Die Gartenlaube (1875)/Heft 49
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No. 49. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
Meyer Jochmaring, der sinnige Wehrfester, saß unterdeß wieder auf der Bank unter seinen Eichen, aber er hatte heute eine andere Gesellschaft bei sich als die hochfürstliche, in der wir ihn das erste Mal sahen und kennen lernten, und auch die Bewirthung war eine andere, als er sie damals der Prinzessin geboten, für die sie auch nicht ganz passend gewesen wäre, denn sie bestand aus einer Flasche mit ganz gewöhnlichem Branntwein.
Der Oberförster Runkelstein schien desto mehr an diese Panacee des heimischen Agriculturlebens gewöhnt, und auch der Apotheker aus Idar, der mit einer Botanisirbüchse herausgekommen war, hatte sein Glas schon ein zweites Mal füllen lassen, während der Rentmeister Fäustelmann, der ihm gegenüber saß, das seinige nicht berührte. Dabei saßen die Männer ziemlich dicht zusammengerückt, und es war, als ob sie mit ihren ernsten gespannten Gesichtern von Sachen redeten, die sie in hohem Grade in Anspruch nahmen. Der Enkel der alten Sattelmeyer Wittekind’s hatte seine buschigen Brauen so ernst zusammengezogen wie ein alter Richter des Sachsenspiegels; als wäre die Holzbank unter ihm eine „gespannte“ Bank, als wäre der eben mit geröthetem Gesichte redende Apotheker der Freifrohn, der neben ihm sitzende Oberförster sein Schöffe und es handle sich um nichts Geringeres als ein altes Mannengericht der heimlichen Acht. Ein zu verfehmender Angeklagter war freilich nicht da – es hätte denn Rentmeister Fäustelmann ihn vorgestellt, der mit seinem bleichen, hohlwangigen und steinernen Gesichte für die Rolle nicht übel passend gewesen wäre. Auch glauben wir, hätte man Meyer Jochmaring auf sein Gewissen gefragt, er würde es durchaus nicht in Abrede gestellt haben, daß etwas von einem alten Erbrechte, auf einem Freistuhle zu sitzen, dem Wehrfester des Jochmaringhofes von seinen Vorvätern überkommen sei, vielleicht auch noch mit allerlei kurzen Andeutungen darüber, in welchem Jahre er selber zum letzten Male an der Dingstätte unter Königs-Bann seine Schöffen versammelt und die Acht gehegt habe. –
„Wenn man nur sicherer wüßte, wie viel Wahres an den Siegesnachrichten der Preußen und Russen wäre,“ sagte der Oberförster Runkelstein, „so könnte man sich schon eher darauf einlassen. Aber die Franzosen thun ja, als ob sie immer oben auf geblieben, und so lange man darüber nicht reinen Wein eingeschenkt bekommt, wäre man doch ein Narr, sich in etwas einzulassen, was so entsetzlich gefährlich ist.“
„Die französischen Nachrichten sind erlogen – ich stehe Ihnen dafür, Runkelstein,“ rief dagegen der kleine Apotheker eifrig aus – „sie sind erlogen, insgesammt erlogen. In Schlesien ist der Blücher über sie gekommen, wie St. Michael über den Drachen; an der Katzbach, da sind sie ganz furchtbar mitgenommen worden, und ich wette um meine Apotheke gegen Ihren Zwilling, daß vor Herbst keiner von ihnen mehr auf dem rechten Weserufer zu sehen ist. Aber freilich ohne Anstrengung aller Kräfte bringen wir sie nicht zum Lande hinaus, und wenn die Stunde da ist, wo der Einzelne seine Kraft einsetzen kann, da muß er dazu bereit sein; sonst ist er ein schlechter Patriot und kein deutscher Mann.“
„Patriot – deutscher Mann!“ sagte der Meyer darauf. „Das sind nun wohl so Worte! Was ist aber dabei zu denken? Der Franzose muß fort, das ist wahr. Aber was weiter? Wenn Ihr mir nicht sagen könnt, daß mit dem Patriotenthum die guten Tage für den Bürgersmann und den Bauer kommen, so gebe ich nichts dafür, und wenn Ihr von ‚deutscher Mann‘ redet, so weiß ich auch nicht, was es besagen soll. Es muß wohl Einer für den Andern stehen, und deutsch reden thun wir, das ist wahr, aber wo Deutschland anfängt und wo es aufhört, das weiß ich so wenig, wie was mich die angehn, die ganz vorn am Anfang oder ganz hinten am Ende wohnen. Es sind vielerlei unterschiedliche Völker, die ich nicht kenne. Was aber meine Bauerschaft und was die andern Bauerschaften, die zu uns gehören, sind, das weiß ich, und wenn die aufstehen, so bin ich dabei.“
„Aber ich bitt’ Euch,“ fiel der Apotheker ein, „wir gehören doch Alle als treue Männer zu Kaiser und Reich, zum deutschen Reich, das die Franzosen uns kurz und klein geschlagen haben, und Ihr wollt doch, daß wir wieder zu dem kommen, was wir gehabt haben und ohne das die Welt nicht bestehen kann?“
Dem Meyer wurde die Sache in dieser Auffassung faßlicher.
„Kaiser und Reich – ja,“ sagte er, „das müssen wir wieder haben, denn ohne das kann die Welt nicht wieder in ihre Fugen kommen. Wenn es darum geht, Apotheker Widmer, so ist der Meyer Jochmaring der Erste, der zuschlägt. Um Kaiser und Reich thu’ ich mit. Sagt mir’s nur an, wann die Stunde da ist, und ich werde nicht fehlen mit meiner langen Entenflinte und mit Kraut und Loth und was dazu gehört“.
„So ist’s recht, Meyer,“ rief der Apotheker, ihm die Hand [814] reichend. Der Meyer legte langsam seine Finger hinein, während er sagte:
„Nun weiß ich aber nicht, daß wir mehr thun könnten, als es abwarten.“
„Das eben, Meyer, denken sie in anderen Gegenden nicht,“ versetzte der Apotheker. „In anderen Gegenden haben sie mehr gethan, als blos sich mit ihrer alten Entenflinte getröstet. Sie haben in der Stille Waffen gesammelt, haben Büchsen über kleine Hafenplätze an der Nordsee aus England eingeschmuggelt, Munition dazu angesammelt und Alles gethan, um losschlagen zu können, wenn’s Zeit ist. Und das eben sollten wir auch nicht unterlassen. Ihr, Meyer, habt Euer Gewehr über dem Herdbusen hängen. Aber Eure Kötter haben das nicht. Und für alle solche, die guten Willen haben, aber keine Waffen, muß gesorgt werden. Es muß Geld zusammengeschossen werden, und dann müssen Listen aufgestellt werden, worauf Jeder, der bereit ist, mitzuthun, ein Paar Kreuze zu seinem Namen macht. Erst dann können wir überschlagen, wie vieler Waffen wir bedürfen, auf wie viele Arme wir zählen können.“
„Aber,“ fiel hier Runkelstein ein, „wer wird es wagen, diese Waffeneinschmuggelei zu besorgen? Ich nicht, und hier der biedere Fäustelmann sieht mir auch nicht danach aus.“
Fäustelmann schüttelte den Kopf.
„Dürfte mich ohne Vorwissen meiner Herrschaft nicht in solche Sachen einlassen. Müßte auch bitten, daß auf den Listen mein Name fortgelassen würde; doch bin ich bereit, Geld herzugeben.“
„Am Ende ist das die Hauptsache,“ antwortete der Apotheker, „für die Beschaffung der Waffen sorgen dann schon andere Leute.“
„Ihr, Widmer,“ fiel Runkelstein ein, „wollt doch nicht selber die Musketen und Patronen, in Eure Kampher- und Natronbüchsen verpackt, in’s Land schmuggeln?“
„Nicht das just, Oberförster,“ entgegnete der patriotische Pharmaceut, „ich nicht; es sind jedoch schon – darüber seid unbesorgt – bestimmte Männer da, welche das übernehmen. Glaubt Ihr denn nicht, daß der Tugendbund schon längst seine Emissäre im Lande hat?“
„Meiner Seele, nein,“ sagte Runkelstein, „das hätte ich nicht geglaubt; klopfe doch in meinem Revier an manchen Busch, aber solch ein Wild habe ich noch aus keinem aufgetrieben.“
„In Eurem Revier – wüßt’ auch nicht, was sie da suchen sollten. Bei mir ist einer gewesen. Mehr als einmal. Hat mit mir die Sache überlegt, habe ihn auch bereits mit einigen andern Herren in Idar bekannt gemacht; was Weiteres geschehen und erreicht, darf ich zu dieser Stunde nicht sagen. Ihr seht aber, Oberförster, wie der Hase läuft, das weiß ich in dieser Sache besser als Ihr.“
„Muß aber doch ein verwegener Mensch sein,“ fiel hier Herr Fäustelmann ein, „sich mit solchem Betriebe hier in die Gegend zu wagen, wo es von französischen Kellerratzen, Controlleurs und Gensdarmen wimmelt.“
„Pah,“ entgegnete der Apotheker, „wenn eine Sache am Niedergehn ist, dann wird sie dumm und stumpf – wenn das Kellerratzen- und Gensdarmenvolk früher Augen auch auf dem Rücken zu haben schien, jetzt sieht es schon aus den Augen, die es vorn hat, nicht mehr gut.“
„Apotheker, nehmt Euch in Acht!“ sagte hier warnend der Oberförster, „sonst sieht Herr Fäustelmann in der nächsten Mondnacht eine Vorgeschichte, wie die Franzosen einen mittelgroßen, schmächtigen Mann mit Pockennarben und einer Botanisirbüchse auf dem Rücken – todtschießen.“
„Nehme mich schon in Acht, aber mit zu vielem In-Acht-nehmen kommen wir nicht weiter – es gilt zu handeln. Also, Meyer Jochmaring, was wollt Ihr beisteuern? Und Ihr, Oberförster, wollt Ihr eine Liste entwerfen von vertrauenswürdigen Leuten in Eurem Bezirk? Ihr, Fäustelmann, wollt Geld geben. Wie viel?“
„Seid Ihr gewiß, daß Euer Emissär ein richtiger Emissär des Tugendbundes ist und nicht blos uns um unser Geld beschwindeln will?“ fragte Fäustelmann.
„Davon habe ich mich überzeugt. Ich sah seine Papiere – einen eigenhändigen Brief von Stein darunter.“
Das schien den Ausschlag zu geben; unter solchen Umständen waren die Männer nicht abgeneigt, sich zur thätlichen Unterstützung der Sache des Vaterlandes zu rühren. Jochmaring und Fäustelmann nannten kleine Summen die sie dem Apotheker dazu anvertrauen wollten, und Runkelstein wollte ihm am nächsten Sonntage die verlangte Liste bringen. Dann auch wollten alle drei sich in der Apotheke in Idar einfinden, um die Angelegenheit weiter zu besprechen. Herr Fäustelmann brach dann auf, und der Oberförster schloß sich ihm für den Heimweg an. Als sie gegangen waren, leerte auch der Apotheker sein Glas und reichte dem Sattelmeyer die Hand.
„Also auf Wiedersehen, Meyer!“ sagte er, „ich muß nun auch den Rückmarsch antreten; ich habe noch einen weiten Weg, weil ich an der Kropp vorüber muß.“
„An der Kropp? Was wollt Ihr denn da beschaffen?“ fragte der Meyer.
„Ich will da nach einer Pflanze suchen,“ versetzte mit einem schlauen Lächeln der Apotheker, während er die Büchse auf seinen Rücken zurückschob, „es wächst da in den Sumpfgründen eine besondere Pflanze.“
„In der Kropp,“ sagte der Meyer, seinem Gastfreude das spanische Rohr reichend, das hinter jenem an den Stamm des Baumes gelehnt gestanden hatte, „in der Kropp hat ja Runkelstein neulich eine wunderliche Vorgeschichte gesehen.“
„Was? Runkelstein? Fäustelmann vielleicht.“
„Nein, Runkelstein, der Oberförster.“
„Ah – in der That?“ rief der Apotheker wie erschreckend aus.
„Hat’s mir selber erzählt.“
„Aber was hat er denn gesehen in der Kropp? Doch das muß ich von ihm selber hören. Adieu, Meyer Jochmaring, adieu! Ich werde ihn noch erreichen.“
Und damit lief der Apotheker in einer ganz merkwürdigen Aufregung dem Oberförster und Herrn Fäustelmann nach, die man eben jenseits des Hauses zusammen über das „Schem“, die schmale Laufbrücke, schreiten sah, welche dort über den Fluß führte.
Es war am andern Tage, noch in der Frühe, als Herr Fäustelmann, der in seinem Rentmeisterhause draußen vor dem Burgthore von Wilstorp wohnte, die Briefe und Zeitungen brachte, welche zwei Mal in der Woche der Landbriefbote aus Idar ihm um diese Zeit abzuliefern pflegte, vorausgesetzt, daß welche angekommen waren, und vorausgesetzt auch, daß besagter Briefbote nicht durch unaufschiebbare ländliche Geschäfte, wie das Ausnehmen der Kartoffeln, oder durch einen Anfall der Gesichtsrose – ein Uebel, das ihn vorzugsweise heimsuchte – am Kommen gehindert war. Herr Fäustelmann hatte heute mehrere Zeitungen für seine Herrschaft zu überbringen auch einen Brief und ein zierliches, mit einem fürstlichen Krönchen gesiegeltes Billet. Die Zeitungen enthielten wichtige Nachrichten. Denn obwohl sie von Gefechten und Zusammenstößen der Armeen berichteten, bei denen sich natürlich die französischen Waffen neue Lorberen geholt hatten, verriethen sie doch durch die Angabe der letzten Bewegungen der Heere eine Concentrirung und ein Rückwärtsgehen aller Corps Napoleon’s, der, nachdem man früher hatte wunderbare Großthaten bei seinem triumphirenden Vordringen gegen die Preußen und Russen in Schlesien lesen müssen, jetzt wieder in Dresden, und gerade da angekommen war, wo er früher gestanden. Weit wichtigere Nachrichten aber enthielt der Brief, den Herr Fäustelmann brachte und der von einem Freunde des Herrn von Mansdorf geschrieben war, welcher in einer mehr östlich gelegene größeren Stadt wohnte; dieser berichtete, daß man dort ganz bestimmte Kunde von zwei größeren Gefechten oder Schlachten habe, deren die von der französischen Censur beherrschten Zeitungen mit keiner Silbe erwähnten und von denen die eine bei Groß-Beeren stattgefunden, die andere bei Hagelberg, wo eine französische Division gänzlich aufgerieben und vernichtet worden sei.
Das war nun eine mächtige Belebung patriotischer Hoffnungen. Herr von Mansdorf schlug, nachdem er den Brief seinem Rentmeister vorgelesen, begeistert mit seiner schweren Hand auf den Tisch und forderte Fäustelmann auf, mit ihm einen tüchtigen Trunk auf das Wohl der Alliirten zu thun; [815] sein Rentmeister schüttelte jedoch zu dieser Idee so früh am Tage den Kopf. Ohnehin hatte er ja noch hinaufzugehen zum Herrn von Uffeln und diesem das Billet mit dem Fürstenkrönchen zu bringen, denn es war an Niemand anders als an Herrn Ulrich Gerhard von Uffeln adressirt.
Herr von Uffeln saß in dem freundlichen, die Aussicht auf den Weiher und den Wald auf der Rückseite des Hauses Wilstorp bietenden Eckzimmer. Er war da mit sehr dürftigem Gepäcke eingezogen; was man außer den umherliegenden Kleidungsstücken von seiner eigenen Habe im Zimmer sah, bestand in einem hübschen kleinen Pastellbilde, dem Portrait seiner Mutter, das ihn, wie er sagte, auf allen seinen Feldzügen nie verlassen habe und das er jetzt, nebst einem kleinen aus Silber getriebenen Muttergottesbilde, dem Andenken an eine Manola Spaniens, unter dem venetianischen Spiegel aufgehängt hatte. Dann besaß er ein Paar sehr schöne Kuchenreuter-Pistolen und seinen Degen, die er an der Wand zwischen den Fenstern angebracht, und endlich eine Flöte, mit welcher er eben beschäftigt war; er suchte mit rührender Geduld sich ein Musikstück darauf einzuüben, trotz der Schwierigkeiten, welche ihm seine Unfähigkeit verursachte, über einen Theil seiner Finger zu gebieten. Endlich entsank die Flöte seiner Hand; er legte sie sanft auf das Brett des Fensters, an dem er saß, und blickte sinnend auf die alten Laubwipfel hinaus. Hätte Fräulein Adelheid ihn so gesehen, sie würde vielleicht eine Regung von Theilnahme und Sympathie mit dem vom Leben viel geprüften jungen Manne empfunden haben, der, jetzt plötzlich und für ihn fast unerwartet dem Glücke in den Schooß gesunken und über alle Noth des Lebens hinaus, doch so melancholisch und ernst in’s Weite schaute – gewiß nur, weil er sein Herz von Adelheids Reizen gefesselt und umstrickt fühlte und sich doch gestehen mußte, daß sie ihm die Beweise einer Gegenneigung mit merkwürdiger Consequenz vorenthielt.
Als er Herrn Fäustelmann bei sich eintreten sah, erhob er sich und richtete einen Blick auf ihn, in welchem sich offenbar etwas von Scheu und Erschrecken malte; der wunderliche Spukseher mußte auch für den früheren Soldaten etwas Unheimliches haben, wenigstens verloren Herrn von Uffeln’s Züge erst eine gewisse Spannung, als ihm Fäustelmann in sehr unterthänigem Tone sagte:
„Es ist nichts weiter, was mich herführt, Herr von Uffeln, als ein Brieflein, welches der Postbote für Sie aus Idar mitgebracht hat. Mit der fürstlichen Krone im Siegel und adressirt von einer Damenhand.“
Herr von Uffeln nahm das Billet entgegen und riß es auf.
„Seltsam,“ sagte er, „es ist von der Prinzessin Elisabeth. Sie bittet mich, ich möge sie besuchen. Was kann das bedeuten? Was kann mir die Prinzessin Elisabeth zu sagen haben?“
Fäustelmann zuckte die Schultern.
„Das weiß der liebe Gott,“ versetzte er. „Kann mir nichts Anderes vorstellen, als daß sie mit Ihnen von Geschäften reden will.“
„Von Geschäften? Prinzessin Elisabeth?“
„Weshalb nicht? Die Durchlaucht ist, sagt man, ein kleiner Advocat. Wo der Fürst nicht selbst Eröffnungen machen will, da sendet er sie, auf geschickte Weise eine Angel auszuwerfen, das erste Eis zu brechen. Der Fürst ist bei den jetzigen Zeitläuften in allerlei schwer bedrängte Lagen gerathen; vielleicht setzt er bei dem Herrn von Uffeln Verlegenheiten voraus, wie die seit Jahren aufgelaufenen und ihm asservirten Revenuen von Wilstorp unterzubringen, und da mag denn die Prinzessin Elisabeth anklopfen sollen, ob …“
„Die Prinzessin?“
„Nun ja, sie ist, wie gesagt, sein kleiner Finanzminister und der Schrecken seiner ‚hochfürstlichen Kammer‘.“
„Bin doch neugierig,“ entgegnete kopfschüttelnd Herr von Uffeln. „Jedenfalls werde ich mich gleich auf den Weg machen.“
„So gehen wir eine Strecke selbander. Werde mich dem Herrn von Uffeln anschließen, falls ihm mit mir einen kleinen Umweg zu machen beliebt.“
„Umweg? Welchen? Wozu?“
„Es liegt da seitab vom Wege nach Idar, nur einen Büchsenschuß weit seitab, in sumpfigem Buschwerke ein altes, verlassenes Haus, so man ‚die Kropp‘ nennt, solch ein alter Burgmannshof des Fürsten, in dem aber nun seit Jahren Niemand anders mehr gewohnt hat, als Ratten und Fledermäuse.“
„Und diesen Ratten und Fledermäusen wollen Sie einen Besuch machen?“
„Nicht das just. Ich will nur ein wenig in die alten Räume blicken. Der Oberförster trägt sich mit einer Geschichte, auf die ich im Beginne nicht viel Gewicht gelegt habe, denn wenn solch ein Mann, der ein einsames Leben führt, einmal den Abend in einer lustigen Gesellschaft in der Stadt zubringt, so ist er im Stande, auf seiner nächtlichen Heimkehr gar wunderliche Dinge zu sehen, und nur ein Narr legt Gewicht darauf. Nun ist aber im Städtlein Idar ein Apotheker, ein feiner, geriebener Kopf, der gestern in meinem Beisein die Geschichte vernahm und darüber in eine versteckte, aber mir nicht verborgen bleibende Aufregung und Unruhe gerieth. Das muß nun doch einen absonderlichen Grund haben. Der Apotheker ist kein Mann, der sich um eines Hirngespinnstes willen aus dem Gleichgewichte bringen läßt. Ich will also wissen, was für ein Zusammenhang zwischen ‚der Kropp‘ und des Apothekers Unruhe und des Oberförsters Geschwätz von Kindersärgen und abgehauenen Köpfen ist.“
„Kindersärgen? Abgehauenen Köpfen? Ich bitte Sie, Fäustelmann.“
Fäustelmann lächelte.
„Nun ja,“ sagte er, „Sie lassen sich dadurch nicht Angst machen! Weshalb that es der Apotheker?“
„Mit welchen Geschichte man in diesem wunderlichen Lande heimgesucht wird!“ rief Ulrich Gerhard von Uffeln aus. „Aber Sie können mir das unterwegens ja ausführlicher erzählen. Setzen Sie sich, bis ich mich für den Besuch bei der Prinzessin ein wenig besser gekleidet habe! Dann gehen wir zusammen, ich kenne ohnehin den Weg nach Idar noch nicht genau genug, um vor dem Verirren sicher zu sein, und so schließe ich mich Ihnen gern an.“
Fäustelmann setzte sich, und Herr von Uffeln machte seine Toilette. Dann verließen Beide zusammen, Herr von Uffeln in einem eleganten grünen Fracke mit goldenen Knöpfen und grauen langen Beinkleidern, zu denen sich seit einigen wenigen Jahren erst die männliche Jugend der Zeit emancipirt hatte, den Kopf mit einem Filzhute von wunderlicher Ausladung nach oben hin bedeckt, das Haus; Herr Fäustelmann schlug durch Gehölz und über Kämpe einen seinem Begleiter natürlich noch ganz unbekannten Richtweg ein; sie sprachen wenig zusammen; Fäustelmann war überhaupt ein stiller Gesell, und Herr von Uffeln schien wieder in seine Gedanken zu versinken.
„Fäustelmann,“ sagte er plötzlich, wie aus diesen Gedanken auffahrend, „sagt mir die Wahrheit! Liebt das Fräulein einen Andern, liebt sie den jungen Arzt, der sie bisher behandelt hat? Ich will es wissen. Denn wenn es so ist, habe ich nicht Lust, mich ihr aufzudrängen und sie unglücklich zu machen.“
„Ah,“ versetzte Fäustelmann, „wer hat Ihnen denn davon gesagt?“
„Ich weiß es nicht – ein gewisser Instinct hat es mich combiniren lassen. Sie ist offenbar leidend. Man ruft den Arzt nicht, während ich doch aus den Gesprächen abnehmen muß, daß er früher oft gekommen. Als ich der gnädigen Frau vor einigen Tagen rieth, den Arzt kommen zu lassen, entgegnete sie mir offenbar verdrießlich, es sei kein Arzt in Idar, zu dem sie Vertrauen habe; nur ein ganz junger und noch unerfahrener Mann sei da, und hier fiel Fräulein Adelheid mit zitternder Lippe und offenbar tief erregt, ja zornig ein: ‚Ich habe Vertrauen zu Doctor Günther.‘ Als Antwort warf die Mutter ihr einen Wuthblick zu, und das Gespräch erstarb. Ich denke, das verräth genug.“
„Ah bah – es verräth, daß Mutter und Tochter verschiedener Ansicht über ihren Doctor sind, weiter Nichts. Das kann einen Mann nicht bewegen, einen wohlüberlegten Plan fallen zu lassen.“
„Welches Aeußere hat dieser Doctor Günther? In welchen Verhältnissen lebt er?“
„Welches Aeußere? Er ist eben ein noch blutjunger Mensch mit schwarzem Lockenhaare und rothen Wangen – Neffe und [816] Mündel des Justitiars; sein Vermögen ist, denke ich, für seine Studien und zum Ankaufe eines Ersatzmannes, um sich vor dem Militärdienste zu retten, daraufgegangen. So muß er von seiner Praxis leben, und da die Leute hier zu Lande nicht eher zum Arzte laufen, als bis auch der Pfarrer zugleich nothwendig geworden ist, so bringt das bitterwenig ein. Eine Frau zu ernähren, daran kann er nicht denken, eine Frau, die noch obendrein ein adeliges Fräulein ist; Herr von Mansdorf wird sich hüten, ihm seine Tochter zu geben – wahrhaftig, von der Seite haben Sie Nichts zu befürchten.“
„Und ich fürchte doch von der Seite,“ sagte still für sich hin und wieder in seine Gedanken versinkend Herr von Uffeln. „Ich bin zu wenig der Mann,“ hub er nach einer Weile wieder an, „der ein junges Mädchen zu gewinnen verstände. Mein Leben ist bis heute nicht derart gewesen, um darin Erfahrungen sammeln oder Uebung gewinnen zu können,“ setzte er mit einem bittern Lächeln hinzu.
„Ich meine,“ versetzte Herr Fäustelmann, „Sie hätten mir gesagt, Sie seien bis über die Ohren verliebt in Fräulein Adelheid – Fräulein Adelheid scheine Ihnen ein Engel? Wenn Sie einem jungen Mädchen zu zeigen wissen, daß sie Ihnen ein Engel scheint, so bedürfen Sie weiter keiner Erfahrungen und keiner Uebung. Damit ist die Hauptsache gethan. Im Ganzen sind doch alle diese blühenden rosigen Wesen eben Blumen, die Dem gehören, der sie pflückt.“
Herr von Uffeln schüttelte schwermüthig den Kopf zu dieser Hagestolzenansicht. Aber er antwortete nicht und schien einem weitern Gespräche über Gegenstände dieser Art mit Herrn Fäustelmann das eigene Sinnen vorzuziehen, in das er, weiter schreitend, versank. –
Herr Fäustelmann ging vorauf, seine lange Gestalt vornübergebeugt, die Hände, die einen starken Rohrstock hielten, auf dem Rücken. Als man aus den Büschen und Kämpen herauskam in ein sumpfiges, mit kleinen Wasserlachen und Erlengebüsch bedecktes Terrain, begann er von Zeit zu Zeit aufzuschauen und prüfend nach allen Seiten die Blicke zu werfen, wie wenn er beobachten wollte, ob irgend ein Menschenauge seinen Gang wahrnehme. Aber Niemand, schien es, war in der Nähe dieses verlassenen Erdflecks. Einsam hinter Erlengruppen erhob sich „die Kropp“, der verfallene Burgmannshof, der einst hier hinter breiten Wassergräben eine so gesicherte Lage gefunden hatte und dann wohl von seinen Bewohnern verlassen worden war, als es die Zeiten nicht mehr nöthig machten, um einer gesicherten Lage willen dem Wechselfieber und dem Typhus in einer solchen wasserreichen Niederung Trotz zu bieten.
„Und wozu,“ fragte Herr von Uffeln, „dient das Gebäude jetzt? Es scheint doch noch bewohnbar, und wenn man einige Gräben und Abzüge für das Wasser herstellte, ließe sich doch auch das Terrain hier nutzbar machen, wenn auch nur zu Wiesen.“
„Das Gebäude,“ versetzte Fäustelmann, „dient dazu, der hochfürstlichen Kammer die Hoffnung aufrecht zu erhalten. daß sich am Ende irgend Jemand finden werde, der durch Anmiethung desselben ihr Budget um einige Thaler bereichern werde. Und was die Gräben und die Wasserabzüge angeht, so kosten solche Anlagen Geld. Wer aber hat Geld in unseren Zeiten? Am wenigsten die hochfürstliche Domainen- und Rentkammer. Aber nehmen Sie sich in Acht! Halten Sie sich dicht hinter mir, um nicht in irgend einen Sumpf zu gerathen, der Ihre hoffähige Erscheinung bei der Prinzessin Elisabeth in Frage stellte.“
Uffeln folgte ihm behutsam auf dem sich windenden festen und trockenen Fußwege, der von dieser Seite her auf das alte Bauwerk zuführte und den Herr Fäustelmann vortrefflich zu kennen schien. So kamen sie in einen wüst und melancholisch aussehenden verlassenen Garten, in welchem noch eine Anzahl moosbedeckter Obstbäume ihr morsches Dasein wider Sturm und Wetter behaupteten. Die Brücke über den Hausgraben war auch hier durch einen Erdwall ersetzt, und dieser führte auf ein schmales Stück fester und trockener Erde, das am Fuße des Gebäudes herlief. Herr Fäustelmann schritt darauf der nächsten Ecke zu und sich um sie wendend sagte er:
„Hier ist eine Thür, die uns hoffentlich einläßt – wenn sie anders gegen uns nicht boshafter gesinnt ist, als gegen andere Leute, denen sie sich offenbar gastlich geöffnet hat. Sehen Sie?“
Er deutete dabei auf den Boden, welcher in dem feuchtweichen Erdreich die Spuren von mehreren Männerschritten zeigte, die vor nicht zu langer Zeit hier hin und her gegangen sein mußten.
„In der That,“ meinte Uffeln, „wenn auch nicht bewohnt, besucht wird das Gebäude – es waren das am Ende die Träger Ihrer – was sagten Sie? – Kindersärge?“
Fäustelmann hatte unterdeß die kleine gewölbte Thür erreicht. Er wollte sie aufstoßen, aber sie war verschlossen.
„Für Wesen von Fleisch und Blut, wie wir, nicht zugänglich,“ rief Uffeln aus – „das ist verdrießlich.“
„Wir werden sehen,“ antwortete Fäustelmann gleichgültig und zog aus seiner Rocktasche eine Hand voll kurzer, aber starker Schlüssel heraus.
„Ah – Sie haben Dietriche?“
„Man muß sich eben vorsehen … Dietriche und Korkzieher sind eine praktische Erfindung.“
Die, welche Herr Fäustelmann bei sich führte, waren es in der That. Schon bei dem zweiten, den er versuchte, öffnete sich die Thür.
Sie traten ein, und Fäustelmann schloß die Thür behutsam hinter sich. Dann schritten sie eine staubige alte Holztreppe hinauf, die auf einen kleinen nackten Vorplatz und durch eine unverschlossene dunkle Thür in einen ebenso nackten Wohnraum, in dahinterliegende wüste Kammern führte, in denen allen nichts bemerkbar war als der Graus der Zerstörung und der Wust des Verfalles; hier und da ein wurmstichiger Tisch, ein alter Stuhl mit herabhängenden Fetzen des Strohgeflechtes – das war alles, was an einstige Bewohner erinnerte, und dichte Spinnengewebe alles, was von noch lebenden sprach.
Nach einem raschen Durchwandern der Gemächer kehrte Fäustelmann in den größeren Wohnraum zurück, in welchen nur ein sehr dürftiges Licht einfiel, da sich vor den Fenstern Holzläden befanden. Fäustelmann öffnete eines der Fenster und stieß die Läden auf. Dann wandte er sich in den Raum zurück und musterte genau den Fußboden, stieß auch hier und da, wie um die Resonanz zu prüfen, mit dem Absatze seines Stiefels darauf.
„Hier ist es,“ sagte er endlich. „Die Fallthür, die ich suche – da haben wir sie.“
„Ah, Sie suchten eine Fallthür?“ rief Uffeln, während Fäustelmann lächelnd mit der Spitze seines Fußes auf eine Ritze im Boden stieß.
„Freilich suchte ich eine Fallthür, eine Oeffnung im Boden, durch die ein Mann so mit dem Kopfe schauen kann, daß ein betrunkener Oberförster in den Glauben gerathen kann, er sähe einen auf dem Boden stehenden abgeschlagenen Kopf vor sich. Und nun lassen Sie uns die Sache weiter ergründen!“
Herr Fäustelmann zog ein Taschenmesser hervor, dessen starke Klinge er in die Ritze schob; ein kräftiger Druck noch, und die Klappe hob sich. Mit ein wenig Nachhülfe, die Uffeln leistete, ließ sie sich geräuschlos an die benachbarte Wand legen.
„Alles wohl geölt und in gutem Stande erhalten,“ bemerkte der Rentmeister spöttisch, und dann stieg er die schmale unter seinen Tritten ächzende Treppe hinab, die sich unter der Fallthür gezeigt hatte.
Uffeln folgte ihm, bald aber wurde die Finsterniß der Unterwelt, in welche sie hineingeriethen, so stark, daß Herr Fäustelmann einen abermaligen Beweis ablegen konnte, mit welcher Fürsicht er an Alles gedacht, und wie wohl gerüstet er diese Untersuchungsfahrt angetreten. Er zog nämlich, am Fuße der Treppe stehen bleibend, einen Wachsstock und ein Feuerzeug hervor und hatte nach kurzer Zeit durch Stein, Stahl, Schwamm und Schwefelspahn eine kleine Flamme gewonnen, an welcher er den Wachsstock entzündete.
Das Licht zeigte ein mäßig großes Kellergewölbe; wahrscheinlich war es ein besonderer, höher liegender und deshalb trocknerer Keller, als die übrigen, tiefer unter dem Wasserspiegel der Gräben angelegten Kellerräume des Gebäudes sein mochten.
Herr Fäustelmann machte, sein Wachsflämmchen erhebend, ein paar Schritte vorwärts in den Raum hinein, während Uffeln an den Fuß der Treppe gelangte.
„Sieh, sieh!“ rief er dann triumphirend aus, „da hätten wir sie ja!“
Ich weiß nicht, verehrte Freundin, ob Sie auf Ihrem einsamen Schlosse am Meere auch davon Kenntniß nehmen, was sich auf der wandelbaren Welt der deutschen Bühne abspielt. Die Jahre kommen hier auch und gehen und gleichen sich nicht; bis an das Ufer des Stillen Oceans, wo er in der Goldgräberstadt San Francisco die wunderbare Mär von Siegfried und Chriemhild, ausgestattet mit alterthümlichen Buchstabenreimen und in den Hebungsversen, die auf ungezählten Füßen laufen, immer neue Erscheinungen tauchen auf und lösen sich ab; was da bleibend und vergänglich ist, kann erst die Zukunft entscheiden. Kaum hat Roderich Benedix die Augen geschlossen, als sich auch schon ein wetteifernder Nachwuchs in die von ihm verlassenen Bahnen drängt. Auch die Länder am Baltischen Gestade, Ihr Heimathland, verehrte Freundin, haben der deutschen Bühne einen Lustspieldichter gesendet, der sich manches schönen Erfolges rühmen darf. Der Name Ernst Wichert wird wohl auch schon in die stillen Hallen Ihres Schlosses gedrungen sein.
Ostpreußen ist in geistiger Hinsicht keineswegs ein unfruchtbares Land; irgend ein Name von Ruf knüpft sich an viele seiner kleinsten Städte. In Insterburg, im Lande der Lithauer, erblickte Wilhelm Jordan das Licht der Welt, der Nibelungensänger, der mit dem eroberten dichterischen Hort über die Meere zog, viel weiter, als je ein Held der alten Sage, und verkündete. In der mastenreichen Pregelstadt wurde der große Denker Kant geboren; in Mohrungen der phantasievoll bewegliche Herder ; in Neidenburg aber begab sich etwas Wunderbares: nicht nur ein deutscher Dichter darf das alte Ordensstädtchen seinen Heimathsort nennen, auch einer der größten Industriellen der Neuzeit ist hier geboren, in der industrieärmsten Provinz des preußischen Staates. Die russischen Reisebilder eines Strousberg dürften nicht weniger interessant sein, als die italienischen Reisebilder eines Gregorovius, wenn erstere jemals die Presse verlassen sollten.
Insterburg, die Vaterstadt Jordan’s, ist auch diejenige Ernst Wichert’s; er ist dort am 11. März 1831 geboren. Später hielt er sich in Königsberg und in der Seestadt Pillau auf. Ein Juristenkind, widmete er sich der Wissenschaft seines Vaters und studirte von 1850 bis 1853 in Königsberg die Rechte, nachdem er anfangs sich dem Studium der Geschichte mit Eifer [818] hingegeben hatte. Er verfolgte die juristische Beamtencarrière, wie Immermann und Uechtritz, uneingedenk des Platen’schen Ausspruchs:
Niemand gehe, wenn er einen Lorbeer tragen will, davon,
Morgens auf’s Gericht mit Acten, Abends auf den Helikon.
Doch da die Spaziergänge auf den Helikon, wenn sie den ganzen Tag über fortgesetzt werden, zu wenig einträglich sind, so gehört der „Pegasus im Joche“ nach wie vor als Vignette in die deutsche Literaturgeschichte. Hat doch unser großer Dichter Schiller lange Jahre seines Lebens auf dem Katheder und als Redacteur von Zeitschriften verbracht, und war seinem wahrhaften Berufe, für die deutsche Bühne zu schaffen, ungetreu geworden, nur um sich eine noch dazu klägliche bürgerliche Existenz zu gründen. Wichert wurde, nach kurzer Beschäftigung bei dem Kreisgerichte zu Memel, im Jahre 1860 als Kreisrichter nach Prokuls, einem lithauischen Marktflecken, versetzt. Wie es Pastorenidyllen giebt, so giebt es auch Kreisrichteridyllen, die bisher noch nicht in geflügelten Hexametern geschildert worden sind. Ein Kreisrichter in einem entlegenen Städtchen hat aber das gleiche Recht, von der idyllischen Muse verherrlicht zu werden, wie irgend einer jener ehrwürdigen Hirten auf der Insel Ithaka. Wichert hatte sich seine Idylle noch dazu sehr poetisch ausgeschmückt; schon früher verlobt, heirathete er gleich nach seiner festen Anstellung und verlebte nach seinem eigenen Bekenntniß in dem weltverlassenen Prokuls eine sehr glückliche Zeit. Im Herbste 1863 wurde er an das Königsberger Stadtgericht versetzt, wo er noch jetzt als Rath amtirt.
Sie sehen, verehrte Freundin, das ist ein einfacher Lebenslauf ohne alle abenteuerliche Romantik, bürgerlich schlicht – und dies ist auch der Grundzug der Wichert’schen Lustspiele und Romane. Mit Vorliebe wählt er sogar kleinstädtische Motive; doch wer wollte gering davon denken, nachdem Jean Paul in vielen seiner besten Romane ähnliche Motive behandelt hat? Es kommt nur darauf an, ob der Dichter aus dem Engen in’s Tiefe zu schaffen weiß, während manche aus dem Weiten heraus in’s Flache verfallen.
Die poetische Begabung regte sich indeß schon früh in Wichert. Zu einer Zeit, wo Sie, verehrte Freundin, noch im Flügelkleide der Unschuld Muscheln am Meeresstrande suchten und nur die Verse kannten, welche unter den schönen Bildern in den Kinderbüchern stehen, gab ich in Königsberg „Baltische Blätter“ heraus; es war dies ein sehr gewagtes Unternehmen; denn der Journalismus findet in Ostpreußen stets nur einen stiefmütterlichen Boden. Doch damals, wo die Wogen der politischen Bewegung hoch gingen und man nach den baltischen Küsten wie nach einem Lande der Verheißung blickte, schien ein günstiger Erfolg nicht außer der Berechnung zu liegen. Verleger dieser Blätter war damals Herr Samter, der jetzt als einer der ersten Banquiers in der Stadt der reinen Vernunft und als nationalökonomischer Reformschriftsteller mit neuen und fruchtbaren Gesichtspunkten viel genannt wird. Wir brachten philosophische Aufsätze, Kritiken, Gedichte. Ein junger Gymnasiast, der den Pegasus nicht ohne Glück gesattelt hatte, sandte einige lyrische Ergüsse für die Zeitschrift ein, die auch Aufnahme fanden; es war Ernst Wichert. Die Gedichte hatten den freiheitlichen Schwung, der damals Mode war; stand doch der Ruf eines Herwegh, Prutz und Freiligrath damals in vollster Blüthe. Die politische Bewegung in Ostpreußen hatte mit ihrem Wogenschlage auch die Bänke der Prima und Secunda überfluthet. Auch an der freien Gemeinde des Dr. Rupp und an den philosophischen Abenden, welche der freigemeindliche Seelsorger veranstaltete, betheiligte sich der junge Dichter. Rupp war ein geborener Sectirer. Die hohe Gestalt mit den dunkeln Zügen und den langen schwarzen Haaren imponirte; er hatte in seinem Wesen etwas fanatisch Festes; sein Einfluß auf junge Gemüther war nicht gering. Entsprechend dem Ernst der Richtung huldigte Wichert zuerst der tragischen Muse, welche für die jüngeren Zöglinge der Dichtung etwas sehr Anziehendes hat; er dichtete schon auf den Schulbänken unter dem Einflusse der Rupp’schen Gemeinde und der Jacoby-Walesrodischen Freiheitsära einen „Huß“ und „Washington“. Im Grunde ist Wichert seiner Neigung für die Tragödie immer treu geblieben; er hat ihr bis in die jüngste Zeit gehuldigt, aber das Trauerspiel ist einmal das Stiefkind der deutschen Bühne, und wer sein Herz an reichen Erfolgen erquicken will, wird der spröden Muse der Tragödie gewiß untreu. Auf „Huß“ und „Washington“ folgte „Kaiser Otto der Dritte“, der später umgearbeitet und unter dem Titel: „Das Grab der Deutschen“ veröffentlicht wurde; es ist derselbe Stoff, den Mosen und Klein behandelt haben. In die neuere Zeit griff der Dichter, als er sein Schauspiel: „Unser General York“ (1857) schrieb; das Stück wurde auch an einigen Bühnen, in Königsberg, Breslau und Stettin, zur Aufführung gebracht. Ungehorsam und freie Selbstthat aus glühender Vaterlandsliebe giebt solchen Stoffen wie „York“ und „Schill“ einen echt dramatischen Conflict. Das Stück hatte nicht nur patriotisches Interesse, sondern auch einzelne wirksame Scenen, war aber im Ganzen zu historienhaft gehalten.
Im Sommer 1858, gerade als der Dichter in Berlin sein Staatsexamen machte, schrieb er ein bürgerliches Schauspiel, dessen Stoff er einem eigenen Erlebnisse entnahm: „Licht und Schatten“. Er hatte, wie er selbst erzählt, in Königsberg einen ältlichen Candidaten der Theologie kennen und schätzen gelernt, der sich sein Brod als Hauslehrer verdiente, weil das Consistorium ihm wegen seiner freisinnigen Richtung kein Amt anvertraute. Als ihn jedoch die Patronin einer Dorfkirche zu einer sehr gut dotirten Pfarrstelle berief, konnte man ihm kein anderes Hinderniß in den Weg legen, als daß man ihn beim Collegium sehr scharf, besonders auch in Bezug auf seinen Glauben an den Teufel, befragte. Seine Antworten mußten wohl insoweit befriedigend ausgefallen sein, daß man seine Anstellung ausfertigen konnte, die dem armen Theologen plötzlich eine Einnahme von mehreren tausend Thalern jährlich sicherte. Nun aber fing seine Gewissenhaftigkeit an, sich mit dem quälenden Gedanken zu beunruhigen, ob er bei seiner religiösen Gesinnung als ehrlicher Mann den vorgeschriebenen Kirchenglauben predigen dürfe. Die Idee, daß er die Pfarrstelle nicht annehmen dürfe, fixirte sich in ihm mehr und mehr und trieb ihn zum Wahnsinn. Gerade als Wichert die Examenreise nach Berlin machte, wurde der Freund in eine Irrenanstalt gebracht, und der Dichter fuhr mit ihm in demselben Coupé. Auch in Wichert’s Stück, dessen Spitze gegen die kirchliche Orthodoxie gerichtet ist, geht ein braver Mensch an der Anforderung zu Grunde, sich zum Teufelsglauben bekennen zu müssen. Sie sehen, verehrte Freundin, der Roman liegt auf der Straße und fährt in den Waggons; man braucht ihn blos mit geschickter Hand aufzugreifen. Auch Ihr Schloß weiß ja viel zu erzählen; die Schönheit hat immer ihre Romane, und wer im Besitze Ihrer Tagebücher wäre, brauchte Friedrich Spielhagen nicht um seine Erfindungen zu beneiden.
Im Jahre 1860 schrieb Wichert seine historische, auf dem Boden der heimathlichen Ostseeprovinz spielende Tragödie: „Der Withing von Samland“, ein Trauerspiel von kunstgerechtem Aufbau und gediegener Haltung, und noch vor zwei Jahren, als er schon durch seine Lustspiele auf allen deutschen Bühnen heimisch war, seinen „Moritz von Sachsen“. Gewiß beeilten sich doch alle Theater, auch das ernste Drama eines so beliebten Lustspieldichters zur Aufführung zu bringen, umsomehr als dasselbe von bühnengerechter Fassung war, sich nirgends in die Historie verlief und dem Geschmack des großen Publicums, welches auch im geschichtlichen Drama das rührende Familiengemälde nicht vermissen will, Zugeständnisse machte? Nein, verehrte Freundin. Keine einzige Bühne brachte das Stück zur Darstellung; Sie ersehen daraus die Ungunst, in welcher die Tragödie bei den deutschen Bühnenleitern steht. Die großen Hoftheater haben jährlich kaum mehr als eine neue Tragödie auf ihrem Repertoire, und die kleineren Bühnen folgen meistens dem Vorgang der großen. Rafft sich einmal ein kleines Theater zu dem kühnen Entschlusse auf, ein Trauerspiel zuerst in Scene gehen zu lassen, so ist dies in der Regel nur ein Schlag in’s Wasser. Die Kräfte reichen nicht aus zu würdiger Darstellung, und das Publicum kommt nicht mit dem rechten Glauben in’s Theater, der an kleineren Orten nur durch den weitverbreiteten Ruf eines Stückes hervorgerufen wird.
Die meisten Erfolge hat Wichert als Lustspieldichter davongetragen; sein erstes größeres Lustspiel, „Der Narr des Glücks“, erhielt den zweiten Preis bei der Wiener Preisausschreibung;
[819] noch größeren Erfolg hatte „Ein Schritt vom Wege“, ein Lustspiel, welchem sich später „Die Realisten“, „Frau Luft“ und das Schauspiel „Die Frau für die Welt“ anschlossen.
Als Lustspieldichter ist Ernst Wichert der Nachfolger von Roderich Benedix, und zwar der einzige unter den Neueren, der sich innerhalb der von dem wackeren Lustspielveteranen gezogenen Grenzlinie hält. Schweitzer, Moser und andere beliebte Bühnenschriftsteller überspringen dieselben stets und bewegen sich mit einer oft sehr ergötzlichen Munterkeit auf dem Gebiete des Schwankes. Wichert, wenn er auch nicht eine so glückliche komische Ader hat, wie sie in diesen Stücken höchst ungenirter Erfindung und flotter Laune sich kundgiebt, besitzt dafür weit mehr künstlerisches Maß. Schweitzer besonders verzettelt seine Grundgedanken oft in leichtfertiger Weise. Moser schiebt wie in „Ultimo“ ein paar Schwänke durcheinander. Wichert hat wie Benedix den künstlerischen Sinn, den einheitlichen Rahmen für seine Lebensbilder durchaus festzustellen. Dies war schon in „Der Narr des Glücks“ der Fall, dessen Held immer kurz vor dem erreichten Hafen scheitert. Der eigentliche Lustspielgedanke ist hier konsequent durchgeführt, und man kann gegen das Stück kaum eine andere Einwendung machen, als daß das neu-französische Motiv, die Romantik der unsicheren Vaterschaft, nicht recht zum sonstigen kleinstädtischen und spießbürgerlichen Charakter der Handlung paßt. Man darf es den Wiener Preisrichtern nicht übel nehmen, daß sie in dem Stücke ein Lustspiel von Benedix sehen wollten und, um den wackeren Lustspieldichter zu belohnen, noch einen besonderen Preis den von Hause aus festgesetzten hinzufügten. Ein Lustspiel aber, welches Benedix in seiner besten Laune geschaffen haben könnte, ist „Ein Schritt vom Wege“, dasjenige Stück Wichert’s, das sich auf den deutschen Bühnen am erfolgreichsten behauptet. Es ist ein sehr glücklicher Gedanke, wie hier die Romantik einer jungen Ehefrau, der bei ihrer Hochzeitsreise zu wenig Ungewöhnliches und Abenteuerliches begegnet ist, durch „einen Schritt vom Wege“, den ihr Gatte unternimmt, auf die Probe gesetzt wird, wie derselbe sein Geld fortwirft und sich in die Wälder schlägt, an einem Badeorte durch Concertaufführungen mit der Frau sich einen Verdienst zu schaffen sucht, und wie nun die Letztere in eine Welt der unbehaglichsten Abenteuer hineingeräth. Das Lustspiel „Die Realisten“, welches vielleicht besser „die Egoisten“ getauft worden wäre, hat zum Helden einen aus Amerika heimkehrenden Goldonkel, der seine Familie und Alles, was dazu gehört, von einer nur auf engherzigen Vortheil bedachten Gesinnung curirt; in „Biegen oder Brechen“ empört sich ein junges Ehepaar gegen die Tyrannei der Schwiegereltern; die „Frau für die Welt“ ist gegen die Eitelkeit der Salons gerichtet und gegen Männer, welche in ihren Frauen Salondamen zu besitzen wünschen.
Es giebt ein bekanntes Lustspiel von Bauernfeld, „Bürgerlich und Romantisch“; es ist dieser Gegensatz, der sich durch die meisten Wichert’schen Lustspiele hindurchzieht, und der gediegene ostpreußische Verstand des Autors entscheidet sich überall zu Gunsten des Soliden und Bürgerlichen. „Ein Schritt vom Wege“ und „Die Frau für die Welt“ enthalten eine Verurtheilung des Romantischen und Glänzenden im Frauenleben. Es leuchtet ein, daß die Wichert’schen Stücke nicht an falscher Genialität kranken, sondern daß die Klippe für das Talent des Autors eher nach der entgegengesetzten Seite liegt. Der Aufbau dieser Lustspiele ist durchaus einfach und kunstgerecht; ihr Dialog, frei von Witzhascherei, entspricht ungefähr dem Dialoge in den Lustspielen von Benedix; es herrscht in ihm wie in den Situationen oft eine glückliche Laune, welche von der Bühne herab das Publicum in heitere Stimmung versetzt.
Einige politische Gelegenheitsstücke Wichert’s, wie „Das eiserne Kreuz“, zeichnen sich durch patriotische Wärme und eine Erfindung, welche das Familien- und Vaterlandsgefühl glücklich verschmilzt, vortheilhaft aus.
Der unermüdliche Autor ist nicht minder schöpferisch als Erzähler in größeren Romanen und kleinen Novellen. Die „Gartenlaube“ brachte einige der letzteren, von denen namentlich „Schuster Lange“ allgemeine Anerkennung gefunden hat. Diese treffliche Erzählung wurde auch in mehrere fremde Sprachen übersetzt. In seinen Romanen sucht Wichert einzelne wichtige Zeitfragen mit einer Gründlichkeit zu behandeln, die den Denker fast mehr als den Dichter verräth; ja es fehlt in diesen Romanen nicht an einzelnen Stellen, welche einen für ein Dichtwerk zu trockenen Ton anschlagen, so sehr man die Tüchtigkeit der Gesinnung, die verständnißvolle Erfassung der Lebensverhältnisse und die maßvolle Gediegenheit der Darstellung, welche sich in diesen Werken zeigt, auch schätzen muß. Der Roman „Die Arbeiter“ behandelt die sociale Frage, welche Wichert in einem volksmäßigen Tendenzstücke, „Die Fabrik zu Niederbronn“, auch auf die Bühne brachte. Die Lösung dieser Frage wird der Poesie nicht minder schwer fallen, als der Staatsgewalt und den gesellschaftlichen Verbindungen, die sich damit beschäftigen; eine Gefahr für die Poesie liegt in dem vielen Maschinengeklapper, welches für den Hintergrund der Handlung unerläßlich ist, und in den sehr prosaischen Fragen der Lohnerhöhung. Daß der Dichter die reine Gesinnung liebevollen Zusammenwirkens zu einer wichtigen Instanz für die Entscheidung dieser Frage macht, ist sein gutes Recht; im praktischen Leben wird gegenwärtig geringer Werth auf eine solche moralische Lösung gelegt; hier spricht nur das Interesse, und zwar eine sehr rauhe und kampflustige Sprache. In dem Romane „Hinter den Coulissen“ schildert Wichert die Bühnenwelt in allen ihren Verzweigungen von der Hofbühne bis hinab zur Singspielhalle, und zwar nicht blos in lebendiger Schilderung, sondern auch mit einer Fülle sinnvoller Betrachtungen und allerlei Reformvorschlägen. Die Verwickelung beruht hauptsächlich auf einer abenteuerlichen Vorgeschichte, die glücklich erfunden ist; doch in der Ausbeutung dieser glücklichen Erfindung für die Zwecke der Spannung besitzt Wichert so wenig wie die meisten deutschen Autoren jene Meisterschaft der Romantechnik, wie sie die neueren französischen und englischen Sensationsschriftsteller auszeichnet. An und für sich ist dies kein Mangel; nur wenn die Erfindung selbst auf solche Wirkungen angelegt ist, vermißt man ihre glänzende Ausbeutung.
Andere Romane von Wichert, wie „Ein häßlicher Mensch“, sind mehr persönliche Lebensgemälde.
Der neueste Roman Wichert’s, „Das grüne Thor“, und eine sechsbändige Sammlung von Erzählungen und Novellen, unter denen sich mancher glückliche Griff des Autors findet und welche alle die Eigenthümlichkeit seiner schlicht gediegenen, oft von munterer Laune angehauchten Darstellungsweise nicht verleugnen, sprechen für die Fruchtbarkeit dieses Schriftstellers. Vielleicht sind Sie geneigt; verehrte Freundin, dies für ein zweifelhaftes Lob zu halten und mehr den Löwen, der nur ein Junges zur Welt bringt, als die Blattlaus mit ihrer unzähligen Nachkommenschaft für das nachahmungswerthe Vorbild des Dichters zu halten. Doch in unserer Zeit, in der nur selten ein Meisterwerk vom Himmel fällt, ist immer mehr Aussicht, daß ein Autor unter zahlreichen Nummern einen Treffer zieht, als wenn er sein Alles auf eine einzige Nummer setzt. Auch hat es sehr fruchtbare Dichter von großem Genie gegeben; ich erinnere nur an die griechischen Tragiker, welche zum Theil über hundert Trauerspiele verfaßten, an Lope de Vega und Calderon. So erfreuen wir uns getrost an der Thätigkeit rastlos schaffender Geister, die doch nicht blos in’s Danaidenfaß schöpfen.
Und wenn Sie, verehrte Freundin, mit mir allerlei romantische Neigungen theilen und in Dichtung und Leben selbst für das kühnere Wagniß empfänglich sind, welches aus dem Kreis alltäglicher Erfahrungen und Meinungen heraustritt: so haben wir uns doch Beide die Unbefangenheit gewahrt, auch den Autoren von mehr bürgerlichem Gepräge und von schlichtem Lebenssinn, sobald sie Tüchtiges schaffen, warmen Antheil zu schenken. Für die Bühne sind Schriftsteller wie Benedix und Wichert unersetzlich. Die Bühne bedarf des bürgerlichen Lebensbildes, und beide Dichter haben demselben stets eine veredelnde Tendenz gegeben.
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Wir saßen am Frühstückstische in dem großen bäuerlichen Wirthshause ‚Zur Traube‘ zu Waldau bei Freiburg, etwa ein Dutzend Gäste; die riesige Kaffeekanne ging von Hand zu Hand, wie es dort so Brauch war, und die ebenso große Milchkanne folgte hinterher. Den auserlesenen Erzeugnissen des Schwarzwaldes, Butter und Honig, wurde eifrig zugesprochen, und es herrschte jene frische, harmlos heitere Stimmung, in welcher sich – zumal an einem hellen Sommermorgen – Menschen zu befinden pflegen, die auf einige Wochen den Staub des Alltagslebens von sich geschüttelt haben, um in der reinen Bergesluft frei aufzuathmen und neue Lebenskraft zu schöpfen.
Da ging die Thür auf, und herein trat eine silberhaarige Alte, den hohen, cylinderförmigen Strohhut auf dem Kopfe, einen Stock in der Hand. Ihr scharfes Auge streifte grüßend die Gesellschaft, und „Oh! grüß’ Gott, Herr Lehrer!“ rief sie freudig überrascht aus, als einer der Herren aufstand, um sie zu bewillkommnen.
„Das ist die Marei, die Redecker Marei,“ ging es von Mund zu Mund – offenbar eine bekannte und in ihrem Kreise berühmte Persönlichkeit, von der ich aber noch Nichts gehört hatte.
„Sie ist dreiundachtzig Jahre alt,“ hieß es, und ich staunte über die Lebhaftigkeit der Frau, die sich in lauter Scherzreden zu gefallen schien, offenbar stolz war auf die hohe Zahl ihrer Jahre und sich beschwerte, daß kein Freier mehr kommen wolle, obwohl sie nun schon seit Jahren Wittwe sei.
Der Lehrer – um diese Bezeichnung festzuhalten – erkundigte sich, ob sie auch noch die Harfe spiele.
„Nimmer so recht,“ entgegnete Marei, „aber meine Tochter spielt und singt und meine Enkelin auch; im Winter machen wir viel Musik, im Sommer nur so, um’s halt nit zu vergessen.“
„Und Sie selbst spielen gar nicht?“
„Ja freilich! ich spiel’ die ‚Vigelin‘.“
„Werden Sie mir denn Etwas vorspielen, wenn ich einmal hinkomme?“
„Ja, ja, kommen’s nur! Ich spiel’, wenn Sie mir die Vigelin stimmen wollen, und meine Tochter und meine Enkelin werden auch spielen und singen.“
Nach dieser Verabredung setzte Marei sich still an einen entfernten Tisch in dem großen, niedrigen Saale, bestellte ein halbes Liter Weißwein und zog ein Stück trockenen Brodes aus der Tasche. Sie war in der Waldauer Kirche gewesen, und es hieß, sie mache fast täglich diesen Weg, drei Viertelstunden weit über Berg und Thal. Keineswegs aber kehrte sie jedes Mal in der „Traube“ ein; ich sah sie nicht wieder dort, und was sie diesmal hergeführt hatte, war vielleicht nur die Neugier gewesen, ein wenig von der großen Fluth der reisenden Welt zu sehen, die ein kleines Bruchtheil an diesen wirthlichen Strand geworfen.
Hatte sie doch selber einmal mitten in diesem Strome geschwommen. Reisen und Wandern, Singen und Spielen war ihr Handwerk gewesen, und zwar zu einer Zeit, wo das Reisen noch im Stande war, dem Menschen eine Art von Nimbus zu verleihen, besonders einem Schwarzwälder Mädele, das mit fünfzehn Jahren abenteuernd in die Welt zog. Aber nicht sowohl Abenteuerlust, als vielmehr die Noth ist es gewesen, welche das Kind aus der elterlichen Hütte führte. Der Geschwister waren viele; das Häuschen war schuldenbelastet, und nur eine Kuh befand sich im Stalle.
„Ich will es versuchen – laßt mich ziehen!“ sprach Marei, und „So geh’ in aller Heiligen Namen!“ erwiderte die Mutter – und sie ging.
Eine alte Geige hatte sie vom Vater her; die konnte sie spielen, aber sie lernte zu Anfang noch – ich glaube in Nürnberg – das Harfenspiel, jedoch Alles ohne Noten, wenigstens ohne gedruckte Noten, und dazu singend mit einer Stimme, die prächtig gewesen sein soll, aber ungeschult – wie der Vogel singt.
Zwanzig Jahre ist sie in der Welt umhergezogen, ohne ihre Heimath wieder zu sehen, dann ist sie zurückgekommen mit zwei Pferden und – einem Federhut. Den sahen die Bauern eines Tages in der Kirche, und alle Andacht war hin.
„Das ist die Marei, die Marei aus dem Ringelhäusle,“ ging es flüsternd von Mund zu Mund, und nachher standen die Leute unter dem mächtigen Ahornbaume vor der Kirchenthür und spotteten über den Hut und über die Falbeln an ihrem Kleide. Sie mag wohl ein wenig aufgeputzt gewesen sein, wie eben eine Harfenistin zu sein pflegt, und es mag ihr eine Genugthuung bereitet haben, Denjenigen, die ihr vielleicht nichts Gutes prophezeit hatten, in ihrer Weise zu imponiren.
Als man aber von dem Wagen mit zwei Pferden hörte, da stieg natürlich der Respect, und als Marei von ihrem ersparten Gelde das Haus auf der Redeck kaufte, ihrer Familie sich annahm, sich wieder bäuerlich kleidete und zu wirthschaften anfing, da war sie selbstredend eine respectable Person. Sie hat auch einen Musikanten geheirathet, und hoffentlich haben Thun und Lassen, Wollen und Meinen ebenso gut miteinander gestimmt, wie Harfe und Geige. Die Musik ist Erb- und Familiengut geblieben, und wer weiß, welche ungehobenen Schätze unter dem Schindeldache auf der Redeck zu Grunde gehen und zu Grunde gegangen sind, denn daß allzeit das Genie seinen Weg fände, von dem rauhen Estriche der Hütte zu dem Parquetboden des Palastes, daß unfehlbar das Genie sich Bahn bräche – wer glaubt dieser Redensart?
An einem schönen Nachmittage nun zogen wir hinaus, um die Marei zu besuchen, die ganze Gesellschaft, „je mehr, je besser, behauptete der Lehrer, und er hatte Recht, denn als die Alte uns über die Höhe kommen und den schmalen Pfad einschlagen sah, der auf ihre Hütte zuführte, trat sie uns vor der Hausthür entgegen und lachte und lachte vor lauter Plaisir bei jedem neuen Händedrucke, den sie bewillkommnend austheilte.
Wie wunderbar schön liegt diese Redeck! Der romantische Schwärmer könnte sich keinen schöneren Fleck für seine Hütte aussuchen, als diese Berghalde mit dem Blicke in das „Wilde-Gutachthal hinein und den Tannenwäldern ringsum, und als ich in das niedrige Zimmer mit den vielen kleinen Schiebfenstern trat, die in überraschender Weise mit blühenden Gewächsen verdeckt waren, da drängte sich’s mir auf: hier ist Poesie – ein Eindruck, den selbst die entsetzlichen Bilder, an die man Glas und Rahmen verschwendet hatte, und die belächelnswürdigen Nippesgegenstände nicht zu stören vermochten.
„Sie sind nicht aus der Gegend, vous n’êtes pas d’ici?“ fragte Marei zu mir gewendet.
„Ganz recht,“ erwiderte ich, „aber Deutsche bin ich doch, Norddeutsche – und Sie waren in Frankreich? Sie sprechen französisch?“
„Ja freilich! Ich war vier Jahre in Frankreich, und im Anfange verstand ich kein Wort, aber das hat halt nit lange gedauert,“ und dann erzählte sie Einiges aus ihrer abenteuerlichen Laufbahn, welches der Schwarzwälder Mundart wegen zum Theil schwer verständlich war.
Die Hauptgeschichte war, wie sie einmal bestohlen worden sei, wie man aber den eigentlichen Schatz, einen Beutel mit sechshundert Gulden, nicht gefunden, weil er tief unten in einer Kiste gelegen habe, unter Lumpen versteckt. Gulden seien es aber nicht gewesen, denn die habe man in Frankreich nicht, sondern lauter Sous und Franken. „Gott sei Dank! man hatte es nicht gefunden – O, Dieu merci! on n’avait pas trouvé,“ fügte sie hinzu. Es machte ihr offenbar Vergnügen, die wenigen französischen Brocken anzubringen, die ihr noch zu Gebote standen.
Nach einer Weile wurden Harfe und Geige geholt und gestimmt. Tochter und Enkelinnen kamen herbei, Alle barfüßig, und barfüßige Buben lugten um die Ecke. Das Auditorium saß auf der Bank, welche in den Schwarzwälder Stuben rings um die Wand geht, und in einem Winkel des Zimmers gruppirte sich das Orchester.
Die Alte trug heute – im Zimmer – einen gewöhnlichen runden Strohhut, unter dem zwei dünne, ach, so dünne, weiße Zöpfchen den Nacken herabhingen, eine Schürze, deren oberer
[821] Theil aus lauter verschiedenen Flicken bestand, überhaupt ärmliche Schwarzwaldtracht, aber doch, wie sie so da saß mit geneigtem Kopfe und gesenktem Blicke, mit völlig verändertem Gesichtsausdrucke, die Geige im Arme, sie anscheinend noch mit voller Sicherheit handhabend, da imponirte mir dieses Weib, welches sich sowohl in seiner Kunst, wie in seinem Humor einen Schimmer von Jugendlichkeit bewahrt hat, um den die Frauen der civilisirten Welt sie von Herzen beneiden dürfen.
Spiel und Gesang von „Urahne, Großmutter, Mutter und Kind“ kritisiren zu wollen, kann mir nicht einfallen. Wir nahmen dankend, was uns geboten wurde, und auch ein in die Hand gedrücktes Geldstück ward nicht zurückgewiesen, denn trotz des Grundbesitzes und trotz der drei Kühe und zwei Geisen im Stalle lebte die Familie offenbar nicht von ihrer Rente, sondern von ihrer Hände Arbeit, und die ist nicht leicht im Schwarzwalde.
Wir gingen und stellten in Aussicht, wiederzukommen, um das „Häusle“ zu zeichnen, was leider durch eintretendes Regenwetter verhindert wurde. Der Alten schien unser Versprechen sehr zur Befriedigung zu gereichen, obgleich sie sehr gut wissen konnte, daß Ruhm und Ruf der Redeck nicht gerade an ihre Person geknüpft sind.
Im Juli 1870 nämlich war im Schwarzwald ein großes Fest beabsichtigt. In der „Traube“ zu Waldau, als dem der Redeck zunächst gelegenen Orte, waren die umfassendsten Vorbereitungen getroffen worden, denn man erwartete Zuzüge von Menschen aus dem ganzen Schwarzwald, soweit die Uhrenindustrie reicht. Und alle diese Wallfahrten, Ovationen jeder Art, galten der Redeck; für all die Tausende war die Redeck das Ziel, und wenn die Hütte sie auch nicht hätte aufnehmen können, so beabsichtigten die Pilger doch mit ihrem Kommen einen Act der Pietät zu erfüllen und gleichsam der Stätte zu huldigen, wo vor just zweihundert Jahren Lorenz Kreuz, der Mann gelebt und gestrebt, der die erste Schwarzwälder Uhr gemacht und damit den Gebirgsbewohnern eine Bahn der Industrie eröffnet hat, von der das bescheidene Genie auf der Redeck, welches die Mußestunden langer Winterabende ausfüllen wollte, sich sicher Nichts hat träumen lassen.
Ja, im Jahre 1870 sollte das Fest begangen werden – da kam der große Krieg, und aus der Gedächtnißfeier wurde nichts; die streitbare Mannschaft hatte anderen Fahnen zu folgen als bekränzten Festesfahnen. Und wenn wieder ein Säculum verstrichen ist, wird dann die dankbare Nachwelt die Schuld an ihren Wohlthäter, den armen Häusler auf der Redeck, abtragen?
Schwerlich; nicht weil es noch gar lang ist bis dahin, sondern aus andern Gründen.
Heute ist der Schwarzwälder reich, und das verdankt er in diesem Districte nicht seinen dürftigen Feldern, auch nicht den fetten Weiden, seinen stattlichen Heerden oder seinem prächtigen Tannenwald, sondern jenem Zweige der Industrie, der eine Specialität des Schwarzwaldes geworden ist und dessen Ruf in alle Welttheile getragen hat.
Aeltere Leute werden sich aus ihrer Kindheit jener hausirenden Gebirgsbewohner erinnern, die auf ihrem Rücken, an hohen Gestellen befestigt, die bekannten Schwarzwälder Uhren feilboten. Heute sieht man sie kaum noch in nächster Nähe des Schwarzwaldes, wahrscheinlich weil bei unseren regulirten Post- und Eisenbahnverbindungen das Hausiren ein zu kostspieliges Geschäft wäre. So aber sind die Schwarzwälder nicht nur durch Deutschland, sondern durch die ganze civilisirte Welt gezogen; so sind sie hausiren gegangen in England, Holland, Frankreich, Rußland, Spanien und Amerika; heute noch besteht die lebhafteste Verbindung mit jenen Ländern, und so sind sie reich geworden.
Zehn Jahre, zwanzig Jahre – jenachdem – blieben sie aus, dann kehrten sie heim, kauften sich an und wurden wieder – Schwarzwälder in Tracht und Sitten, gerade wie die Redecker Marei, nur daß der Uhrenhandel ungleich einträglicher gewesen sein muß als Spielen und Singen, denn der Grundbesitz zählt nach Hunderten von badischen Morgen und ruht in festen Händen. Kaum ein Acker ist käuflich, und die Besitzer werden nach Hunderttausenden taxirt. –
Die meiste und lebhafteste Verbindung in geschäftlicher Hinsicht hat alle Zeit bestanden und besteht noch heute mit England. Daß das Englische demnach eine im Schwarzwalde sehr gebräuchliche Sprache ist, kann kaum überraschen, und Bauer und Bäuerin trinken – in diesem obern Theile des Schwarzwaldes allabendlich ihren Thee, ein aus England mitgebrachter und liebgewordener Brauch.
Einmal erschien eine englische Familie in der „Traube“. Unser Wirth, der zwar auch seiner Zeit in England gewesen war, mochte sich doch nicht mehr so recht bequem in der Sprache bewegen; es wurde also eiligst der Sohn, der mit den Knechten beim Heuen beschäftigt war, herbeigerufen, und Engel (Engelbert) warf die Arbeitsjacke ab und zog die Staatskleider an, um den Gästen die Honneurs zu machen, wie es sich gehört.
Charakteristisch für die Verhältnisse ist ferner Folgendes: Es war da ein hübsches Mädchen im Hause, mit buntem Mieder und weißen Hemdärmeln, „’s Kätterle“, wie alle Welt sie nannte, und die alle Welt gern hatte. Früh und spät war sie bei der Hand und allezeit fröhlich und guter Dinge, zu jeder Arbeit bereit und behende.
„Die solltest Du Dir angeln und als Dienstmädchen mitnehmen,“ sprach ein Herr zu seiner Gemahlin, „ein solches findest Du in der Stadt gar nicht.“
„Das glaube ich,“ lautete die Antwort, „aber ich kann kein Mädchen gebrauchen, das reicher ist als ich; ’s Kätterle ist die Erbin von wenigstens hunderttausend Gulden, und ’s Kätterle wird sich bedanken.“
So war es. Ihr Vater war ebenfalls ein „Engländer“, und ’s Kätterle, das als Magd in der „Traube“, freilich bei des Vaters Bruder diente, war halt eine große Erbin. –
In der Gewerbehalle zu Furtwangen (zwei Stunden von Triberg) wird noch jene Uhr aufbewahrt, welche Lorenz Kreuz von der Redeck, und zwar nur mit Hülfe eines Messers, ganz aus Holz gemacht hat und welche die Anfänge einer Industrie repräsentirt, die im Laufe der Jahre die Bewohner des Schwarzwaldes auf die schon früher erwähnte Höhe des Wohlstandes gehoben hat. Sie hat die typisch gewordene Form der Schwarzwälder Uhren, ungefähr so wie heute noch, ein Zifferblatt mit nur einem Zeiger, dem Stundenzeiger, und im Innern drei hölzerne Räder, während eine regelrechte Schwarzwälder Uhr von heut zu Tage deren neun hat. Statt des Pendels hat jene ehrwürdige Uhr eine Balancirstange, aber ein Wecker fehlt nicht. Die zweitälteste Uhr in der Sammlung zu Furtwangen hat zwei Zifferblätter mit je einem Zeiger, der obere zeigt die Stunden, der untere die Minuten an, und dann erst folgt eine Uhr, welche jene uns so naiv erscheinende Idee aufgiebt und einen Doppelzeiger hat, wie heute alle unsere Uhren. Erst 1740 wurde die erste Pendeluhr gemacht.
In historischer, oder sagen wir richtiger in chronologischer Reihenfolge sind die Producte der sich mächtig entwickelnden Uhrenindustrie geordnet und schließen mit einem großen Chronometer, der ein volles Jahr geht, ohne inzwischen aufgezogen werden zu müssen. „Ja, er ist noch sieben Stunden über dreihundertfünfundsechszig Tage gegangen,“ versicherte der Aufwärter, „und in all der Zeit, in dem ganzen Jahre, hat er bei genauester Beobachtung nicht um ganz eine Minute differirt.“ Letzteres ist das Bewunderungswürdigste und scheint unbedingt der Höhenpunkt zu sein, der auf diesem Gebiete zu erreichen ist.
Zu einem gewissen Abschluß ist ohnedies die Schwarzwälder Uhrmacherkunst gelangt: sie ist in die Hände von Fabrikanten übergegangen. In Neustadt, einem gar reizend gelegenen Städtchen, zwei Stunden von Waldau und eine Stunde vom Titisee entfernt, ist ein großes Etablissement, welches den Fremden jederzeit und bereitwilligst gezeigt wird; dort sind dreihundertfünfzig Arbeiter beschäftigt, darunter fünfzig weibliche, welch letztere meistentheils das Poliren besorgen.
In großen Sälen, deren drei Seiten nur aus Fenstern bestehen, sitzen an diesen entlang die Arbeiter vor dem ringsum laufenden Tische. Die mit Wasserkraft arbeitende Maschine hebt immerfort die kolossale Säge mit fast zollgroßen Zähnen auf und nieder, um die Bretter zu schneiden, welche zu Uhrkasten verwandt werden, und zugleich bewegt sie die feine, scharfe, nur einen Strohhalm breite Laubsäge, so daß der Arbeiter nicht diese um die Zeichnung zu führen hat, sondern, ähnlich wie die Näherin an einer Nähmaschine, den Stoff – hier ein Brettchen mit Zeichnung, das zum Rahmen der Uhr geschnitten [822] werden soll – nur in geschickter Weise der Säge hinzuhalten hat. Dort dreht sich das feilende Rad; auf dem Tische vor dem Arbeiter liegt ein Haufen metallener Rädchen; er hat ein jedes derselben der für ihn arbeitenden Maschine so nahe zu bringen, daß sie die Zähne hineinschneidet, denen von einer andern Feile dann der feinste Schliff gegeben wird. Hier werden nur Ringe ausgeschnitten, dort nur Zeiger, hier Stifte, dort Pendel. Selbst das Blankputzen, die reibende Kraft dabei, übernimmt die Maschine.
Treten wir sonst in eine Uhrmacherwerkstätte, so ist das ein überaus stiller und friedlicher Winkel, und das etwaige leise Geräusch der feinen Arbeit wird bei Weitem übertönt durch das gleichförmige Ticken, durch die Pendelschwingungen der fertigen Uhren, welche an der Wand zu hängen pflegen. Hier aber, in den Fabrikräumen, könnte eine Domglocke dicht an unserem Ohre läuten, man würde nichts davon hören – solch ein unbeschreiblich toller Höllenlärm ist namentlich in einem dieser Räume, und will man einen Arbeiter oder den begleitenden Herrn nach etwas fragen, so muß man ihm in’s Ohr schreien. Mit Schwatzen wird hier sicher keine Zeit versäumt. So sind also die Arbeitern zum Fleiße gezwungen, und wie immer ein Rädchen von links nach rechts gelegt wird, so ist auch immer eine weitere Uhr gemacht, denn da jede Uhr doch nur einmal just dieses Rades bedarf, so gehört und entsteht auch zu diesem Rade jedesmal alles dazu Gehörende, eine complete Uhr. Wie viele das alltäglich sein mögen, wie viele im Jahre – ich weiß es nicht; jedenfalls aber ist die Zahl noch in steigendem Fortschritt begriffen.
Ein eigentlich geschickter Arbeiter ist bei diesem fabrikmäßigen Betriebe der Uhrmacherei nur dazu nöthig, um all die Einzelheiten zu einem Ganzen zu fügen; nur er muß das Getriebe der Räder, den Zweck der Schrauben und Federn und ihre Dienstleistungen kennen, während das bei den übrigen Handlangern durchaus nicht erforderlich sein kann. In dem Raume, wo Jener arbeitet, ist es auch still; da ist kein Tosen und Heulen und Brausen, und still arbeitet neben ihm auch der Schnitzer, welcher an den Reliefarbeiten bosselt und je nach der Feinheit seiner Arbeit sich zum Künstler erheben kann. Doch werden die Schnitzarbeiten meist in den Privatwohnungen verfertigt, denn sie bedürfen nicht jener Gemeinsamkeit, welche eine einzige gewaltige, bewegende Kraft sich dienstbar gemacht hat. Uebrigens ist die Schnitzerei keine Specialität des Schwarzwaldes, und die schönsten Uhrgehäuse werden aus der Schweiz bezogen. Alles aber, was zu einer regelrechten Schwarzwälder Uhr gehört, wird innerhalb des Etablissements gemacht, Alles, bis auf die Seele des Ganzen: die Uhrfeder. Die liefert Frankreich. Und ich glaube, auch Emailzifferblätter werden von auswärts bezogen, während die auf Holz gemalten der gangbarsten Sorten selbstverständlich in Neustadt gemacht werden.
Eigentliche Uhrmacher, was man früher so darunter verstand, giebt es in jenem Orte kaum noch. Der Handwerker kann nicht gegen die Concurrenz der Maschinen aufkommen; er hat sich auf Reparaturen, auf den Uhrenhandel zu beschränken; er wäre heute auch gar nicht mehr im Stande, dem Bedarfe zu entsprechen, der in demselben Maße gestiegen ist, wie die Production, obwohl man dennoch sich verwundert fragt: wo bleiben nur alle diese Uhren? da es zur Zeit doch nirgends Brauch ist wie im Schwarzwalde, daß man zwei oder drei Uhren in eine Stube hängt. Der billige Preis muß die Sache erklären.
„Schwarzwälder Uhr“ wird unbedingt immer die Bezeichnung für ein gewisses Genre von Uhren bleiben, wahrscheinlich werden sie vorzugsweise auch ferner daselbst gemacht werden, aber die Kunst, die in der einsamen Hütte des Häuslers erstand, die ist im Schwarzwalde untergegangen; das mächtig umrollende Rad der Industrie hat sie einfach bei Seite geschoben, und wenn die stille, sinnige Arbeit des Mechanikers oder des Holzschneiders in abgelegenen Gebirgsthälern fast einem nothwendig sich ergebenden Naturproducte gleich kommt, so hat er mit dem gigantischen Räderwerke der Maschinen von Haus aus nichts gemein. Ein fremdes Cyclopenvolk ist in die arkadische Heimath eingedrungen.
Und wenn man dem Lorenz Kreuz auf der Redeck auch kein Denkmal setzt, und wenn man nach Ablauf von drei Jahrhunderten auch nicht mehr daran denken sollte, dorthin zu wallfahrten, weil es keine Uhrmacher mehr giebt, so werden die Namen des Berges und des Erfinders doch unzertrennlich bleiben, und wessen Name besteht, so lange die Berge bestehen, der dürfte stolz sein auf seinen Antheil an Unsterblichkeit.
Es ist eine alte Wahrheit, daß die größten Wunder täglich vor unseren Augen stehen und geschehen, ohne daß wir es gewahr werden, eben weil sie täglich sich wiederholen und erneuen. Von diesen Wundern ist das herrlichste das Kind und seine körperliche und geistige Entwickelung. Wird die Reihe von Erscheinungen, die das Kind uns zeigt von seinem ersten Schrei bis zu seinem ersten Schritte, wirklich so beobachtet, so gewürdigt und mit Geist und Herzen so genossen, wie sie es verdient? Sind nicht selbst der Eltern, welche dem erwachenden Leben des Kindes eine solche Aufmerksamkeit widmen, leider nur gar zu wenige? – und wie viele Tausende gehen kalt und theilnahmlos an der ganzen Kinderwelt vorüber! Das könnte in der That zu traurigen Betrachtungen führen über Wirklichkeit und Wirkung der sogenannten Bildung unseres Zeitalters, wenn wir es nicht vorziehen dürften, unsere Leser auf ein Werkchen hinzuweisen, welches Alle, denen die Fähigkeit nicht abgeht, sich des schönsten Wunders mitzufreuen, in die lauschigen Räume führt, wo sie das Kind vom ersten Athemzuge vor sich sehen, Tag um Tag das körperliche Gedeihen, das langsame Entfalten der Sinneskräfte, das allmähliche Erwachen des Geistes und seiner tastenden Regungen beobachten und an der Hand eines sinnigen Vaters Blicke werfen nach all den Strahlen des Geistes- und Herzenslebens hin, welche aus der Familienumgebung bei des Kindes Wiege zusammentreffen, denn das Kind bleibt vom ersten Hauche an der Mittelpunkt aller Freudenstrahlen und aller Sorgenschatten des Hauses, das mit ihm gesegnet ist.
Da wir aber den Inhalt dieses Werkchens gewissenhaftest beobachtender Vaterliebe nicht besser zusammenfassen können, als es dem Verfasser in dem Vorworte zu demselben gelungen ist, so wollen wir dieses unseren Lesern unverkürzt mittheilen:
„Es ist dem Verfasser dieses Tagebuches erst in späteren Jahren möglich geworden, eine Familie zu gründen. Schon von früh auf mit den großen Problemen des Daseins beschäftigt, war er in den letzten Jahren vor seiner Verheirathung durch das jüngste Auftreten des Materialismus auf’s Neue angeregt worden, dem Welträthsel nachzuforschen. Er leugnete die Realität des Stoffes nicht, aber er fragte sich: Ist der Geist, dessen Erscheinen und Wirken unverkennbar, nicht etwas ebenso Wirkliches wie der Stoff? Wenn der letztere auf zeitliche und räumliche Unendlichkeit Anspruch macht, er, der doch nur unbewußt natürlichen Gesetzen folgt, um wie vielmehr darf dies nicht der Geist, der mit Freiheit und Bewußtsein wirkt?
Als dem Verfasser nun ein Kind geboren wurde, kam ihm ganz natürlich der Gedanke, in dem jungen Wesen dem Erwachen des Geistes nachzugehen, in der Hoffnung, auf diesem Wege der Lösung des Räthsels auf die Spur zu kommen. Er schrieb daher, womöglich, Tag für Tag seine Beobachtungen nieder. Unwillkürlich aber gruppirten sich um dieselben andere Scenen, Bilder des Familienlebens, Erinnerungen vergangener Zeit, Schilderungen der Natur, gesellschaftliche und andere Eindrücke. So gestaltete sich das Tagebuch zu einem vollständigen Gemälde der ersten Kindheit von der frühesten Entwickelung an bis dahin, wo das Kind den ersten Schritt zur Trennung von den Eltern thut, den Gang in die Schule.
Der Verfasser hat geglaubt, daß die Mittheilung dieses Tagebuches auch auf Andere anregend einwirken könne, und übergiebt es daher mit einigen Kürzungen der Oeffentlichkeit. Er [823] glaubt, daß die darin enthaltenen Erlebnisse und Empfindungen so allgemein menschlicher Art sind, daß sie ein jeder Andere erlebt und empfunden haben kann. Nicht Jeder aber hat die Muße, sich dieselben klar zu machen; wie Viele auch gehen an den Schätzen des häuslichen Lebens vorüber, ohne sie nur zu ahnen!
Dazu kommt, daß die Entwickelung des Kindes, wie sie der Verfasser geschildert, eine natürlich regelmäßige war. Die Kinder, die er später das Glück gehabt hat zu erhalten, hatten mit so viel Schwierigkeiten in ihrem Aufkommen und Wachsthum zu kämpfen, daß die Beobachtung des Denkers der Sicherheit entbehrt hätte und die sonstigen Erlebnisse von einem zu privaten Charakter gewesen wären. Bei wie viel Tausenden ist dies nicht auch der Fall! Um so leichter wird der Leser dem Lebensgange folgen, wie er ihm hier geboten wird, wo nichts zu Persönliches sich in die Schilderung eindrängt. Er wird trotzdem dabei die ganze Stufenleiter der Gefühle durchlaufen und in dem engen Rahmen der Häuslichkeit ein Abbild von dem Streben und Ringen der Welt wiederfinden.
Ich widme dies Buch allen Denkern. Der Philosoph, der Geschichtschreiber, der Sprachforscher, sie Alle wissen oft nicht, wie anregend, wie belehrend die Beobachtung des zarten Kindes ist; den Uranfängen der Menschheit glaubte ich oft beizuwohnen, wenn ich sah, wie das Kind sich in unsere Civilisation erst hineinzuleben hatte. In den späteren Jahren ist das Kind schon ganz mit unseren Zuständen verwachsen, ganz ein Glied unserer Gesellschaft, das deren Anschauung und Richtung theilt. Der Säugling allein ist noch ursprünglich wie der erste Mensch; um seine Wiege lagert noch die Dürftigkeit des Urmenschen Schlözer’s, oder auch der Glanz des Paradieses.
Ich widme es vor Allen den Müttern, deren Sorgfalt und Pflege allein die junge Menschenpflanze aufzuziehen vermag, die mit dem Hellsehen der Liebe gewiß meine Erfahrungen bestätigen und ergänzen werden; möge dieses Buch ihnen neue Fernsichten eröffnen bei der Betrachtung ihres Lieblings; möge es ihnen in den schlaflosen Nächten, die sie an der Wiege verbringen, ein freundlicher Zuspruch sein; möge es ihnen, wenn sie schon der Neige des Lebens zugehen, schöne Erinnerungen wach rufen aus dem rosigen Lenz ihrer Kinder, der auch ihnen einen neuen Frühling schuf.
Ich widme es auch ihren Gatten, die in der Zerstreutheit der Geschäfte, die heutigen Tages den Mann nur zu sehr in Anspruch nehmen, oft nicht die Muße und die offene Stimmung finden, ihr eigenes Glück zu genießen und das Leben des Kindes mitzuleben. Vielleicht dient ihnen dieses Tagebuch als Wegführer in dem Paradiese ihrer Häuslichkeit, vielleicht schärft es ihre Empfänglichkeit für die Freuden, die das Kind den Eltern bereitet.
Ich widme es auch Dir, reifere Jungfrau, die, noch von der Lust der Welt ergriffen, sich gern im Strudel der Feste zu berauschen sucht, oft nur um das aufkeimende Gefühl der inneren Leere zu betäuben. Glaube der glücklichen Mutter meines Kindes: es giebt beglückendere Freuden als die, welche die glänzende Gesellschaft der Salons und Ballsäle bietet; im engen Zimmer, bei der Wiege ihres Lieblings, sieht die junge Mutter all den blendenden Schimmer ihrer Mädchenfeste verbleichen vor dem himmlischen Glanz, der aus den Augen ihres Kindes aufleuchtet. Oder Du schmiegst Dich schon in reiner Liebe an den Bräutigam, in dessen Wohnung Du bald das Feuer des häuslichen Herdes anzünden sollst. Nimm dieses Buch dann mit hinüber in die freundliche Häuslichkeit, in die der Geliebte Dich einführt; es sind Stunden der Andacht, die Du in diesen Blättern durchliesest; sie werden – so hoffe ich – stete Nahrung dem keuschen Feuer Deines Busens bieten und Dein noch unerfahrenes Herz würdig vorbereiten für den Empfang des liebsten Wesens. Zwar eine Mutter ist wie der Dichter, der als solcher geboren wird; in Beiden loht das Feuer der himmlischen Erleuchtung; aus sich selbst schaffen sie in genialer Begeisterung, aber um ein wahrer Künstler zu werden, bedarf auch der genialste Dichter zuletzt der klärenden, leitenden Regel; so wird auch die junge Mutter die Belehrung des schon erfahrungsreichen Vaters nicht verschmähen.
Vor Allem aber ist dieses Buch Dein, mein treues Weib! Wenn ich je eine Stätte voller, reiner Freude am Dasein gefunden habe, so ist es die, die du mir bereitet hast; hier fand ich nach des Lebens Kampf und Mühe den verlorenen Frieden wieder, der uns mit Gott versöhnt und der Welt; hier schenktest du mir in dem Pfande deiner Liebe das höchste, süßeste Glück, das der Mensch auf Erden empfinden kann, das allein uns erfüllt wie eine Ahnung reiner himmlischer Seligkeit, das Glück, ein Kind mein zu nennen. Dieses liebe Kind, du hast es nicht nur geboren, du hast es groß gezogen und gepflegt in schlaflosen Nächten und mühevollen Tagen, und während mir das mühelose Glück zu Theil geworden, mich im Anschauen des Lieblings zu sättigen, war dein die Arbeit und die Sorge. Nimm die Erzählung von dem, was ich gesehen und was mich beglückt, was du gethan und gelitten, von mir hin als ein Zeichen jener frommen Verehrung, zu der sich in dem Gatten die glühende Liebe umwandelt, wenn die Geliebte seines Herzens nun zur sorgsamen Hausfrau, zur zärtlichen Mutter geworden ist. O wohl dem, der ein tugendsam Weib hat, deß lebt er noch Eins so froh!“
Hier verlassen wir das „Vorwort“ des Verfassers, um noch in das Büchlein selbst dem Leser einige Blicke zu gestatten. Das Ganze besteht aus selbstständigen, nur mit Rücksicht auf die Zeitfolge an einander gereiheten längeren und kürzeren Sätzen und Aufsätzen, zwischen denen auch manche eigene und fremde Gedichte, wie Blumen am Wege, ihre Stelle gefunden haben. Wir wählen gleich aus dem Anfange des Buches die folgenden acht Tagebuchblätter aus:
– „Mutterbrust! Süßes, nie ausgedachtes, nie genug besungenes zaubervolles Räthsel! Nach wenigen Stunden schon fühlt das Kind, dessen Augen und Ohren noch nicht ausgebildet genug sind, um wahrzunehmen, wenn es nur kaum an dem Busen liegt, daß es in seiner Heimath ist. Erst schrie es, klagte aus vollem Halse, ward ungeduldig, als hinge sein Leben an einem Augenblick, und nun es an der Quelle der Muttermilch und Mutterliebe ruht, beeilt es sich keineswegs; es ruht sich wie behaglich aus; es spielt mit den kleinen Fingern an der Brust, denn es weiß, daß es Alles gefaßt hat, was es braucht.“
– „Die zweite Woche seines Daseins geht zu Ende. Der kleine Körper ist wahrhaftig schon gewachsen. Und sein Geist? Noch scheint es nichts zu bemerken. Und doch ist es von Zeit zu Zeit, als habe es wahrgenommen, beobachtet. Und jetzt, ganz gewiß – es verzog den Mund so lieblich, so angenehm; ja, es hat gelächelt. Es war nur ein leiser Schimmer, ein Hauch, aber gewiß, es war ein Lächeln. Und jetzt schreit es wieder – man läßt das Arme lange, unbarmherzig lange warten, ehe man es befriedigt, und während man es befriedigt, währt es ihm noch zu lange; es schreit zum Erbarmen. Und siehe, was perlt da in dem Winkel seiner Aeugelein? Nein, es ist nichts Anderes; ja wohl, es ist eine Thräne. Sie ist klein, winzig klein, kaum so groß wie eine Stecknadelkuppe, aber ich habe das bittere Salz gekostet – ich habe seine erste Thräne geschlürft.
Erstes Lächeln! Erste Thräne! Welcher Strom von Gefühlen wird aus diesen Quellen fließen?“
– „Es ist Nacht; Alles ist still. Da stößt es einen leisen Laut aus. Es ist kein Ruf, kein Seufzer, kein Schrei; der Laut hat einen so zarten, feinen Klang. So zwischert das Vöglein im Traume.“
– „Wie ist das Kind gewachsen an Leib und Seele! Was man aber von großen Personen gar nicht zu sagen, kaum zu denken wagt, hier spricht man alles natürlich aus. ‚Ist das Kind schon groß! seht nur die kleinen Waden an und die kleinen Schenkel, wie kräftig schon! Das Knie, wie rund! schon zeichnen sich die Hüften.‘ Aller Zwang und alle falsche Scham verschwindet; das Kind führt uns die Natur zurück, die immer rein und keusch ist. Spricht nicht aus den kräftigen Gliedern die Gesundheit, und ist die Gesundheit nicht die Grundlage alles Glücks?“
– „Aber auch sein Geist wächst. Es hat nun sechs Wochen, und schon sagen uns die zahlreicheren Modulationen seiner Stimme, daß sich das Sprachorgan immer mehr ausbildet. Seine Augen fixiren Dinge und Personen immer sicherer, immer neugieriger; es beobachtet und sammelt Eindrücke ein. Sein Gehör ist klarer – es horcht auf und sucht mit den Augen, woher der Laut kommt. Das Leben auf der Straße, das wir ihm vom Fenster zeigen, verfolgt sein Blick mit sichtbarem Interesse; [824] aber vor Allem fesselt seine Aufmerksamkeit der Flug und das Gezwitscher der Schwalben in der Luft; es hebt das Köpfchen unverrückt nach ihnen auf und folgt ihnen durch die Bläue des Himmels.“
– „Es ist ein Mädchen, unser Kind. Habe ich es nicht schon gesagt? Wer denkt auch gleich daran? Für die Eltern ist es ein Kind.“
– „Ein Kind! Ihr habt wohl noch nicht darüber nachgedacht, wie poetisch, wie keusch zugleich die Sprache in dem Worte ‚das Kind‘ ist; sie unterscheidet nicht zwischen dem Sohne und der Tochter; alles Geschlechtliche existirt auch nicht für das Neugeborene; die Kleidung für den Knaben ist dieselbe wie für das Mädchen; das Kind ist nur der Keim des Menschen. Erst später ‚reißt sich stolz der Knabe vom Mädchen‘, aber in der Wiege lächelt uns nur ‚das geliebte Kind‘ zu.“
„Frauenschönheit! Wer sie nicht in einer jungen Mutter gesehen hat, hat sie nicht gesehen.
Da sitzen die zwei neuvermählten Freundinnen im Garten, zwei schön erblühte Frauenblumen mitten unter Blumen; der einen ruht schon die süße Frucht ihrer Liebe auf dem Schooße; der andern regt sich die liebliche Hoffnung noch unter’m Herzen. Sie begegneten sich zum ersten Male nach der Vermählung wieder. In ihrem Blicke ringt ein wunderbares süßes Gemisch von verschiedenartigen Empfindungen und Gedanken; es ist ein holder Streit von mädchenhafter Schamhaftigkeit und weiblicher Erfahrung. Sie sehen sich an mit verständnißinnigem Lächeln und können doch gegenseitig ihren Blick nicht aushalten und – sie schlagen das Auge nicht nieder, denn was in ihren Herzen vorgeht, ist rein wie das Sonnenlicht – aber sie wenden es weg, sanft erröthend in lieblicher Verwirrung, und dann auf einmal sehen sie sich wieder herzhaft an und brechen wie muthwillige Kinder in ein helles, schalkhaftes Lachen aus, daß die Sonne neugierig durch die schwankenden Zweige hereinblickt und die Vögel plötzlich in ihrem Gezwitscher innehalten. Und nun beginnt ein fröhliches Geplauder von so wonnigem Zauber, wie es nur auf den Lippen junger Frauen erblühen kann, die sich als Mädchen im Pensionat verlassen haben und sich nun als Neuvermählte, als glückliche Mütter wiedersehen; die Erinnerungen an die Kinderspiele durchkreuzen sich mit den Ergüssen des Mutterglückes; in den hellklingenden Scherz tönt mit komischer Gravität der Bericht, wie eine Jede das Scepter des Hauses führt, aber keine Note in dem lustigen Concert wird festgehalten – das rinnt in geschwätzigem Plaudern fort, wie die Wiesenquelle unter Blumen über Kiesel hinrinnt, und darein singen die Vögel, die von den Bäumen zuhören, spielen die Sonnenlichter, die sich in die glücklichen Augen hineinstehlen möchten, nicken die Blumen, die wie mitfühlend zarter duften, und dazwischen blüht auf dem Schooße der jungen Mutter die schöne Menschenknospe, das holde Kind, und wenn es von dem fröhlichen Geplauder erwacht und das Auge öffnet, da geht es daraus hervor wie Paradiesesglanz und der Garten wird zum Eden. Aber über das Antlitz der jungen Frau, der Mutter, fliegt eine Verklärung voll rosiger Milde und strahlender Wonne, daß der ganze Himmel, der sich über ihr ausspannt in krystallener Bläue, noch einmal so sonnig lacht, als wäre er nur der Widerschein von der Seligkeit im Mutterauge.“
Den Tierschutzvereinen empfohlen.
Zu den Hundearten, welche den Standpunkt erreicht haben, modern zu sein, gehört in der Neuzeit auch die dänische Dogge. Beliebt bei Officieren und Studenten, sehr verwendbar und zuverlässig auf Fabrik- und Gutshöfen, hat diese Hunderace durch ziemlich gelungene Zuchtversuche recht erfreuliche Veredelung, leider aber auch eine Preissteigerung erfahren, die geradezu fabelhaft ist. Summen von hundert bis fünfhundert Thaler werden oft durch eine einzige schöne und gut dressirte dänische Dogge repräsentirt, so daß man sich unwillkürlich fragt, worin der Werth derselben eigentlich liegt. Jede Liebhaberei kostet zwar stets mehr Geld, als sie einbringt, die Liebhaber sind aber an den hohen Preisen oft selbst durch unsinniges Ueberbieten oder durch Suchen eines sehr imaginären Werthes schuld.
Die dänische Dogge, in ihrem ganzen Wesen höchst ernst und gesetzt, ist in der äußern Erscheinung ein sehr schlankes, hochgestelltes, dabei aber auffällig muskulös gehaltenes Thier, zäh und sehnig in den Läufen, massig und voll im Nacken, kurz und dick im Kopfe, gewandt und exact im ganzen Aeußern, wie das beigegebene Bild (Seite 825) zeigt. Sie hatte in ihrer ursprünglichen Form frappante Ähnlichkeit mit dem alten Bullenbeißer und diesen auch sicher zum nächsten Verwandten. In dem Werke „The Varieties of Dogs, as they are found in old Sculptures, Pictures, Engravings, and Books, by Th. Charles Berjeau, London 1863“ findet man Blatt 2 und 3 antike Hundeformen, aus dem Britischen Museum abgebildet, die theils dem Bluthunde, theils dem Fleischerhunde gleichen, deren Haupttypus aber vollständig mit dem unserer heutigen dänischen Dogge übereinstimmt. Im Vergleich zu den früheren Vorfahren ist jedoch unsere dänische Dogge bei Weitem edler und imposanter zu nennen. Thiere von achtzig und noch mehr Centimeter Schulterhöhe gehören heutigen Tages nicht mehr zu den Seltenheiten; dabei haben dieselben das Schlanke und Ebenmäßige des Hirsches, das Flechsige und Sehnige eines edeln Pferdes, das Feste und Massige eines jungen Stieres.
Von Farbe einfarbig glänzend-schwarz, fahl- oder blaugrau, gelb mit dunkler Gesichtszeichnung, tigerströmig, auch manchmal großfleckig oder buntgetigert, haben diese edeln Thiere ein so feines, kurzes und weiches Haar, daß man jede Ader daliegen, jede Flechse sich darunter bewegen sieht. Fehler im Bau oder in der ganzen Haltung sind bei ihnen demnach viel leichter zu erkennen und zu beurtheilen, als bei langhaarigen Hunderacen. Der dünne, hochangesetzte Schwanz wird ihnen gelassen; das Thier hat besondern Werth, wenn es denselben nicht rollt, sondern elegant lang austrägt. Anders steht es mit den Ohren.
Zu beklagen und nicht genug zu geißeln ist es, daß die englische Manie, ihre corrigirende Hand an allerlei Thieren zu erproben, auch bei uns lebhaften Anklang gefunden hat, nicht allein Pferde, sondern namentlich verschiedene Racen von Hunden erfuhren das traurige Schicksal, der unsinnigen Geschmacksrichtung mancher Narren nicht zu entsprechen, und das barbarische Englisiren bei Pferden, das Coupiren bei Hunden wurde eingeführt. Leider hat sich diese Verirrung auch bei uns ziemlich verbreitet, sodaß ein nicht coupirter, besonders aber ein nicht gut egal und gleichmäßig gestutzter Pinscher, Bulldogg oder dänischer Dogg ziemlich werthlos und schwer an den Mann zu bringen ist. Ganz gegentheilig stellt sich jedoch das Verhältniß in der eigentlichen Heimath der dänischen Doggen, in Dänemark selbst. Bei meinem Aufenthalte in Kopenhagen habe ich viele dieser pompösen Thiere gesehen, namentlich hatten mehrere Fleischer oder Viehhändler, welche Rinder- und Schafheerden [825] durch das lebhafteste Menschengewühl nach den Schlachthäusern trieben, ganz riesige Exemplare von dänischen Doggen als Gehülfen bei sich; es war aber keinem einzigen das Ohr verstümmelt. Ob dergleichen Thierquälerei gesetzlich untersagt war, oder ob man glücklicher Weise dort keinen Geschmack an zu Krüppeln gemachten Thieren findet, ich weiß es nicht, lobenswerth ist es aber in jedem Falle, daß man dem Thiere gesunde Organe nicht verkümmert, Organe, die gerade beim Hunde in ihrem natürlichen Zustande von wesentlich günstigem Einflusse sind. Nase, Auge und Ohr sind ja Factoren, die in ihrer Wechselwirkung den Werth eines guten Hundes erst bestimmen.
Legt man durch Abschneiden, Abhacken oder Ausdrehen des angeblich zu kurzen und in Folge dessen unschönen äußeren Ohrlappens oder Behanges das innere Ohr derartig bloß, daß jeder Witterungswechsel Einfluß darauf, Schmutz und Staub, allerlei Insecten freien Eintritt in dasselbe haben, so liegen die nachtheiligen Folgen zwar auf der Hand, werden von vielen Liebhabern aber doch nicht genugsam gekannt. Das äußere Ohr, es mag noch so unbedeutend erscheinen, dient unbedingt dem inneren Organe als Schutz, ist aber hauptsächlich auch, in Folge seiner Beweglichkeit, durch Vor- oder Hinterlegen, durch Spitzen und Stutzen recht wohl befähigt, bei angestrengtem Hören die Schallwellen voller und sicherer aufzufangen und somit das Gehör zu verschärfen. Nimmt man also dem Hunde dieses Hülfsmittel, so nimmt man ihm sehr, sehr viel; der Grund zu zeitiger Schwerhörigkeit des Thieres, zu Ohrenzwang, Ohrensausen, Ohrenfluß etc. wird entschieden gelegt, abgesehen von allen den Einflüssen, die durch das bestialische Ausdrehen der Ohren auf das Gehirn und die Augenpartieen ausgeübt werden; öfteres Kopfweh, Triefaugen, Augenzucken, Augenlidervorfall, zeitige Augentrübung oder Erblindung – das sind die Folgen, welche menschliches Raffinement und menschliche
[826] Rohheit für das Thier nach sich ziehen. Wird da nicht schon von vornherein der Grund zu totalem Siechthume gelegt? Wäre es denn nicht an der Zeit, daß endlich die Behörden die armen Hunde nicht nur steuer- und maulkorbpflichtig erachteten, sondern daß sie auch etwas besser als bisher das Auge der Humanität auf das speciellere Wohl und Wehe dieser arg mißhandelten Thiere richteten, daß sie überhaupt nicht Thierquälereien fort und fort duldeten, die wahrhaft himmelschreiend sind und in ihrem Wesen entschieden demoralisirend auf den Menschen wirken?
Ich denke doch, daß hier auf dem Wege des Gesetzes und vernünftiger Belehrung viel zu bessern wäre.
Würde z. B. von den Thierärzten, welche recht wohl dazu berufen sind, krankhafte Gebilde, Ausartungen und Wucherungen regelrecht mit zweckmäßigen Instrumenten vom gesunden Organismus zu entfernen, um beim Thiere einen möglichst normalen Gesundheitszustand herbeizuführen und Krankheiten vorzubeugen, oder das Thier geschickter, befähigter zu seinem Gebrauch zu machen, ich sage, würde von diesen Herren und namentlich auch von den Thierarzneischulen aus das Coupiren der Hunde mit Abscheu zurückgewiesen, so wäre schon viel gewonnen. Es würden wohl manche Hundehändler und Züchter, Kutscher und Hausknechte übrig bleiben, die ohne jegliches thierärztliches Verständniß, nur um schnöden Gelderwerbes willen, mit oft sehr erbärmlichen Instrumenten und in meist sehr roher Weise die armen Thiere coupirten oder pinscherten, um auf diese Weise den albernen Geschmack manches blasirten Hundenarren oder die Grille mancher einfältigen Gnädigen zu befriedigen. Solchen Gesellen gegenüber dürfte sich jedoch die Schwere des Gesetzes am vortheilhaftesten erweisen; dem betreffenden Liebhaber aber sollte sofort behörderlicherseits das verstümmelte Thier abgenommen und durch Tödtung seiner Qual entrückt werden. Es würde sich dann wohl die Lust am Hundecoupiren etwas verlieren; zumal wenn der Geldpunkt auf diese Weise mit herbeigezogen würde. Mancher wird freilich über diese meine Herzensergießungen die Nase rümpfen oder mitleidig lächeln; der Mensch in seinem Wahne leistet eben viel, er leistet aber noch mehr in seiner Ueberzeugungsgewißheit.
Zu den humanitären Bestrebungen gehört entschieden auch eine bessere Thierpflege, ein Sichbewußtwerden, daß man dem Thiere gegenüber noch viele Pflichten unbeachtet läßt, dem Thiere gegenüber, dem man doch zum guten Theile seine Existenz und Entwickelung verdankt, dem Thiere, das ein unentbehrliches Glied in der reichen Kette der organischen Welt ist.
Württemberg, welches jährlich Tausende von Hunden in alle Welt verschickt und groß und berühmt bezüglich seiner Hundezüchtereien dasteht, könnte in vorliegendem Falle die ersten Schritte thun und einen Einfluß von ungeheuerer, segensreichster Tragweite auf dieses schamlose Treiben in der Hundeliebhaberei ausüben. Würden von den württembergischen Züchtern aus keine dänischen und keine Ulmer Doggen, natürlich auch keine sogenannten Affenpinscher, keine Bulldogs, Mastiffs etc. mit coupirten Ohren etc. verschickt, so würde sich die ganze Geschmacksrichtung recht bald in ein anderes Fahrwasser finden, vorausgesetzt, daß andere Staaten dergleichen menschenwürdige Bestrebungen thatkräftigst unterstützten. Der Dank und die Unterstützung aller wirklich gebildeten Hundeliebhaber und Thierfreunde würde ihnen sicher werden.
Höchst beachtenswerthe und sachverständige Persönlichkeiten haben sich schon oft und mit beredten Worten in dieser Angelegenheit ausgesprochen, leider haben sie bis jetzt tauben Ohren gepredigt. Professor Dr. Weiß, Docent an der Thierarzneischule zu Stuttgart, sagt in seinem Werke „Der Hund, seine Eigenschaften, Zucht und Behandlung im gesunden und kranken Zustande, nebst Geschichte seiner Racen. (Nach dem Englischen.) Stuttgart 1852,“ hierüber:
„Die Operation des Ohrenstutzens besteht in einer Quälerei behufs der Befriedigung eines unsinnigen Geschmacks; der Hund sieht übrigens, selbst nach der Ansicht der größten Hundefreunde, in seinem natürlichen Zustande weit besser aus, als wenn alle grausame Kunst an ihm verschwendet worden ist; außerdem hören die Folgen dieser zwecklosen Verstümmelung nicht auf, wenn das Ohr geheilt ist. Die dadurch herbeigeführte Entzündung wirkt auch nachtheilig auf das innere Ohr und häufig entsteht dadurch Taubheit etc.“
In ähnlicher Weise spricht sich der Obermedicinalrath und Vorsteher der Stuttgarter Thierarzneischule Dr. Eduard Hering aus. Er sagt in seinem Handbuche der thierärztlichen Operationslehre S. 127:
„Das Abschneiden der Ohren ist beim Pferd nicht mehr üblich; in früherer Zeit suchte man kleinen Pferden (Ponies) durch Abschneiden des Schwanzes, der Mähne und der Ohren ein gefälliges Aussehen zu geben. Ein vor mehreren Jahren in England gemachter Versuch, dieses Verfahren der Vergessenheit zu entreißen, mißlang vollständig etc. Die Hunde werden dem Abschneiden der Ohren am häufigsten unterworfen; man führt für diese Operation an, daß hängende Ohren zu Geschwüren (Ohrwurm) geneigt seien, auch beim Raufen die Ohrmuschel oft gebissen und verstümmelt werde; allein es ist mehr Sache der Mode, denn man hält bei einigen Racen die langen, hängenden Ohren für schön, bei anderen für häßlich. Das Ausreißen der Ohrmuschel ist ein verwerfliches Verfahren, welches bei jungen Hunden vorgenommen wird, durch Halten an beiden Ohren, während der Körper um diese Achse gedreht wird, bis die Ohren in der Hand des Operateurs bleiben. Die unregelmäßige Wunde, welche hiernach entsteht, hat bei der Vernarbung oft die gänzliche Verschließung des äußeren Gehörganges zur Folge etc.“
Deutlicher und verständlicher kann von competenter Seite kaum gesprochen werden. Wer Ohren hat zu hören, der höre, und schneide seinem Hunde die Ohren nicht ab, lasse auch durch fremde Hand diesen Henkerdienst nicht an ihm verrichten, denn der Hund hört eben auch gern wie jedes andere Thier. Wer einflußreichen Kreisen oder maßgebenden Persönlichkeiten nahe steht, möge Alles aufbieten, zu erreichen, daß dem ohnehin schon oft elend existirenden Thiere fernerhin nicht gesunde und höchst nöthige Organe entrissen werden. Der Narr würde dann zwar um eine Narrethei ärmer, die wahre Humanität aber um eine Errungenschaft reicher.
In einer Sitzung der New-Yorker Neurologischen Gesellschaft, welche von bedeutenden Aerzten und Wundärzten besucht war, wurde auch das Thema der Tollwuth behandelt und schließlich eine Reihe von Vorschlägen bezüglich der Maulkörbe der Hunde, der Tödtung der herrenlos herumlaufenden Thiere und der Besteuerung aller Nutz- und Luxushunde gemacht, gleichzeitig aber auch das Wegbrechen und Verfeilen der Fangzähne des Hundes als sicherstes Mittel, ihm das Beißen unmöglich zu machen empfohlen.
Ich halte diese Manipulation, die in der Weise ausgeführt wird, daß dem von ein oder zwei Männern gehaltenen Hunde ein Holzknebel in die Schnauze geklemmt und das Maul durch Stricke oder Riemen fest verschnürt wird, worauf die Reißzähne erst mit einer Zange verbrochen und darnach mit einer Feile glatt gefeilt werden (siehe Seite 824), für eine nicht nur höchst schmerzhafte Operation, sondern für eine vollständig zwecklose Thierquälerei. Deshalb habe ich sie hier mit zur Erwähnung gebracht. Die Tollwuth besteht erwiesener Maßen in ihrer ganzen Schrecklichkeit überall da, wo es Hunde giebt; es mögen die Lande heiß oder kalt sein, die Thiere mögen übermäßig gut oder unverantwortlicher Weise schlecht gefüttert oder gepflegt werden, sie mögen ihren Geschlechtstrieb befriedigen können oder nicht, sie mögen herrenlos frei herumstreifen können oder streng an das Haus gefesselt sein, sie mögen zum Maulkorbtragen angewiesen sein oder nicht, die Tollwuth bildet sich aus der Gesammt- oder aus der Wechselwirkung der angegebenen Factoren, und es ist trotz aller höchst anerkennenswerten Bestrebungen, Beobachtungen und Versuche seitens medicinischer Capacitäten bis jetzt leider kein Mittel gefunden, ihr Wesen zu ergründen und die ihr verfallenen Opfer mit Sicherheit zu retten.
Wer je einen tollen Menschen in seinem maßlosen Schmerze und Elende gesehen, möchte wünschen, alle Hunde aus dem Register der Lebenden gestrichen zu sehen, gleichwohl giebt es doch auch Verhältnisse, die das Halten eines oder mehrerer Hunde zur unbedingten Nothwendigkeit machen. In solchem Falle bleibt dann aber der Wunsch, denselben in allen Verhältnissen eine möglichst rationelle, den Gesundheitszustand der Thiere befördernde und erhaltende Pflege angedeihen zu lassen, gewiß gerechtfertigt, und wenn vor allerlei Verstümmelungen und Verkümmerungen der armen Thiere ernstlich gewarnt wird und [827] aus humanitären und sanitären Rücksichten verschiedene dem Hundegeschlechte gegenüber zur Sitte und Gewohnheit gewordene Rohheiten und Barbareien mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft werden, so ist nur einer Pflicht der Menschlichkeit nachgekommen. Verstümmelungen, wie das Abreißen und Ausdrehen der Ohren und Abhacken oder Abbeißen der Ruthe bei den Hunden sind und bleiben Bestialitäten, – Verkümmerungen, wie das Abkneipen und Wegfeilen ihrer Fangzähne sind denselben gleich zu achten, weil Letztere in keinem Falle vor dem Beißen schützen, am allerwenigsten wenn die Hunde toll sind. Alte Hunde, denen die Fänge verloren gegangen sind, können noch recht wohl beißen, und beißen muß ja doch jeder Hund können, soll er nicht verhungern. Wenn er aber noch ohne Fangzähne sein Brod und Fleisch verzehren kann, so kann er auch mit verfeilten Fangzähnen, zumal im Fieberwahne, schon durch leichten Riß oder Biß verletzen. Man lasse ihm also ruhig seine Fangzähne, sei aber, ohne das Thier unnöthig zu quälen, jederzeit vorsichtig; denn wer sich einen Hund hält, er mag coupirt, gepinschert oder im Zahne verfeilt sein oder nicht, der hat ernste Pflichten dem Thiere, sich und seinen Mitmenschen gegenüber übernommen.
Die Sprache des deutschen Heeres. Das deutsche Volk hat seinen französischen Erbfeind wiederholt in offener Feldschlacht geworfen und mit Ausdauer und unter Mühseligkeiten aller Art seine Bollwerke gebrochen. Selbstständig und frei von aller fremden Hülfe hat es der Welt gezeigt, was ein deutsches Heer zu leisten vermag. Um so seltsamer ist es, daß dieses freie Deutschland seine Muttersprache so gering zu achten scheint, daß es so gern die den fremden Sprachen entlehnten Worte aufnimmt und festhält. Ist es die Macht der Gewohnheit oder was soll es heißen, daß wir so unendlich oft fremde Ausdrücke in unsere Sprache mischen? Man wird in der Capitale des deutschen Reichs zu einem Diner oder Dejeuner in das Hôtel de Rome invitirt, nimmt ein Cotelette oder famoses filet de boeuf mit brillanter Sauce und magnifiquem Compot in Gesellschaft eines etwas fatiguirten Gardelieutenants zu sich, macht in der Siegesallee eine Promenade, begiebt sich in sein Logis, um sich dann Abends an dem exquisiten Gesange einer Primadonna zu delectiren oder in einer fashionablen Soirée superb zu amüsiren. So fremdartig diese Sätze klingen mögen, so enthalten sie doch kaum ein außergewöhnliches Wort.
Betrachten wir nun erst die Ausdrucksweise unseres Heeres. Fast jede europäische Sprache finden wir in unseren militärischen Wörterbüchern vertreten. Wir finden das englische Shrapnel, die italienische Excellenz, das russische Hurrah, die polnische Ulanka, die ungarische Czapka und die Unzahl ganzer, halber und viertel französischer Ausdrücke. Wir lesen von batailliren, cotoyiren, retiriren, deployiren, tirailliren und excerciren, von Echelons, Defilé, Fort, Plateau, Lisière und Avantageuren, von Action, Affaire, Attaque, Campagne und allerlei Bagage. Es sieht fast so aus, als beruhte unsere kriegerische Wissenschaft reinweg auf der französischen, als hätten wir Deutsche nichts erdacht, sondern Alles den Fremden, namentlich den Franzosen, nachgemacht.
Ist nun dieses Liebäugeln mit den französischen Nachbarn geschichtlich begründet und läßt es sich dem deutschen Heere und der deutschen Sprache gegenüber thatsächlich rechtfertigen? Welche Gründe können uns in aller Welt dazu bewegen, unsern Rekruten die fremden Ausdrücke einzupauken? Was ist Subordination? Wer eine gute Schulbildung gehabt hat, wird sich das selbst übersetzen können; aber wie viele Procente unserer Armee sind dies? Einige Freiwillige, einige – das schreckliche Wort muß genannt werden – Avantageure und von den Mannschaften fast keiner. Hat sich der Rekrut wirklich die einzelnen Worte eingepaukt, deren Bedeutung wir ihm immer erst verdeutschen müssen und deren im Laufe der Zeit hineingelegten Begriff er doch nicht recht versteht, was haben wir dann erreicht? Sagen wir dem Rekruten: Gehorsam ist die erste Pflicht des Soldaten – das versteht er gewiß.
In einem Aufsatze des Militär-Wochenblattes (Nr. 91 Jahrgang 1874 Seite 867) heißt es sehr richtig. „Sagen nicht 9/10 unserer Unterofficiere ihr Lebenlang Tirain statt Terrain?“ Ich füge hinzu: Sagen nicht alle Mannschaften Attolrie oder Attulrie für Artillerie? Exciren für Exerciren? Specefakten für species facti? Tillejiren für Tirailliren? Schersant für Sergeant? Und wenn die Leute lesen sollen, so lesen sie wortgetreu Garde du Corps, buchstäblich so wie es geschrieben steht. Sollen sie diese fremden Ausdrücke schreiben, so thun sie es gewiß hartnäckig gerade so, wie sie jedes Wort sprechen, mit einer augenzerreißenden Rechtschreibung. Der wievielte kann wohl Lieutenant richtig schreiben? Und wir selbst sprechen und schreiben Seconde-Lieutenant und machen einen deutschen Officier damit wider seinen Willen zum Weibe. Das preußische Officier-Patent ernennt übrigens Niemand zum Seconde-Lieutenant, sondern sehr richtig zum Second-Lieutenant. Auch in der militärischen Sprache der Officiere hören wir so und so oft Ausdrücke, die selbst diejenigen, die eine leidliche allgemeine Bildung besitzen, nicht verstehen, z. B. einen échec erleiden, seinen aplomb verlieren, oder das Bataillon steht um die und die Zeit à cheval de chaussée, was heißen soll, zu beiden Seiten der Chaussee, und ein vom Reiter hergenommenes Bild ist, in welchem das Bataillon mit den Beinen des Reiters, die Chaussee mit einem Pferde verglichen wird. Es giebt leider viele Commandeurs, die einen Befehl, eine Meldung in einen trüben Nimbus einzuhüllen lieben. Als Beispiel hierfür mag ein in jenem erwähnten Aufsatze des Militär-Wochenblattes mitgetheilter Bericht des Feldmarschalls Benedeck dienen: „Das débacle des ersten Corps der Sachsen nöthigte mich, auf Königgrätz zu repliiren.“
Manches ist freilich im Laufe der Zeit schon besser geworden. Das Wort Hauptmann ist jetzt ganz allgemein gebräuchlich, während es noch im Anfange dieses Jahrhunderts vielfach für gesucht gehalten wurde. Und warum sollten wir nicht für Lieutenant, das wir doch wenigstens Leutnant, so wie wir es sprechen, schreiben sollten, z. B. Leutmann sagen? Das klingt doch deutsch und hat einen guten deutschen Sinn.
Wir wollen ja nicht alle die fremden Wörter übersetzen. Es gäbe ganz ungereimte Benennungen und höchst alberne Ausdrücke, wenn man für General Herr Allgemeiner, für Lieutenant Platzhalter, für Compagnie Gesellschaft, für Major Größerer sagen wollte. Wir wollen auch keine radicale Verbannung aller nicht-deutschen Ausdrücke befürworten. Wörter wie Bataillon, Compagnie, Division, Soldat, Armee, Militär sind durch Jahrhunderte langen Gebrauch zu europäischen geworden.
Aber eine lange Reihe von Wörtern können wir sehr gut übersetzen; z. B. Uniform mit Gleichtracht, Commando mit Befehl, Relation mit Meldung, Bericht etc. Für viele andere Wörter finden wir, wenn wir nicht das Wort, sondern den Sinn, den Gedanken des Wortes wiedergeben, den schönsten Ersatz. Was würde es schaden, wenn wir z. B. die fürstlichen Bezeichnungen – denn im deutschen Reiche haben sie doch nicht mehr den alten Klang – wenn wir die ursprünglich militärischen Titel aus der Rumpelkammer der Geschichte hervorsuchten und wieder auf das Heer übertrügen? Für General würde sich Herzog ganz gut machen und für eine Excellenz, wie sich jeder italienische Lazzarone nennt, klingt Durchlaucht viel deutscher. Wie schön klingt Oberst, Rittmeister, Feldwebel, Gefreiter, ferner Fahne, Schwadron, Rotte, Beiwacht, was wir erst haben in Bivouac französiren müssen, um es dann als fremde Waare anzustaunen und bei uns aufzunehmen.
Noch mag auf die Zusammensetzung deutscher und französischer Wörter hingewiesen werden, wie Unterlieutenant, Unterofficier, Rendezvousstellung, Augmentationsmannschaften. Diese Wörterzusammenziehungunausstehlichkeit ist schon unter nur deutschen Wörtern schrecklich und nun erst das Sprachgemengsel von Deutsch und Französisch!
Gewiß ist es anzuerkennen, wenn man die Sprache des deutschen Heeres von dem Wust der Fremdwörter zu reinigen bemüht ist. Ein hierauf gerichtetes Streben läßt sich im deutschen Heere nicht verkennen. Wiederholt ist in dieser Beziehung schon das Generalstabswerk über den französischen Krieg gerühmt worden, das mit einem vorzüglichen Beispiel vorangeht. Es schreibt, wie der angezogene Aufsatz des Militär-Wochenblatts hervorhebt, nicht mehr Plateau, sondern stets Hochfläche, Engweg für Defilé, es spricht nicht mehr von der Lisière, sondern von dem Rande oder Saum eines Waldes. Es heißt in ihm nicht mehr cotoyiren, avanciren, repliiren, ralliiren, sondern: begleiten, vorgehen, zurückweichen, sammeln: es heißt nicht Reiterchoc, sondern Reiterstoß u. s. w.
Wir finden in dem Generalstabswerk den Beweis, daß es für die fremden Bezeichnungen nicht nur einen, sondern gute deutsche Ausdrücke in Menge in unserer reichen und schönen Sprache giebt. Allerdings wollen wir uns davor hüten, in Deutschthümelei zu verfallen, aber verbannen wir aus unserer deutschen Sprache die fremden Floskeln und sprechen wir unsere deutsche Sprache, unsere deutsche Heeressprache rein deutsch!
Protestantische Ohrenbeichte. Wir erhalten von Dortmund nachfolgende Anfrage:
„Kann ein lutherischer Geistlicher der Hehlerei angeklagt werden, beziehentlich bestraft werden, wenn er durch die Beichte von einem begangenen Verbrechen Kenntniß erhält, jedoch keine Anzeige davon beim Gerichte macht? Mit anderen Worten, ist die Ohrenbeichte, wie sie bei den Katholiken besteht, den Lutheranern erlaubt?“
Da wir selbst die Anfrage endgültig nicht beantworten konnten, nahmen wir die Hülfe eines bekannten sächsischen Geistlichen in Anspruch und empfingen von diesem die nachfolgende Mittheilung:
„Ich vermag auf die betreffende Anfrage darum nicht eine vollkommen zuverlässige Antwort zu geben, weil wir keine gemeinsame Kirchengesetzgebung für die deutsche lutherische Kirche besitzen, ich also nur sagen kann, was in der sächsischen Kirche, und nicht, was für Westphalen Rechtens ist. Ich zweifle indessen nicht, daß in diesem Punkte die kirchliche Gesetzgebung beider Theile übereinstimmen wird, da es sich um allgemein angenommene Gesichtspunkte handelt. Ich beginne mit der Schlußfrage, die mit der ersten durchaus nicht identisch ist. Ohrenbeichte d. h. Einzelbekenntniß der begangenen Sünden als Bedingung für die Sündenvergebung (Absolution) kennt die evangelische Kirche nicht. Dagegen gestattet sie, obgleich sie als Regel die allgemeine Beichte jetzt wohl überall eingeführt hat, denjenigen, welche ein Bedürfniß darnach haben, die Privatbeichte. Was der Prediger dabei erfährt (wenn es sich nicht um erst zu verübende Verbrechen handelt), hat er unbedingt geheim zu halten. Art. 213 der Straf-Proceß-Ordnung vom 11. August 1855 bestimmt, daß Geistliche nicht blos in Ansehung dessen, was ihnen in der Beichte anvertraut worden, sondern auch hinsichtlich dessen, was ihnen außer der Beichte im Vertrauen auf ihre geistliche Amtsverschwiegenheit mitgetheilt worden ist, zum Zeugnisse nicht angehalten werden können, außer wenn in letzterer Beziehung derjenige, dem sie zur Geheimhaltung verpflichtet sind, ihre Abhörung verlangt. Es ist jedoch eintretenden [828] Falls das Gericht befugt, eine eidliche Versicherung des Inhalts, daß der Geistliche von dem Gegenstande seiner Befragung außerhalb seiner amtlichen Stellung keine Kenntniß erlangt habe, zu fordern. (Codex des Kirchen- und Schulrechts S. 62.)
Daraus ergiebt sich, daß die erste Frage unbedingt mit Nein zu beantworten ist. Der Geistliche kann nicht nur nicht der Hehlerei angeklagt werden, er würde vielmehr im entgegengesetzten Falle wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses im disciplinarischen Wege von seiner Aufsichtsbehörde bestraft werden müssen.
Eine einzige Ausnahme findet, so viel ich mich entsinne – ich kann aber die betreffende Bestimmung nicht ausfindig machen – dann statt, wenn ein Unschuldiger in Gefahr steht, die Todesstrafe zu erleiden. Aber auch dann ist nur die Thatsache und nicht der Name des Thäters zur Anzeige zu bringen.“
Alters-Asyle. In Nr. 23 der „Gartenlaube“ stellten wir, auf mehrfache Anregung, die Anfrage nach einer „Versorgungsanstalt für das vereinsamte Alter“ auf und erhielten darüber folgende Auskunft.
Versorgungsanstalten für das vereinsamte Alter, deren Zugänglichkeit nicht von Ortsbürgerrechten abhängig ist, sind uns fünf genannt. In Mainz besteht ein „bürgerliches Invalidenhaus“. Die Verwaltung desselben befindet sich vorzugsweise in katholischen Händen, und auch Wartung und Pflege in Krankheitsfällen besorgen barmherzige Schwestern; allein Erfahrung lehrt, daß auch evangelische Alte dort aufgenommen und mit derselben Freundlichkeit wie die katholischen Hausgenossen gehalten wurden. Näheres über diese Anstalt hat man sich beim Herrn Obergerichtsrath Dr. Bockenheimer in Mainz zu erbitten. – Wie trotzalledem dieses Mainzer Invalidenhaus vorzugsweise einen katholischen, so trägt das „Diaconissenhaus“ zu Straßburg im Elsaß ausschließlich einen evangelischen Charakter. Gestiftet von dem Straßburger Pfarrer Härter († 1874), einem lutherisch-strenggläubigen, aber herzensedlen, thatkräftigen und deutsch-treuen Manne, Freund und Ebenbürtigen Stöber’s in Mühlhausen, nimmt das Diaconissenhaus ebenfalls nicht blos Protestanten, sondern auch Katholiken auf, die ruhig ihres Glaubens leben können, denn nichts war Härter verhaßter, als die Proselytenmacherei. Um Jedem nach seinen Mitteln zu dienen, bestehen für Zimmer und häuslichen Comfort, Küche und Keller drei Classen, so daß der weniger Bemittelte die Wohlthat der Anstalt genießen, aber auch der Anspruchsvollere sich dort zufrieden fühlen könne. Reizend ist auch die Lage der Straßburger Anstalt, und die Einrichtung des Hauses in Bezug auf Luft, Licht und Ungestörtheit soll, nach unserem verehrten Gewährsmanne, kaum besser zu wünschen sein. Näheres theilt auf Anfrage Herr Pfarrer Härtel in Straßburg mit.
Eine der wärmsten Theilnahme würdige Anstalt ist das von einem Geschwisterpaare Zimmermann in Wiesbaden gestiftete „Versorgungshaus für alte Leute“. Trotz schweren Verlustes durch einen unredlichen Rechnungsführer bleibt die Verwaltung dieses Hauses doch ihrem bisherigen Grundsatze treu: die Aufnahme in dasselbe an keinerlei Bedingungen bürgerlicher oder kirchlicher Zugehörigkeit zu knüpfen. Mögen Glückliche, welche sich die Freude des Wohlthuns gönnen dürfen, diese Anstalt im Auge behalten; sie verdient eine immer weitere Ausbreitung und Kräftigung. Auskunft ertheilt sehr gern Herr Kreisgerichtsrath a. D. Bücher in Wiesbaden. – Der „Verein Frauenheim“ in Berlin (Gartenstraße Nr. 21, N.) beschränkt seine Sorge, wie der Name schon besagt, auf alleinstehende Frauen. Die Statuten desselben werden den Anfragenden durch den Schatzmeister des Vereins, Herrn Fritz Kühnemann in Berlin[WS 1] mitgetheilt. – Ueber ein fünftes Altersasyl, das in Danzig bestehende „Hospital zum heiligen Leichnam“ (so genannt wegen der damit verbundenen Kirche gleicher Bezeichnung), belehren uns die vom 1. Mai 1830 datirenden Statuten. Nach denselben werden in diese Anstalt auch „Auswärtige“ aber nur Christen, gegen Einkaufsgeld zur Verpflegung aufgenommen. Man wendet sich wegen des Näheren wohl an den „Oberbürgermeister“ oder den „Rath“ von Danzig.
Mehrere Anerbietungen von Einzelnen, derlei vereinsamte alte Leute in ihren Familienkreis aufzunehmen, gehen wohl über die Absichten unserer Anfragenden hinaus, wird uns aber der Wunsch dennoch ausgesprochen, so sind wir zur Mittheilung der Adressen bereit.
Allen Freunden von Bock’s „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ wird die Mittheilung eine hochwillkommene sein, daß die zehnte Auflage dieses allbeliebten medicinischen Rathgebers am häuslichen Herd in der verwichenen Woche complet geworden ist. Wie sehr das bewährte Werk in der Liebe des Publicums im Steigen begriffen ist, leuchtet aus der Thatsache ein, daß im Laufe des letzten Jahres 20,000 Exemplare dieser Auflage abgesetzt worden sind.
Zu dem vom Blatte spielenden Clavier (Nr. 44) müssen wir nachtragen. daß dasselbe in einer anscheinend sehr ähnlichen Gestalt wie jetzt in Amerika, bereits in den Jahren 1867 bis 1868 von einem deutschen Ingenieur, Herrn Hermann Spieß in Sumiswald (jetzt in Berlin), construirt wurde. Dieser auf Orgel und Harmonium unmittelbar, auf das Clavier mit einer geringen Abänderung anzuwendende Apparat, bei welchem durch eine geschickte Hineinziehung des Pedals auch dem Ausdrucke nach Möglichkeit Rechnung getragen wird, erregte bereits 1868 in Paris Aufsehen, als man die mit fünf Manualen versehene Riesenorgel der Kirche Notredame durch denselben spielen ließ. Ein von Herrn Spieß erbautes elektrisches Clavier befindet sich seit vier Jahren in dem bekannten Kaufmann’schen akustischen Cabinete in Dresden.
Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. I. Rechtsanwalt Winterfeldt hat den Beweis geliefert, daß er weder zu den Gründern noch zu den ersten Zeichnern des „Lichterfelder Bauverein“ gehört, vielmehr erst im Frühjahr 1874, als die Actien der Gesellschaft bereits den niedrigen Cours von ca. 29 einnahmen, in den Aufsichtsrath resp. Vorstand getreten ist.
II. Ludwig Stillfried in Breslau. Der Verfasser wird Ihnen antworten, wenn Sie den Muth haben, Ihren wahren Namen zu nennen und Ihre genaue Adresse einsenden.
K. in Fr. Sie irren; der Leipziger Zweigverein der „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ hat einen eigenen „Leipziger Volkskalender“ erscheinen lassen, nicht zu verwechseln mit dem vom „Berliner Volksbildungsverein“ herausgegebenen kleinen „Deutschen Reichskalender“, der ebenfalls, wie der Leipziger, fünfzig Pfennige kostet. Der Leipziger Kalender ist in hübscher Ausstattung in dem allen beliebten Quart erschienen und bringt außer verschiedenen guten Illustrationen eine geschmackvolle Auswahl von unterhaltenden und belehrenden Beiträgen.
Herrn Dr. Jul. Schnauß in Jena. Wir sind Ihnen dankbar für Ihre Mittheilung, daß die in Nr. 30 der Gartenlaube erwähnten Versuche des Freiherrn von Reichenbach, das Odlicht zu photographiren, Ihnen trotz aller Sorgfalt nicht haben gelingen wollen. Freiherr von Reichenbach ist todt und das Odlicht allem Anscheine nach mit ihm erloschen.
St. M. in D. bei Wien. Ihre Idee, daß die Erde „werdender Nahrungsstoff“ der Sonne sei, enthält, wenn wir von dem phantastischen Ausdruck derselben absehen, nichts Neues, sofern zahlreiche Astronomen und Physiker sich der Ansicht zuneigen, daß in einer späten Zukunft alle Planeten wieder in den Mutterschooß der Sonne zurückkehren müssen.
WS: Verlagswerbung, wird derzeit nicht transkribiert.
- ↑ „Das Kind. Tagebuch eines Vaters.“ Leipzig, H. Hartung u. Sohn. 1876.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: in Freienwalde an der Oder, vergl. Jg. 1878, Heft 11, S. 90