vergnügen Hafis in Ihre Bibliothek neben Mirza-Schaffy stellen; Beide predigen mit erhobenem Zeigefinger neue Lebensweisheit, die nicht allzu viel schweres Gepäck hat, nicht so tiefsinnig ist, wie die Weisheit des Brahmanen, aber sich zur fröhlichen Genossin eignet, wo man leichtgeschürzt bequeme Lebenspfade wandelt.
Die beiden Officiere nahmen ziemlich geräuschvoll an einem kleinen Tische Platz, und der Eine von ihnen – natürlich derjenige, welcher schon nicht mehr ganz nüchtern war, heischte vom Kellner lärmend einen Trunk.
„Kellnär – zwei Seidel!“
Und dann, als sie getrunken hatten, gab der Nämliche, der den Trunk bestellt hatte, sein Glas nicht etwa dem Kellner zurück, wie es andere, gewöhnliche Menschenkinder zu thun pflegen, sondern er schleuderte es kurzweg auf den Bahnkörper nebenan, daß es an den Schienen in tausend Stücke zersprang.
„Kellnär – noch zwei Seidel!“
Und dann warf er sein geleertes Glas abermals auf die Schienen und zwar mit dem nämlichen Erfolge.
Die Unruhe der Philister und ihrer Frauen und Töchter stieg bis zu einem bedenklichen Grade.
„Bleibste sitzen!“ sagte aber der Dosendreher zu seiner [474] Frau, die schon die Flucht ergreifen wollte, und drückte sie am Arme nieder, „bleibste sitzen! 's is nur schade um die scheenen Töpfchen.“
Der Officier indessen klemmte seinen Monocle noch fester in’s Auge und sah sich dann herausfordernd um. Einen Bahnwärter, der ihm unterthänigst vorzustellen wagte, daß ihm ein solches Wirthschaften mit leeren Gläsern auf dem Bahnhofe denn doch gegen das Bahnreglement zu verstoßen scheine, trieb er mit übermüthiger Scherzrede heim.
Da gewahrte er ein halbes Dutzend Soldaten, die in der Ferne standen und neugierig und lachend seinem Unfuge zugesehen hatten.
„Hierher, Kinder!“ commandirte er sofort – „he, aber fix! Jut, angetreten!“
Die Soldaten, die dem angeheiterten Vorgesetzten gegenüber mit Mühe ihr Lachen unterdrückten, stellten sich, der erhaltenen Ordre gemäß, Schulter an Schulter auf, den Kopf in die Höhe gerichtet, die Hacken zusammengeschlossen, den Daumen an der Hosennaht. Es waren Prachtleute, rothbäckig, dickköpfig; sie waren offenbar erst vor kurzer Zeit vom Pfluge und von Muttern gekommen, staken noch nicht lange in der Uniform und –
Verbanden auf das Beste
Mit dem letzten Bauernreste
Schon den Anfang vom Soldaten.
„Von welchem Regiment?“ fragte der Officier kurz, in seinen Stuhl zurückgelegt und mit dem einen Arme dessen Lehne umschlingend.
Die Soldaten beugten ihre Schultern herunter, und der Officier las von ihren Achselklappen laut die Regimentsnummer ab.
„Kellnär – sechs Seidel für Mannschaft – ein Seidel für mich! – durstig, Kinder? – He – natürlich – immer durstig –!“
Müller’s Fritze und Schulze’s Georg und Lehmann’s August verzogen ihre breiten Gesichter zu einem Grinsen, das sich ganz vergnügt ansah.
„Geht mir auch so – wollen sehen, wer besser trinken kann – aufpassen – Seidel ansetzen – zählen Eins, Zwei, Drei – dann lostrinken!“
Der Officier erhob sich von seinem Stuhle und stellte sich, das Glas in der Hand, vor die Fronte seiner Kinder. Er überragte die Bauerjungen mit seiner stattlichen Gestalt um Haupteslänge. Mit der Linken hielt er den Griff seines Degens umfaßt, mit der Rechten hob er sein Glas. So stand er mit gespreizten Füßen da, beharrlich das Monocle im Auge, und die Menge drängte neugierig herbei.
„Achtung!“ commandirte er jetzt – „und daß mir Keiner seine Nase vorher in’s Glas hängt! Achtung! Eins – zwei – drei!“ Und es war schade, daß keine katzenjammernden Geigen den Wetttrunk begleiteten wie den Falstaff’s und seiner Genossen in den „Lustigen Weibern.“
Die Soldaten schütteten in großen Zügen das Bier hinunter, aber der Officier war ihnen allen voraus; er kriegte sie Alle unter, und war, um ein Bild vom Pferderennen anzuwenden, um mehrere Nasenlängen früher am Pfosten, als sie; er stürzte triumphirend sein Glas um, selbst die Nagelprobe zu machen.
Ein lautes Hurrah aus der Menge belohnte seine siegreiche That. Denn jetzt fing sogar der Philister an, wieder zutraulich zu werden; er erfreute sich von ganzem Herzen an der gnädigen, leutseligen Weise, in welcher der Officier mit den Soldaten umgesprungen war, und ein solches Bierwettrennen war nun schon ganz nach seinem Geschmacke und seiner eigenen Liebhaberei.
Der Officier ließ sich wieder bei seinem Cameraden nieder und nahm mit sichtlichem Behagen die Glückwünsche desselben entgegen. Alles schien sich in Freude und Wohlgefallen auflösen zu wollen.
Da jammerte plötzlich eine Stimme neben ihm:
„Aber heeren Se, mein Kutester, ich will Sie doch sagen, daß Sie mer meine neie Hose och nicht gleich schmutzig zu machen brauchen.“
Der Officier fuhr in die Höhe und blickte in ein Gesicht, das giftig auf ihn gerichtet war. Er hatte bei der Nagelprobe vorhin aus dem Glas ein paar Biertropfen auf das Beinkleid eines Dresdner Spießbürgers geschüttet, der am nächsten Tische gesessen war und nun über das ihm widerfahrene Mißgeschick außer sich gerathen wollte.
Der Officier schnauzte ihn zornig an.
„Zum Teufel mit Ihnen!“ rief er. „Was geht mich Ihre Hose an!“
„So?“ höhnte der Andere. „Na, weeß Gott, Ihre Hose is es nu freilich nicht, und wenn sie’s wäre, dann kofen Sie sich ene neie, und die müssen die Berger dann dem Herrn Officier aus dem Staatssäckel bezahlen. Aberst –“
„Herr!“ brauste der Officier auf, und sein Camerad hielt ihn mit Mühe zurück.
„Jawohl,“ zischte der Andere unbeirrt; aberst die Hose hier is meine Privathose, und wenn Sie mer Ihr Biertöpfchen drüber ausschütten, dann koft mer ke Mensch –“
Der Officier hatte seine Ruhe merkwürdiger Weise ganz wieder gewonnen. Er sah sich sein bissiges Gegenüber schweigend an und holte dann sein Portemonnaie aus der Tasche.
„Hier,“ sagte er, es dem Dresdener Bürger hinstreckend, in gelassenem Tone, „hier! Sie sind nämlich ein janz unjemüthliches Haus. Nehmen Sie aus der Geldtasche, was Ihre Hose kostet, und dann lassen Sie mich in des Teufels Namen zufrieden!“
Der Andere that, als habe ihn eine Schlange gestochen.
„Ei herrjeses!“ schrie er voll Wuth. „Stecken Sie doch Ihre paar Groschen wieder ein! Sie menen wohl och, so ein einfacher Berger, der sich das ganze Jahr schindet und plagt, wenn andere Herren spazieren lofen, kann sich kene neie Hose kofen. Na, Gott sei Dank! so weit sein mer noch nicht. Aber warten Se nur! Sie werden och noch aus’m andern Loche pfeifen, wenn die Franzosen emal kommen und wenn –“
Der Officier sprang todtenblaß auf seinen Gegner zu, mit einem einzigen Ruck hatte er seinen Stuhl ergriffen und schwang ihn nun mit kräftigem Arme über dem Haupte des unglücklichen Dresdeners hin und her.
„Noch ein einziges Wort, Herr!“ rief er mit blitzendem Auge, „noch eine einzige Silbe, und ich zerschmettere Sie mit diesem Stuhle, daß kein Stäubchen von Ihnen übrig bleibt, Sie erbärmlicher Wicht, Sie!“
Der also Bedrohte zog sich mit beispielloser Geschwindigkeit vor der sichtlichen Gefahr zurück, während auch die andern Männer bestürzt zurückgewichen waren und die Frauen mit Zetergeschrei sich flüchteten.
Der Vorgang hatte etwas Aufregendes. Ich muß indessen gestehen, so sehr ich den früheren Uebermuth des Officiers mißbilligt hatte, so sehr bewunderte ich jetzt die männliche Schönheit und Kraft, in welcher er, noch immer den Stuhl in der hochgehobenen Rechten und bereit, ihn jeden Augenblick auf seinen feigen und perfiden Angreifer schmetternd niederfallen zu lassen, zürnend dastand. Alle Muskeln schienen in der höchsten Erregung angespannt, und es war, wie wenn er mit einer einzigen Bewegung seines Armes die ganze wackere Bürgerschaft vom Perron fegen könne. Ich weiß nicht, wie es kam: aber in demselben Moment dachte ich mir den Mann, der jetzt auf’s Tiefste beleidigt, die Wucht seines zornbewaffneten Armes gegen einen unwürdigen Gegner richten zu wollen schien, im Feld an der Spitze seiner Compagnie, seines Bataillons, voll Energie, voll Leidenschaftlichkeit, voll strotzender, übermüthiger Kraft und voll Ehrgeiz – ich glaubte einen jungen Gott des Krieges zu sehen; sein Anblick entzückte mich, und Mannhaftigkeit und Kriegsglück waren, wie dem Kriegsgott in Sparta, gewiß auch ihm stete Begleiter. –
Das war der nämliche Officier, den ich in den Fesseln der Liebe und vom Finger eines schönen Mädchens geleitet in Suderode nun zum zweiten Male gesehen hatte. Mars hatte seine Aphrodite gefunden und tändelte mit ihr in behaglicher Ruhe, während der kleine Eros, der hier nichts mehr zu thun hatte, daheim in der Caserne sich gewiß die Pickelhaube auf den Kopf gesetzt hatte und mit dem siegreichen Degen spielte. –
Einige Monate nachher sollten sich unsere Wege abermals und unter ganz anderen Umständen kreuzen.
Straßburg war gefallen, war den räuberischen Franzosenhänden wieder entrissen, und ich brannte vor Begierde, des heiligen römischen Reiches Vormauer in deutschem Besitz und unter deutscher Botmäßigkeit wiederzusehen. Der Anblick war erschütternd und die herrliche Stadt mit den unabsehbaren Trümmerhaufen der nördlichen Quartiere und mit den schwarzen Brandruinen der öffentlichen Gebäude hatte theuer genug mit ihrem Gut und Blut den frevelhaften Leichtsinn Jener gebüßt, die das [475] französische Volk ohne Grund, ohne Ursache über Nacht aus der stillen Arbeit des Friedens in alle Schrecken des Krieges gestürzt hatten.
Ich war durch die Steinvorstadt gewandert, in der kein Stein mehr auf dem andern lag; ich war nach Schiltigheim gefahren mit seinem verwüsteten Friedhof; ich hatte die Lünetten zweiundfünfzig und dreiundfünfzig aufgesucht, wo die wackere preußische Artillerie Bresche geschossen; ich hatte mich von einem strammen Landwehrmanne aus Ostpreußen durch die Citadelle führen lassen, die von den badischen Granaten zu einem einzigen Trümmerhaufen umgewandelt worden war und in der ganze Mauerwände am Boden lagen, als hätte sie der Wind umgeblasen; ich hatte mich vollauf beladen mit Granatsplittern und Shrapnells, die ich als Andenken mit nach Hause nehmen wollte, und wanderte nun in schon vorgerückter Tageszeit nach dem Münster, dessen herrlicher Thurm auch heute in ungebrochener Hoheit und Majestät in den Abendhimmel ragte.
Die Beschädigungen, die der Dom bei der Belagerung erlitten, waren für den, der ihn früher nicht gesehen, kaum zu erkennen. Stolz, feierlich, unerschüttert, voll erhabener Ruhe stand er wie ein von Wogen umbrandeter Fels mitten in dem kriegerischen Gewühle des Tages. Ein halbes Jahrtausend mit all' seinen Stürmen und Wettern hatte er schon vorüberschreiten sehen; Geschlechter um Geschlechter waren an ihm vorbeigewandelt und in die Alles verschlingenden Gräber gesunken, aber auf die zermalmenden Kämpfe und Kriege waren immer wieder die Segnungen des Friedens gefolgt; aus den niedergestampften, blutgetränkten Schlachtfeldern war immer wieder die goldene Saat erstanden; Häuser und Hütten, welche die Fackel des Krieges eingeäschert, waren immer wieder schöner und reicher in die Höhe gestiegen; der wilden, bluttrunkenen, aus den Höllentiefen der Menschenbrust losgelassenen Leidenschaft war immer wieder jener stille, freundliche Sinn der Versöhnung und Freundschaft gefolgt, unter dessen Schutz die Werke der Kunst gedeihen und die Menschheit sich wieder ihrer heiligen Ideale erinnert – und auch heute stand der gigantische Bau, zu dem einst der heilige, kühne Glaube freier Männer begeisterungsvoll Quader um Quader bis in schwindelnde Höhe aufgethürmt, wie seit den Riesenpyramiden der ägyptischen Könige nicht mehr geschehen war, stolz, fest, ernst, unentwegt, ein großartiges Symbol der Liebe, der Freiheit, der Begeisterung, die ihn erbaut und die nun mit ihm schon ein halbes Jahrtausend auch siegreich überdauert hatten.
Wie deß zum Zeichen, ward jetzt oben die Glocke laut, und ihr eherner Hall zog in mächtigen Schwingungen über die Märkte und Straßen der Stadt, die im Dämmer des Abends lagen. Der Klang der Glocke aus der Höhe des Münsters hatte für mich in diesem Augenblick und unter diesen Umständen etwas tief Ergreifendes, Erschütterndes; es lag Etwas darin, was die Seele für das ganze Leben fest hält und was sie nicht mehr los läßt, so lange überhaupt eine Erinnerung ihr innewohnt.
Den nächsten Morgen machte ich eine ziellose Wanderung durch die Stadt. Auf den Kleberplatz mit seinem zerschossenen Gemäldemuseum kam ich gerade, als die deutsche Wachtparade aufmarschirte. Landwehrmänner aus Ostpreußen, kräftige Gestalten mit blonden Bärten, nicht mehr jung, aber ernst und voll Würde – ein prächtiger, herzerfreuender Anblick. In weitem Bogen um den Platz herum standen dichtgedrängt die Straßburger und das Landvolk, das in die Stadt geströmt war; namentlich das Frauengeschlecht war zahlreich vertreten, elegante, zierliche Französinnen in der koketten Nationaltrauer und mit noch koketteren schwarzen Augen, daneben stattliche, blonde Elsässer Mädchen von hohem, ansehnlichem Wuchse, mit schönen Gesichtszügen und auf dem Kopfe die Haube mit den gewaltigen Flügelbändern. Sie Alle streckten neugierig ihre Köpfe in den Kreis und konnten sich nicht satt sehen an dem fremdartigen militärischen Treiben. Wie aber dann die Trompeten schmetterten und die Trommeln wirbelten und wie plötzlich – Eins, zwei – Eins, zwei – die Soldaten im Tempo ihre Beine wagerecht warfen, als würden sie zusammen an einem einzigen Schnürchen gezogen, und wie sie – der Officier voran – alle krampfhaft ihre Köpfe ausrenkten, hinüber nach dem Höchstcommandirenden zu sehen, der die Parade abnahm, da lachte das Weibervolk ringsum, daß ihnen die Thränen in den Augen standen. So etwas Possierliches war ihnen noch niemals vorgekommen, wie dieser Aufmarsch der deutschen Soldaten. Die Männer in der Blouse und die paar windigen, lumpigen Turcos und Liniensoldaten, die sich, zerfetzt und verkommen, den unvermeidlichen Pfeifenstummel im Munde, gleichfalls noch hier herumtrieben, zuckten mit albernem Spotte die Achseln und machten vermuthlich eine Faust – aber nur in der Hosentasche, aus der sie ja den ganzen Tag die Hände nicht herausbringen.
Als ich in den „Gasthof zum Rebstöckel“, wo ich Absteigequartier genommen hatte, zurückkehrte, fand ich mich zu meiner Ueberraschung delogirt. Mein Koffer stand bereits in der Portierloge, und der Portier selbst erklärte mir, daß im Laufe des Vormittags eine Dame vorgefahren sei, die schon in der ganzen Stadt vergeblich nach einem Unterkommen gesucht und sich nicht mehr habe abweisen lassen. Da ich nun schon in der Frühe beim Verlassen des Hôtels die Absicht ausgesprochen, gegen Abend wieder abzureisen, so habe man endlich mein Zimmer für die geängstigte und halb verzweifelte Dame frei gemacht und diese selbst habe sich ausdrücklich vorbehalten, mich noch persönlich für diese Eigenmächtigkeit um Entschuldigung zu bitten.
Ich machte mir nichts weiter aus der Sache und beauftragte nur den Portier, mir ein Billet für den Omnibus zu besorgen, der in zwei Stunden nach Kehl fahren sollte. Dann trat ich in den Speisesaal und rückte mir einen Stuhl an das Fenster, die neuesten Zeitungen zu durchblättern. Die Nachrichten aus Metz hielten damals die ganze Welt in Spannung. Bald darauf hörte ich das Rauschen eines Kleides hinter mir; ich wandte mich nach der Thür, und vor mir stand – die schöne Magda von Suderode.
Meine Ueberraschung war nicht gering. Aber nicht minder überrascht war das Mädchen selbst, das überdies eben im Begriffe schien auf mich zuzugehen. Sie erkannte mich sofort und streckte mir ihre Hand entgegen.
„Welches Wiedersehen!“ sagte sie freundlich.
„In Straßburg! In Feindesland! Mitten im Kriege!“ entgegnete ich lächelnd.
„O, in deutschem Reichsland!“ versetzte sie lebhaft. „Wir halten es fest.“
„Das will ich hoffen,“ rief ich aus. „Aber,“ setzte ich dann hinzu, „was führt Sie, mein Fräulein, hierher?“
„Hierher? Zu Ihnen? Der Wunsch, Sie auf das Herzlichste um Entschuldigung und Nachsicht zu bitten, daß ich Ihre Wohnung hier während Ihrer Abwesenheit in Beschlag genommen habe. Man sagte mir indeß –“
„Sie dürfen überzeugt sein,“ versicherte ich, „daß ich diesen kleinen Dienst mit Freuden jeder Dame geleistet hätte; – am liebsten freilich Ihnen, denn ich erinnere mich noch immer gern jenes schönen Nachmittags in Suderode.“
„Ach, ja,“ rief das Mädchen, „wie herrlich und friedlich war es dort – die reine Idylle –“
„Mit Stachelschweinen,“ scherzte ich.
Das Mädchen lachte. „Sie scheinen ein genauer Beobachter gewesen zu sein. Wie viel Gram und Herzeleid aber ist inzwischen über uns Alle gekommen, wie viel Sorge und Kummer!“
„Auch über Sie?“
„Auch über mich. Aber glauben Sie nicht, daß ich deshalb klage! Nein, nein. In so großer und ernster Zeit muß Jeder seinen persönlichen Antheil an der Noth haben, die über dem Ganzen liegt. Er muß persönlich für etwas zu zittern haben, damit er weiß, was Ungeheures es sei, wenn Hundert- und aber Hunderttausende mit ihm zugleich derselben Bedrängniß, derselben Todesangst ausgesetzt sind. Und täglich zu weinen und doch immer zu hoffen, und täglich zu verzweifeln und doch nie den Muth zu verlieren, sehen Sie, das ist, wenn die Männer draußen im Kampfe stehen, die That der Frauen, das ist unser Heroismus. O, ich fände es viel schrecklicher, wenn ich mitten in der Sorge, welche in den Herzen Aller bebt, allein stehen müßte, ohne weiteren Antheil, als den eben auch der Niedrigste und Gemeinste am Schicksal seines Vaterlandes nehmen muß. Nein, mitleiden müssen wir und mitdulden; Jeder muß seinen Zoll von Schmerz und Thränen zahlen – dann allein haben wir auch das Recht, uns mitzufreuen, wenn endlich aus Nacht und Noth die Glorie des Sieges und Triumphes leuchtend emporsteigt.“
„Brav gesprochen, mein tapferes Fräulein! Aber erlauben [476] Sie, daß ich meine schon vorhin gestellte Frage bestimmter wiederhole: was führt gerade Sie hierher in die Schrecken und Aufregungen des Krieges?“
„Mein Bräutigam liegt hier im Spitale verwundet.“
„O,“ sagte ich mit dem Ausdruck innigster Theilnahme. „Dann sind die schweren Sorgen des Krieges freilich nahe genug an Ihrem Herzen vorübergegangen. Ist die Wunde gefährlich?“
„Gott sei Dank, nein! Ich bin erst vorgestern früh hier angekommen (ich habe die zwei Tage in der erbärmlichsten Spelunke der Welt hausen müssen) und habe meinen Bräutigam besser gefunden, als ich gehofft hatte. Er ist auf dem Wege der Genesung. Ein Schuß in den linken Arm hat ihn getroffen, und der wird freilich, wie der Arzt meint, steif bleiben. Aber das bedeutet wenig, das bedeutet Nichts, wenn die Kugel denn doch einmal treffen soll und das ganze Leben dabei auf dem Spiele steht. Wollen Sie meinem Bräutigam nicht die Freude Ihres Besuches machen?“
Eigentlich hatte ich große Lust, den glücklichen Mann kennen zu lernen, der dieses schöne Frauenbild zu gewinnen verstanden hatte. Aber ich dachte an die nahe Stunde meiner Abreise, und dann war es doch zweifelhaft, ob auch der Bräutigam der schönen Magda Gefallen daran finden würde, wenn sie mich im Gasthof auflas und zu ihm in’s Spital mitschleppte. Ich äußerte deshalb mein Bedenken. Doch das Mädchen unterbrach mich sofort.
„Sie meinem Bräutigam ein Fremder?“ lachte sie. „Erinnern Sie sich denn meines Begleiters in Suderode nicht mehr?“
„O gewiß! Er war es ja, der Ihrem zierlichen Stachelschwein die Stacheln auszog und –“
„Ach, lassen Sie doch das Stachelschwein in Ruhe! Mein Begleiter in Suderode ist mein Bräutigam.“
„Ich gratulire!“ fuhr ich heraus und streckte dem Mädchen so herzlich die Hand hin, daß sie über die Aufrichtigkeit meines Glückwunsches nicht in Zweifel sein konnte. Diese Lösung der Dinge (denn eine solche schien es mir) erfreute mich.
„Mein Bräutigam ist der Graf Eugen Sch…, und nun kommen Sie! Wir fahren nach dem Spitale; eine freundliche Aufnahme verbürge ich Ihnen, und Sie rollen mit Ihrem Omnibus, weil es nun doch einmal nicht anders geht, ein paar Stunden später nach Kehl.“
Auf dem Wege zum Spital, einem früheren Administrativgebäude der französischen Regierung, das zu Lazarethzwecken eingerichtet worden war, erzählte mir Magda die Geschichte von der Verwundung ihres Bräutigams. Er war am 1. September von Metz aus an den Commandanten der Belagerungsarmee vor Straßburg geschickt worden und hatte Anweisung, bis zum nächsten Morgen auf die Ausfertigung des dienstlichen Bescheides zu warten, den er zurückbringen sollte. Er brachte die Nacht in den Laufgräben von Schiltigheim zu, als gegen vier Uhr Morgens die Belagerten unter dem Donner ihrer Wallkanonen aus verschiedenen Thoren der Festung einen Ausfall versuchten. Es war der erste und einzige größere Ausfall, den sie im Laufe der ganzen Belagerung unternahmen. Ihre Absicht war, die Kanonen der zunächst liegenden feindlichen Batterien zu vernageln und die Arbeiten in der Nähe des Festungswerkes zu zerstören. Aber an eine Ueberrumpelung der Belagerungsarmee war nicht zu denken; der erste Lärm von der Festung her fand sie kampfbereit, und den Ausfallenden gelang es nicht einmal, bis zu den Batterien vorzudringen. Graf Sch …, der sich schon bei Noisseville das eiserne Kreuz erkämpft, hatte sich sofort den Kämpfenden angeschlossen und sich wie ein Held geschlagen. Mitten im Dunkel der Nacht und unter dem Sprühregen der französischen Granaten, half er die Anstürmenden zurückdrängen und diese waren schon wieder bis an die Thore zurückgeworfen, als ihn selbst eine letzte tückische Gewehrkugel noch in den Arm traf und verwundete.
„In welcher Angst hätten Sie sich zu Hause verzehrt,“ sagte ich, „wenn Sie von diesen Ereignissen eine Ahnung hätten haben können!“
„O, ich hätte Eugen im Kampfe sehen mögen,“ rief Magda mit leidenschaftlicher Geberde, „ich hätte nicht um ihn gezittert, und der Anblick seines Heldenthums hätte mich nur stolz und glücklich gemacht. Ich habe ihm immer geschrieben: 'Denke nicht an mich, denke nur an Dein Vaterland und an Deine Soldaten!' Ich sah Alles voraus, und wenn er zu Hause oft voll jenes jugendlichen, brausenden Uebermuthes war, der alle Basen und Tanten in tausend Sorgen und tausend Verlegenheiten stürzte, so mußte sich dieser gerade jetzt zu jener Heldenhaftigkeit abklären, die, während sie selbst Wunder der Tapferkeit verrichtet, auch den Untergebenen im Sturme mit fortreißt und dem Könige Reiche gewinnt und dem Sieger Kränze.“
Wenige Minuten nachher saßen wir in dem kleinen Zimmer des Grafen Sch…, rauchten vortreffliche Cigarren und erzählten, was Jeder von uns während der letzten Monate erlebt hatte. Der Graf trug seinen Arm in der Binde und sprach bereits von seiner baldigen Abreise in die Heimath. Er war außer sich, die Armee nicht weiter begleiten zu können, und verwünschte jene französische Kugel, die ihm seine Siegerlaufbahn so jäh zum Ende geführt hatte. „Schauderöses Pech!“ schalt er; „aber ist mir ganz recht geschehen. Verdammtes Straßburg! Hatte Nichts dabei zu thun, ging mich gar Nichts an. Hätten die Andern auch fertig gekriegt. Brauchte meine Nase nicht in jeden Pulverdampf zu stecken.“
Die schöne Magda wollte uns wieder verlassen, und ich sprach ihr darüber meine Verwunderung aus.
„Glauben Sie, ich hätte nichts Anderes hier zu thun, als mit Ihnen zu plaudern und die Zeit zu vertändeln?“
„Aber Sie kamen doch, um den Grafen zu pflegen?“
„Gewiß, gewiß, und das thue ich auch, so gut ich es kann. Nicht wahr, Eugen?“
„Auf Ehre,“ lachte der Gefragte und drehte vergnügt die Spitzen seines blonden Schnurrbartes.
„Indessen, so schwer krank ist mein süßer Pflegling denn doch nicht mehr, daß ich immer bei ihm sitzen müßte, und da rufen mich denn ernstere Pflichten.“
„Sie machen mich neugierig.“
„O, ich habe mich schon im ganzen Spital umgesehen und unentbehrlich gemacht; alle Verwundeten und alle Kranken kennen mich. Wie reiche Hülfe auch am Platze ist, langt sie doch nicht überall aus, und so brave Leute darf man nicht leiden lassen. Und ist das Handeln für mich nicht Leben? Wer sein Leben nicht bethätigen kann, gilt mir für todt. Darum greife ich mit zu, wo ich kann; ich koche, verbinde, wende die Kisten, schreibe Briefe, lese vor, erzähle; ich bin rein ein –“
„Mädchen für Alles,“ scherzte der Graf, „indessen ich hier vor Sehnsucht vergehe, im Liebesfieber verschmachte. Habe gestern vor Sehnsucht poetisch gerast und Verse gemacht. Müssen sie nachher hören.“
„Ja, das müssen Sie,“ lachte das Mädchen lustig, „damit Sie sehen, wie mein Held im Kriege auch zum Dichter geworden ist. Aber ich meine, der Degen kleidet ihn besser als die Harfe. Aber nun adieu! Meine kranken Freunde warten auf mich.“
Damit rauschte sie zur Thür hinaus; ihre Coquettirlöckchen nickten, und der Graf sah ihr zärtlich nach.
„Verteufeltes Mädchen!“ sagte er dann und glaubte gewiß, etwas recht Liebevolles gesagt zu haben.
Ich stimmte kopfnickend bei. Nach einer Pause begann er wieder:
„War doch ganz famos in Suderode. He? Wissen noch? Stachelschwein?“
Ich bejahte. Er lachte.
„War ein Rendezvous. Sie verstehen, heimlich, aber verteufelt geschickt eingefädelt. Meine Braut war noch Gesellschafterin bei meiner Mama, der Gräfin. Lernte sie zuerst in Schlangenbad kennen, wo sie sich Schlangen um den schönen Hals wickelte und damit spazieren ging. Alle Weiber fielen schreiend in Ohnmacht, aber das gefiel mir, und ich verliebte mich rasend in sie. Ist ein verteufeltes Mädchen gewesen. Kam dann wieder in Garnison, aber auf Ehre: habe kein Weib mehr angesehen und immer nur Magda im Kopfe gehabt. Na, und so weiter und so nach und nach. Ohne daß Mama das Geringste merkte. O, wäre schauderöses Pech gewesen! Zuletzt Ausmarsch – Abschied – Park – Abends – Mondschein. Voilà. Konnte nicht abmarschiren, mußte mit Mädel erst im Reinen sein, wollte Alles klar haben. Na, und so weiter. Und wie ich verwundet bin, schreibt mir Mama, wolle mir Johann schicken, den alten Bedienten. Ich schreibe wieder, Esel solle zu Hause bleiben, kann ihn nicht brauchen, sollen mir Magda schicken, sei meine Braut, wolle Niemand Andern, und wenn sie nicht wollen, lasse ich mich in nächster Schlacht todtschießen. Na, sie kennen mich zu Hause und [477] daß ich Ernst machen kann. Wird eine schöne Scene gewesen sein – Krämpfe – Eau de Cologne – Hausarzt – Thränen – Geschrei von Tante Excellenz und Geheul von Cousine Präsidentin, aber zuletzt giebt chère maman nach, küßt das Teufelsmädel und schickt sie so schnell wie möglich hierher, damit ich mich nicht todtschießen lasse. Will auch nicht mehr, aber dafür will ich heimziehen, kolossale Hochzeit machen und mein Mädel wird eine Staatsgräfin werden – glauben Sie nicht?“
„Ohne Zweifel,“ versetzte ich lächelnd. „Und das Gedicht?“
„Wahrhaftig! Hätte fast vergessen!“ Der Graf holte ein Blatt Papier herbei. „Wollte meine Braut gestern zu den Kranken im Spitale gehen. Bat sie, hier zu bleiben, aber Teufelsmädchen lachte mich aus, daß ihr die Thränen in den Augen standen, und ging. Ich aber dichtete:
Liebe Magda es ist schändlich.
Daß Du schon von hinnen gehst;
Meine Sehnsucht ist unendlich,
Aber Du, Du widerstehst.
Nie hätt' ich geglaubt, o Magda,
Das Dein Herz so schlecht es meint –
Und jetzt lachst Du! Gott, wer lacht da? –
Magda lacht da, bis sie weint.“
Der Graf hatte mit höchstem Pathos gelesen.
„He, schöne Verse?“ sagte er jetzt mit innigem Behagen an seiner poetischen Leistung. „Magda – lacht da – wie das klingt! Aber versichere: schauderöse Arbeit, mein Freund; will lieber Batterie stürmen und denke, ich werde mein Lebenlang keine Verse mehr machen.“
Wir hatten beinahe eine Stunde Aufenthalt in Fratesti. So heißt die Station vor dem Donauhafen Giurgewo. Auf dem zweiten Geleise stand ein Zug, aus einem Hofwaggon und mehreren Lastwagen bestehend, und als unser Train einfuhr, betrachtete denselben ein rumänischer Officier, der ganz gemächlich seine Cigarre rauchte. In dem Zwielichte der Dämmerung erkannte ich Fürst Carol; derselbe kam eben von Giurgewo und hatte daselbst dem zweiten Bombardement beigewohnt. Er war sogar in durchaus nicht geringer Gefahr, da eine Bombe ungefähr zwanzig Schritte von ihm im Augenblicke geplatzt war, als er das Lazareth betreten wollte, worin man einige Civilverwundete untergebracht hatte. Wie gesagt, wir mußten eine gute Stunde warten, und da in diesem Augenblicke in ziemlich weiter Entfernung im türkischen Gebirge ein Wetter losgebrochen war, so hielten selbstverständlich die mit einer reichhaltigen Phantasie ausgerüsteten Passagiere die in regelmäßigen Pausen aufeinander leuchtenden Blitze für ebenso viele Kanonenschüsse. Die Pfiffigsten, welche ja immer das Gras wachsen hören, versicherten sogar, daß sie die russischen und türkischen Schüsse unterscheiden könnten. Schließlich mußten sie sich aber doch auf die Aussage des Telegraphenbeamten hin beruhigen, der versicherte, er hätte soeben telegraphirt und die Antwort erhalten, seit zwei Stunden sei kein einziger Schuß gefallen. Es hatte also wohl Kanonade gegeben, aber für diesen Tag kamen wir entschieden zu spät.
Lautlos, ohne einen einzigen Pfiff glitt der Zug endlich zwischen einem Spalier Soldaten in den Bahnhof ein. Der Begleiter des Trains, ein Mann in vollständiger Civilkleidung, sperrte mit einem Sicherheitsschlüssel die hermetisch versperrten Wagen auf; wir waren angelangt, durften aber vorläufig nicht weiter, als in das Revisionsbureau des am Bahnhofe commandirenden Obersten. Derselbe recognoscirte unsere Photographien, erbat sich die Visitenkarten und reichte uns zum Schlusse die Hand. Jetzt durften wir uns frei bewegen, das heißt in der Stadt auf eigene Gefahr die Nachtlager aufsuchen – wie sie eben bei der Hand waren. Wir wanderten die breite Straße, welche durch ganz Giurgewo bis an das Donau-Ufer führt. Tiefes Geheimniß lagerte auf der sonst ziemlich rührigen Hafenstadt; sämmtliche Häuser, mit der einzigen Ausnahme einer kleinen jüdischen Branntweinbude, waren verschlossen, die Läden verhängt; kein Licht flackerte auch nur hinter einer einzelnen Fensterscheibe. Der schalkhafte Mond glitzerte auf die blanken Zinkkuppeln der Kirchen, deren Giurgewo drei aufzuweisen hat. Bald zeigte uns der eigenthümliche Geselle die Spuren türkischer Liebenswürdigkeit.
Wir bekamen dieses Schauspiel am besten zu genießen, als wir beim ersten Hôtel von Giurgewo anlangten, um daselbst ein Nachtlager zu erbeuten. Wie es da aussah! An der eleganten Veranda, die durch eine stattliche Glasgalerie geschützt wurde, war keine Scheibe mehr ganz. An der Wand oberhalb des Eingangsthores gähnten zwei Löcher, so groß, daß man mit Kürbissen hätte hineinwürfeln können. Der Dachstuhl war auch an zwei oder drei Orten abgebrochen, und dem Hôtel gegenüber war eine kleine mit Stroh überdachte Hütte zu einem Scheiterhaufen zusammengeschossen worden. Aufrichtig gesagt, heimelte mich der Gedanke, in diesem zu sehr exponirten Hôtel den Türken als Zielscheibe zu dienen, sehr wenig an. Mein Beschluß war, vorläufig auf den Bahnhof zu retiriren. Es ging daher zurück an Kosaken vorüber, die auf ihren nervigen Pferden gespensterartig durch die Straßen huschten.
Das kleine Restaurationslocal des Bahnhofs war von russischen Officieren voll, welche, das Glas in der Hand, Ersatz suchten für den fehlenden Schlaf. Darunter zeichnete sich, meiner Wenigkeit gegenüber, ein alter, sehr treuherzig aussehender Major durch seine besondere Freundlichkeit aus. Derselbe, früher vom commandirenden Oberst beauftragt, uns den Weg nach der Stadt zu zeigen, hatte den ersten der sich verbeugenden Kriegs-Correspondenten mit kräftiger Faust beim Arm gefaßt und auf diese höchst bezeichnende Weise an die Luft spedirt. Die Uebrigen folgten nach. Als er mich wiedersah, wollte der gemüthliche Alte durchaus mit mir ein russisches Gespräch anknüpfen, leider war es mir aber nicht möglich Antwort zu stehn, worüber der würdige Mann sich äußerst zu grämen schien, bis wir uns durch das Anstoßen der Gläser wenigstens theilweise verständigten. Die Nacht war unter Geplauder und Gesundheittrinken mit den verschiedensten Vertretern der russischen Heeresmacht bald verstrichen. Mit den ersten Morgenstrahlen stellte sich aber in dem erwähnten Local eine Invasion ein, wie man sich dieselbe nicht ärgerlicher und lästiger vorstellen kann. Aus allen Winkeln und Ecken, aus den Fensternischen und Thürangeln entwickelten sich zahllose Schwärme von Fliegen, die weder dem Mund, noch den Augen, noch der Nase Ruhe ließen. Es war nichts anderes zu thun, als vor diesen Myriaden kleiner Peiniger die Flucht zu ergreifen. Aber wohin? Wir bestiegen den Dachstuhl des Bahnhofsgebäudes; von hier aus überblickt man die gesammte herrliche Umgebung viel besser als von dem Feuerthurm, welcher nach türkischer Sitte (Giurgewo war noch 1828 türkische Festung) den Mittelpunkt der Stadt einnimmt. Unmittelbar zu unseren Füßen dehnt sich auf einer verhältnißmäßig sehr großen Fläche die Stadt aus. Die meisten Häuser sind von gefälliger Bauart, reinlich, und tauchen aus dem üppigsten Grün empor. In der Mitte dieser niederen Cottagehäuser ragen die Kuppeln der Kirchthürme empor, das größte und stattlichste Haus aber ist die Schule, ebenfalls von den türkischen Bomben stark mitgenommen; daneben befinden sich die Präfectur, wo heute kein Präfect ist (die ganze Verwaltung hockt in Comana, dreißig Kilometer von hier), das Telegraphenamt und zwei oder drei Privatvillen. Ein langer weißer Streifen zeigt den Lauf der Donau. In der Mitte derselben steht eine mit starkem Gebüsch bedeckte Insel, auf welcher die Russen ebenfalls eine Batterie errichtet haben. Etwa zwanzig bis dreißig Maste ragen aus dem Wasser über die Häuser empor; es sind die Barkassen, die sich bei Beginn des Krieges in den Hafen von Giurgewo geflüchtet haben. Dicht an dem Hafen arbeitet die großartige Dampfmühle des reichsten Besitzers der Umgebung, eines Herrn oder Dom Bololesco, bei der beträchtliche Vorräthe aufgespeichert sind.
[478] Drüben ziehen sich die herrlichen blauen Höhen des Balkans hin; die Landschaft ist hier schon großartiger und freundlicher zugleich, als bei Widdin. Rustschuk mit dessen Vorposten, dem am Donaustrande liegenden Bahnhof, streckt sich auf dem Rückgrat des Gebirges hin, wie eine nachlässige Odaliske auf dem Sopha im Serail. Vor und hinter Rustschuk, oberhalb und unterhalb der Stadt bezeichnen weiße Streifen die Stellen, von wo aus die türkischen Batterien die Stadt bestreichen können. In Giurgewo beginnt es sich nach und nach zu beleben. Jene Läden, deren Eigenthümer noch nicht Reißaus genommen haben, öffnen sich zur Hälfte. Ein paar Gestalten im Civilrocke schreiten durch die Straßen, und auf dem Rathhause, auf dem Hauptplatze wagt es sogar ein Zuckerbäcker und ein Kaffeehausbesitzer Stühle und Tische für die löbliche Kundschaft zu placiren.
Ruhig verging der Tag bis fünf Uhr Nachmittags; der Himmel selbst schien für unsere Annehmlichkeit zu sorgen, indem er einen höchst wohlthuenden, ebenso kurzen wie heftigen Platzregen niedersandte, der die Atmosphäre bedeutend abkühlte. Doch kaum war der Wasserfall vorüber, als der in Giurgewo commandirende General, ein Balte Namens Schmidt, erschien und den im Bahnhofe sich die Finger wundschreibenden Correspondenten avisirte, daß man sofort zu schießen beginnen würde. Das nämliche Aviso wurde zu derselben Stunde, aber in viel urwüchsigerer Weise den Einwohnern von Giurgewo zu Theil. Ein Officier mit einem Piquet von zwanzig Mann durchwanderte alle Straßen; er kramte im strengsten Sinne des Wortes alles zusammen, was er sowohl in den Häusern wie auf den Straßen an Weibern, Männern und Kindern antraf, und jagte sie förmlich hinaus. Die Leutchen begriffen wohl rasch, daß man in ihrem eigenen Interesse handelte, und ließen sich auch mit der größten Bereitwilligkeit hinausbefördern. So gab es denn auf der zu beiden Seiten mit Rebengeländer bepflanzten sehr schön angelegten Landstraße eine wahre Völkerwanderung. Es war ein seltsames Gewimmel von sommerlich-europäisch gekleideten Bürgersleuten (freilich in der Minorität) mit Familien, inclusive schmächtig aussehender Fräuleins, Bulgaren in weiten Tuchhosen mit kurzen Jacken und ein Messer in dem Gurt, langbärtigen Walachen, deren ganze Kleidung in einem bis auf die Fersen herabhängenden Wollhemde und Unterhosen bestand, während ihre Damen Kattunkleider, tiefblau oder hochroth gefärbt, trugen. Auch ein Transport rumänischer Dorobanzen, die ihrer zwölf einen Heuwagen escortirten, gehörte mit zum Tableau, da die Russen, die in Giurgewo allein militärisch Herr sein wollten, ihre rumänischen Waffenbrüder genau wie Civilpack behandelten. Hier und da tauchte eine der jetzt bei Allen, die mit der Armee ziehen, also auch bei den Kriegscorrespondenten, so beliebten weißen Tuchkappen auf; ja man hatte auch eine blaue Tuchkappe mit schweren silbernen Borten entdeckt. Dieselbe saß auf dem Kopfe meines Begleiters, Baron V., der dem holländischen Consulat in Bukarest beigegeben worden und erst vor wenigen Tagen aus seiner Heimath in Rumänien angelangt war. Baron V. hatte dem kaiserlichen Hauptquartiere zahlreiche und vermuthlich auch wichtige Depeschen (man kennt ja das Familienverhältniß zwischen den Höfen von Petersburg und Haag) zu überbringen. Der Zug, in welchem er sich befand, kreuzte oberhalb von Braila den kaiserlichen Extrazug, der den Czaren dem operirenden Heere näher brachte.
Als Baron V. erfahren, daß der kaiserliche Extrazug auf dem Geleise neben dem, in welchem er sich befand, stehen bleiben mußte, sprang er, halb angekleidet, aus dem „Sleeping Car“ und überreichte seine Depeschen dem diensthabenden Adjutanten. Dieser aber bemerkte, daß es Gebrauch wäre, solche Depeschen Ihrer Majestät eigenhändig zu überreichen, allein der Niederländer zeigte auf seine Toilette, die aus einem Nachthemde – und einem langen Capot bestand. Die betreßte Kappe saß allerdings auf dem Kopfe, aber das konnte nicht hinreichen, um der Nachttoilette einen salonartigen Stempel zu verleihen. So mußte denn der Adjutant die auf so originelle Weise zugemittelten Depeschen der Majestät vorlegen. Kaum in Bukarest angelangt, mußte Baron V. nach Giurgewo, um das niederländische Consulat hier in Augenschein zu nehmen und mit dem Consul zu conferiren. Letztere Mühe wurde ihm jedoch erspart, denn der Herr Consul hatte für seine Sicherheit gesorgt und war längst außerhalb des Bereiches der türkischen Kugeln, die für sein niedliches Häuschen eine ganz besondere Vorliebe hegten, denn nicht weniger als zwanzig derselben waren consequent theils in den Garten, theils in die Behausung selbst gefallen, so daß es mit der königlich niederländischen Staatsvertretung an der walachischen Donau sehr traurig aussieht. Wir wanderten, während mein Genosse mir seine Wahrnehmungen erzählte, in der Richtung nach Fratesti, um von einer kleinen Anhöhe der Vorstellung mit Muße und ohne Lebensgefahr beizuwohnen, als es schon zu krachen begann. Die russische Batterie am Donaugelände unterhalb des Promenadengartens hatte zwei Schüsse gegeben.
Ich weiß nicht, wie die Sachen drüben in Rustschuk gewirkt haben. Aber auf dieser Seite hatten sie das Resultat, ganze Schwärme von krächzenden Raben und Krähen aufzuscheuchen, die entsetzt davon flogen. Hier und da breitete inmitten der schwarzen Schaar ein Kranich sein buntes, weiß und roth bordirtes Gefieder aus. Die Vogel-Emigration mit der Menschen-Emigration. Folgen wir dieser ungefähr anderthalb Kilometer von der Stadt! Dort, wo die Gefahr aufhörte, haben sich am Wegesrande Hunderte von Neugierigen gruppirt. Sowohl die Aufmerksamkeit, mit der sie jedem Schuß folgen, wie die Sicherheit, mit der jeder Bauer anzugeben wähnt, wo die Bombe eingeschlagen hat und mit was für Erfolge, sind gleich merkwürdig. Des Erwägens und Folgerns in allen Sprachen giebt es kein Ende; griechisch, bulgarisch, walachisch wird durcheinander gesprochen, und dazwischen ertönen gar nicht selten deutsche Laute, die von jedem halbwegs gebildeten Städter an der Donau verstanden werden.
Einzelne Flüchtlinge haben ihre Anstalten für eine Uebernachtung im freien Felde getroffen. Das Bettzeug brachte man auf dem Rücken gleich mit; ein Leintuch wird zwischen zwei Baumästen gespannt und dient als Zelt. Andere raffinirtere Parteien, die dem Himmel als Zimmerdecke doch nicht ganz vertrauen, hatten sich artige Hütten erbaut und dieselben zu Schlafzimmern verarbeitet. Ebenso wurde für den Mundbedarf gesorgt. Ein speculativer Koch hat in die Erde ein Dutzend Löcher gegraben, und auf diesem sorgsam unterhaltenen Herd braten die landesüblichen Speisen, das knochige Paprikasch, die kleinen saftlosen Hühner, Gänse und kleine Kürbisse. Daneben wird rosafarbiger Landwein, in riesigen Korkflaschen verwahrt, ausgeschenkt, und als Leckerbissen giebt es noch zum Nachtisch saure Milch und eine Ladung allerdings schon stark beschädigter Apfelsinen. Die vernünftigen Familien jedoch verschmähen die Kost der Garküche; sie haben ihren Bedarf von zu Hause mitgenommen, suchen sich ein anmuthiges, schattiges Plätzchen aus, wohin sich nach sicherer Berechnung keine Haubitze verirren kann, und diniren hier auf dem Grase, als wäre das ganze Bombardement, welches hier Schlag auf Schlag erdröhnt, nur ein Feuerwerk, das zu einer Landpartie gehört.
Unter diesen Philosophen, welche es verstanden, einer fatalen Situation die heiterste Seite abzugewinnen, fand sich auch eine Gruppe von Schmausenden, in deren Mitte mir zwei Männer mit langen Bärten sofort als Urtypen deutscher Biedermänner erschienen. Ich irrte nicht; es waren der Posthalter und der Telegraphist von Giurgewo, Beide, wie viele andere Angestellte in dieser Branche hier zu Lande, Oesterreicher aus den Kronlanden. Sie saßen mit Weib, Kind und Großmutter bei einem sauber tranchirten Entenbraten mit Gurkensalat, den die Hausfrau, sorgsam verwahrt in einer hölzernen Schüssel, mitgebracht hatte. Mein sehr leutseliger Compagnon, der holländische Consul, knüpfte bald die Bekanntschaft an, und wir mußten durchaus „zugreifen“. Beide Herren, namentlich der Telegraphist, wußten Manches zu erzählen. Er war bereits während des früheren Krieges in Giurgewo gewesen, und bemerkte, daß es damals eben so ging wie jetzt. Den ganzen Tag über herrschte Ruhe; nur zwei Stunden in der Frühe und zwei Stunden Abends wurde geschossen. Die Einwohner waren avisirt, daß sie während dieser zwei Stunden die Stadt meiden mußten und richteten sich auch darnach ein. Man erkannte Abends recht gut den „letzten Schuß“, und sorglos ging Alles nach Hause. Der untere Theil war jedoch damals derjenige, in dem sich die türkischen Kugeln glimpflicher benahmen als jetzt; sie hatten es nicht so sehr auf die Häuser der Giurgewoner abgesehen. Der Telegraphist konnte überdies noch von Glück reden, daß er im Stande war, uns seine Erlebnisse mitzutheilen. Er arbeitete wie gewöhnlich am Sonntag in dem netten
[479][480] Häuschen der Telegraphenstation, als er benachrichtigt wurde, man werde auf Giurgewo schießen und es wäre rathsam, Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen. „Pah,“ erwiderte der gemüthliche Oesterreicher, „die Kruzi-Türken werden doch nicht auf eine wehrlose Stadt schießen?“ Der Commentar zu dieser kriegsrechtlichen Vermuthung ließ nicht lange auf sich warten. Kaum hatten die russischen Batterien zu „schreien“ begonnen, wie sich eine Frau neben mir ausdrückte, die in Bulgarien das Deutsche entweder verlernt oder erlernt hatte, als eine erste Kugel gerade unter dem äußeren Balcon des Telegraphenamtes platzte. Fast das ganze Gitter wurde weggefegt. Das war aber blos eine Art Ankündigung, denn fünf Minuten später kamen hintereinander nicht weniger als sieben Bomben geflogen, welche in dem ganzen Amte die größte Confusion anrichteten. Nun wurde es immer lebendiger. Die Türken hatten offenbar das Telegraphenamt als Kugelfang auserkoren, denn in einer Stunde rauschten hundertundvier Bomben um dasselbe. Glücklicher Weise platzten die meisten nicht, aber trotzdem ist das ganze Gebäude jetzt unbrauchbar und wird das nächste Budget in den rumänischen Kammern einen ziemlich starken Posten für den Wiederaufbau der Telegraphenstation Giurgewo aufnehmen müssen. Der Telegraphist und ein ihm beigegebener russischer College blieben fünf Stunden lang mitten im schrecklichsten Eisenregen gefangen; der Russe war ganz außer sich über die Gleichgültigkeit und die Gemüthsruhe des Deutschen. Namentlich konnte er nicht begreifen, wie man in einem solchen Momente zu rauchen wagte. „Ja sehen's,“ erwiderte der Oesterreicher, „wann ich schon caput werden muß, so soll's wenigstens mit der Cigarr' im Maul geschehen.“ Aber es ging Keiner caput, denn es steckt ja in jeder Bombe ein Fünkchen Humanität. Sie vergreift sich an Dingen, läßt aber die Menschen ungeschoren. Die nämliche Ansicht theilten offenbar zwei englische Berichterstatter, die mitten im intensivsten Bombardement am Gitter des Telegraphenbureaus erschienen und mit der nämlichen Kaltblütigkeit eine Depesche aufgeben wollten, als hätten sie von Brighton nach London über die Geburt eines Seehundes im Aquarium der ersteren Stadt telegraphiren wollen.
„Ich war ganz ‚paff‘,“ meinte der Telegraphist, als er dies erzählte, „und mußte die Herren fragen, wie sie überhaupt hierhergelangt waren. Sie zuckten die Achseln und schienen es durchaus nicht begreifen zu wollen, daß ich die Telegramme nicht expediren konnte.“
Vorläufig wurde Post und Telegraphie in der Privatwohnung des Beamten untergebracht – bis auf Weiteres. Je mehr der Abend herannahte, desto heftiger wurde auch die Kanonade. Die Türken waren am Anfange etwas nachlässig, aber sie animirten sich rasch. Nur – soviel es möglich war, überhaupt Beobachtungen anzustellen – ein wenig hatten sie sich der Stadt erbarmt. Dafür zielten sie mit Beharrlichkeit auf die oben erwähnte große Dampfmühle, das Eigenthum eines der reichsten, wenn nicht des reichsten Grundbesitzers der Umgebung, des ebenfalls schon genannten Herrn Bololesco, der sich vom Bauer zum dreifachen Millionär emporgeschwungen. Kaum dauerte das Bombardement eine Stunde, als eine starke Rauchsäule über die Mühle emporschlug. Die Leute zischelten wohl hier und da einander zu: „Feuer in Rustschuk!“, aber die Tiefe, aus der sich die Rauchsäule erhob, deutete darauf hin, daß der Feind diesmal nicht zu Schaden gekommen war. Die ungeheuren Mehlvorräthe, welche neben der Mühle aufgespeichert lagen, lieferten dem Brande nur zu rasch eine ausgiebige Nahrung; der röthliche Widerschein war bei Sonnenuntergang so gewaltig, daß die Anhöhe von Rustschuk uns wie in Tagesbeleuchtung erschien. Ein kleiner Hügel, auf dem sich das löbliche Publicum versammelt hatte, bot einen ausgezeichneten Beobachtungspunkt. Mein erster Blick schweifte hinüber, oberhalb des Bahnhofes, um zu entdecken, ob das kleine Wirthshaus noch dastehe, wo ich vor acht Monaten an einem Novembertage vierundzwanzig vergnügte Stunden zugebracht. Ja, es steht noch da, von seinem Garten umgeben mit der herrlichen Aussicht auf das ganze Donaugebiet. Aber daneben bemerkt man etwas Verdächtiges, wie die Schlünde einiger Kanonen. Diese Nachbarschaft konnte für das Häuschen verderblich werden, und ich zweifle, ob der Dragoman des Wirthes, der „Schani“, der Gatte der schönen Spaniolin, der ehemalige Polizei Agent, den Gästen, wenn es solche giebt, mit der nämlichen Seelenruhe den sammetnen Bulgarenwein kredenzt und mit der Genialität, die ich damals an ihm bewunderte, die Einkehrenden um kolossale Bakhschisch zu prellen versteht. Doch werden wir nicht bald persönlich dem Herrn Schani einen Besuch abzustatten in der Lage sein? Das wissen die Götter und der Chef des russischen Generalstabes, der aber eine hermetische Verschlossenheit an den Tag legt, die wohl mit den Wertheim'schen Cassen concurriren könnte. Wir hören nur gerüchtweise (von einem Zeitungsblatte ist hier keine Rede), daß die Donau bereits bei Braila überschritten wurde und es nicht lange dauern kann, bis sie auch hier überbrückt werden wird; so oft wir um die geringste Auskunft nachsuchen, erhalten wir Antworten, die nur darauf berechnet sind, uns unsere Indiscretion fühlen zu lassen. Man scheint nicht die geringste Ahnung zu haben, daß Kriegscorrespondenten sich auf die Beine gemacht haben und ihren Zeitungen – manchmal – ein Heidengeld kosten, eben um etwas in Erfahrung zu bringen.
Die Krankenpflegerin. In allen Phasen der Geschichte erblicken wir die Frau als die Repräsentantin eines höhern Wissens, einer Divinationsgabe, die ihr vom Himmel gleichsam als Mitgabe für ihr Erdenleben verliehen worden. Wir begegnen ihr bald als Sibylle, bald als Vesta, den Priestern zur Hand oder beim Opferdienst auf dem heiligen Dreifuß die Orakel verkündend. Erst die christliche Kirche hat sie dieser Höhe entkleidet, sie in enge Hallen gebannt und ausgeschlossen aus dem großen Verband der menschlichen Gesellschaft und des Familienlebens.
Das harte Urtheil der ihr innewohnenden Sündhaftigkeit bezahlte sie mit Thaten des Mitleids; sie heilte Kranke, suchte im Walde heilende Kräuter und bereitete Genesung bringenden Trank. Ihre Natur trieb sie dazu Aerztin zu werden. Da, wo sie half, glaubte man an sie; allein sie konnte nicht Allen Heilung bringen, und wo ihre Mittel fehlschlugen, da klagte man sie der Giftmischerei an, brachte sie vor den Richterstuhl – verbrannte sie als Hexe.
Wir besitzen von dem berühmten Michelet zwei schöne Bücher, „La femme“ und „La sorcière“, in denen er das Schicksal begabter Frauen durch alte Zeitalter verfolgt. Es ist eine anregende Lectüre, namentlich für Frauen, und sollte mehr von ihnen gekannt sein, als es der Fall ist. – Das Bedürfniß der Frau zu heilen, zu pflegen, hat in allen christlichen Ländern einen Wirkungskreis gesucht, in engen Grenzen auch einen solchen gefunden. Die katholische Kirche hat die barmherzigen Schwestern eingeführt; in Belgien pflegen die Beguinen, der Protestantismus hat die Diakonissinnen geschaffen. Diese Schwesterschaften fordern ein Verzichten auf die Freuden der Welt und liefern dabei nur dienende Hände. Sie sind vortrefflich in ihrer Art und in ihren Hülfeleistungen ein Segen; allein ihr Können ist ein beschränktes, weil es von keinem Wissen unterstützt wird. Die Freiheit des Handelns ist ihnen benommen; sie sind das blinde Werkzeug einer höhern Intelligenz.
Die Genfer Convention vom 22. August 1864, ein internationaler Hülfsverein zur Pflege im Felde verwundeter und erkrankter Soldaten forderte die Ausbildung von Krankenwärterinnen als eine Hauptobliegenheit unserer Zeit; denn ohne geeignete Pflege und Wartung ist keine Möglichkeit der Heilung. Der große vaterländische Frauenverein, an dessen Spitze Ihre Majestät die Kaiserin Augusta trat, machte es sich zur Aufgabe, Anstalten zur Ausbildung dieser Pflegerinnen zu gründen. Baden ging darin mit rühmlichem Beispiele voran.
Jedes Mädchen und jede Frau von zwanzig bis vierzig Jahren, gleichviel welcher Religion sie angehört, kann in den Dienst des vaterländischen Vereins treten, wird auf dessen Kosten ausgebildet und dann in der Krankenpflege verwendet. Diese dienenden Schwestern gehen aus der Classe der Dienenden hervor; ihre Lage ändert sich nur insofern, als die Arbeit für sie eine andere geworden ist und sie einen höheren Grad der Gesittung erlangen durch die ihrem Gemüthe angediehene Pflege. Es steht ihnen dabei frei, ihr Verhältniß zu dem Vereine jederzeit zu lösen, sich zu verheirathen, auf eigene Hand zu verpflegen. Sie sind frei, und kein Gelübde bindet sie. In den Hospitälern, wo sie Verwendung finden, steht eine Oberin an der Spitze, die über sie die Aufsicht führt. Diese Oberin ist eine gebildete Dame, welche die Krankenpflege gründlich gelernt hat. Sie speist mit den dienenden Schwesten, wohnt aber für sich, empfängt in ihren Zimmern, gebietet unter der Anweisung der Aerzte, was für die Kranken geschehen soll.
Jeden Morgen erscheinen diese Herren im Hospital und machen die Runde durch die Säle. Die Oberin begrüßt sie im Conferenzzimmer, berichtet, was sich zugetragen, und nimmt fernere Instructionen entgegen. Ihr Amt ist ein sehr verantwortliches, aber auch ein sehr schönes; denn sie ist gleichsam das Licht dieses großen Hauses; sie ist der Sonnenschein für den armen Kranken, der nach einem tröstenden Worte verlangt, der sich an ihrem Zuspruche aufrichtet.
Der Wirkungskreis einer solchen Oberin ist der größte und schönste, [481] den irgend ein Frauenleben erzielen kann. Warum aber suchen ihn nur so Wenige? Warum dieser Mangel an Pflegerinnen bei dem allgemeinen Nothschrei nach einem entsprechenden Berufe für die Unverheiratheten? Kann es denn eine glücklichere, unabhängigere Lage geben? Schließt das Fach nicht Alles ein, was dem Frauenherzen sein Genügen bringt, während das Talent so schwer auszubilden, eine Kunst so schwer anzubauen ist, mit solchen Opfern an Zeit, mit solchem Aufwande von Mitteln errungen wird und dabei in den Erfolgen so unsicher bleibt?
Neigung zur Krankenpflege hegt im Grunde doch die größte Zahl der Frauen. – Wir haben es in den letzten beiden großen Kriegen gesehen, wie opferfreudig sie sich hinzudrängten, um Hülfe zu leisten, wir haben dabei aber auch die traurige Erfahrung gemacht, daß nur solche Pflegerinnen von wirklichem Nutzen sind, die sich für diesen Beruf vorbereitet haben. Warmes Mitgefühl, rege Theilnahme für die Leiden und Schmerzen des verwundeten Bruders kann die mangelnden Kenntnisse nicht ersetzen. Wunden wollen verbunden sein, wenn sie heilen sollen, und diesen Verband muß man anzulegen verstehen. Noch so heiß geweinte Thränen stillen keine Verblutung, ziehen kein Geschoß aus klaffenden Wunden – kurz: Wollen ohne Können ist gerade dort von weittragendster Gefahr.
Sollte man nun nicht gern der Wiederkehr solcher mißlichen Zustände vorbeugen wollen, nicht gern bedacht sein, die Rolle der vorsichtigen Jungfrauen zu spielen? Daß dies der Fall sei, ist der Wunsch des vaterländischen Frauenvereins; dazu bietet er in redlichster Absicht die Hand und ist erstaunt, daß so Wenige diese Hand ergreifen. Woran mag es liegen?
Vielleicht ist der Weg, den man einzuschlagen hat, noch zu unbekannt, das gesteckte Ziel in Friedenszeiten dem Auge des Fernstehenden verhüllt. Viele schreckt auch wohl das Wort „Hospital“, mit dessen Klang man Ansteckung, Pest, allerlei üble Gerüche und versunkene Menschen verbindet. Im Kriege denkt man an dergleichen nicht – da sieht das Auge der Frauen nur die für das Vaterland blutenden Helden, und auch die schwieligste Hand, die einen Finger einbüßte, netzt die Thräne des Mitgefühls. Nüchternen Sinnes aber ergreift die Frau ein Schauer bei eben den Leiden, denen sie sich, getragen von ihren Empfindungen, so opferfreudig leiht. Was ihr auf dem Schlachtfelde leicht fiel, wird ihr in einem engen Raume schwer; ihre Nächstenliebe, die von keiner Begeisterung getragen wird, erkaltet vor dem Anblick einer widerlichen Krankheit.
Wenn es Mode würde, Spitäler auf seinen Vergnügungsreisen zu besuchen, wie man Kunsthallen besucht, so würde manche Frau erkennen, daß dort das Gebiet ist, wo sie zu herrschen von der Natur berufen ist, und ihr Vorurtheil würde schwinden. Beginne sie doch einmal über eine solche Schwelle zu treten, wo Frauenregiment schon seinen verschönenden, säubernden Einfluß geübt hat! Schelle sie z. B. einmal an der Pforte des Stadtkrankenhauses in Karlsruhe und verlange die Oberin zu sehen! – Am Ende eines langen Ganges liegen deren Zimmer. Man läßt sie eintreten. Sie erscheint nicht gleich; dies gewährt Zeit, sich umzuschauen. Die Einrichtung ist behaglich, ist elegant; vielleicht sind es eigene Möbel. Dort steht ein Damenschreibtisch, daneben Blumen auf schön geflochtenem Gestell, dann kommt ein Clavier, ein Bücherschrank; alles bekundet Bildung. Der Vogel zwitschert im Käfig; vor dem Sopha steht noch das Frühstück. Durch die offene Seitenthür gewinnt man den Einblick in das Schlafgemach. Jetzt tritt sie ein, eine hohe, schlanke Gestalt, auf der Brust das rothe Kreuz, auf dem reichen blonden Haar das Häubchen. Gern geleitet sie den Besuch durch die Säle. In den reinlichen, gut gelüfteten Räumen sieht es vortrefflich aus; die Wäsche ist weiß; die Fenster sind spiegelhell. Die dienenden Schwestern, in sauberen Hauskleidern, bewegen sich geschäftig hin und her. Die Kranken erster Classe befinden sich in abgesonderten Zimmern, Jeder für sich allein.
„Zu diesen habe ich, während meiner Lehrzeit, selbst gehört,“ bemerkt die Oberin. „Um die Pflege praktisch zu lernen, läßt man sich in dieser Weise aufnehmen und zahlt dafür monatlich neunzig Mark. Der theoretische Unterricht ist dagegen unentgeltlich. Ein Jahr reicht hin, um seine Studien zu vollenden. Zeit und Erfahrung thun das Fehlende.“
„Sie sind glücklich hier? Sind Sie zufrieden?“ fragt der Besuch.
„Vollkommen!“ heißt es zurück. „Denn mein Beruf giebt der Thatkraft meines Herzens volles Genügen; meine äußere Lage ist vortrefflich; ich kenne keine persönliche Abhängigkeit; die Pflicht allein gebietet über mich. Ich kenne keine Sorge, kann ruhig der Zukunft entgegensehen und danke Gott täglich, daß er meine Schritte hierher gelenkt hat.“
Der Tummelplatz bei Innsbruck. (Mit Abbildung s. 479.) Wer die freundliche Landeshauptstadt von Tirol besucht, versäume nicht einen Ausflug nach dem nur eine kleine Wegstunde entfernten Schlosse Ambras zu machen! Ist die berühmte Ambraser Sammlung, die Erzherzog Ferdinand angelegt, auch längst nach Wien gewandert, so üben doch die herrliche Lage der Burg, die lohnende Aussicht, einige Reste der werthvollen Sammlung und die historischen Erinnerungen eine mächtige Anziehungskraft. Der Ursprung des Schlosses soll noch in Römerzeiten zurückreichen. Vermuthlich stand hier damals ein Wartthurm, an den sich allmählich spätere Zubauten ansetzten.
Nachdem im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Herren auf Ambras gesessen, wurde es bekanntlich im Jahre 1563 vom Kaiser Ferdinand seinem Sohne, dem Erzherzog Ferdinand, übergeben, der noch 1567 die Burg erweitern und verschönern ließ. Weite Prachtsäle und glänzende Gemächer, deren Tirol früher nie gesehen, stiegen empor und wurden mit kostbaren Gemälden und Statuen geschmückt, Kunstsammlungen, eine reiche Bibliothek und naturhistorische Museen wurden angelegt. Aber alle Sammlungen überstrahlten seine Rüstkammern, in denen über hundert Harnische und Waffen der berühmtesten Fürsten und Krieger seiner Zeit und der nächsten Vergangenheit ausgestellt waren. Der kunstsinnige Erzherzog hatte die Burg mit aller Pracht des sechszehnten Jahrhunderts ausgestattet und die Umgebung derselben in einen Feengarten verwandelt. Die seltensten Blumen schmückten die Beete, Bosquete und Haine; schöne Obstgärten, Weinberge und Thiergehege wechselten in bunter Folge. Labyrinthe und kühle Grotten, riesige Teiche, hochspringende Fontainen und rauschende Cascaden überraschten den Besucher. In diesem Paradiese hielt der Erzherzog an der Seite der schönen Philippine den glänzendsten Hof.
Mochte der für Kunst und Literatur begeisterte Herr hochgelehrte Männer seiner Zeit in seiner Umgebung haben, so wurden die wissenschaftlichen Bestrebungen und die Theilnahme an der Kunst durch das höfische und ritterliche Treiben überwogen. Reiten, Tournieren und Lanzenstechen waren die Lieblingsunterhaltungen am prachtliebenden Hofe. Um einen Platz zur Dressirung der Pferde und zu ritterlichen Uebungen zu gewinnen, wurde westlich vom Schlosse eine kleine Waldebene gelichtet und ein „Tummelplatz“ hergestellt. Welch malerisches, buntes Bild mochte es gewesen sein, wenn auf diesem von altem Fichtenwalde umzirkten Plane Rennen und Stechen stattfand und die schönsten Frauen dem lustigen, hurtigen Treiben zusahen! Das bunteste, lachendste Bild, umgeben vom dunkelgrünen Rahmen der riesigen Nadelbäume.
Doch die Herrlichkeit von Ambras fand auch endlich ihr trübes Ende. Und sobald das reiche Leben auf der erzherzoglichen Burg verstummt war, trat Ruhe auf dem waldkühlen Tummelplatze ein, der nun ein stilles Plätzchen war, auf dem die Elben in mondscheinhellen Nächten ungestört hätten tanzen können. Der einst von Ritterpracht strahlende Plan ward einsame Waldwiese, und männiglich vergaß der stillen Oase.
Als im Jahre 1796 das prächtige Ambras zum Militärspitale degradirt worden und eine Epidemie viele Opfer gefordert, gedachte man wieder des alten Reitplatzes, und man grub auf diesem stillen Grunde den geschiedenen Kriegern ihr letztes Bett. Fromme Hände setzten auf die frischen Gräber hier und dort ein Kreuz. Wie aber das deutsche Gemüth seit den ältesten Zeiten sich im Walde der Gottheit und dem Göttlichen näher wähnt, so fühlten Viele sich vom einsamen Waldfriedhofe wunderbar angezogen und glaubten, daß ihr Gebet aus der säuselnden Waldöde leichter zum Himmel dringe und gnädige Erhörung finde. Der Platz, wo Pferdewiehern und Kampfruf erschollen, ward ein stilles Waldheiligthum, wo fromme Beter knieten und flehten. Kreuze und Capellen erstanden, und moosbebartete Eichen wurden mit heiligen Bildern geschmückt.
Wer das Schloß Ambras besucht, der steige, nachdem er die lachende Fernsicht des Schlosses genossen, zum waldumhegten Naturtempel des Tummelplatzes empor, wo die Bäume säuseln, die Waldvöglein zwitschern und singen und der Gekreuzigte milde niederblickt. Wer aber, der den Tummelplatz betritt, denkt nicht an Tacitus, der von den Germanen sagt: „Haine und Forste nehmen sie zu ihren Heiligthümern und geben so Götternamen dem einsamen Wesen, das sie nur in der Anbetung sehen.“ (Germ. IX.) – Dieser altgermanische Zug lebt im Tirolervolke noch fort, denn seine beliebtesten Wallfahrtsorte stehen auf einsamem Waldgrunde.
Wir schließen aber mit dem Anfange eines Gedichtes, das vor mehr als zwanzig Jahren ein Tiroler dem Tummelplatze gewidmet:
„Ein waldumhegter Plan! Die Fichten halten Wacht
Um’s stille Heiligthum und lispeln leis’ und sacht,
Wie wenn ein Freund zum Freunde flüstert.
Es ist ein eigner Platz – das hab' ich stets gefühlt,
Wenn in dem Waldesgrün die Luft des Abends spielt,
Und sich das weite Thal umdüstert.“ –
„Deutscher Volkshumor“. Wer über den Humor ein Buch schreibt, muß selbst mit dieser Gottesgabe behaftet sein, sonst verdorren die vielen bunten Blumen, mit denen er es zu thun hat, unter seinen Fingern gar leicht zu Heu. Diesmal ist zu dem keck und immer blühenden Stoff der rechte Mann gekommen, Moritz Busch, den auch die Leser der „Gartenlaube“ als treuen Pfleger heiteren Volksthums kennen gelernt haben. Busch stößt in seinem Buche, das bereits in zweiter Auflage bei Fr. W. Grunow in Leipzig erschienen ist, sein Publicum nicht gleich mit einer doctrinären Reflexionsmiene zurück, die in Vorreden und Einleitungen erst die Entschuldigung und Erklärung ihres Daseins vorbringt, sondern führt in schlauester Manier seinen Leser sofort in „das Narrenzeitalter der Deutschen“ ein, bringt ihm aber, gemüthlich plaudernd, gleichsam im Vorbeigehen, Alles her, was ein steifleinener Gelehrter hergebrachter Weise in Vorrede und Einleitung vertheilt haben würde.
Wie ämsig (das Wort kommt von Ameise, Aemse her) Busch in den reichen geschriebenen und gedruckten Schätzen des deutschen Volkshumors herumgearbeitet, dafür zeugt der stattliche Inhalt seines Buches, den er in fünfzehn Abschnitte vertheilt hat. Nachdem er das „Narrenzeitalter“ mit dem Ende des 15. Jahrhunderts uns vor der Nase abgeschlossen hat, läßt er den Humor als „Namengeber und Verleumder“ vor uns erscheinen, und diese schlimme Passion des Humors äußert sich erst recht ausgiebig in den vier nächsten Abschnitten, welche „die deutschen Narrenstädte im Allgemeinen“, dann „die Narrenorte und Necknamen in Norddeutschland“, hierauf „die süddeutscher Lalenbürger und Spitznamen“ und endlich „die Schildbürger und Spitznamen außerhalb Deutschlands“ vor uns aufmarschiren lassen. Bereits in die herrlichste Stimmung versetzt, freuen wir uns über „komische Inschriften an Häusern, Geräthen etc.“, erquicken uns nicht minder an den mancherlei „Dingen, Zuständen und Thätigkeiten des Lebens in der Sprache des Volkshumors“, der auch in „komischen Redensarten und Sprüchwörtern, Appositionen und Priameln“, wie auch in „Räthseln“ Erkleckliches leistet. Selbst mit „Lügenliedern und Lügengeschichten“ werden wir nicht verschont und machen mit Hülfe der „Dummheit in Märchen“ die Bekanntschaft einer hübschen Anzahl von [482] „Geprellten, Geneckten und Geäfften“. Ihnen folgen die netten Pärchen der „komischen Legenden“ und „dummen Teufel“. Und wenn einmal dem Humor „in Rechts- und Handwerksbräuchen“ seine Ehre angethan wird, so darf zum guten Ende auch der „auf der Kanzel“ nicht fehlen. – Die Freude aber, die Busch darüber empfindet und wiederholt verräth, daß gerade das deutsche Volk trotz seines vielen erlebten Elends sich den gesündesten Humor bewahrt hat, diese patriotische Freude macht sein Buch besonders liebenswürdig und empfehlenswert für Ernste und Frohe.
Der Pumpernikel. „Jede Gegend, jeder Fleck, hat sein national Gebäck“ und läßt es sich munden. Keinerlei nationales Backwerk ist aber in weiteren Kreisen so bekannt und wird in seiner engeren Heimath so gern gegessen wie der westfälische Pumpernikel. Und in der That schmeckt auch kaum etwas leckerer, als ein Schnittchen wenige Tage alten Pumpernikels, zusammengelegt mit einer Schwesterschnitte Weißbrod und bestrichen mit feiner oldenburger oder westfälischer Butter, und wie nahrhaft der ohne Weißbrod genossene Pumpernikel ist, das zeigen die kräftigen Gestalten der Landbevölkerung der rothen Erde. Allerdings gute Magen und Zähne gehören dazu, größere Mengen des edlen Schwarzbrodes zu verdauen, das, in kleineren und größeren Formen gebacken, oft von einer harten schwarzen Kruste umgeben ist und nicht selten in so stattlicher Gestalt dem Backofen entsteigt, daß es auf dem Schiebkarren weiter befördert werden muß. Aber, gottlob! derartige Zähne und Magen giebt es noch in dem ehemaligen achten Landfriedenkreise, dem westfälischen, der die Herzogthümer Cleve, Jülich, Berg, die Grafschaft Mark, Oldenburg, Ostfriesland, freie Reichsstädte und die sechs Bisthümer Lüttich, Münster, Minden, Osnabrück, Paderborn, Verden umfaßte. Dagegen war der Name Pumpernikel für die Zähne derer, die ihn zu enträtseln suchten, bisher eine recht harte Nuß. Ueberall hört man, so oft die Rede auf das seltsam klingende Wort kommt, das Geschichtchen von dem Franzosenpferde und dem Bon pour Nikel. Der niedliche Scherz soll über die mangelnde Erklärung forthelfen. Und doch ist diese Erklärung nicht schwer. Man mache sich nur klar, aus welcher Sprache das Wort wahrscheinlich stamme und wie es zu zerlegen! Freilich tritt da zunächst die Versuchung an uns heran, das viersilbige Wort in zwei zweisilbige, Pumper und Nikel, zu spalten und Nikel als ein gutes, altes, deutsches Wort zu begrüßen. Aber dann sitzen wir eben fest und haben die Geschichte wenig beachtet.
Gebacken und gebraten ist von je in Deutschland, aber die eigentliche Bäckerei und Kochkunst hielt doch erst mit dem Gewürzhandel und dem Klosterleben zugleich ihren Einzug aus Italien in unsere Heimath, und dem Kloster-, Studenten- und Schulleben des Mittelalters und der Reformationszeit entspringen eine Menge von Ausdrücken, die Küche und Backladen angehören und die jetzt, im Gegensatz zu den neueren französischen, italienischen und englischen Benennungen der Conditoreien und Gasthöfe, uns unwillkürlich anheimelnd als echt deutsche erklingen. Nun, unsere Ururgroßväter haben sie allerdings schon gebraucht, wahrscheinlich auch deren Urgroßväter, als sie zur Schule gingen. Trotzdem sind sie vielfach nicht altdeutschen Ursprunges, sondern meist lateinische, hier und da griechische und altitalienische Worte, die im Laufe der Zeit ihre fremdländische Endung verloren, kleine Aenderungen erlitten, bisweilen auch, besonders durch vermeintliche Uebertragung aus dem Plattdeutschen in das Hochdeutsche, eine neckische Umgestaltung erfuhren.
Vor Allem waren die Schulen jener Zeiten mit ihrer Forderung an die Schüler, Latein zu reden, für jeden Ausdruck des gewöhnlichsten Lebens ein lateinisches oder griechisches Wort zu gebrauchen, mit ihrer lebhaften Freude, welche Lehrer und Schüler empfanden, so oft sie eine derartige neue Benennung entdeckt, die Stätten, welche zahlreiche Namen für allerhand kleineres Backwerk, wie es noch jetzt den Schulkindern zum Frühstück dient oder bei Festlichkeiten als Naschwerk gilt, in das deutsche Volksleben streuten. Da tritt uns zunächst die bereits Plinius, Seneca und Cato bekannte Semmel, simila, entgegen und enthüllt sich als das aus feinem, vollkommen gleichartigem Mehle gefertigte Gebäck, welches vornehmere Römer als Tischbrod benutzten. Schneeweiß nennt Samonicus das Semmelmehl; schneeweiß liebt man es noch heute.
Da kommt uns das verkürzte placenta, Kuchen, im Eierplaz, Apfelplaz und Pläzchen entgegen, libum, der süße Kuchen, in dem Lebkuchen und der Holibe, das heißt der Honiglibe, striblita, von Petronius und Martial erwähnt, in der Stribe und dem Sträublein, mulsa, nämlich placenta, als Maulschelle, die groben Klosterbrödchen panis coenobiticus, als Könobe und Knobe, torta als Torte, brachiale, seinen Durchgang durch das italienische braccialetto nehmend, als Bretzel, das griechische pemma, Kuchen, in der Butterpemme, pastillus und andere nahe verwandte Worte in Pastille, Pastete, Stuten, Stollen, Stulle. Uns interessirt aber heute ganz besonders ein kleines Gebäck, dessen Name gleichfalls der eben betrachteten Gruppe angehört und zugleich lebhaft an die zweite Hälfte des Wortes Pumpernikel erinnert.
In einem Theile der Provinz Sachsen, dem ehemaligen Bisthum Halberstadt, vielleicht auch an andern Orten, kaufen Knaben noch jetzt als beliebte Frühstücksspeise um wenige Pfennige ein Paar Nekeln, zwei leicht verdauliche, paarweis an einander gebackene Küchelchen. Die Nekel hieß aber in früherer Zeit ernekel, beziehungsweise ernikel, und als sie zuerst von den Schülern des jetzt tausendjährigen Stephaneums zu Halberstadt in den Bäckerläden gefordert wurde, erniculum und giebt sich somit auch dem Namen nach als das, was sie in der That ist, als Verkleinerung von erneum, Kuchen, als Küchelchen zu erkennen. Das Fortfallen der ersten Silbe im Laufe der Jahrhunderte erscheint aber im vorliegenden Falle um so natürlicher, als das später fortwährend vorgesetzte Wort Paar mit seinem Schluß-r geradezu zum Ausstoße des folgenden er aufforderte. Vollständig erhalten hat sich dagegen das ernikel in unserm Pumpernikel, und wir brauchen daher nur noch die erste Silbe zu fragen: was für ein Küchelchen das Ganze sei.
Mit dieser Anfangssilbe beginnt aber noch ein zweites Wort: Pumphose, jenes faltenreiche Kleidungsstück, welches ehemals überall von Edlen und Reichen getragen wurde, wo es galt, Glanz, Pracht und Pomp zu entwickeln, nicht selten übertriebenen, geckenhaften Pomp. Verstanden es doch kunstreiche Schneider, mehr als hundert Ellen Zeuges in den Falten eines einzigen Paares derartiger Beinkleider unterzubringen. Wird doch von einem Ritter erzählt, daß er bei festlicher Gelegenheit in einer Pumphose umherstolzirte, deren eines Bein aus gelbem Zeugstoffe gefertigt war, während das andere in rother Farbe prangte. Daß man statt
Pumphose vor fünfzig Jahren überwiegend Pomphose sprach und schrieb, weiß Jeder, und daß dieses Pomp das lateinische pompa, Pracht, Gepränge, ist, leuchtet nicht nur gleichsam von selbst ein, sondern läßt sich auch geschichtlich scharf nachweisen. Dieselbe Bedeutung ist gewiß auch der ersten Silbe unseres Wortes zuzuschreiben, zumal dieselbe an nicht wenig Orten so ausgesprochen wird, daß man nicht recht weiß, ist der Vocal in ihr ein u oder o, und ich erachte daher den Ausdruck Pumpernikel entstanden aus einer Nachbildung des ciceronianischen pompa nuptiarum aus pompa erniculorum, und übersetze ihn: das Prachtküchelchen, das Staatsküchelchen, das Schaugericht unter allem Backwerke.
Laß doch dein Singen, Nachtigall!
„Tiu! Tiu!
Gott grüß dich, min Fru!
Ach, wat sin wir doch hüt
Für glückselige Lüt“
Laß doch dein Singen, Nachtigall!
Es macht mich gar zu trübe.
Was soll mir auch dein Schwätzen all
Von Lieb’ und nur von Liebe?
Ich weiß ja wohl, wie süß sie thut –
Du brauchst mir’s nicht zu sagen;
Hätt’ ich wie du so frischen Muth,
Viel heller wollt’ ich schlagen.
So lupf’ doch deine Federlein,
So flieg’ doch auf geschwinde,
Und sing’ vor ihrem Kämmerlein
Im grünen Ast der Linde!
Was auch in’s Ohr ihr raunt der Mai,
Sie will davon nichts wissen;
So sag’ ihr du, wie lieb es sei,
Das Herzen und das Küssen!
„Tiu! Tiu!
Gott grüß dich, min Fru!
Ach, wat sin wir doch hüt
Für glückselige Lüt“
Zicküth!“
Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist soeben erschienen:
Bau, Leben und Pflege des menschlichen Körpers
in Wort und Bild
Nach vorheriger Begutachtung durch Schulmänner für Schüler herausgegeben.
Mit 46 feinen Abbildungen.
Zwölfte durchgesehene und vermehrte Auflage.
14 Bogen in Octav eleg. brosch. Preis 60 Pf., geb. 90 Pf.
Von jedwedem Gewinn absehend, ging das Streben des Verfassers und des Verlegers dahin, ein für die Bildung des Volkes bestimmtes Buch, trotz seiner ziemlich kostspieligen illustrativen Ausstattung, doch so enorm billig zu liefern, daß es auch dem Aermsten zugänglich ist.